Irgendwo in Alaska

9. März 1939

Aus einer Entfernung von vier Meilen und einer Höhe von anderthalb betrachtet, sah Saint Claire eigentlich nicht wie eine Stadt aus, sondern wie eine Ansammlung von schwarzem und braunem Geröll, das, keiner erkennbaren Ordnung folgend, im schmutzigen Schnee der Ebene verteilt war. Und sehr viel mehr war es eigentlich auch nicht.

Morton war noch niemals in dieser Stadt gewesen, aber der Pilot des Wasserflugzeugs, der sie zwölf Meilen von hier entfernt abgesetzt hatte, hatte ihnen genug über Saint Claire erzählt, um ihm eine ungefähre Vorstellung von dem zu geben, was sie erwartete: zwei oder drei Dutzend baufällige Bretterhütten, die nicht nur so aussahen, als wären sie aus den Zeiten des Goldrauschs am Yukon übriggeblieben, sondern es tatsächlich waren, und ein knappes Hundert abenteuerlicher Gestalten, die im Aussehen und vom Charakter her zu diesem Ort paßten. Und um die man besser einen Bogen machte, nicht nur in der Nacht, sondern auch am Tage.

Was Morton allerdings in den letzten fünf Minuten durch den Feldstecher hindurch beobachtet hatte, das waren nicht hundert, sondern sicherlich dreimal so viele dickvermummte Gestalten, die sich in und um Saint Claire herumtrieben, mit keiner erkennbaren Tätigkeit beschäftigt, trotzdem aber sehr aktiv. Und Hunde. Hunderte, wenn nicht Tausende von Hunden, deren Gekläff der Wind selbst über fünf Meilen Entfernung noch herantrug.

Morton ließ den Feldstecher sinken und reichte ihn nach kurzem Zögern an seinen Begleiter weiter. Der Mann hatte ungefähr seine Größe und Statur, und selbst ihre Gesichter ähnelten sich ein bißchen, aber Dr. Browning war gut zwanzig Jahre älter als Morton, und er hatte nicht die Hautfarbe eines von Wind und Wetter gegerbten Seemanns, sondern den blassen, leicht kränklich wirkenden Teint eines Wissenschaftlers, der fünfundneunzig Prozent seiner Zeit hinter einem zerkratzten Schreibtisch in einem verstaubten Institut verbrachte.

Und es war ihm deutlich anzusehen, daß er sich in seiner Haut und dieser Umgebung mindestens ebenso unwohl fühlte wie Morton, wenn nicht unwohler.

Kapitän Morton nutzte die Zeit, die Browning brauchte, um den Feldstecher anzusetzen und Saint Claire und die Ansammlung von Menschen und Hunden darin zu betrachten, um sich in die Hocke niederzulassen und die Bindungen der Langlaufskier zu überprüfen, mit denen sie ausgerüstet waren. Nicht, daß es nötig gewesen wäre; aber Morton war ein gründlicher Mensch. Das letzte Stück Weg, das noch vor ihnen lag, sah harmlos aus, aber er wußte, wie sehr ein solcher erster Eindruck täuschen konnte.

Wäre die Erinnerung nicht so schmerzlich gewesen, dann hätte Morton über die Ähnlichkeit der äußeren Umstände gelächelt. Es war drei Monate her, und sie waren etliche tausend Seemeilen entfernt. Und trotzdem fühlte er sich an nichts stärker erinnert als an den Moment, in dem sie sich der schwimmenden Eisinsel das erste Mal genähert hatten. Auch jetzt lagen vor ihnen wieder eine weiße Einöde und eine Aufgabe, von der sie bestenfalls ahnen konnten, wie sie ausgehen mochte. Und auch jetzt hatte er wieder das sichere Gefühl, daß die nächsten Stunden nicht halb so ruhig verlaufen würden, wie er es sich gewünscht hätte.

«Puh«, machte Browning und ließ den Feldstecher sinken.

Morton blickte ihn an.

«Und Sie sind sicher, daß wir Dr. Jones dort unten finden?«fragte er zweifelnd.

Browning zuckte mit den Schultern.»Nach allem, was ich gehört habe, nimmt er an diesem Rennen teil«, antwortete er.

«Aber das heißt nicht, daß er unbedingt dort ist. «Er deutete mit einer Kopfbewegung ins Tal hinab, und Morton nahm den Feldstecher wieder an sich, ehe er weitersprach. Allein in den beiden Tagen, in denen sie jetzt zusammen waren, hatte Browning einen Kompaß, zwei Karten, eine Schneebrille, ein Paar Handschuhe, einen Schlafsack und noch eine ganze Reihe anderer Dinge verloren. Der Wissenschaftler war möglicherweise einer der intelligentesten, gewiß aber mit Abstand der schlampigste Mensch, dem Morton jemals begegnet war.

«Was soll das bedeuten?«fragte Morton.»Das heißt nicht, daß er auch unbedingt dort ist?«

«Das Rennen geht über insgesamt anderthalbtausend Meilen«, antwortete Browning.»Dieses Kaff dort unten ist so eine Art Sammelpunkt. Es liegt ziemlich genau auf halber Strecke, und wenn auch nur die Hälfte von dem stimmt, was ich über Dr. Jones gehört habe, dann dürfte er nicht allzuviel Zeit damit verschwenden, sich auszuruhen. Vielleicht ist er noch gar nicht da. Oder schon wieder weg.«

Morton schwieg verwirrt. Wieder glitt sein Blick für einen Moment zu der Ansammlung windschiefer Hütten am Ufer des zugefrorenen Flusses, und der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde noch ein bißchen betrübter. Schließlich seufzte er tief.»Also gut«, sagte er.»Versuchen wir unser Glück. Je eher wir hier wieder wegkommen, desto besser. «Sie fuhren los.

Weder Morton noch Dr. Browning waren geübte Skifahrer, so daß sie nur langsam vorwärtskamen, zumal der Hang sich als so trügerisch erwies, wie Morton befürchtet hatte. Unter der scheinbar glatten Schneedecke verbarg sich eine Unzahl von Felsen und Gestrüpp, in denen sich ihre Skier immer wieder verfingen, so daß sie beide mehr als einmal stürzten und es einem kleinen Wunder gleichkam, daß sich keiner von ihnen verletzte. Aber es war ohnehin eine Art Wunder, dachte Morton, daß sie überhaupt so weit gekommen waren. Diese letzten zwölf Meilen, die sie auf Skiern zurückgelegt hatten, waren nicht geplant gewesen. Zwar hatten sie von vornherein gewußt, daß das Wasserflugzeug auf diesem zugefrorenen Seitenarm des Yukon nicht würde landen können, aber eigentlich hätte ein Hundeschlittengespann auf sie warten sollen, um sie nach Saint Clai-re zu bringen.

Doch der Hundeführer hatte sich kurzerhand entschlossen, an dem Huskyrennen teilzunehmen, dessen Vorbereitungen sie vom Hügel herab beobachtet hatten. Und alles Toben und Zetern Brownings hatte nichts genutzt. Sie waren hier in Alaska. Noch dazu in einem Teil Alaskas, der ebensogut aus dem vergangenen Jahrhundert hätte stammen können, und Brownings Position und Einfluß waren hier ungefähr genausoviel wert wie Mortons Kapitänspatent: nämlich gar nichts. Browning hätte ein paar Telegramme aufgeben und einigen Leuten gehörig die Meinung sagen können, aber das hätte wenig genutzt. Sie hatten einfach keine Zeit, auf einen Schlitten oder eine andere Transportmöglichkeit zu warten. Wenn sie Dr. Jones hier verpaßten, dann bedeutete das, daß sie wenigstens eine Woche verloren, vielleicht auch zwei oder drei, wenn das Wetter umschlug oder etwas anderes Unvorhergesehenes geschah, womit man in einer Gegend wie dieser immer rechnen mußte. Und jeder Tag, der verging, war unwiederbringlich verloren; Zeit, die sie einfach nicht hatten.

So hatten sie sich entschlossen, die letzten zwölf Meilen mit dem einzigen Beförderungsmittel zurückzulegen, das außer einem Hundegespann oder Schneeschuhen in einer Gegend wie dieser Sinn machte: auf Skiern. Browning hatte sich sogar überraschend gut gehalten, aber während der letzten Stunde war es ihm zunehmend schwerer gefallen, sich seine Erschöpfung nicht anmerken zu lassen.

Morton machte sich Sorgen um ihn. Der Regierungsbeauftragte war am Ende seiner Kräfte. Wenn sie Saint Claire erreichten und Dr. Jones nicht auf Anhieb fanden, dann war ihr Auftrag so oder so gescheitert. Weder er noch Browning waren in der Lage oder willens, in den schneeverwehten Wäldern Alaskas einen einzelnen Mann zu suchen.

Er verscheuchte den Gedanken und fuhr ein wenig langsamer. Browning war zurückgefallen. Das Gelände wurde zunehmend unwegsamer. Aus der Schneedecke wuchsen jetzt immer mehr Felsen, Büsche und abgestorbene Baumwurzeln hervor, und es gab jetzt kein Gefälle mehr, so daß sie sich mühsam mit ihren Skistöcken vorwärtsbewegen mußten.

Browning blieb stehen und rang keuchend nach Luft. Sein Gesicht war trotz der Kälte schweißbedeckt.»Mein Gott«, sagte er atemlos.»Ich schwöre, daß ich nie wieder in meinem Leben einen Fuß auf diese Teufelsdinger setzen werde.«

Morton nickte zustimmend. Er selbst hatte den gleichen Schwur schon vor drei Stunden geleistet, wenn auch nur für sich. Aber er konnte Brownings Gefühle sehr gut verstehen. Er glaubte jetzt zu ahnen, wie sich eine Landratte fühlte, die zum erstenmal im Leben ein Schiff betrat und sofort in einen Sturm mit Windstärke zwölf geriet. Kapitän Morton war niemals in seinem Leben seekrank gewesen, nicht einmal auf seiner allerersten Fahrt. Aber er hatte während der ganzen Strapazen die Feststellung gemacht, daß man durchaus skikrank werden konnte.

«Es ist nicht mehr weit«, sagte er.»Noch anderthalb Meilen, vielleicht zwei.«

Browning sah müde auf und blinzelte zur Stadt hinüber. Aus der Nähe betrachtet, machte Saint Claire einen noch weniger vertrauenerweckenden Eindruck als von der Höhe des Hügels herab. Das Winseln und Heulen der Hunde war jetzt ununterbrochen zu hören.

«Wie kommen wir über den Fluß?«

Morton zuckte nur mit den Schultern. Der Fluß war zugefroren, und die Eisdecke war sicherlich fest genug, sie zu tragen. Immerhin war sie massiv genug, die zwei oder drei Dutzend Huskygespanne auszuhalten, die sich im Moment darauf tummelten. Aber er begriff auch, warum Browning diese Frage gestellt hatte. Das Flußufer, noch eine knappe Meile entfernt, wurde von einer Vielzahl mannshoher Felsen gesäumt. Sie zu überklettern würde ebenso zeitraubend wie anstrengend sein.

Eine Weile sah er sich suchend um, dann deutete er auf einen Punkt vielleicht eine viertel Meile von ihrem direkten Kurs nach Saint Clai-re entfernt.»Dort drüben scheint es eine Lücke zu geben«, sagte er,»ein kleiner Umweg, aber vielleicht besser, als wenn wir uns auf diesen Felsen da die Hälse brechen. «Browning verzog das Gesicht, sagte aber kein Wort, sondern nickte nur resignierend mit dem Kopf und fuhr weiter.

Der Wind, der ihnen bisher eisig in die Gesichter geblasen hatte, ließ jetzt nach. Und mit ihm wurde auch das Heulen der Hunde und das Raunen der Menschenmenge drüben am anderen Flußufer leiser. Als sie die Lücke zwischen den Felsen erreicht hatten, war es fast vollkommen still geworden.

Morton hielt an und sah mißtrauisch auf den Fluß hinaus. Die Eisdecke war so massiv, wie er angenommen hatte; kein Problem, einfach über den Fluß zu gehen. Und obwohl es nicht sehr lange her war, daß er sich geschworen hatte, nie wieder im Leben einen Fuß auf irgend etwas zu setzen, das auch nur wie Eis aussah, war er fast erleichtert, endlich von diesen verdammten Skiern herunterzukommen. Aufatmend lehnte er seine Skistöcke an einen Felsen, ließ sich ungeschickt zu Boden sinken und begann mit klammen Fingern an den breiten Schnallen der Lederbindung herumzufummeln.

«He!«sagte Browning.

Morton sah auf.»Was ist denn?«

Browning deutete mit gerunzelter Stirn über den Fluß.»Irgend etwas geht da vor.«

Mortons Blick folgte Brownings Handbewegung. Tatsächlich hatte sich irgend etwas in Saint Claire verändert, aber es dauerte einen Moment, bis er erkannte, was es war. Etwas in dem Rhythmus des unablässigen Hin und Her der Menschen dort drüben war anders geworden. Viele waren stehengeblieben, und einige hatten die Arme erhoben und winkten. Morton hörte Rufe, ohne die Worte verstehen zu können. Aber es klang irgendwie… beunruhigend. Morton konnte nicht sagen, warum — aber was er sah, gefiel ihm nicht.

«Es sieht so aus, als hätten sie uns gesehen«, sagte Browning. Er lächelte müde.»Vielleicht schicken sie uns einen Schlitten entgegen.«

Morton schwieg. Er hatte kein gutes Gefühl. Das Rufen und Gestikulieren dort drüben galt eindeutig ihnen, aber er war ganz und gar nicht so sicher wie Browning, daß es nur eine Begrüßung war.

Voller Unbehagen sah er sich um. Die Felsen, zwischen denen sie angehalten hatten, waren riesig und mit geborstenen Panzern aus dünnem Eis überzogen. Nirgends rührte sich etwas. Kein Anzeichen irgendeiner Gefahr, in die sie unwissentlich hineingelaufen waren. Vielleicht war er einfach nur erschöpft und bereits übernervös.

«Möglich«, antwortete er mit einiger Verspätung. Er stand auf und half Browning, sich ebenfalls von seinen Skiern zu befreien. Dabei blickte er immer wieder nach Saint Claire hinüber. Am jenseitigen Ufer waren immer mehr und mehr Menschen zusammengekommen, und tatsächlich bewegten sich jetzt gleich drei Hundeschlitten auf sie zu. Sie würden Minuten brauchen, um sie zu erreichen. Der Fluß war breiter, als er von weitem ausgesehen hatte.

«Gehen wir ihnen entgegen?«fragte Browning.

Morton überlegte einen ganz kurzen Augenblick, dann schüttelte er den Kopf.»Nein«, sagte er.»Besser, wir warten hier. Sie brauchen ja nur ein paar Minuten.«

Aber das war nur die halbe Wahrheit. Er war plötzlich sicher, daß irgend etwas nicht stimmte. Und er hatte gelernt, auf seine innere Stimme zu hören. Als er ihre Warnung das letzte Mal mißachtet hatte, hätte ihn das beinahe das Leben gekostet. Vielleicht war vor ihnen eine dünne Stelle im Eis, oder es gab irgendeine andere Gefahr, von der sie nichts wußten.

Kapitän Morton kam mit dieser Vermutung der Wahrheit ziemlich nahe; aber die Gefahr ging nicht vom Fluß aus, und sie war auch nicht vor, sondern hinter ihnen. Und sie war nicht weiß, sondern schwarz, mehr als acht Fuß groß, gute acht Zentner schwer und bestand nur aus Muskeln, Klauen, Zähnen — und Hunger. Trotz seiner ungeheuren Größe bewegte sich der Kodiakbär mit der lautlosen Eleganz eines Ballettänzers. Seine Schritte verursachten nur ein kaum hörbares Knirschen auf dem Schnee, das in den Geräuschen von Mortons und Brownings keuchenden Atemzügen völlig unterging. Das Tier bewegte sich ganz instinktiv so, daß nicht einmal sein Schatten die beiden Männer warnen konnte. Hätte Morton sich nicht rein zufällig umgedreht, dann wäre der Tod vollkommen unvermittelt über die beiden Männer hereingebrochen.

Aber auch so entgingen sie ihm nur um Haaresbreite. Mortons Blick und der des riesigen Kodiakbären trafen sich für eine Sekunde, und im gleichen Moment, in dem der Mensch begriff, in welch entsetzlicher Gefahr sie sich befanden, begriff das Tier, daß die schon sicher geglaubte Beute gewarnt war. Mit einem zornigen Knurren und einer Geschwindigkeit, die man einem Wesen dieser Größe und Massigkeit niemals zugetraut hätte, stürmte es los.

Morton verschwendete keine Zeit darauf, Browning eine Warnung zuzuschreien, sondern packte den Regierungsbeauftragten kurzerhand am Kragen und zerrte ihn mit sich auf das Eis des zugefrorenen Flusses hinaus — in die einzige Richtung, die ihnen blieb.

Beinahe sofort verloren sie auf dem spiegelglatten Untergrund den Halt. Browning stolperte, kämpfte eine halbe Sekunde lang vergeblich um sein Gleichgewicht und stürzte, wobei er Morton mit sich riß. Nur knapp fünf Meter hinter ihnen stürmte der Kodiakbär zwischen den Felsen hervor und richtete sich mit einem angriffslustigen Knurren auf.

Aber auch das Raubtier hatte gewisse Schwierigkeiten mit dem Eis. Es strauchelte, drohte zu stürzen und ließ sich hastig wieder auf alle Viere niedersinken — um sofort weiterzustürmen.

Morton sprang auf, riß Browning mit sich in die Höhe und versetzte ihm einen Stoß, der ihn sofort wieder zu Boden stürzen ließ. Gleichzeitig warf er selbst sich in die entgegengesetzte Richtung.

Der Bär raste heran wie eine lebende Lawine aus Fell und Muskeln. Für einen winzigen Moment schien er unschlüssig, auf welches der beiden Beutestücke er sich stürzen sollte; aber als er sich entschied, war es zu spät. Sein eigener Schwung trieb ihn auf dem spiegelglatten Untergrund weiter. Seine Krallen rissen fingertiefe Furchen in das Eis. Es gelang ihm nicht, seinen Kurs ausreichend zu korrigieren. Haltlos schlitterte er zwischen den beiden Männern hindurch und rutschte noch gute fünfzehn, zwanzig Meter weiter, ehe er schließlich ungeschickt und ärgerlich, mit den Vordertatzen nach einem imaginären Gegner schlagend, zum Halten kam.

Abermals rappelte Morton sich auf. Sie hatten ein paar Sekunden gewonnen, aber nicht mehr. Hastig zerrte er mit den Zähnen den Handschuh von der Rechten, griff in die Tasche und zog die kleine Pistole heraus. Es war eine winzige Waffe, geradezu lächerlich gegen diesen Koloß aus Fleisch und Hunger, der bereits wieder heranstürmte. Und Morton war ganz und gar nicht sicher, ob er das Tier damit töten oder auch nur ernsthaft verletzen könnte. Aber vielleicht reichte sie ja aus, ihn wenigstens in die Flucht zu schlagen.

Aus den Augenwinkeln sah er, wie Browning sich umständlich erhob und beim Anblick des heranrasenden Bären erstarrte.

«Bleiben Sie liegen! Nicht bewegen!«schrie Morton. Gleichzeitig packte er die Waffe mit beiden Händen, spreizte die Beine, um sicherer zielen zu können, und legte auf den Bären an. Das Ungeheuer war noch acht Meter entfernt, dann sechs, vier…

… und plötzlich schoß ein schwarz-weiß-braunes Etwas mit der Geschwindigkeit eines D-Zugs zwischen Morton und dem Bären über das Eis.

Morton prallte mit einem Schreckensschrei zurück und riß automatisch die Waffe hoch. Ein Schuß löste sich. Der Knall klang in der kalten, klaren Luft sonderbar dünn und verloren, und der Rückstoß ließ Kapitän Morton auf dem spiegelglatten Eis endgültig die Balance verlieren. Er stürzte, rollte sich blitzschnell herum und versuchte seine Pistole auf den Bären zu richten.

Aber auch das riesige Tier war stehengeblieben, wenn auch offensichtlich mehr aus Überraschung denn aus Schrecken. Sein gewaltiger zottiger Schädel pendelte unschlüssig hin und her, und der Blick aus riesigen Augen, in denen eine beunruhigende Schläue glitzerte, tastete abwechselnd Morton, Browning und den neu aufgetauchten Gegner ab.

Auch Morton wandte den Kopf. Er sah erst jetzt, was es gewesen war, das ihn und Dr. Browning — zumindest für den Moment — vor einem unrühmlichen Ende im Magen dieses gewaltigen Bären bewahrt hatte: ein Hundeschlittengespann. Aber es war nicht irgendein Gespann. Morton verstand nicht viel von Hunden, und schon gar nicht von Schlittenhunden, aber selbst ihm war klar, daß ein schneeweißer Husky schon etwas Besonderes sein mußte. Und vor den flachen, ganz aus Bast und Weidenzweigen gefertigten Schlitten waren gleich acht weiße Schlittenhunde gespannt. Und so ungewöhnlich wie die Tiere und das Gefährt, das sie hinter sich herzerrten, waren auch die beiden Männer auf dem Schlitten.

Morton hätte sich kaum einen größeren Gegensatz als diese beiden vorstellen können. Der eine war ein Riese; ein Koloß von derartiger Statur und Schulterbreite, daß er schon beinahe mißgestaltet wirkte, mit schwarzem, kurzgeschnittenem Haar, das glänzte, als wäre es eingefettet, und den halb mongolischen, halb indianischen Gesichtszügen eines Eskimos. Der andere war ein Mann von normaler Statur, aber neben dem Eskimo wirkte er wie ein Zwerg. Und trotzdem war etwas an ihm, das beinahe sofort Mortons Aufmerksamkeit weckte. Auch wenn er nicht gleich sagen konnte, warum. Trotz der beißenden Kälte trug der Mann nur khakifarbene Hosen und eine hüftlange, an den Rändern ausgefranste Lederjacke, die von einem breiten Gürtel zusammengehalten wurde. Auf seinem Kopf saß ein brauner Hut, der aussah, als wäre er mit seinem Besitzer schon mindestens dreimal um den Globus gereist.

Aber es war nicht seine Kleidung, die Morton für einen Moment sogar die Gefahr vergessen ließ, in der er sich befand, sondern irgend etwas an dem Mann selbst. Er gehörte zu jenen Menschen, die man nur einmal zu sehen brauchte, um sie nie wieder zu vergessen.

Ein tiefes Knurren erinnerte Morton nachhaltig daran, daß der Anblick des Mannes mit dem Filzhut und seines hünenhaften Begleiters unter Umständen nicht nur das Erstaunlichste, sondern auch das Letzte sein konnte, was er in seinem Leben zu Gesicht bekam. Hastig rappelte er sich auf, ergriff seine Pistole wieder mit beiden Händen und wich rasch ein paar Schritte über das Eis zurück, bis er das Flußufer erreicht und festen Stand gefunden hatte. Dann hob er die Waffe, hielt sie mit ausgestreckten Armen und zielte sorgfältig. Der Ko-diakbär war ein Gigant, selbst für ein Wesen seiner Gattung. Wenn er mit dieser Spielzeugpistole überhaupt eine Chance hatte, ihn ernsthaft zu verwunden, dann nur, wenn er sehr genau traf, und das beim ersten Schuß.

«Nicht!«

Morton und der Bär erstarrten gleichzeitig mitten in der Bewegung und blickten beide gleichermaßen irritiert in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Der Hundeschlitten hatte kehrtgemacht und raste jetzt wieder auf den Bären zu, wobei er allmählich an Tempo verlor. Voller ungläubigem Staunen sah Morton zu, wie der Mann mit dem Filzhut die Zügel des Hundegespanns an den Eskimo weiterreichte, an seine Seite griff und kaum fünf Meter vor dem gigantischen Bären aus dem Schlitten sprang, obwohl das Gespann noch immer in scharfem Tempo dahinlief. Und er bewegte sich so sicher, als wäre unter seinen Füßen nicht die zugefrorene Oberfläche eines Flusses, die glatt wie Schmierseife war.

Der Bär blickte den winzigen Menschen vor sich mit einer Verwirrung an, die Morton einem Tier bis zu diesem Moment nicht zugetraut hätte. Dann schüttelte er wie ein griesgrämiger alter Mann, der sich über den infantilen Scherz eines Kindes ärgert, den Kopf und richtete sich auf die Hinterpfoten auf. Obwohl er sich nicht einmal die Mühe machte, sich zu seiner vollen Größe hochzurecken, überragte er die Gestalt vor sich jetzt gut um das Doppelte.

Erstaunlicherweise schien das den Mann nicht besonders zu beeindrucken. Im Gegenteil. Er blieb zwar stehen, machte aber keine Anstalten, die Flucht zu ergreifen oder auch nur vor dem Bären zurückzuweichen — was diesen erneut innehalten ließ. Ein Wesen von der Größe dieses Kodiakbären mußte es gewohnt sein, daß wirklich alles, was Beine hatte und in der Lage war, Angst zu empfinden, vor ihm floh.

Der Mann wich nicht. Als der Bär kampflustig die Arme ausbreitete und einen tapsigen Schritt in seine Richtung machte, spreizte der Mann nur ein wenig die Beine und hob die rechte Hand, die er vorhin zum Gürtel gesenkt hatte. Morton sah jetzt, daß sie tatsächlich eine Waffe hielt — aber eine völlig andere, als er erwartet hatte. Im ersten Moment hielt er das zusammengerollte braune Seil für ein Lasso, dann vollführte die Hand des Mannes eine blitzartige, kaum sichtbare Bewegung. Aus der Seilrolle wurde eine zuckende, geflochtene Lederschlange, die mit einem peitschenden Knall nach dem Gesicht des Bären schlug.

Das Ergebnis war erstaunlich: Der Schlag konnte kaum heftig genug gewesen sein, einem so gigantischen Tier wirklich weh zu tun; geschweige denn, es zu verletzen. Trotzdem taumelte der Bär mit einem wütenden Brüllen zurück und schlug mit den Tatzen in die Luft.

Die Peitsche knallte ein zweites Mal, und diesmal traf der Knoten an ihrem Ende genau die Nasenspitze des Kodiakbären.

Der braune Gigant brüllte vor Schmerz und Wut, zog den Kopf zwischen die Schultern und riß mit erstaunlich menschlich wirkender Geste die Tatzen vor das Gesicht. Er knurrte, bleckte wie ein angreifender Hund die Zähne und schlug zwei-, dreimal mit den Pranken in die Richtung, aus der der Angriff erfolgt war, rührte sich aber nicht von der Stelle.

Der Mann begann jetzt vor dem Bären auf und ab zu tänzeln, und (Morton zweifelte fast an seinem Verstand, aber er tat ganz genau das) er sprach mit dem Bären: Morton konnte die Worte nicht verstehen, aber er glaubte ein Lachen zu hören.

Die freie linke Hand des Mannes machte weit ausholende, wedelnde Bewegungen.

Der Bär grunzte, richtete sich plötzlich noch einmal zu seiner ganzen Größe auf, und die Peitsche traf ein drittes Mal, und diesmal noch heftiger, sein Gesicht.

Aber irgendwann, dachte Morton, würde sich selbst in dem tierischen Instinkt der Bestie die Erkenntnis durchsetzen, daß die Peitsche ihm zwar Schmerzen zufügen, ihn aber nicht wirklich verletzen konnte. Er hob seine Pistole, zielte sorgfältig und wartete darauf, daß der Mann mit der Peitsche einen Schritt zur Seite machte, um ihm freies Schußfeld zu gewähren.

Eine gewaltige Pranke legte sich auf seine Hände und drückte sie ohne sichtliche Anstrengung hinunter. Morton fuhr erschrocken zusammen, drehte sich um und blickte in ein breites, glänzendes Eskimogesicht, das aus gut sieben Fuß Höhe auf ihn herabsah.

«Was soll das?«fragte er aufgebracht. Er versuchte, seine Hände loszureißen, aber sie saßen fest wie in einen Schraubstock eingespannt. Der Griff des Eskimo war wie Stahl.

«Lassen Sie mich los!«verlangte er.»Der Bär — «

Der Riese schüttelte mit ausdruckslosem Gesicht den Kopf.»Waffe nicht nötig«, sagte er.»Bär geht…«

Morton starrte ihn eine Sekunde lang fassungslos an, dann gab er seine ohnehin aussichtslosen Bemühungen auf, seine Hände und damit die Waffe loszureißen, und blickte wieder zu dem Bären und dem Mann mit der Peitsche.

Und es schien, als hätte der Eskimo tatsächlich recht: Selbst jetzt, als er es sah, glaubte Morton es nicht wirklich — aber die riesige Bestie wich tatsächlich langsam vor dem Mann zurück! Die Peitsche knallte noch zwei-, dreimal, aber sie traf den Bären jetzt nicht einmal mehr, sondern fuhr nur pfeifend dicht vor seiner Schnauze durch die Luft. Jedesmal knurrte das Tier gereizt und schlug seinerseits mit den Pranken zu, traf aber natürlich nicht. Und dann geschah das Unfaßbare; zumindest für Morton. Mit einem letzten, jetzt beinahe trotzig klingenden Knurren ließ der Bär sich wieder auf alle Viere hinuntersinken, starrte seinen winzigen menschlichen Gegner noch einen Moment lang fast vorwurfsvoll an — und trollte sich!

Mortons Unterkiefer klappte herunter.»Aber das ist doch…«

Zum erstenmal machte sich so etwas wie eine menschliche Regung auf dem Gesicht des Eskimoriesen breit; er lächelte.»Pistole nicht nötig. Töten selten nötig.«

Und damit ließ er Mortons Hände los und wandte sich ohne ein weiteres Wort um, um zum Hundeschlitten zurückzugehen.

Morton sah ihm einen Moment lang verwirrt nach. Dann wandte auch er sich um und eilte zu Dr. Browning hinüber, der die Szene mit der gleichen Fassungslosigkeit und dem gleichen Erstaunen verfolgt hatte wie er selbst.

«Alles in Ordnung?«fragte er.

Browning nickte. Die Bewegung war fast nur zu ahnen, und in seinem Blick war ein Ausdruck, der Morton klar machte, daß der Wissenschaftler kurz davorstand, schlichtweg zusammenzuklappen.

«Wir sind außer Gefahr«, sagte er.

«Ja«, fügte eine Stimme hinter ihm hinzu.»Aber nur, wenn Sie sich ein bißchen damit beeilen, von hier wegzukommen.«

Als Morton sich umdrehte, blickte er ins Gesicht ihres Lebensretters. Es war ein kräftiges, sehr markantes Gesicht; ein wenig verwahrlost, als wäre es seit zwei oder drei Tagen weder mit einem Rasiermesser noch mit Wasser und Seife in Berührung gekommen; aber mit offenen, sympathischen Zügen und wachen Augen, die nicht so recht ins Antlitz des Abenteurers zu passen schienen, der der Mann sein mußte. Im Moment wanderte sein Blick von Morton zu Browning und wieder zurück, und der Ausdruck darin schwankte irgendwo zwischen Spott und einem sanften Vorwurf.

«Sie kennen sich nicht besonders gut in der Wildnis aus, wie?«fragte er.

Morton schüttelte automatisch den Kopf.»Nein. Wir — «

«Das merkt man«, unterbrach ihn der Fremde.»Sie sehen eigentlich nicht wie Dummköpfe aus. Haben Sie sich nicht gewundert, daß sich keine Menschenseele auf diese Seite des Flusses traut?«

Morton schüttelte abermals den Kopf.»Nein«, gestand er.

Ein dünnes, spöttisches Lächeln stahl sich auf die Lippen des anderen.»Das sollten Sie in Zukunft aber«, sagte er.»Zumindest, wenn Sie vorhaben, länger in dieser Gegend zu bleiben und es zu überleben.«

«Wer konnte denn mit so etwas rechnen?«verteidigte sich Morton.»Ich dachte, Bären halten um diese Jahreszeit Winterschlaf.«

«Normalerweise schon. Aber wenn ein paar hundert Greenhorns in der Nahe ihrer Höhlen herumtrampeln, dann werden sie schon einmal wach. «Das Lächeln des anderen wurde breiter.»Und meistens sind sie dann miserabler Laune.«

«Das haben wir gemerkt«, antwortete Morton.

«Gut«, sagte der Fremde.»Dann sorgen Sie dafür, daß Sie es so schnell nicht wieder vergessen. Und schauen Sie lieber, daß Sie von dieser Seite des Flusses wegkommen. «Er machte eine Bewegung nach Saint Claire hinüber.»Da drüben ist es ganz bestimmt weniger gefährlich.«

Er nickte Morton und Browning zum Abschied zu, drehte sich um und ging mit raschen Schritten auf den Hundeschlitten zu.

«He!«rief Morton.»Warten Sie doch!«

Der Fremde blieb stehen. Auf seinem Gesicht war jetzt eine leichte Spur von Unmut zu erkennen.»Ja?«

«Ich habe Ihnen noch gar nicht gedankt«, sagte Morton.

«Das ist auch nicht nötig. Bedanken Sie sich, indem Sie verschwinden. Ich habe Ihretwegen eine Pokerpartie unterbrochen — und ich hatte ein verdammt gutes Blatt. «Er ging weiter, kletterte hinter den Eskimohünen auf den Schlitten und stieß einen schrillen Pfiff aus. Ohne daß einer der beiden auch nur die Zügel berührt hätte, setzte sich das Gespann in Bewegung, zog einen engen Halbkreis und jagte, immer schneller werdend, auf die Stadt am anderen Ufer des Flusses zu.

Morton sah ihm nach, bis es in der Menschenmenge verschwunden war, die sich am Ortsrand von Saint Claire eingefunden hatte. Erst dann riß er sich mühsam von dem Anblick los und drehte sich wieder zu Browning herum.

Auf dem Gesicht des Regierungsbeamten lag noch immer derselbe verstörte Ausdruck wie vorhin. Doch auch Morton kam sich sehr hilflos vor. Was sie gerade mit angesehen hatten, das war so unglaublich gewesen, daß er nicht einmal mehr Angst empfand. Ein einzelner Mann mit einer Peitsche gegen das größte und gefährlichste Raubtier dieses Planeten — das war… unvorstellbar.

«Wer… war das?«fragte Morton unsicher.

Browning blickte ihn an. Seine Stimme zitterte leicht, und der Ausdruck darin war beinahe so etwas wie Ehrfurcht.»Das«, sagte er im Flüsterton,»war Dr. Indiana Jones.«

Aus der Nähe betrachtet, wirkte Saint Claire noch weniger vertrauenerweckend als von weitem, dafür aber schmutziger und lauter — sehr viel schmutziger und sehr viel lauter.

Das winzige Kaff an einem Seitenarm des Yukon war zwar auf keiner Landkarte zu finden, aber das schien kein Hinderungsgrund dafür gewesen zu sein, daß sich sämtliche Abenteurer, Verrückten und zwielichtigen Gestalten aus einem Umkreis von mindestens fünftausend Meilen hier getroffen hatten. O ja, dachte Morton, und jeder einzelne Schlittenhund, den es auf dieser ganzen Welt geben mußte.

Er hatte niemals so viele Hunde auf einmal gesehen. Seine erste Schätzung, die er vom Berg aus gemacht hatte, hatte er längst um ein gutes Stück nach oben korrigiert, und er tat es ein zweites und ein drittes Mal, während er neben Browning über die einzige Straße des Ortes ging. Die Hunde waren überall: auf den hölzernen Bürgersteigen, auf den Veranden, in Türen, in Fenstern; sogar auf einigen der flachen Dächer sah er struppige, schwarzweiße und braune vierbeinige Gestalten. Nur das weiße Gespann, nach dem sie suchten, fand er natürlich nicht.

«Was, zum Teufel, gibt es bei diesem Rennen zu gewinnen?«fragte er.

«Nichts«, antwortete Browning.

«Nichts?«

Browning schüttelte den Kopf.»Keinen materiellen Preis, wenn Sie das meinen«, sagte er.»Es geht nicht darum, irgend etwas mitzunehmen, verstehen Sie? Nur der Sieg zählt. Und für die allermeisten hier nicht einmal das.«

«Ach«, knurrte Morton griesgrämig.»Ich verstehe, der olympische Gedanke.«

«Ganz genau. «Browning nickte bekräftigend.»Dabeisein ist alles.«

«Und für Dr. Jones?«

Diesmal zögerte Browning einen kurzen Moment.»Ich weiß es nicht«, gestand er.»Ich kenne Dr. Jones nicht persönlich, aber nach allem, was ich von ihm gehört habe, ist es ihm wahrscheinlich völlig egal, ob er gewinnt oder auf dem letzten Platz landet. Es geht ihm nur um das Abenteuer.«

Morton antwortete nicht. Nach dem, was vor einer halben Stunde am anderen Ufer des Flusses passiert war, schien sein persönlicher Bedarf an Abenteuern für die nächsten fünfundzwanzig Jahre gedeckt. Ganz abgesehen davon, daß es ihm schon abenteuerlich genug erschien, alleine und nur mit einer Pistole bewaffnet durch diese Stadt zu gehen. Kapitän Morton war normalerweise kein Mann, der auf Äußerlichkeiten achtete, aber wenn er sich auch nur ein bißchen auf seine Menschenkenntnis verlassen konnte, waren hier in Saint Claire nicht nur alle Abenteurer, sondern auch alle Halsabschneider, Betrüger, Halunken, Wegelagerer, Falschspieler und Straßenräuber des gesamten nordamerikanischen Kontinents zusammengekommen. So ungefähr drei- bis viertausend Jahre Sing-Sing schätzte er. Wäre es nur nach ihm gegangen, dann hätte er sich allerhöchstens in Begleitung einer vollbewaffneten Kompanie Marinesoldaten hierher getraut; und selbst das erst, nachdem er Saint Claire eine halbe Stunde lang mit Breitseiten aus den Geschützen eines Schlachtkreuzers eingedeckt hätte.

Morton war ganz und gar nicht mehr sicher, daß es eine gute Idee gewesen war, die Gesellschaft des Kodiakbären gegen die der pelzvermummten Gestalten einzutauschen, die die Straße der Stadt bevölkerten.

«Wir sollten jemanden nach Dr. Jones fragen«, sagte er.»Es ist ziemlich sinnlos, einfach hier herumzulaufen und darauf zu warten, daß wir über ihn stolpern.«

«Aber das müssen wir nicht«, antwortete Browning.»Jones sprach von einer Pokerpartie. Erinnern Sie sich?«

Morton nickte griesgrämig. Sein Blick begegnete dem eines bärtigen Riesen, der mit vor der Brust verschränkten Armen am Eingang einer Bretterbude lehnte und dessen Gesicht aussah, als hätte er seinen Lebensunterhalt bisher als Sparringspartner von King Kong verdient. Er sah rasch weg.

«Und?«

«Pokerpartien finden selten auf offener Straße statt«, fuhr Browning mit sanftem Spott fort.»Und schon gar nicht bei diesem Wetter. Also brauchen wir nur in die Gastwirtschaft da drüben zu gehen. Ich bin sicher, daß wir Dr. Jones dort finden werden.«

Diesmal antwortete Morton gar nicht. Das, was Browning in einem Anfall von Größenwahn mit Gastwirtschaft bezeichnet hatte, war eine windschiefe Bude, über deren Tür ein lieblos gekritzeltes Schild behauptete, es handelte sich um einen Saloon. Der Versammlung wilder Gestalten vor seiner Tür und dem Lärm und Gläserklirren aus seinem Inneren nach zu urteilen, mußte er jede Hafenspelunke in den Schatten stellen, die Morton kennengelernt hatte. Und er kannte eine Menge.

Er traf mit seiner Vermutung ins Schwarze. Das Innere des Saloons war nicht so schlimm, wie er erwartet hatte — es war schlimmer. Im ersten Moment war er beinahe blind, als sie durch die Tür traten, denn es war fast stockfinster hier drinnen. Es gab keine Fenster, sondern nur eine einzige rußende Petroleumlampe, die so dicht unter der Decke hing, daß sich Morton unwillkürlich fragte, wieso die ganze Bruchbude nicht schon vor fünfzig Jahren in Flammen aufgegangen war. Dann gewöhnten sich seine Augen an das dämmerige Licht, und er erhielt die Antwort auf seine Frage: Feuer hatte hier einfach keinen Platz mehr. Von außen sah das Gebäude aus, als böte es Raum für dreißig, mit viel gutem Willen für vierzig Menschen, aber es mußten weit über hundert Gestalten sein, die sich an den roh gezimmerten Tischen und vor der Theke drängten, die nur aus einer über zwei Fässer gelegten Holzplanke bestand. Die Luft war zum Schneiden dick. Es stank nach Bier, Schnaps, Rauch und Schweiß, und der Lärm war beinahe unbeschreiblich.

«Sehen Sie Dr. Jones irgendwo?«schrie er Browning über den Lärm hinweg zu.

Der Wissenschaftler stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der Menschen sehen zu können. Und auch Morton kniff die Augen zusammen, um den Vorhang aus Qualm, Ruß und menschlichen Ausdünstungen zu durchdringen. Ein paar Gesichter wandten sich ihnen zu, — neugierige Blicke trafen sie. Einige Männer begannen zu lachen, einige grinsten, und jemand imitierte mit großem Geschick das Knurren eines Bären. Mortons Laune sank um weitere Grade, obwohl er das noch vor Augenblicken gar nicht für möglich gehalten hatte. Offensichtlich hatte die Geschichte ihres Eintreffens in Saint Claire bereits die Runde gemacht.

«Dort drüben!«

Browning berührte ihn am Arm und deutete mit der anderen Hand in den hintersten Winkel des Raumes. An einem runden Tisch saßen sieben oder acht Männer, von denen einer die übrigen um fast zwei Köpfe überragte. Der Riese wandte ihnen den Rücken zu, so daß sie sein Gesicht nicht erkennen konnten, aber Morton war sicher, daß es im Umkreis von zehntausend Meilen keinen zweiten Mann mit dieser Statur und pechschwarzen Haaren gab. Dann, nach einigen weiteren Sekunden, entdeckte er auch Dr. Jones. Er saß auf der anderen Seite des Tisches und hatte den braunen Filzhut so weit ins Gesicht geschoben, daß nur noch sein Kinn sichtbar war. In der Linken hielt er ein Blatt aus schmuddeligen Spielkarten. Mit der anderen kraulte er einen weißen Schlittenhund, der neben ihm saß und den Kopf in seinen Schoß gelegt hatte.

«Vielleicht sollten wir warten, bis sie ihre Pokerpartie beendet haben«, schlug er vor.

Browning lächelte.»Sie kennen Dr. Jones nicht, Morton«, sagte er.

«Das kann die ganze Nacht dauern oder auch zwei — das kommt immer darauf an, ob er gerade gewinnt oder verliert.«

Morton schwieg. Er hatte plötzlich gar keine Lust mehr, Dr. Jones überhaupt näher kennenzulernen.

«Was haben Sie?«fragte Browning spöttisch.»Angst? Und ich dachte, Sie wären mitgekommen, um mich zu beschützen.«

Morton setzte zu einer scharfen Antwort an, aber Browning hörte gar nicht mehr zu, sondern begann sich mit Händen und Ellbogen seinen Weg durch die Menschenmenge zu bahnen, und Morton mußte ihm folgen, ob er wollte oder nicht.

Als sie endlich den Tisch erreichten, an dem Jones und der Eskimo saßen, war er um etliche blaue Flecken und Prellungen und die Kenntnis von ungefähr hundert Flüchen in einem Dutzend verschiedener Sprachen reicher.

Zwei der Spieler sahen auf und musterten Browning und ihn kurz und prüfend, auch der Eskimo sah sie flüchtig an, konzentrierte sich dann aber wieder auf seine Spielkarten. Jones schien sie nicht einmal zur Kenntnis zu nehmen.

«Dr. Jones?«

Jones reagierte nicht, sondern starrte weiter gebannt auf das Blatt in seiner Hand, während er mit der anderen den Nacken des Eskimohundes kraulte.

«Dr. Jones!!«

Morton hatte nicht leise gesprochen. Mit Ausnahme des Eskimos und Indiana Jones’ selbst blickten nun alle Spieler, teils verwundert, teils auch eindeutig zornig, zu ihm auf, aber niemand sagte etwas. Morton krauste wütend die Stirn und setzte dazu an, loszubrüllen, aber Browning berührte ihn rasch an der Hand und machte eine beruhigende Geste, und so schwieg er.

Es verging eine ganze Weile. Eine Minute, zwei, drei — schließlich legte einer der Spieler seine Karten auf den Tisch: ein paar Siebener und ein As. Zwei der anderen Mitspieler warfen ihr Blatt schulterzuckend vor sich hin, während sich der Eskimo, Dr. Jones und die beiden übrigen Pokerspieler nicht bewegten, sondern weiter auf ihre Karten starrten. Wieder vergingen Minuten, dann spielte ein anderer Mann aus — diesmal ein Full House. Auch der Eskimo und der letzte Pokerspieler stiegen aus dem Spiel aus.

Indiana Jones hob ganz langsam den Blick, hörte auf, den Hund zu kraulen, und schob mit der frei gewordenen Hand seinen Hut in den Nacken. Ein triumphierendes Grinsen überzog sein Gesicht und ließ es plötzlich wie das eines Zwölfjährigen aussehen, dem ein besonders raffinierter Streich gelungen ist. Mit umständlichen, fast andächtigen Bewegungen begann er seine Karten vor sich auf dem Tisch auszubreiten.

«Ein Flush!«sagte er.»Sieht so aus, als hätte ich gewonnen, Freunde. Der Pot gehört mir.«

Niemand widersprach. Und Mortons Augen wurden groß vor Erstaunen, als Indiana Jones sich vorbeugte und mit beiden Händen den Pot einstrich — der aus nichts weiter als ungefähr zwei- bis dreihundert Streichhölzern bestand!

«Dr. Jones, wir müßten Sie sprechen«, sagte Browning.

Er hatte sehr viel leiser gesprochen als Morton vor ihm. Trotzdem reagierte Indiana Jones. Sekundenlang sah er den Wissenschaftler durchdringend an, und der Blick, mit dem er ihn musterte, war nicht unbedingt freundlich. Eher abschätzend, und ganz versuchte Jones den Umstand nicht zu verhehlen, daß ihm diese Störung unangenehm war. Aber dann zuckte er mit den Schultern, seufzte und ließ sich im Stuhl zurücksinken.

«Warum nicht«, sagte er. An die anderen gewandt und mit leicht erhobener Stimme fügte er hinzu:»Was haltet ihr von einer kleinen Pause, Jungs? Ich habe sowieso genug gewonnen.«

Mit Ausnahme des Eskimos erhoben sich die Spieler einer nach dem anderen und tauchten im Menschengewühl des Saloons unter. Jones deutete mit einer Kopfbewegung auf zwei frei gewordene Stühle und fuhr damit fort, die gewonnenen Streichhölzer vor sich in vier gleich große Häufchen aufzutürmen.

«Dr. Jones, wir… müssen mit Ihnen sprechen«, begann Browning erneut, nachdem sie Platz genommen hatten.

Jones reagierte nicht. Dafür hob er die Hand und machte eine Geste in Richtung der Theke.

Mortons Ärger wuchs weiter, aber Browning warf ihm einen weiteren warnenden Blick zu und fuhr vorsichtig, mit fast schon übertrieben betonten Worten und einer entsprechenden Geste auf Morton fort.»Das ist Kapitän Morton, ich bin Dr. Browning vom — «

«Ich weiß, wer Sie sind«, sagte Jones, ohne aufzublicken.

«Sie kennen mich?«

«Wer kennt Dr. Browning nicht?«entgegnete Jones. Er lächelte flüchtig.»Sind Sie wieder unterwegs, um Freiwillige für ein Himmelfahrtskommando zu suchen?«

Die Frage schien Browning sichtlich in Verlegenheit zu bringen, denn er brauchte eine ganze Weile, ehe er antwortete:»Nein, aber für ein Unternehmen, das…«

«…mich nicht interessiert«, fiel ihm Jones ins Wort. Leise, in fast freundlichem Ton, aber auch so entschlossen, daß Browning abermals schwieg; und diesmal fast eine Minute lang. Der Blick, mit dem er Morton dabei maß, war beinahe beschwörend. Irgendwo am anderen Ende des Lokals begannen zwei Männer zu streiten. Morton sah auf, konnte aber nichts als eine Mauer breiter, pelzverhüllter Rücken erkennen.

«Vielleicht hören Sie sich erst einmal an, was ich von Ihnen will«, meinte Browning schließlich.

Jones hatte seine Streichhölzer fertig sortiert, musterte die vier gleichgroßen, pedantisch ausgerichteten Stapel einige Sekunden aufmerksam und stieß sie dann mit dem Zeigefinger um.»Kein Interesse«, sagte er.

Ein dicker Kellner, der nach Schweiß und altem Schweinefett roch, trat an ihren Tisch, stellte einen Keramikkrug und vier Gläser, die genauso schmuddelig waren wie seine Finger, vor Jones ab und ging wieder. Jones goß zwei der Gläser voll, reichte eines an den Eskimo weiter und warf Browning einen fragenden Blick zu. Der Wissenschaftler schüttelte hastig den Kopf. Morton nickte, als Jones ihn ebenfalls ansah. Er war nicht durstig, und allein der Anblick des Glases drehte ihm fast den Magen um, aber er hatte gelernt, daß es manchmal Kleinigkeiten waren, die dabei halfen, das Vertrauen eines Menschen zu gewinnen. Und es war wichtig, daß sie Jones dazu überredeten, sie zu begleiten.

Fünf Sekunden später bedauerte er seinen Entschluß bitter, denn was immer in dem Krug gewesen war, er konnte jeden einzelnen Tropfen fühlen, der seine Kehle hinunterrann und eine brennende Spur in seine Speiseröhre ätzte. Vergeblich versuchte er, ein Husten zu unterdrücken, würgte den Rest, den er im Mund hatte, heldenmütig hinunter und legte hastig die flache Hand auf das Glas, als Jones ihm nachschenken wollte. Das schadenfrohe Grinsen auf dem Gesicht seines Gegenübers entging ihm keineswegs.

«Was ist das?«fragte er keuchend.»Schwefelsäure?«

Statt zu antworten, griff Jones nach seinem eigenen Glas, leerte es in einem Zug und schenkte sich sofort nach. Morton wechselte das Thema.

«Dr. Jones«, begann er umständlich.»Dr. Browning und ich sind einen langen Weg hierher gekommen, um mit Ihnen zu reden. Sie sollten sich wenigstens anhören, was er Ihnen zu sagen hat.«

«Und ich«, antwortete Jones,»bin einen noch längeren Weg gekommen, um an diesem Rennen teilzunehmen. Und ich habe fast ein halbes Jahr Vorbereitung und Training hinter mir. Was bringt Sie auf die Idee, daß ich das alles aufgeben könnte? Nur, um an irgendeiner verrückten Unternehmung teilzunehmen?«

«Wie wäre es mit Worten wie Loyalität, Liebe zum Vaterland und Pflichtbewußtsein?«schlug Morton vor. Jones sah auf, und nun lachte er wirklich.»Sie scheinen mich zu verwechseln, Kapitän Morton«, sagte er.»Ich bin Professor der Archäologie, weder Mitglied der Marine noch Armee oder des Geheimdienstes.«

«Aber Sie sind amerikanischer Staatsbürger, oder?«entgegnete Morton.

«Bitte, Kapitän!«In Brownings Stimme schwang beinahe Panik. Er räusperte sich, griff nun doch nach dem Schnapsglas, schüttelte aber den Kopf, als Jones es füllen wollte und drehte es nur in den Händen. Als er weitersprach, spürte Morton genau, daß er sich jedes einzelne Wort sorgsam überlegte.

«Ich habe eine Menge über Sie gehört, Dr. Jones«, begann er.»Einiges davon erschien mir unglaublich, und ich will ehrlich zu Ihnen sein — eine ganze Menge davon gefiel mir nicht. Aber daß Sie unfair wären, gehört nicht zu den Dingen, die man Ihnen nachsagt.«

«Unfair?«

Browning kam nicht sofort dazu zu antworten, denn der Streit, dessen Lärm in den letzten Minuten immer mehr angeschwollen war, artete urplötzlich in eine Schlägerei aus, die von den Zuschauern mit johlendem Gebrüll kommentiert wurde. Morton konnte noch immer nichts erkennen, außer einer immer dichter werdenden Menschentraube, aber plötzlich kam ein Stuhl über die Köpfe der Zuschauer geflogen, begleitet von einem ganzen Chor schriller Pfiffe und Schreie. Indiana Jones drehte fast gelassen den Oberkörper zur Seite. Er zuckte nicht einmal mit der Wimper, als der Stuhl direkt hinter ihm gegen die Wand krachte und zerbrach.

«Unfair?«fragte er noch einmal, so ruhig, als wäre überhaupt nichts geschehen.

«Es ist nicht besonders fair, zwei Männern, die um die halbe Welt gereist sind, um mit Ihnen zu reden, nicht einmal die Gelegenheit zu geben, dies zu tun.«

Es fiel Morton schwer, sich zu konzentrieren. Das Geschrei hinter ihnen wurde immer lauter; das Zentrum der Schlägerei schien sich ihrem Tisch zu nähern. Aber Jones nahm nicht einmal Notiz davon. Morton versuchte vergeblich, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob Jones wirklich so kaltblütig war oder nur so tat, um Browning und ihn zu verunsichern.

Jones lachte leise.»Und ich dachte, Sie wären um die halbe Welt gereist, um sich von einem Bären fressen zu lassen.«

«Danke«, knurrte Morton.»Genau das habe ich jetzt gebraucht.«

Jones lächelte weiter — aber sein Blick strafte dieses Lächeln Lüge.

«Bitte, meine Herren!«Brownings Stimme klang fast beschwörend. Er räusperte sich und rang sekundenlang nach Atem, ehe er sich wieder an Jones wandte:»Ich bin sicher, daß Sie uns begleiten werden, wenn Sie erst einmal gehört haben, was ich zu sagen habe.«

Hinter ihnen erscholl ein gellender Schrei. Die Mauer aus Menschen teilte sich, und plötzlich kam eine Gestalt durch die Luft geflogen. Morton spannte sich in Erwartung des Aufpralles, aber es kam nicht dazu. Ohne auch nur hinzusehen, hob der Eskimo den Arm und fing den Mann mitten im Flug ab. Einen Moment lang hielt er ihn fest — und dann nickte Dr. Jones fast unmerklich. Der Eskimo zuckte mit den Achseln, grinste und warf den Mann in die Richtung zurück, aus der er gekommen war.

«Begleiten wohin?«

«In eine Gegend, die Ihnen bestimmt gefällt«, antwortete Morton verwirrt.»Es ist dort gar nicht soviel anders als hier. Jedenfalls ist es genauso kalt, und es gibt keine Bären. «Jones lächelte leicht.»Zum Südpol?«

«Eher in die entgegengesetzte Richtung«, erwiderte Browning an Mortons Stelle.»Fahren Sie gern zur See?«

«Das kommt darauf an. «Jones hob die Schultern und schenkte sich ein drittes Glas der unverdünnten Schwefelsäure ein, die sich in dem Krug befinden mußte. Er besaß die Unverfrorenheit, es hinunterzustürzen, ohne auch nur eine Miene zu verziehen. Mortons Kehle war noch immer taub. Hinter ihnen ging die Schlägerei fröhlich weiter.

«Wohin soll die Reise denn gehen?«fragte Jones.

«Das kann ich Ihnen jetzt noch nicht sagen«, antwortete Browning.

Jones blinzelte.»Und vermutlich können Sie mir auch nicht sagen, worum es geht«, sagte er.

«Das ist richtig«, antwortete Browning.

Jones’ Lächeln wirkte jetzt ein wenig gequält.»Und ich nehme an, daß es sich um eine Sache von höchster Wichtigkeit handelt, wie? Das Wohl und Wehe des Landes steht auf dem Spiel und wahrscheinlich auch das Leben von Millionen Menschen. «Der Spott in seiner Stimme war verletzend, und genau das sollte er auch sein. Browning fuhr leicht zusammen und sah wirklich ein wenig betroffen aus. Aber er hatte sich schnell wieder in der Gewalt. Morton fragte sich erneut, wer dieser Dr. Browning wirklich war. Ihm hatte man den Wissenschaftler nur als Beauftragten der US-Regierung vorgestellt, ohne daß man sich auch nur die Mühe gemacht hätte, Morton zu erklären, in welcher wissenschaftlichen Disziplin er seinen Doktor hatte. Bisher hatte er ganz automatisch unterstellt, daß es sich um einen Naturwissenschaftler handeln müßte, aber vielleicht war diese Annahme nicht ganz richtig.

«Ich muß Sie enttäuschen, Dr. Jones«, antwortete Browning.»Es ist keins von beiden. Aber es handelt sich um etwas, das von höchstem wissenschaftlichen Interesse ist.«

«Das achte Weltwunder, wie?«

«Möglicherweise. «Browning lächelte. Er legte eine winzige, ganz genau berechnete Pause ein.»Auf jeden Fall sicherlich die interessanteste archäologische Entdeckung, die in den letzten hundert Jahren gemacht worden ist.«

In Indiana Jones’ Augen blitzte es auf. Er gab sich alle Mühe, sich sein Interesse nicht zu deutlich anmerken zu lassen. Aber Morton wußte, daß er den Köder geschluckt hatte. Der Wissenschaftler schien genau zu wissen, wie man mit Menschen umging. Ihm hatte er den Eindruck eines hilflosen, leicht vertrottelten Professors vermittelt, der kaum in der Lage zu sein schien, die gefährliche Reise hierher zum Yukon zu überstehen — aber vielleicht war auch das nur Theater gewesen.

«Um welche Entdeckung soll es sich dabei handeln?«fragte Jones, als Browning nicht weitersprach.

Browning deutete auf Morton.»Einzelheiten kann Ihnen Mr. Mor-ton hier erzählen. Er ist der Kapitän der POSEIDON, eines Forschungsschiffes, das im Auftrag der US-Regierung im letzten Jahr im Polargebiet unterwegs war.«

«Und was haben Sie entdeckt?«Indiana Jones gab sich Mühe, scherzhaft zu klingen, aber es fiel ihm immer schwerer, sein Interesse zu verhehlen.»Spuren des Yeti am Nordpol? Oder hat sich das Ungeheuer von Loch Ness verschwommen?«

«Wir können Ihnen jetzt nicht sagen, worum es sich im einzelnen handelt«, sagte Browning fast hastig.»Nur soviel: Sie werden es ganz bestimmt nicht bereuen, uns zu begleiten. «Er zögerte einen winzigen Moment.»Und daß wir Sie brauchen.«

«Brauchen? Wozu?«

«Es handelt sich um eine wissenschaftliche Expedition, wie ich bereits sagte«, antwortete Browning.»Wir haben das Team fast zusammen, aber uns fehlt bisher noch ein Archäologe, und Sie sind der…«

«… der einzige, der verrückt genug wäre, an einer solchen Expedition teilzunehmen?«schlug Jones vor.

«… der fähigste Mann auf diesem Gebiet«, fuhr Browning unbeeindruckt fort.

«Das ist ein bißchen dünn, finden Sie nicht?«fragte Jones. Browning wollte antworten, aber Jones hob die Hand und sprach weiter.»Ich meine, Sie kommen hierher, machen eine Menge geheimnisvoller Andeutungen und erwarten im Ernst von mir, daß ich sofort alles stehen und liegen lasse — ohne überhaupt genau zu wissen, wohin? Oder weshalb?«

Browning warf Morton einen Blick zu und deutete mit den Augen ein Nicken an. Sie hatten Zeit genug gehabt, sich über das zu unterhalten, was sie Dr. Jones sagen konnten und was nicht. Morton hatte sehr detaillierte Instruktionen, wieviel er preisgeben durfte.

«Es gibt eben nicht genug fähige Wissenschaftler auf Ihrem Gebiet, Dr. Jones«, sagte er.»Nicht für das, was wir vorhaben.«

«Und was ist das?«

«Es könnte gefährlich werden«, antwortete Morton ausweichend.»Nicht lebensgefährlich, aber anstrengend. Für die meisten Wissenschaftler entschieden zu anstrengend.«

«Für Archäologen nicht«, antwortete Jones.»Sie sind es gewohnt, in alten Ruinen herumzukriechen und auf Berge zu steigen.«

«Auch auf solche aus Eis?«fragte Morton,»die sich auf hoher See befinden?«

Indiana Jones’ linke Augenbraue rutschte ein Stück nach oben. Er sagte nichts.

Und Morton begann zu erzählen. Er berichtete Jones von der letzten Fahrt der POSEIDON, von dem Funkspruch, den sie aufgefangen hatten, und davon, daß es tatsächlich einen Überlebenden auf der treibenden Eisinsel gegeben hatte. Mehr nicht. Aber er flocht geschickt ein paar Andeutungen in seine Erzählung ein, aus denen klar hervorging, daß auf dieser Insel eben doch mehr als nur der Überlebende eines Schiffsunglücks gewesen war. Er redete gut fünf Minuten, und er brachte dabei das Kunststück fertig zu erzählen, ohne wirklich etwas zu sagen. Aber es gelang ihm immerhin, Dr. Jones’ Neugier weiter zu wecken.»Das ist alles, was ich Ihnen im Moment sagen kann und darf, Dr. Jones«, schloß er.»Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Dr. Browning nicht mit einer Silbe übertrieben hat. Was ich auf diesem Berg gesehen habe, das ist… unvorstellbar.«

«Und Sie können mir nicht verraten, was es war? Nur eine klitzekleine Andeutung?«

Morton schüttelte den Kopf, und Browning sagte:»Nein, hier sind zu viele Ohren, die mithören. Aber ich gebe Ihnen mein Wort als Wissenschaftler und Kollege, daß Sie es nicht bereuen werden.«

Jones überlegte eine ganze Weile, dann, zögernd und mit einem Ausdruck, der den Zwiespalt deutlich machte, in dem er sich immer noch befand, antwortete er:»Gut, ich glaube Ihnen.«

«Das heißt, Sie kommen mit?«

«Wenn das hier vorbei ist, ja.«

«Was meinen Sie damit: wenn das hier vorbei ist?«

Jones machte eine ausholende Handbewegung.»Das Rennen.«

Browning tauschte einen überraschten Blick mit Morton.»Sie meinen dieses Hunderennen?«

«Ein Huskyrennen«, korrigierte ihn Jones,»und es ist nicht irgendein Rennen, sondern es ist das Rennen.«

«Aber wir haben nicht viel…«begann Browning, wurde aber sofort von Jones unterbrochen, und zwar in einem Tonfall, der jeden Widerspruch von vornherein ausschloß.»Quinn und ich haben ein halbes Jahr trainiert, um an diesem Rennen teilzunehmen, Dr. Browning. Ich habe allein vier Monate gebraucht, um die Hunde zu finden und auszubilden. Wir sind seit neun Tagen unterwegs, und wir liegen bisher verdammt gut im Rennen. Ich denke nicht daran, das alles aufzugeben, nur weil Sie hier auftauchen und mir erzählen, daß Sie mir etwas sagen wollen, es aber nicht dürfen.«

Browning wirkte enttäuscht, aber er schien einzusehen, daß er alles erreicht hatte, was er erreichen konnte.

«Gut«, sagte er widerstrebend.»Und wie lange, schätzen Sie, wird es noch dauern?«

Jones zuckte mit den Schultern.»Fünf Tage, sechs, vielleicht auch zehn — und dazu kommt der Rückweg.«

Dr. Browning sah plötzlich sehr enttäuscht aus, aber er widersprach auch jetzt nicht.»Also gut«, sagte er seufzend.»Dann sagen wir insgesamt vierzehn Tage. Wäre Ihnen das recht?«

«Das müßte reichen, wenn nichts dazwischenkommt.«

«Was meinen Sie damit?«fragte Morton.

Jones blickte ihn beinahe verächtlich an.»Sie sind zum ersten Mal hier, wie?«

Morton nickte.

«Nun, etwas von dem, was dazwischenkommen könnte«, antwortete Jones betont,»haben Sie vor einer halben Stunde selbst erlebt. Aber in einem Land wie diesem ist einfach alles möglich. Ich schlage vor, Sie nehmen den guten Doktor und versuchen ihn in einem Stück und unbeschadet wieder nach Hause zu bringen, und ich melde mich bei Ihnen, sobald das hier vorbei ist. Ach ja«, fügte er hinzu.»Und da ist noch etwas.«

«Was?«erkundigte sich Morton mißtrauisch.

Jones hob die Hand und deutete auf den Eskimo auf der anderen Seite des Tisches, dann auf den Hund, dessen Kopf immer noch in seinem Schoß lag.»Quinn und meine Freunde hier werden mich begleiten«, sagte er.

«Quinn?«

Jones lächelte.»Darf ich vorstellen?«Jones zeigte mit einer zweiten übertriebenen Geste auf den Eskimo.»Mein Freund Quinn, auch Mighty Quinn genannt. Er ist der beste Schlittenführer, den Sie finden können. Und so ganz nebenbei hat er zwei Drittel seines Lebens im Eis verbracht. Sie sagten doch, daß es sich um einen Eisberg handelt, oder?«

Morton nickte. Ein wenig hilflos musterte er den hünenhaften Eskimo, der seinen Blick kühl erwiderte.»Das schon«, sagte er,»nur…«

«Er ist vertrauenswürdig«, sagte Jones.»Was immer wir dort finden werden, er wird zu niemandem auch nur eine Silbe reden, darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

Morton überlegte einen Moment. Vielleicht war Indiana Jones’ Vorschlag gar nicht so dumm. Wenn es jemanden gab, der sich mit Eisbergen auskannte, dann war das ganz gewiß ein Eskimo.

«Aber wozu die Hunde?«fragte er.

«Das ist ganz einfach«, erwiderte Jones.»Quinn geht nirgendwo ohne sein Gespann hin, und ich nirgendwo ohne Quinn. Also wir alle — oder keiner.«

Morton und Browning schwiegen eine ganze Weile, aber natürlich stimmten sie am Ende doch zu.

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