Der Schreiber dieser Zeilen darf sich schmeicheln, alle Probleme des Reisens, einschließlich verklemmter Reißverschlüsse, gelöst zu haben - bis auf eines: wieviel Trinkgeld man geben soll.
Das hat nichts mit Inflation, Rezession, Konjunktur und dergleichen zu tun. Es ist ein rein psychologisches Phänomen. Wann und wo immer ich dem Boten einer Blumenhandlung oder der Garderobenhexe eines öffentlichen Lokals gegenüberstehe, treten kleine, kalte Schweißperlen auf meine Stirne und ich fühle mich einer Ohnmacht nahe. Dabei weiß ich ganz genau, daß ich in meiner Not nicht allein bin, daß alle Menschen von der Trinkgeldfrage bedrängt werden, seit jeher, seit Erschaffung der Welt, wahrscheinlich haben schon Adam und Eva der Schlange eine Kleinigkeit zugesteckt, zum Dank dafür, daß sie ihnen den richtigen Baum gezeigt hat... aber was hilft's. Jeder hergelaufene Kellner versetzt mich in Panik, wenn er, kaum daß ich mich über das Steak hermache, an meinem Tisch vorüberstreicht und mir zuflüstert: »Der Herr ist doch kein Amerikaner? Amerikaner sind nämlich sehr knausrig!« Nach solcherlei Andeutungen bin ich versucht, meine Brieftasche auf den Tisch zu legen und dem Kerl zu sagen, er möge sich doch bitte herausnehmen, was er für angemessen hält. Einmal, in einem Pariser Fischrestaurant, habe ich das wirklich getan. Ich mußte zu Fuß ins Hotel zurückkehren.
Die Frage des Trinkgelds läßt sich schon deshalb nicht beantworten, weil sie in einem Niemandsland gestellt wird, zu dem nicht einmal die Gewerkschaften Zutritt haben. Es ist immer wieder ein neu entstehender Kampf, ein Kampf zwischen zwei Gegnern, deren einer von allem Anfang an hoffnungslos im Nachteil ist. Dieser eine bin ich. Ich weiß nicht, wieviel Trinkgeld ich geben soll.
Hinterher weiß ich's. Ich habe zuviel gegeben, wenn der Taxifahrer meine Koffer in die Hotelhalle schleppt, und zuwenig, wenn der Hotelportier bei meiner Abreise die Drehtüre nicht in Schwung setzt. Undurchsichtig bleiben nur die englischen Hotelportiers, die selbst das generöseste Trinkgeld mit so herablassender Selbstverständlichkeit entgegennehmen, daß man ihnen am liebsten die Hand küssen möchte für die Gnade, die sie einem erwiesen haben. Anders die türkischen Portiers. Die sind menschlich. Wie hoch die Summe auch sein mag, die man ihnen in die Hand drückt - sie halten ungerührt die andere Hand hin und machen große Augen, als wollten sie sagen: »Schön, das war das Trinkgeld. Wo bleibt das Bakschisch?«
Der Einfluß der Geographie auf das Trinkgeldwesen ist nicht zu unterschätzen. Im allgemeinen steigt die Höhe des Trinkgelds in direkt proportionalem Verhältnis zur Höhe der Temperatur. Je heißer, desto höher. Am Mittelmeer doppelt so hoch. In Venedig zum Beispiel steht seit Jahrhunderten an jedem Gondel-Halteplatz ein pockennarbiger, zahnloser Greis, nähert sich dem Ein- oder Aussteigenden mit dem Ruf »Attenzione, attenzione« und beginnt in gotteslästerlichem Sizilianisch zu fluchen, wenn man ihn nicht dafür bezahlt. Für 200 Lire sagte er »Grazie«, für 500 oder mehr sagt er etwas auf englisch, für 100 sagt er nichts, für 50 spuckt er.
Demgegenüber ziemt sich ein Wort des Lobs für die italienischen Tankstellenwärter, diese Großmeister der Aufrundung. Gleichgültig, wieviel Benzin du verlangt hast - sie füllen dir den Tank für genau 9800 Lire, nicht einen Tropfen darüber, und gehen nicht fehl in der Annahme, daß du dir auf eine 10000 Lire-Note doch nicht zwei schäbige Münzen zurückgeben lassen wirst. Hier zeigt sich der psychologische Aspekt des Trinkgeld-Problems in Reinkultur.
Es hat auch noch andere Aspekte. In Ländern mit hoher Einkommenssteuer ist es höher, weil es netto berechnet wird. Noch höher ist es in Ländern, deren Regime zum Marxismus tendiert. Diese Regime, haben die menschenunwürdige Gepflogenheit, den Arbeitsmann durch Trinkgelder zu erniedrigen, so gründlich abgeschafft, daß der Arbeitsmann seinen Gram darüber im Alkohol ertränken muß. Daher der Name Trinkgeld. Das Ganze geht auf die programmatische Zielsetzung der sozialistischen Staaten zurück, einen neuen Menschentypus zu schaffen, den klassenbewußten Proletarier, dessen Arbeitsmoral ihm die Annahme von Trinkgeld verbietet. Leider müssen wir darauf verzichten, den Erfolg dieser Erziehungsmaßnahme zu untersuchen, da der in Rede stehende Proletarier vor sieben Jahren in Bulgarien gestorben ist.
Insgesamt läßt sich sagen, daß die werkenden Massen sich in dieser Angelegenheit bedeutend flexibler verhalten als ihre vorgesetzten Behörden. Es ist weniger das Trinkgeld als solches, durch das sich die Massen in ihrer Selbstachtung verletzt fühlen, als vielmehr die geringe Höhe des Trinkgelds - das man im übrigen, um der Menschenwürde willen, einfach auf dem Tisch zurücklassen kann, von wo es der Kellner an sich nimmt. Dieses Verfahren birgt allerdings das Risiko einer freudigen Überraschung für den nächsten Gast.
Es muß hier noch auf einen Punkt hingewiesen werden, den sämtliche Moralisten, Reformer und Revolutionäre bisher übersehen haben. Das Trinkgeld fördert nämlich die soziale Gleichstellung. Der Kellner, der am Morgen den gegenüberliegenden Frisiersalon aufsucht, verabschiedet sich dort mit einem reichlichen Trinkgeld, und wenn der Friseur am Mittag im gegenüberliegenden Restaurant seine Mahlzeit eingenommen hat, gibt er dem Kellner das reichliche Trinkgeld wieder zurück. Das bewirkt ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen zwei verschiedenen Klassen und stellt einen wichtigen Schritt in Richtung klassenlose Gesellschaft dar.
All diese tiefschürfenden Überlegungen helfen indessen nicht zur Bewältigung des Grundproblems, wieviel Trinkgeld man geben soll.
Nüchtern betrachtet, erkauft man mit dem Trinkgeld das Lächeln des Empfängers oder zumindest seine Geneigtheit, von
Beschimpfungen Abstand zu nehmen. Daraus folgt, daß sich die Höhe des Trinkgelds nach der Festigkeit deines Charakters richtet. Je unsicherer du dich fühlst, desto höher wird die Bestechungssumme sein, die du für ein paar flüchtige Augenblikke der Selbstbestätigung zu zahlen bereit bist. Die Schwierigkeit liegt darin, daß du dir in einem Sekundenbruchteil und ohne jede Hilfe darüber klar werden mußt, wieviel dir das Wohlwollen der betagten Matrone, die dir beim Verlassen des Kaffeehauses in den Mantel hilft, wert ist. Damit nicht genug, mußt du auch noch das Gehässigkeitspotential des jeweiligen Trinkgeldempfängers und seine Fähigkeit, dir durch eine gezielte Flegelei den Rest des Tages zu verderben, richtig einschätzen können. Wer kann das schon? Höchstens ein Computer.
In der Schweiz wird das Trinkgeld von der Regierung geregelt, und zwar durch ein seltsam widersprüchliches System. Einerseits teilt dir die Saaltochter, die dich im alkoholfreien Tearoom bedient hat und der du ein paar Münzen zuschieben willst, hochnäsig mit, daß das Trinkgeld bereits im Rechnungsbetrag eingeschlossen ist, andererseits mußt du dem Taxichauffeur auf behördliche Anordnung einen zehnprozentigen Zuschlag zum Fahrpreis entrichten. »Macht zehn Franken und 1,50 für den Service«, gibt er dir am Bestimmungsort unwidersprechlich bekannt und deutet auf eine Affiche, die sicherheitshalber in zwei Sprachen am Schaltbrett angebracht ist: »Service nicht inbegriffen/Service not included« - ein eklatanter Widerspruch zu der Tatsache, daß du ja für den Service, was auf deutsch soviel heißt wie Dienstleistung, soeben 10 Franken bezahlt hast.
Natürlich wäre es einfacher, das Trinkgeld in den Fahrpreis einzuschließen. Macht 11,50 und damit gut. Warum das nicht geschieht, gehört zu den unerforschlichen Rätseln der Menschenseele. Ich weiß nicht, warum die eidgenössischen Taxifahrer auf einer Trennung von Taxe und Trinkgeld bestehen. Ich weiß nur, daß sie um nichts glücklicher sind als ihre Kollegen anderswo auf der Welt. Das von Amts wegen festgesetzte Trinkgeld mag ihrem Berufsstolz förderlich sein. Aber es bringt sie um jenen unvergleichlichen Moment der Spannung, der das Trinkgeldgeben so überaus populär gemacht hat.
Das Trinkgeld gehört zum Dasein wie die Verkehrsampel und der Tod. Wir können es nicht abschaffen. Wir müssen mit dem Trinkgeld leben. Bleibt nur die Frage: Wieviel, um des Himmels willen, wieviel Trinkgeld gibt man?