Madeleine

Jüngst im Abenddämmer, als aus den Orangenhainen rings­um das heisere Lachen der Schakale ertönte und der Wind gelbe Wölkchen von Wüstensand herbeiblies, stand plötzlich Schultheiss in meinem Garten. Ich freute mich, ihn nach so langer Zeit wiederzusehen. Er hatte sich nicht verändert, er war ganz der alte, elegante Schultheiss, jeder Zoll ein Intellek­tueller von Distinktion. Nur in seinen Augen, ich merkte es sofort, lag etwas sonderbar Trauriges.

Ich bot ihm Platz und einen Becher bekömmlichen Jor­danwassers an. Schultheiss nahm schweigsam einige Schluk­ke.

»Ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte er dann.

»Tun Sie das getrost. Ich vermute, daß Sie deshalb herge­kommen sind.«

»Es war nicht leicht für mich, diesen Entschluß zu fassen. Aber ich ertrage es nicht länger. Ich muß mich jemandem an­vertrauen. Auch wenn ich ein höherer Regierungsbeamter bin, der seinen guten Ruf zu wahren hat.«

Ich goß ihm noch eine Portion Jordan nach und machte eine aufmunternde Geste.

»Wenn ich nur wüßte, wo ich beginnen soll«, begann er. »Sie kennen mich schon lange. Sie wissen, daß ich ein gesunder, ausgeglichener Mensch bin, der das volle Vertrauen seiner Vorgesetzten genießt.«

»Das sind Sie.«

»So scheint es jedenfalls dem oberflächlichen Betrachter. In Wahrheit jedoch, das dürfen Sie mir glauben, führe ich ein zutiefst einsames Leben. Ich bin Junggeselle, weil ich nie eine passende Gefährtin gefunden habe. Und dabei ging meine ganze Sehnsucht immer nach ein wenig Wärme. Aber ich habe sie nie gefunden - bis zu dem Augenblick, da Madeleine in mein Leben trat.«

Er starrte eine Weile in die Luft, ehe er fortfuhr:

»Der Mensch weiß ja nie, wann das Schicksal an seine Türe pocht. An jenem Tag ließ ich mir nichts davon träumen... Es war der dritte November vorigen Jahres.«

»Die Liaison dauert also schon sechs Monate?«

»Ja. Ich wachte damals mit einem Schüttelfrost auf und rief den Arzt, der eine fiebrige Grippe konstatierte und mir irgend etwas verschrieb. Mein Wohnungsnachbar ging in die Apo­theke, um es zu holen, und kam mit einer Schachtel zurück. Ich öffnete sie und fand einen größeren Gegenstand aus rosa­farbenem Gummi.«

»Eine Wärmflasche?«

»Eine ganz gewöhnliche Wärmflasche. Heimisches Er­zeugnis. Mit Metallverschluß. Nichts Besonderes... mein Gott, wie ich mich schäme!«

»Aber warum?«

»Es fällt mir so schwer, über Angelegenheiten der Intim­sphäre zu sprechen. Haben Sie Geduld mit mir!«

»Hab ich.«

»Ich erinnere mich genau. Als ich die Wärmflasche das erste Mal füllte, regnete es draußen und im Zimmer war's kalt. Ich legte mir die Flasche auf die Brust und... und... ob Sie's glau­ben oder nicht: zum erstenmal im Leben fühlte mein Herz etwas Wärme. Zum erstenmal im Leben war ich nicht allein. Können Sie mich verstehen?«

»Natürlich.«

»Da liegt dieses Ding neben Ihnen, dieses warme, weiche Ding, und seine einzige Aufgabe besteht darin, Ihnen das Le­ben zu erleichtern. Ich war ihr so dankbar, meiner Madeleine.«

»Wie bitte?«

»So nannte ich sie. Madeleine. Gleich von Anfang an. War­um Madeleine? Ich weiß es nicht. Vielleicht habe ich einmal in Paris ein Mädchen namens Madeleine geliebt. Vielleicht wollte ich sie nur lieben. Oder vielleicht wollte ich nur nach Paris fahren. Wie immer dem sei - von jetzt an konnten mir die Stürme des Lebens nichts mehr anhaben. Ich hatte meine Ma­deleine bei mir, unter der Decke. Finden Sie das absurd?«

»In keiner Weise. Sehr viele Menschen verwenden Wärmfla­schen.«

»Sie schätzen das nicht ganz richtig ein. Bedenken Sie doch: Wenn ich kalte Füße habe - Madeleine wärmt sie. Schmerzen in der Hüfte - Madeleine vertreibt sie. Ich kann sie mir auch auf den Bauch legen, wenn ich will. Ihre Möglichkeiten sind unbegrenzt. Und Madeleine bleibt immer bescheiden, immer loyal, immer dienstbereit. Alles, was sie verlangt, ist ein wenig heißes Wasser. Ich wollte es mir lange nicht eingestehen, aber es läßt sich nun einmal nicht leugnen. Ich...«

»Sie haben sich in sie verliebt?«

»Ja, so könnte man's sagen. Ich muß immer an Pygmalion denken. Sie kennen doch die wunderschöne Geschichte von diesem englischen Sprachforscher, der sich in eine Statue der Aphrodite verliebt. So ähnlich liegt mein Fall. Manchmal fra­ge ich mich, wie ist es möglich, daß ein erwachsener, intelli­genter Mensch nach einer nichtssagenden, unscheinbaren Wärmflasche verrückt ist. Es gibt weiß Gott viel schönere und größere. Aber ich will nur meine kleine Madeleine. Ich muß sogar gestehen, daß ich eifersüchtig auf sie bin.«

»Sie betrügt Sie?«

»Sie hat mich schon einmal betrogen.« Schultheiss zündete sich eine Zigarette an und begann nervös zu paffen. »Es war nicht ihre Schuld. Es lag an den Umständen. Vor ein paar Mo­naten war Madeleine undicht geworden. In meiner rasenden Verliebtheit wollte ich sie immer noch wärmer haben und hatte sie mit so heißem Wasser angefüllt, daß sie an der Seite eine Brandwunde erlitt und zu tropfen begann. Ich war ver­zweifelt. Ich ging mit ihr zum berühmtesten Wärmflaschen­spezialisten, den wir haben - und dort geschah das Schreckli­che. Als ich sie am Abend abholen wollte, drückte mir dieser Verbrecher eine vollkommen Fremde in die Hand. Er hatte sie mit einer anderen verwechselt. Ich glaube nicht, daß er es ab­sichtlich getan hat, aber das ist keine Entschuldigung. Ich ließ mir ein Verzeichnis seiner Kundschaften geben und suchte

Madeleine in der ganzen Stadt, straßauf, straßab. Gegen Mit­ternacht fand ich sie endlich, im Bett eines dicken, ächzenden Gemischtwarenhändlers... dort fand ich sie...«

»In flagranti?«

Schultheiss konnte nur wortlos nicken.

»Seither habe ich sie nie mehr aus den Augen gelassen. Oft wache ich in der Nacht schweißgebadet auf, weil mir geträumt hatte, daß sie tropft. Meine Angstzustände wurden so schlimm, daß ich eine Eheberatungsstelle aufsuchte. Man untersuchte mich und fand, daß es für mich nur eine einzige Lösung gäbe: eine neue Wärmflasche zu kaufen, um den zerstörerischen Einfluß, den Madeleine auf mich ausübte, endlich auszuschal­ten.«

»Haben Sie eine gekauft?«

»Ja. Sie liegt ungebraucht in der Schublade. Ich weiß sehr wohl, daß ich nach dem Gesetz berechtigt bin, mir zwei Wärmflaschen zu halten. Aber man kann mich doch nicht zwingen, beide zu verwenden?«

»Gewiß nicht.«

»Madeleine und ich sind fürs Leben verbunden. So ist es nun einmal, und dagegen kann man nichts tun.«

»Lassen Sie sich gratulieren. Es geschieht nur selten, daß ei­ne so tiefe menschliche Beziehung zustande kommt.«

»Warten Sie. Sie wissen noch nicht alles. Ich habe Ihnen den Anlaß meines Besuchs noch nicht erzählt. So schwer es mir fällt -ich muß zugeben, daß es einen ganz bestimmten Um­stand gibt, der unser glückliches Zusammenleben trübt. Sehen Sie - diese Wärmflaschen haben nur eine begrenzte Wirkungs­dauer, und selbst Madeleine bleibt nicht länger als vier oder fünf Stunden heiß. Und dann... ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll...«

»Sie wird frigid?«

»Danke. Ich danke Ihnen, daß Sie mir das abgenommen ha­ben. Denn bei all meiner Liebe zu Madeleine muß ich geste­hen, daß es kaum etwas Unangenehmeres gibt, als mit einer erkalteten Wärmflasche in Berührung zu kommen. Und wenn das geschieht, wenn ich beispielsweise kurz vor dem Einschla­fen dieses kalte Gummizeug an meinen Füßen spüre, dann befördere ich Madeleine mit einem Fußtritt aus dem Bett hin­aus.«

»Nein!«

»Barbarisch, nicht wahr. Und am Morgen, wenn ich aufwa­che und das arme Ding auf dem Fußboden liegen sehe, schlaff und erschöpft...« Schultheiss begann zu weinen. »Ich schäme mich vor mir selbst. Ich hätte nie gedacht, daß ich so grausam sein kann. Solange sie heiß ist, halte ich sie in meinen Armen, herze und kose sie -und kaum wird sie kalt, behandle ich sie wie einen Fetzen, schleudere sie zu Boden, trete nach ihr. Was hilft es mir, daß ich am Morgen vor ihr niederknie und ihr schwöre, es nie wieder zu tun. Ich tu's ja doch...«

Verzweifelt barg Schultheiss das Gesicht in den Händen. Er war dem Zusammenbruch nah.

»Helfen Sie mir!« wimmerte er. »Erlösen Sie mich von die­ser Misere! Geben Sie mir einen Rat!«

Ich dachte lange und angestrengt nach.

»Schultheiss« sagte ich endlich. »Ich glaube, daß ich die Lö­sung gefunden habe. Ob's auch wirklich funktionieren wird, weiß ich nicht, aber man kann es jedenfalls versuchen.«

»Was?« fragte Schultheiss begierig. »Was?!«

»Wenn Sie merken, daß die Flasche kalt wird, dann stehen Sie auf und füllen Sie heißes Wasser nach!« Ein Leuchten ging über Schultheissens gramzerfurchtes Gesicht. Er stand auf, drückte mir wortlos die Hand und entfernte sich, torkelnd vor Dankbarkeit.

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