Die Brille, das unbekannte Wesen

Der Mensch ist ständig nach etwas auf der Suche - nach Glück, nach Liebe, nach Öl oder was immer. Manche suchen den heiligen Gral, manche den Stein der Weisen.

Schreiber dieses sucht seine Brille.

Sie geht unweigerlich verloren, kaum daß ich sie abnehme. Manchmal schon vorher. Sie scheint irgendwie zu verdamp­fen, Gläser, Fassung und Gestell. Es ist rätselhaft.

Meistens geschieht es, wenn ich etwas notieren will.

Da ich kurzsichtig bin - ich wurde schon kurzsichtig geboren -, schiebe ich die Brille über meine eindrucksvoll hohe Stirne hinauf, und schon ist sie verschwunden. Die Brille, nicht die Stirne. Auch wenn ich sie vor dem Schlafengehen auf meinen Nachttisch lege oder ihr einen sicheren Platz auf dem Rand der Badewanne zuweise, bevor ich ins Wasser steige, ist sie nach­her nicht mehr vorhanden. Sie hat sich irgendwo im Haus ver­steckt. Vielleicht auch außerhalb des Hauses, ich weiß es nicht, wenn ich es wüßte, müßte ich sie ja nicht suchen. Ich habe den Eindruck, daß sie mich haßt.

Die eigentliche Qual, der geradezu unlösbare Konflikt be­steht darin, daß jemand, der seine Brille verloren hat, sie nur mit Hilfe seiner Brille finden kann. Ohne Brille ist man halb blind und tastet hilflos durch die Gegend, einer kurzsichtigen Schlange vergleichbar, die sich in den eigenen Schwanz beißt und ihn auffrißt, bis nichts mehr von ihm übrigbleibt. Oder von ihr.

Die Optiker, die ich zu Rate zog, bestätigten mir, daß Brillen zu jenen Gegenständen gehören, die leicht verlorengehen. Besonders hebräische Brillen lieben es, ihre Unabhängigkeit zu beweisen. Ganz besonders solche mit dünner Fassung. Sie haben keinen richtigen Halt. Und es wäre zwecklos, sie etwa an einem Kettchen zu befestigen und sie vor der Brust bau­meln zu lassen wie ein Medaillon. Sie kennen ihren Karl

Marx: Brillengläser aller Länder, vereinigt euch! Ihr habt nichts zu verlieren als eure Ketten! Schwupps - weg sind sie.

Mein Fall ist um so schlimmer, als ich nur wenig Dioptrien aufzuweisen habe, so daß mir auch bei bloßen Augen eine gewisse Sehkraft verbleibt. Es kann geschehen, daß ich mit meinem Wagen eine Viertelstunde lang durch eine merkwür­dig verwischte Gegend fahre, ehe ich merke, daß ich keine Brille habe. Oder ich suche sie verzweifelt in den Polsterspal­ten eines Fauteuils und entdecke sie schließlich auf meiner Nase. Leute mit dicken Brillengläsern kann so etwas nie pas­sieren. Nur unsereins ist ständig auf der Suche nach seiner Brille und wird wütend, wenn sie wieder einmal verschwun­den ist. Ich für meine Person pflege sie dann auf ungarisch zu verfluchen und trommle mit den Fäusten gegen die Wand, ehe ich Vernunft an- und die Rekonstruktion des Vorgangs auf­nehme.

»Wo habe ich sie zuletzt gesehen?« frage ich mich unter hef­tigem Blinzeln. »Wenn ich nicht irre - worauf man sich ohne Brille allerdings nicht verlassen kann -, hatte ich sie beim Le­sen der Morgenblätter noch in Gebrauch. Dann habe ich die Blechdose mit den Erdnüssen geöffnet. Dann habe ich mich rasiert. Halt!«

Das Rasieren liefert mir einen vielversprechenden Anhalts­punkt. Ich eile ins Badezimmer, suche, stöbere, kehre alles von oben nach unten und finde nichts. Auch die Erdnüsse und die Zeitungen lassen mich im Stich. Ich muß mich bis auf weiteres an den Nebel gewöhnen.

Plötzlich gegen Mittag, erscheint die Brille auf dem Klavier, und zwar auf den oberen Tasten. Wie sie dorthin gekommen ist, ahne ich nicht. Ich habe das letzte Mal im Alter von sieben Jahren Klavier gespielt.

»Wollen Sie damit sagen«, unterbricht mich an dieser Stelle der unfreundliche Leser, »daß Ihre Brille mit Ihnen Verstecken spielt?«

Ja. Genau das will ich sagen. Meine Brille führt ein eigenes Leben, sogar ein sehr munteres und vergnügtes. Kaum lege ich sie für einen Augenblick beiseite, entfernt sie sich auf Zehen­spitzen und geht verloren. Sie weiß, daß mich das ärgert. Des­halb tut sie's ja. Wenn ich sie dann irgendwo finde, wo sie nicht hingehört, zum Beispiel in der Vorhangschnalle am Fen­sterbrett oder im Kühlschrank unter den Steaks, grinst sie mich an und macht keinen Hehl aus ihrer Schadenfreude. Einmal habe ich sie sogar tief innen in unserem Fernsehapparat ent­deckt, wo sie die Drähte durcheinanderbrachte. Und während der letzten Hitzewelle fand sie ihren Weg bis aufs Dach hin­auf. Sie kann fliegen.

Manchmal nehme ich sie in Präventivhaft. Bevor ich schlafen gehe, sperre ich sie zwischen dem Bleistifthalter und dem Fa­milienfoto auf meinem Schreibtisch ein und memoriere noch im Bett:

»Zwischen den Bleistiften und der Familie, zwischen den Bleistiften und...«

Am Morgen führt mich mein erster Weg zum Schreibtisch. Bleistifte und Familie sind da, die Brille nicht. Ein paar Stun­den später setze ich mich ans Steuer meines Wagens, um in die Stadt zu fahren - und höre aus dem Fond ein leises Hallo. Es ist meine Brille.

Manchmal verschwindet sie für Tage, und ich reiße verge­bens die Tapeten von der Wand. Die einzig erfolgreiche Ge­genwehr besteht darin, sofort eine neue Brille zu bestellen. In der Regel taucht dann die alte fünf Minuten vor dem Anruf des Optikers auf, der mir mitteilt, daß die neue abholbereit ist. Sie wird in die Reserve versetzt, als diejenige, mit der man die andere sucht. Das funktioniert so lange, bis eine von beiden spurlos verschwindet. Beide zugleich gibt es immer nur für ganz kurze Zeit. Sie hassen einander.

Die beste Ehefrau von allen behauptet, daß die Misere nicht an den Brillengläsern liegt, sondern an mir, weil ich so zer­streut bin. Sie hat keine Ahnung von Brillenpsychologie. Also muß ich den Kampf allein ausfechten.

Eines Tages kam mir der geniale Einfall, unsere gemischte Rassehündin Franzi als Brillenjagdhund abzurichten. Ich ließ sie Witterung nehmen, indem ich die Gläser ausführlich an ihrer Nase rieb, dann versteckte ich die Brille im Garten, dann tappte ich nach Franzi, geleitete sie zu meiner Brille und gab ihr ein Stück Zucker als Finderlohn. Nach mehrmaliger Wie­derholung dieses Vorgangs führte ich gestern einen Test durch.

»Franzi!« rief ich. »Such die Augengläser!«

Franzi spitzte die Ohren, schnüffelte in die Luft und zog mich schnurstracks zum Zuckerbehälter. Ich konnte den Zucker verstecken, wo immer ich wollte - Franz kam ihm unfehlbar auf die Spur. Man kann sich auf das Witterungsvermögen von Hunden verlassen. Sie brauchen keine Brillen.

Nach langem Nachdenken habe ich jetzt die endgültige Lö­sung gefunden. Ich nehme meine Brillengläser nicht mehr ab. Ich wasche mich mit ihnen, ich weine mit ihnen, ich schlafe mit ihnen. Und ich träume von ihnen. Ich träume, daß ich sie verloren habe.

Am Morgen wache ich auf - und was muß ich feststellen? Ich habe sie verloren.

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