New York Hilton-Hotel

26. März 1939

Selbst nach einem guten halben Jahr fiel es Morton immer noch schwer, van Hesling unbefangen gegenüberzutreten. Sicher — die äußeren Umstände waren anders: Sie befanden sich nicht mehr auf einem Eisberg am Rande der Welt, sondern in einem der teuersten und vornehmsten Hotels der Stadt, und auch van Hesling selbst war kaum noch als der Mann wiederzuerkennen, der O’Shaugnessy und einen zweiten Mann der Besatzung getötet und Morton selbst und zwei weitere schwer verletzt hatte.

Der deutsche Wissenschaftler trug jetzt keinen eisverkrusteten Bärenfellmantel mehr, auf seinem Kopf thronte kein Hörnerhelm, und seine Hände spielten mit einem Bleistift, mit dem er sinnlose Muster und Wellenlinien auf ein Blatt Papier kritzelte, statt mit einer zweischneidigen Wikingeraxt.

Und er war auch kein bärtiger Hüne mehr, sondern ein menschliches Wrack.

In den Monaten, die vergangen waren, seit Morton und er sich das letzte Mal gesehen hatten, hatte er sich erholt. Sein Gesicht sah nicht mehr aus wie das eines Toten, den man zu begraben vergessen hat; das Flackern in seinen Augen war noch immer das eines Irrsinnigen, aber es entsprang nicht mehr dieser alles verzehrenden Mordlust; und er hatte sogar ein wenig zugenommen.

Aber von dem Mann, der Kapitän Morton in der Höhle auf Odinsland überfallen und um ein Haar getötet hätte, trennten ihn noch immer gut fünfzig Pfund Gewicht und — zumindest seinem Aussehen nach — ebenso viele Lebensjahre. Andererseits, dachte Morton, war es ein reines Wunder, daß van Hesling überhaupt noch am Leben war. Er hatte ihn mit an Bord der POSEIDON genommen, und Dr. Pauly hatte wirklich sein Bestes getan, um ihn irgendwie am Leben zu erhalten, bis sie Boston und damit ein gut ausgestattetes Krankenhaus erreichten. Schon daß er diese Reise überlebte, war an sich eine Unmöglichkeit gewesen, die er einzig seiner schier übermenschlichen Konstitution und Dr. Paulys ärztlichem Können verdankte. Aber niemand — Morton und die Ärzte im Bostoner Krankenhaus, die van Hesling in Empfang genommen hatten, eingeschlossen — hätte auch nur einen Pfifferling für das Leben des Verrückten gegeben.

Trotzdem hatte er es irgendwie geschafft, am Leben zu bleiben.

Aber das war auch schon alles.

In den letzten sechs Monaten schien er um Jahrzehnte gealtert zu sein, und aus dem fünfunddreißigjährigen, muskelbepackten Riesen, den sie von Odinsland gerettet hatten, war ein uralter, zitternder Greis mit schlohweißem Haar und eingefallenem Gesicht geworden, der sich nur noch mit Mühe bewegen konnte. Die drei Kugeln, die Dr. Pauly aus seinem Körper herausgeschnitten hatte, hatten keine lebenswichtigen Organe getroffen, aber er hatte eine Unmenge Blut verloren. Mortons Gewehrkugel hatte seine linke Hüfte zerschmettert, so daß er das Bein nachzog und nur unter Schmerzen gehen konnte.

Aber schlimmer als die Verletzungen, die sein Körper davongetragen hatte, waren die seines Geistes. Er sprach selten und wenn, dann meist zusammenhangloses, wirres Zeug, teils in einer fremden Sprache, die vielleicht einfach nur aus gestammelten Lauten bestand, teils auf die infantile Art eines Vierjährigen, der gerade das Sprechen lernt. Aber dazwischen gab es immer kurze lichte Momente, und es waren diese wenigen kostbaren Minuten, in denen er zu klarem Denken und Reden — und Erinnern — fähig war, um deretwegen er hier war.

«Wenn Sie Dr. van Hesling lange genug angestarrt haben, dann könnten Sie mir vielleicht sagen, was wir überhaupt hier tun«, drang eine Stimme in seine Gedanken.

Morton riß sich mühsam vom Anblick der Jammergestalt los, die auf der anderen Seite des Tisches saß und Kreise und zitterige Rechteckmuster auf ein Blatt Papier malte, und wandte sich Dr. Rosenfeld zu.

Der Anblick war so angenehm, wie der des verrückten Wissenschaftlers furchteinflößend: Dr. Rosenfeld war jung, schlank, hatte kurzgeschnittenes pechschwarzes Haar und strahlte eine unverbrauchte, natürliche Frische aus, die dazu verleitete, sie zu unterschätzen, und zwar in jeder Hinsicht. Trotz ihrer knappen sechsundzwanzig Jahre war Dr. Mabel Rosenfeld unbestritten eine der Kapazitäten auf ihrem Gebiet, der Neurologie. Aber sie sah aus, als hätte sie gerade erst die High-School absolviert, und sie gab sich nicht die allergeringste Mühe, diesen Eindruck irgendwie zu ändern, im Gegenteil. Morton hatte den Verdacht, daß sie es insgeheim liebte, unterschätzt zu werden, und sorgsam an ihrem Image arbeitete.

Dummerweise mochte sie ihn nicht. Und sie machte aus dieser Abneigung keinen Hehl.

Morton blickte einen Moment in den strömenden Regen vor dem Fenster hinaus, ehe er antwortete.»Ich muß Sie noch um ein wenig Geduld bitten, Dr. Rosenfeld«, sagte er.

Der Ausdruck von Unmut auf Mabel Rosenfelds Gesicht vertiefte sich.

«Das tun Sie jetzt schon eine ganze Weile, Mr. Morton«, sagte sie.»Um genau zu sein, seit wir hier angekommen sind. Und das war gestern«, fügte sie spitz hinzu.

Morton seufzte.»Ich weiß«, gestand er.»Aber unser Unternehmen ist von größter Wichtigkeit, glauben Sie mir. Ich darf Ihnen keine Einzelheiten verraten. Noch nicht. Und ich könnte es noch nicht einmal, selbst wenn ich es wollte. Ich weiß nur wenig mehr als Sie.«

Was eine glatte Lüge war. Aber Browning hatte ihm in den düstersten Farben ausgemalt, was ihm und seiner Karriere als Kapitän alles zustoßen könnte, wenn er auch nur ein Sterbenswörtchen verriet. Und Morton schätzte den Regierungsbeauftragten nicht als jemanden ein, der leere Drohungen ausstieß.

Trotzdem war Morton nicht wohl dabei, Dr. Rosenfeld zu belügen. Und was sie sagen würde, wenn sie erst erfuhr, daß zwar ihr Schützling, nicht aber sie selbst dieses Hotel zusammen mit den anderen verlassen würde, wagte er sich erst gar nicht vorzustellen.

Er verscheuchte den Gedanken und stand auf, wobei er van Hesling mit einem weiteren nervösen Blick streifte, der Dr. Rosenfeld natürlich nicht entging.

«Sie können mich ruhig mit ihm allein lassen«, sagte sie spöttisch.»Er tut nichts.«

Morton widersprach nicht, aber er blickte vielsagend auf seine linke Hand hinunter. Ring-, Mittel- und kleiner Finger waren steif geblieben; ein Andenken an seine erste Begegnung mit van Hesling.

«Ich weiß, was Sie sagen wollen«, fiel ihm Dr. Rosenfeld ins Wort, noch bevor er antworten konnte.»Aber das ist vorbei. Er war nicht bei Sinnen, damals.«

Morton bedachte van Hesling mit einem langen, abschätzenden Blick.»Das scheint er mir jetzt auch noch nicht zu sein«, meinte er vorsichtig.

«Das stimmt. «Mabel Rosenfelds Stimme klang jetzt hörbar kühler als bisher, und Morton begriff, daß er sie unabsichtlich beleidigt hatte. Wenn er die beiden — sie und den verrückten Deutschen — so betrachtete, dann erschien ihm der Gedanke geradezu absurd, aber es mußte wohl so sein, daß etwas in van Heslings hilfloser, ungeschickter Art ihre Mutterinstinkte weckte. Auf jeden Fall hatte man ihn gewarnt: Wenn es um van Hesling ging, dann benahm sich Dr. Rosenfeld wenig anders als eine Raubkatze, die ihre Jungen verteidigte. Und sie hatte verdammt scharfe Krallen.

«Ganz wie Sie meinen«, sagte er und wandte sich zur Tür.»Wenn Sie mich suchen oder irgend etwas brauchen, ich bin unten in der Lobby.«

Er ging zur Tür, klopfte dreimal und wartete, bis der Posten auf der anderen Seite des Ganges auf das vereinbarte Signal hin aufschloß. Die Suite im obersten Stockwerk des New Yorker Hilton kostete pro Woche wahrscheinlich mehr, als er in einem halben Jahr verdiente, aber das änderte nichts daran, daß sie im Moment ein Gefängnis war. Ein äußerst komfortables Gefängnis zwar, aber trotzdem ein Gefängnis.

Nicht zum ersten Mal fragte er sich, was an dem, was er in der Höhle auf Odinsland entdeckt hatte, so ungeheuer wichtig sein mochte, daß man sich bei diesem Unternehmen solche Mühe gab. Und wie die Male zuvor fand er auch diesmal keine Antwort darauf.

Morton betrat den Aufzug, nickte dem Boy abwesend zu und deutete auf den Boden. Der Boy war gar kein Liftboy, sondern ein Geheimagent der US-Regierung, der sich nur in die rotgelbe Fantasieuniform gezwängt hatte; auch die übrigen Gäste in diesem Stockwerk des Hilton waren keine echten Gäste. Browning hatte eine ganze Armee aufgeboten, um alles abzuschirmen.

Der Aufzug fuhr, ohne anzuhalten, bis zum Erdgeschoß durch, und Morton verließ die Kabine und trat in die Lobby hinaus. Ganz automatisch glitt sein Blick über die Ansammlung kleiner Tische, Plüschsofas und Sessel, die in nur scheinbar chaotischer Anordnung in dem großen Raum standen, bis er Loben, von Ludolf und die beiden Dänen an einem Tisch gleich neben der Tür erblickte. Die vier Männer verstanden sich erstaunlich gut, wenn man bedachte, aus welch gegensätzlichen ideologischen Lagern sie stammten — aber warum, zum Teufel, mußten sie ihre Unterhaltungen immer hier unten führen? Sie hatten ein ganzes Stockwerk des Hilton zur Verfügung. Komplett: mit mehr als einem Dutzend Zimmern, einem Konferenzsaal und einer eigenen Bar. Browning würde vor Wut schäumen, wenn er sie hier entdeckte.

Morton steuerte automatisch auf die vier Männer zu, machte dann mitten im Schritt kehrt und ging zum Empfang.»Schon irgendeine Nachricht von — «

«Nein, Sir«, unterbrach ihn der Empfangschef, noch ehe er seinen Satz zu Ende bringen konnte.»Dr. Jones hat nicht angerufen. Aber Dr. Browing läßt Ihnen ausrichten, daß er zum Bahnhof gefahren ist, um nach ihm zu suchen.«

Er blickte Morton noch einen Moment mit unbewegtem Gesicht an und wandte sich dann wieder der Frau zu, mit der er gesprochen hatte, bevor Morton sie unterbrach.»Es tut mir wirklich leid, gnädige Frau, aber der Manager besteht darauf, daß Sie Cassiopeia in Zukunft an der Leine führen.«

Morton wandte flüchtig den Blick, sah wieder weg und drehte sich noch einmal herum. Die Frau, die neben ihm stand und den Empfangschef aus Augen musterte, die dunkel vor Zorn waren, konnte man beim besten Willen nicht anders denn als aufgetakelte Matrone bezeichnen: Ihr Kleid mußte ebenso teuer gewesen sein, wie es geschmacklos war, und auf ihrem hochgesteckten Haar thronte ein Hut von der Größe eines Wagenrades, der bei jedem Wort, das sie sprach, heftig wippte und wackelte. Ihr Gesicht war so dick mit Schminke bedeckt, daß ihr Alter unmöglich zu schätzen war, aber Morton vermutete, daß sie die Fünfzig schon seit geraumer Zeit hinter sich gelassen hatte. In den Armen trug sie eine weiße Siamkatze, die den Empfangschef mit jenem unbeschreiblichen Hochmut musterte, zu dem nur Tiere dieser Rasse fähig sind.

«Sie müssen völlig verrückt geworden sein«, sagte die Matrone empört.»Ich soll Cassiopeia an die Leine legen? Mein guter Mann — Cassiopeia ist eine Katze, kein tollwütiger Schäferhund!«

Cassiopeia fauchte zustimmend und zeigte dem Empfangschef zwei Reihen kleiner nadelspitzer Reißzähne.

Was diesen allerdings nicht sichtlich beeindruckte. Auch der Ausdruck auf seinem Gesicht änderte sich nicht; da war noch immer die unerschütterliche Höflichkeit, zu der nur Finanzbeamte und Angestellte teurer Restaurants fähig sind, aber seine Stimme klang sehr bestimmt, als er antwortete:»Ich bin wirklich untröstlich, gnädige Frau, aber die Anordnungen des Managers waren eindeutig.«

«Was ist das für ein Hotel, in dem man nicht einmal eine Katze mitbringen kann?«empörte sich die Dicke.»Sie tun ja so, als hätte Cassiopeia die Räude!«

«Natürlich nicht, Madam«, antwortete der Empfangschef und maß die Katze samt ihrer Besitzerin mit einem Blick, der Morton an den der Hexe aus Hänsel und Gretel erinnerte.»Sie können so viele Haustiere mitbringen, wie Sie wollen. Aber das Personal beschwert sich, und auch die übrigen Gäste fühlen sich belästigt. Erst gestern ist sie in die Küche gelaufen und hat einen anderthalbpfündigen Lachs weggeschnappt, und — «

«Wahrscheinlich hat sie Ratten und Mäuse gejagt«, sagte die Dicke spitz.»Vielleicht sollten Sie Ihre Küche etwas besser sauber halten.«

«— als der Koch versucht hat, sie einzufangen, hat sie ihn und zwei andere Männer gebissen«, fuhr der Empfangschef unbeeindruckt fort.»Ich bin untröstlich, aber Sie müssen das Tier anleinen oder es aus dem Hotel schaffen.«

«Ich werde mich beschweren!«verkündete die Matrone.»Sie können morgen in der Zeitung lesen, wie man im Hilton-Hotel mit seinen Gästen umspringt!«Und damit drückte sie Cassiopeia an sich, wandte sich mit einem Ruck ab und stampfte davon.

Morton grinste schadenfroh, als er sich an den Empfangschef wandte.»Vielleicht sollte man Cassy einen kleinen Spielgefährten besorgen«, schlug er vor.»Einen ausgewachsenen Wolfshund, zum Beispiel, oder einen Dobermann. Haben Sie öfter solche Gäste?«

«Manchmal, Sir«, seufzte der Empfangschef.»Viele Gäste bringen ihre Hunde oder auch Katzen mit, einmal hatten wir sogar — «

Kapitän Morton erfuhr nie, welche Haustiere außer Hunden und Katzen schon im Hilton-Hotel übernachtet hatten, denn in diesem Moment wurde die große zweiflügelige Eingangstür unsanft aufgestoßen, und in der Öffnung erschien ein heftig gestikulierender und rufender Page, gefolgt von genau dem, was Morton gerade als Spielgefährten für Cassiopeia vorgeschlagen hatte: einem ausgewachsenen Wildhund, genauer gesagt: acht Stück davon.

Sie waren in ein Geschirr aus breiten Lederriemen eingespannt, an dem zahllose kleine Glöckchen bimmelten, und zogen genau den Hundeschlitten hinter sich her, den Morton und Dr. Browning das letzte Mal vor zwei Wochen an einem Seitenarm des Yukon gesehen hatten! Und genau wie dort wurde er von einem sieben Fuß großen Eskimo und einem Mann in brauner Lederjacke und Filzhut gelenkt!

Der Unterkiefer des Empfangschefs klappte so weit nach unten, daß Morton fast die Hände ausgestreckt hätte, um ihn aufzufangen, und seine Augen quollen aus den Höhlen. Auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck absoluter Fassungslosigkeit.

Und dann ging alles unglaublich schnell:

Noch während sich die Blicke aller Anwesenden dem Schlittengespann zuwandten, verharrte auch die dicke Frau mitten im Schritt und drehte sich neugierig herum. Cassiopeia stieß ein erschrockenes Kreischen aus, sprang mit einem fünf Fuß hohen Satz aus den Armen ihrer Besitzerin — wobei sie diese mit ausgefahrenen Krallen als Sprungschanze benutzte und tiefe, blutige Striemen in ihrer Haut hinterließ — und raste wie ein weißer Blitz, mit angelegten Ohren und steil aufgestelltem Schwanz, quer durch die Halle und die breite Treppe zur ersten Etage hinauf.

Und die Schlittenhunde drehten durch.

Die acht Tiere schossen gleichzeitig und mit solcher Geschwindigkeit los, daß Quinn und Dr. Jones regelrecht aus dem Schlitten hinauskatapultiert wurden und zu Boden stürzten — Quinn direkt in die Arme des bedauernswerten Portiers, der das Gespann vergeblich am Betreten des Hotels zu hindern versucht hatte, während Jones sich in der Luft überschlug und in einem Blumentopf mit einer Stechpalme landete, der unter seinem Aufprall zu Bruch ging.

Aber darauf achtete im Moment niemand.

Cassiopeia hatte die Treppe erreicht und sprang, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, nach oben, aber das Hundegespann war ihr dicht auf den Fersen. Unter gewaltigem Heulen, Gekläff und Gebell rasten die acht Eskimohunde quer durch die Empfangshalle des Hilton, wobei sie rücksichtslos Tische, Stühle, Gäste und Hotelpersonal über den Haufen rannten, die sich ihnen in den Weg stellten, und stürmten die Treppe hinauf. Der führerlose Schlitten folgte ihnen, wobei er wild auf und ab hüpfte.

Cassiopeia hatte mittlerweile die oberste Stufe erreicht und wandte sich nach links, um ihr Heil in einem der Gänge zu suchen, aber das Hundegespann war ihr dicht auf den Fersen. Das Kläffen, Jaulen und Bellen wurde leiser, aber dafür hob jetzt ein Chor menschlicher Schreie und ein ununterbrochenes Klirren und Scheppern an.

Quinn hatte sich endlich aus dem Griff des Portiers befreit und auf die Füße hochgerappelt. Lauthals in seiner Muttersprache nach den Hunden schreiend, raste er hinter dem Gespann her — wobei er kaum weniger Schaden anrichtete als die Tiere vor ihm. Ein Hotelangestellter, der versuchte, sich ihnen in den Weg zu stellen, schien im letzten Moment einzusehen, daß es ziemlich aussichtslos war, diese menschliche Lawine mit irgend etwas, das kleiner war als ein Schiffsgeschütz, aufhalten zu wollen, und brachte sich mit einem hastigen Sprung in Sicherheit.

Cassiopeias Frauchen war etwas weniger umsichtig.

«Oh, Sie Unmensch!«brüllte sie, wobei sie anklagend mit den blutig gekratzten Armen fuchtelte.»Wenn Ihre Ungeheuer meinem Baby etwas antun, dann bringe ich Sie dafür um!«

Mit zornbebender Brust warf sie sich auf Quinn und klammerte sich am Ärmel seines Pelzmantels fest.

Der Eskimo schien sie nicht einmal zu bemerken, denn er rannte einfach weiter, und die Dicke wurde von den Füßen gerissen und sieben, acht Meter weit mitgeschleift, ehe sie endlich auf die Idee kam loszulassen und unsanft zu Boden ging.

Quinn raste weiter, zertrümmerte ganz aus Versehen ein weiteres Tischchen und verschwand mit gewaltigen Sätzen und noch immer lauthals brüllend auf der Treppe.

Dr. Jones hatte sich aus den Trümmern des Blumentopfes befreit und zupfte gerade die letzten Blätter der Stechpalme aus seiner Kleidung, als Morton sich zu ihm herumdrehte. Als er ihn erkannte, huschte ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht.

«Hallo«, sagte Jones fröhlich.»Tut mir leid, daß wir zu spät kommen, aber der Verkehr in New York ist noch schlimmer geworden, seit ich das letzte Mal hier war.«

Morton mußte sich mit aller Kraft beherrschen, um nicht einfach herauszuplatzen. Quinns Stimme und das Gekläff der Hunde drangen noch immer aus dem ersten Stockwerk herab, und der Tumult, der das Ganze begleitete, war noch schlimmer geworden. Er fühlte sich hin und her gerissen zwischen Entsetzen und dem immer stärker werdenden Drang, einfach laut loszulachen. Und das spöttische Glitzern in Indiana Jones’ Augen machte ihm klar, daß es diesem nicht anders erging. Einen Moment lang überlegte er ernsthaft, ob Dr. Indiana Jones wirklich so kaltblütig war, wie er tat.

«Sir!«

Eigentlich war es keine Stimme, sondern nur ein halbersticktes, zitterndes Krächzen, was Jones und Morton gleichzeitig aufschauen ließ.

Das Gesicht des Empfangschefs war kreidebleich, während sein Blick unstet zwischen Indiana Jones und der Treppe pendelte. Er sah aus, als stünde er kurz davor, vom Schlag getroffen zu werden. Von seiner schier unerschütterlichen Ruhe und Selbstbeherrschung war keine Spur mehr geblieben. Seine Hände klammerten sich mit solcher Kraft an den Rand der Empfangstheke, daß es Morton nicht gewundert hätte, wenn Blut unter seinen Fingernägeln hervorgespritzt wäre, und in seinen Augen war etwas, das ihn an den Blick van Hes-lings erinnerte, als er ihm erstmals begegnet war.

«Sir!«wimmerte der Empfangschef noch einmal.»Was ist — «

«Mein Name ist Jones«, unterbrach ihn Jones.»Dr. Indiana Jones. Auf meinen Namen ist ein Zimmer reserviert, wenn ich mich nicht täusche.«

Mit dem freundlichsten Lächeln trat er an Morton vorbei an die Theke, griff in seine Jacke und zog eine Brieftasche hervor.

«Ich war ein bißchen besorgt, wissen Sie. Mein Freund und ich waren nicht sicher, ob Haustiere im Hilton-Hotel zugelassen sind. Aber wie ich sehe, dulden Sie ja auch Katzen. Da werden unsere Hunde sicher kein Problem sein.«

Morton konnte sich jetzt endgültig nicht mehr beherrschen. Abrupt drehte er sich herum, ballte die Hände zu Fäusten und biß sich heftig auf die Zunge, um wenigstens nicht laut loszulachen. Er hörte, wie der Empfangschef keuchend nach Atem rang und sinnlose Worte zu stammeln begann.

Als Jones ihn in freundlichem Tonfall um einen Füllfederhalter bat, um das Anmeldeformular für sich und Quinn auszufüllen, fiel der Mann in Ohnmacht.

«Gehe ich recht in der Annahme, daß das, was Sie sich gerade unten in der Empfangshalle geleistet haben, das ist, was Sie unter Diskretion verstehen?«

Brownings Stimme zitterte noch immer vor Wut, Morton konnte sich nicht erinnern, den sonst so ruhig und unscheinbar wirkenden Wissenschaftler jemals derart aufgebracht erlebt zu haben wie während der vergangenen halben Stunde. Browning war kurz nach Jones und Quinn im Hilton eingetroffen — fast im gleichen Moment wie die Polizeibeamten, die der Manager gerufen hatte, um Jones und den Eskimo samt ihrem Schlittengespann aus dem Hotel werfen zu lassen. Browning hatte mit wahren Engelszungen geredet, aber weder seine Überredungskunst noch sein Dienstausweis, der ihn als Beauftragten der US-Regierung identifizierte, hatten den Manager des Hil-ton davon abhalten können, mit Nachdruck darauf zu bestehen, daß er und (Originalzitat) die ganze Bande auf der Stelle das Hotel räumen und sich nicht wieder sehen lassen, bis die Hölle zufriert.

Schließlich war Browning zum Telefon gegangen und hatte eine Nummer gewählt. Morton hatte nicht erfahren, wen er angerufen hatte, aber Browning hatte den Hörer nach ein paar Augenblicken an den Manager weitergereicht, und das Gesicht des Mannes hatte auch noch das letzte bißchen Farbe verloren. Danach waren die beiden Polizisten ohne ein weiteres Wort verschwunden, und der Hotelmanager und sein noch immer schreckensbleicher Empfangschef hatten sich mit einem letzten eisigen Blick auf Dr. Browning zurückgezogen.

Seitdem waren dreißig Minuten vergangen.

Browning hatte zwanzig davon dazu benutzt, seiner Wut auf Dr. Jones, den Eskimo und ihre vierbeinigen Begleiter Luft zu machen und höchstpersönlich darüber zu wachen, daß das Hundegespann aus dem Hotel und an einen sicheren Ort gebracht wurde. Und die verbliebenen zehn, um Morton, Indiana Jones, die beiden Deutschen und die beiden dänischen Wissenschaftler wieder hier hinauf ins oberste Stockwerk des Hilton zu bugsieren.

Jetzt saßen sie in der Präsidentensuite des Hilton, und die Tatsache, daß sie noch nicht vollzählig waren — die Hälfte von Brownings kleiner Privatarmee suchte seit einer Viertelstunde nach Bates, hatte ihn aber noch nicht gefunden —, steigerte Brownings Wut noch mehr.

«Beruhigen Sie sich doch, Dr. Browning«, sagte Indiana Jones beinahe fröhlich. Er lümmelte in einem der kostbaren Louis-Seize-Sessel, hatte die Stiefel auf einen kleinen Glastisch gelegt, der unter ihrem Gewicht bedrohlich ächzte, und gab sich keine besondere Mühe, seine Schadenfreude zu verbergen.»Es ist ja nichts passiert. Und für den Schaden werde ich aufkommen.«

«Schaden! Schaden!« Browning fuchtelte mit den Händen in der Luft herum, als schlüge er nach einem imaginären Gegner.»Sie wissen ja nicht, was Sie da reden, Mann! Ich dachte, nach unserem Gespräch in Alaska hätten selbst Sie begriffen, daß das, was wir hier tun, geheim bleiben soll.«

«Ist es das denn nicht?«erkundigte sich Jones harmlos.

«Nicht mehr, nach Ihrem kleinen Kunststückchen da unten!«brüllte Browning. Sein Gesicht lief rot an, und an seinem Hals begann eine Ader zu pochen. Sein Aussehen ähnelte plötzlich dem des Empfangschefs, eine Sekunde, bevor er in Ohnmacht gefallen war.

Es klopfte. Browning fuhr wie von der Tarantel gestochen herum und brüllte mit vollem Stimmaufwand: »Herein!«

Ein schlanker, dunkelhaariger Mann in Jeans und einer blauen Steppjacke betrat das Zimmer.»Bates!«blaffte Browning ihn an.»Wie zuvorkommend von Ihnen, uns mit Ihrer Anwesenheit zu beehren.«

Bates warf ihm einen irritierten Blick zu, zuckte mit den Schultern und warf die Tür hinter sich ins Schloß. Browning starrte ihn wild an, und Morton räusperte sich übertrieben und hastig, bevor er abermals explodieren und seinen Zorn auf den Marineflieger abladen konnte.

«Vielleicht«, meinte er vorsichtig,»fangen wir jetzt an. Wir sind ja vollzählig.«

Browning blickte ihn wütend an, sagte aber zu Mortons Überraschung nichts mehr, sondern nickte nur und ließ sich in einen Stuhl fallen. Morton wartete, bis auch Bates Platz genommen hatte, dann räusperte er sich abermals und warf einen Blick in die Runde.

«Die meisten von uns haben sich ja in den letzten beiden Tagen schon miteinander bekannt gemacht«, begann er. Er deutete auf Jones.»Meine Herren, wenn ich Ihnen Dr. Indiana Jones vorstellen darf?«

Von Ludolf und sein rattengesichtiger Assistent nickten steif, während sich die beiden Dänen keine Mühe gaben, die Schadenfreude zu unterdrücken, mit der Jones’ Auftritt sie erfüllt hatte. Morton sah das gefährliche Glitzern in Brownings Augen und beeilte sich, mit der Vorstellung fortzufahren:

«Das sind Major von Ludolf und sein Assistent, Herr Loben«, sagte er, an Jones gewandt. Er deutete auf die beiden Dänen.»Professor Erikson und Dr. Baldurson. Gewissermaßen Kollegen von Ihnen, Dr. Jones.«

«Kollegen?«Jones blickte die beiden Wissenschaftler erstmals mit so etwas wie Interesse an.

«Sie sind von der dänischen Akademie der Wissenschaften in Kopenhagen hierhergeschickt worden«, sagte Morton.»Sie werden gleich erfahren, warum. «Er deutete auf Bates.»Mister Bates ist unser Pilot.«

«Pilot?«Jones runzelte die Stirn.»Ich dachte, wir unternehmen eine Schiffsreise.«

«Auch«, antwortete Morton ausweichend.»Aber es ist möglich, daß wir… ein Stück des Weges in der Luft zurücklegen müssen.«

Jones sagte nichts, aber die Formulierung — und erst recht das winzige, aber merkliche Stocken in Mortons Worten — schien ihm aufzufallen, denn er sah Morton einen Moment lang überrascht an, ehe er sich an Browning wandte:»Also gut«, sagte er.»Jetzt, wo wir die Formalitäten hinter uns gebracht haben und unter uns sind, können Sie vielleicht mit der Geheimniskrämerei aufhören. Was ist das für eine Expedition, die Sie planen?«

Browning hatte sich ein wenig beruhigt, während Morton Jones den übrigen Expeditionsteilnehmern vorstellte. Seine Stimme zitterte nicht mehr vor Zorn, aber der Blick, mit dem er Jones maß, war alles andere als freundlich.»Wir wissen noch nicht genau, wohin sie führen wird«, gab er zu.

«Wie bitte?«Jones zog überrascht die Augenbrauen hoch.

«Leider ist das die Wahrheit«, sagte Morton an Brownings Stelle.»Und das ist auch der Grund, warum die Doktoren Erikson und Bal-durson uns begleiten. «Er wies auf die beiden Dänen, die seine Worte mit einem zustimmenden Nicken kommentierten.»Sehen Sie, als wir Odinsland…«

«Odinsland!«

Morton lächelte flüchtig.»Ich habe mir die Freiheit genommen, den Eisberg so zu taufen«, sagte er.»Irgendeinen Namen muß er ja haben. Und nach dem, was wir dort gesehen haben, erschien er mir passend. «Er räusperte sich, warf Browning einen raschen, beinahe entschuldigenden Blick zu und fuhr fort:»Nachdem wir also Odinsland verlassen haben, ist er natürlich nicht einfach dort geblieben. Wir haben gewisse Berechnungen angestellt, aber gerade in dieser Meeresgegend sind uns die Strömungsverhältnisse nicht genau bekannt. Davon abgesehen, daß ein Eisberg von dieser Größe sich manchmal wirklich unberechenbar verhält. Es kann sein, daß er wieder aufs offene Meer hinaus getrieben ist, es kann aber auch sein, daß er sich Grönland nähert.«

Jones nickte.»Ich verstehe. Und damit dänischen Hoheitsgewässern.«

«Ja. Aber das ist nicht der einzige Grund, warum Ihre Kollegen uns begleiten. «Morton registrierte Brownings warnende Blicke und räusperte sich mehrmals, um ein wenig Zeit zu gewinnen.

«Und die Herren Admiräle?«fragte Jones spöttisch und mit einem Blick auf die beiden Deutschen.

«Major«, korrigierte ihn von Ludolf kalt.»Major reicht vollkommen, Dr. Jones.«

«Wir haben einen Mann auf Odinsland gefunden«, sagte Morton rasch.»Offensichtlich den Überlebenden eines Schiffsuntergangs. Er ist deutscher Staatsbürger. Er war Mitglied einer wissenschaftlichen Expedition, die vor neun Monaten nördlich von Grönland verschollen ist.«

«Worum ging es dabei?«fragte Jones.

«Das wissen wir nicht«, gestand Morton. Jones sah von Ludolf fragend an, aber der Major lächelte nur kalt und schwieg.

«Dr. van Hesling und die anderen sind aufgebrochen, um die Strömungsverhältnisse im Arktischen Meer zu untersuchen«, sagte Browning in diesem Moment.»Aber wir glauben, daß sie etwas ganz anderes gefunden haben.«

«Dasselbe wie Sie?«fragte Jones, an Morton gewandt.

«O nein«, sagte Morton hastig — eine Spur zu hastig, wie er selber bemerkte.»Wir haben auf Odinsland nur Dr. van Hesling gefunden und die Überreste seines Zeltes sowie eine Funkanlage und ein paar…«Er zögerte einen winzigen Moment.»Artefakte.«

«Artefakte?«wiederholte Jones stirnrunzelnd.»Was genau meinen Sie damit?«

«Wenn wir das wüßten, brauchten wir Sie nicht«, sagte Browning unfreundlich.

Jones blickte ihn eine Sekunde lang vorwurfsvoll an, antwortete aber nicht, sondern wandte sich an die beiden Deutschen.»Darf ich fragen, welche Rolle Sie bei dieser Expedition spielen?«

«Sie dürfen«, antwortete von Ludolf kalt.»Professor van Hesling war im Auftrag des Deutschen Reichs unterwegs, wie Sie wissen. In einer rein wissenschaftlichen, friedlichen Mission. Aber er war nicht allein. Das Deutsche Reich kümmert sich um seine Bürger. Wenn es noch Spuren der anderen Vermißten gibt, dann möchten wir sie gerne finden.«

«Die Reichsregierung in Berlin hat uns bei der Identifizierung Dr. van Heslings geholfen«, sagte Browning.»Und selbstverständlich haben wir ihrer Bitte entsprochen, Major Loben und Major von Lu-dolf an der geplanten Expedition teilnehmen zu lassen.«

Daß das nicht ganz der Wahrheit entsprach, mußte jedem im Raum klar sein. Aber auch Indiana Jones schwieg dazu. Die Beziehungen zwischen der US-Regierung und dem Regime in Deutschland waren seit Jahren alles andere als gut; aber man versuchte immerhin noch den Schein zu wahren. Wahrscheinlich, überlegte Jones, war es Brownings Auftraggebern gar nicht lieb gewesen, daß die Deutschen von der geplanten Expedition erfahren hatten. Aber ihre Bitte um eine Teilnahme abzuschlagen wäre einer glatten Brüskierung gleichgekommen. Und das war im Moment etwas, woran niemandem gelegen war. Die Situation in Europa glich einem Pulverfaß, mit einer schon fast heruntergebrannten Lunte. Man mußte gewisse Rücksichten nehmen.

Aber die Anwesenheit der beiden Deutschen verriet Jones noch mehr: daß es sich nämlich bei dieser Expedition um alles andere als ein Routineunternehmen handeln mußte. Daß er mit dem Großdeutschen Reich und seinen Handlangern schon mehr als einmal aneinandergeraten war, mußte selbst Browning bekannt sein. Wenn er trotzdem auf seine Teilnahme bestand, dann, weil sie wichtig war.

Schließlich räusperte sich Jones in das unangenehm werdende Schweigen hinein und fragte:»Wann brechen wir auf?«

«Noch heute«, antwortete Browning.»Wir liegen schon ein paar Stunden hinter dem Zeitplan zurück. Eigentlich war unsere Abfahrt bereits vor Sonnenaufgang geplant. Es ist alles vorbereitet.«

Jones ignorierte den Vorwurf, der in diesen Worten mitschwang. Er stand auf.»Wenn das so ist, entschuldigen Sie mich, meine Herren«, sagte er.»Ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen, bevor wir — «

«Nein, das haben Sie nicht«, stellte Browning klar.»Es ist alles vorbereitet. In einer halben Stunde kommt ein Wagen und holt uns ab.«

«Das reicht vollkommen«, sagte Jones.

Aber Browning schüttelte den Kopf.»Ich muß darauf bestehen, daß keiner der Anwesenden diesen Raum hier verläßt, bevor wir aufbrechen«, betonte er.»Wir haben schon viel zuviel Aufsehen erregt.«

Jones starrte ihn an.»Was ist wirklich auf diesem Eisberg?«fragte er geradeheraus.»Der Stein der Weisen?«

«Das wissen wir nicht«, antwortete Browning ungerührt.»Und um allen Spekulationen endgültig einen Riegel vorzuschieben: Wahrscheinlich werden wir dort auch nichts anderes als ein paar alte Steine und Knochen finden. Aber ich habe keine Lust, von einer ganzen Meute neugieriger Journalisten und Abenteurer belagert zu werden. Sie vielleicht?«

Er gab sich jetzt nicht einmal mehr Mühe, überzeugend zu lügen. Und Jones gab sich keine Mühe mehr, seinen Ärger zu verhehlen.»Wissen Sie, Dr. Browning«, sagte er langsam,»ich glaube mittlerweile doch nicht mehr, daß es eine so gute Idee war, zuzusagen. Ich denke, es ist wirklich besser, wenn Quinn und ich — «

Vom Flur drang ein gellender Schrei ins Zimmer, und Jones verstummte mitten im Wort. Dann fuhr er herum und war mit zwei, drei Schritten zur Tür hinaus. Morton und die anderen folgten ihm.

Als sie auf den Gang hinausstürzten, erklang der gellende Schrei erneut; fast in der gleichen Sekunde wurde die Tür zu van Heslings Zimmer aufgerissen, und Dr. Rosenfeld rannte heraus.

«Hilfe!« schrie sie. »Kommt schnell!«

Indiana Jones stürmte an ihr vorbei, sprengte die Zimmertür mit der Schulter vollends auf und blieb abrupt stehen.

Das Zimmer war leer. Aber es bot einen Anblick vollkommener Zerstörung. Fast alle Möbelstücke waren umgeworfen und zerschlagen, die Gardinen heruntergerissen und die Polster zerfetzt. Auf dem Boden lagen zerbrochenes Glas und Geschirr, und einer der Fensterflügel stand offen. Die Scheiben waren zersplittert. Im Winkel unter dem Fenster lag eine verkrümmte, stöhnende Gestalt. Der Mann, den Browning vor der Tür postiert hatte.

«Was ist passiert?«rief Jones.

«Van Hesling!«antwortete Dr. Rosenfeld.»Er ist — «

Jones hörte gar nicht mehr zu, sondern stürzte zum Fenster und beugte sich hinaus. Mit klopfendem Herzen starrte er in die Tiefe, darauf gefaßt, van Heslings zerschmetterten Körper fünfundzwanzig Stockwerke unter sich zu erblicken. Aber auf der Straße vor dem Hilton-Hotel bewegte sich nur der normale Verkehr. Kein Menschenauflauf. Keine quietschenden Reifen. Keine Schreie.

«Dort!«

Dr. Rosenfeld trat mit einem hastigen Schritt neben ihn und deutete nach rechts.»Sehen Sie doch!«

Indianas Blick folgte der Bewegung — und dann riß er erstaunt die Augen auf: Van Hesling hatte sich nicht in die Tiefe gestürzt, wie Dr. Rosenfeld offensichtlich angenommen hatte. Er war sogar noch höchst lebendig — aber Jones war nicht sicher, wie lange dieser Zustand noch anhalten würde…

Wie bei den meisten großen Gebäuden in diesem Teil der Stadt gab es auch unter den Fenstern des Hilton-Hotels einen breiten, steinernen Sims, der sich um das ganze Haus zog, und das auf jeder Etage. Als Indiana van Heslings zerschmetterten Körper nicht unten auf der Straße entdeckt hatte, hatte er insgeheim schon damit gerechnet, den verrückten Wissenschaftler irgendwo auf diesem Sims zu sehen. Womit er nicht gerechnet hatte, war, ihn knapp zwanzig Schritte neben sich aufrecht stehen zu sehen, das Gesicht und die Hände zum Himmel erhoben, ein fast glückliches Strahlen auf den Zügen und den rechten Fuß auf den Fahnenmast gesetzt, der aus der Fassade des Hilton ragte.

«O mein Gott!«

Indiana Jones fuhr erschrocken zusammen und hob gleichzeitig warnend die Hand, ohne sich herumzudrehen oder den Verrückten auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Dr. Rosenfeld rief noch einmal:»O mein Gott!«und dann versuchte sie, ihn vom Fenster wegzuzerren.

«Lassen Sie das!«sagte Indiana grob und versetzte ihr einen Stoß, der etwas heftiger ausfiel, als es eigentlich beabsichtigt war, denn aus Dr. Rosenfelds entsetztem Ruf wurde ein wütender Laut, und er hörte, wie sie zurückstolperte und von irgend jemandem aufgefangen wurde.

«Was fällt Ihnen ein!«Dr. Rosenfeld versuchte abermals, ihn vom Fenster wegzuzerren, aber diesmal mußte Indiana sich nicht einmal die Mühe machen, ihre Hand abzustreifen — jemand (vermutlich Mor-ton) ergriff die junge Neurologin mit sanfter Gewalt und zog sie fort, so daß Indiana sich wenigstens nur noch mit einem Verrückten herumzuplagen hatte.

Was ihm im Moment übrigens völlig reichte.

Van Hesling hatte die Hände noch weiter erhoben und stand jetzt in einer grotesken Gebetshaltung da: beide Handflächen ausgestreckt und zum Himmel gewandt, wohin auch sein Blick gerichtet war.

Indiana sah für einen Moment in die gleiche Richtung und erkannte, was den Wahnsinnigen offensichtlich so faszinierte: Der Regen hatte nachgelassen, während sie mit Browning gesprochen hatten, und am Himmel über New York spannte sich jetzt ein gewaltiger, in satten Farben strahlender Regenbogen.

«Bifröst!«stammelte van Hesling.»Bifröst!«Immer wieder dieses eine Wort.

«Jetzt hat er völlig seinen Verstand verloren«, sagte eine Stimme hinter ihm, die er als die Brownings identifizierte.

«Vielleicht auch nicht«, knurrte Indiana. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf den Sims vor dem Fenster, suchte mit beiden Händen nach sicherem Halt am Rahmen und stieg ganz hinaus.

Natürlich entging van Hesling die Bewegung nicht; er wandte kurz den Blick und sah Indiana an, aber das glückliche Lächeln auf seinem Gesicht blieb.»Bifröst«, sagte er noch einmal.

Indiana Jones machte einen Schritt und blieb wieder stehen. Mit der rechten Hand suchte er festen Halt an der rauhen Sandsteinfassade des Hotels, den linken Arm hatte er wie ein Hochseilartist ausgestreckt, um sein Gleichgewicht zu halten. Er war nervös. Der Sims war im Grunde breit genug, um bequem darauf zu gehen, aber auf seiner linken Seite befand sich fünfundzwanzig Stockwerke weit nichts; ein verdammt langer Sturz — vom Aufprall gar nicht zu reden. Und vor ihm stand ein Verrückter, der sich offensichtlich einbildete, die sagenhafte Regenbogenbrücke ins Land der nordischen Götter gefunden zu haben. Denn genau in diesem Moment hob van Hesling wieder den Blick, starrte den Regenbogen aus glücklichen Augen an — und setzte auch den zweiten Fuß auf die Fahnenstange.

Indiana erstarrte.

Was er sah, das war schlichtweg unmöglich! Van Hesling stand völlig frei da, beide Füße auf der kaum unterarmstarken Fahnenstange, die noch dazu in einem Winkel von gut dreißig Grad in den Himmel ragte, und er machte sich nicht einmal die Mühe, etwa die Arme auszustrecken, um sein Gleichgewicht zu halten. Trotzdem wankte er nicht.

«Bleiben Sie, wo Sie sind!«rief Indiana und fügte hinzu:»Bitte!«

Er hatte selbst kaum damit gerechnet, aber van Hesling reagierte tatsächlich auf seine Stimme. So selbstverständlich, als befände er sich auf ebenem Boden, drehte er nicht nur den Kopf, sondern den gesamten Oberkörper zu ihm herum, lächelte ein breites, kindliches, glückliches Lächeln und deutete mit der rechten Hand zum Himmel hinauf.»Sehen Sie doch!«sagte er.»Das ist Bifröst. Ich kann endlich nach Hause gehen «

Und damit machte er einen weiteren Schritt auf die Fahnenstange hinaus.

Und Indiana Jones rannte los.

Er setzte alles auf eine Karte. Van Hesling hatte offensichtlich das sprichwörtliche Glück der Kinder und Narren auf seiner Seite, aber er hatte auch gewisse Naturgesetze gegen sich. Eines davon nannte sich Gravitation und war vor guten dreihundert Jahren von einem gewissen Engländer namens Newton entdeckt worden, und es beharrte darauf, daß ein zwei Meter großer, stoppelbärtiger Mann, der mit nackten Füßen auf einer polierten Fahnenstange fünfundzwanzig Stockwerke über dem Erdboden stand, nicht allzu lange dort stehen konnte.

Van Hesling hob nun auch wieder die andere Hand zum Himmel, und diese neuerliche Bewegung war zuviel: Wie in einer Zeitlupenaufnahme sah Indiana, daß van Heslings rechter Fuß von seinem ohnehin unsicheren Halt abglitt und sich sein Körper zur Seite neigte, und im gleichen Sekundenbruchteil bewegte sich Indianas eigene Hand fast instinktiv und löste die Peitsche von seinem Gürtel.

Alles schien gleichzeitig zu geschehen, mit phantastischer Schnelligkeit, und doch so, als wäre die Zeit stehengeblieben: Van Hesling verlor endgültig das Gleichgewicht und begann sich wie in einer grotesken Verbeugung zur Seite zu neigen, während seine ausgestreckten Hände noch immer den Regenbogen zu ergreifen versuchten; und Indiana schwang die Peitsche in einem langen, kraftvollen Hieb, so daß die Lederschnur mit einem pfeifenden Geräusch nur eine Handbreit an van Heslings ausgestreckten Armen vorübersauste und sich ihr Ende um die Fahnenstange wickelte.

Er sprang — den Bruchteil einer Sekunde bevor van Hesling endgültig in die Tiefe stürzte.

Sich mit der linken Hand und aller Kraft an der Peitsche festhaltend, schwang er in einem langgestreckten Bogen von der Fassade des Hilton fort, streckte den freien rechten Arm aus — und fing den stürzenden Körper des Wissenschaftlers auf!

Der Ruck schien ihm den Arm aus der Schulter zu reißen. Er schrie vor Schmerz, Schreck und Panik, als er in diesem Moment erst richtig begriff, was er gerade getan hatte (oder zu tun versuchte), und spürte, wie sich das geflochtene Band der Peitsche unter dem doppelten Gewicht zu dehnen begann wie ein überbeanspruchtes Gummi. Noch zwei, drei Sekunden, und die Peitsche würde entweder reißen oder sich von der Fahnenstange lösen!

Es wurde zu einem Wettlauf mit der Zeit, und diesmal gewann er ihn wirklich nur ganz knapp und allenfalls nach Punkten. Van Hesling und er bewegten sich wie das Gewicht eines übergroßen Pendels am Ende der Peitschenschnur, rasten für einen kurzen, aber entsetzlichen Moment scheinbar geradewegs ins Nichts hinaus und näherten sich dann wieder der Fassade, immer schneller und schneller werdend. Und Indiana schoß der Gedanke durch den Kopf, daß das Hil-ton aus ziemlich massivem Stein erbaut war. Und daß sie sich, wenn sie mit dieser Geschwindigkeit dagegenprallten, um den zweiten, noch heftigeren Aufprall etliche Sekunden später und etliche Dutzend Meter tiefer wahrscheinlich keine Sorgen mehr zu machen brauchten…

Aber van Heslings Germanengottheiten schienen es noch nicht eilig damit zu haben, ihren Jünger und seinen etwas übereifrigen Lebensretter nach Walhall einzuladen. Statt der massiven Sandsteinmauer des Hilton sah Indiana plötzlich ein großes, zweigeteiltes Fenster auf sich zurasen, versuchte verzweifelt und reichlich hilflos, seinen Kurs am Ende der schwingenden Peitschenschnur zu ändern, dabei gleichzeitig den verrückten Wissenschaftler schützend an sich zu pressen und festzuhalten und außerdem noch die Beine anzuziehen, um den erwarteten Anprall wenigstens halbwegs abzufangen.

Zwei dieser drei Unternehmungen gelangen: Er verlor nicht den Halt an der Peitsche, und er verlor auch nicht seine zappelnde Last — aber er verlor eindeutig das Duell mit dem Fenster. Statt den Fensterflügel in der Mitte zu treffen und elegant aufzusprengen, so daß er mit einem artistischen Sprung ins Innere des Hotels hätte gelangen können, brachen van Hesling und er unter einem gewaltigen Klirren und Scheppern durch das Glas und landeten in einem Scherbenregen in dem darunterliegenden Zimmer.

Der Aufprall war so gewaltig, daß Indiana das Gefühl hatte, jeder einzelne Knochen im Leib würde ihm gebrochen. Hilflos, dabei aber immer noch mit aller Kraft van Heslings Hüfte umschlingend, rollte er vier-, fünf-, sechsmal hintereinander über den dicken Teppich, zertrümmerte auf dem Weg zur Tür einen kleinen Tisch, einen Stuhl und den Teewagen, auf dem die Zimmerbar untergebracht war, und hörte van Hesling brüllen.

Der Stoß gegen die Tür raubte ihm fast das Bewußtsein. Sekundenlang sah er nichts als bunte Kreise und Sterne, und jedes bißchen Kraft wich aus seinem Körper. Er ließ endlich van Hesling los, wich ganz instinktiv zur Seite, als er spürte, wie der Verrückte sich hochstemmte und prompt wieder zusammenbrach, und blieb ein paar Sekunden liegen, um wieder zu Atem zu kommen.

Als er die Augen öffnete, bot sich ihm ein Anblick, über den er wahrscheinlich gelacht hätte, hätte er noch die Kraft dazu gehabt: Das Zimmer war nicht leer. Ein ältliches Ehepaar saß auf der Plüschcouch und starrte van Hesling und ihn fassungslos und aus aufgerissenen Augen an. In den Händen hielten beide noch die Kaffeetassen, aus denen sie getrunken hatten, aber die Unterteller und das dazu passende Geschirr samt dem Tisch, auf dem es eigentlich stehen sollte, waren verschwunden. Indiana erinnerte sich schwach an ein gewaltiges Klirren und Scheppern und einen harten Schlag, der seine Hüfte getroffen hatte, und erst in diesem Moment fühlte er, daß er in etwas Warmem, Klebrigem lag.

Unsicher stand er auf, sah an sich herab und bemerkte, daß er in einer dunklen, dampfenden Lache zum Liegen gekommen war. Seine Hosen waren von den Knien an aufwärts bis zum Gürtel mit derselben Flüssigkeit durchtränkt. Indiana bückte sich, tunkte den Zeigefinger in die Pfütze und kostete vorsichtig. Dann verzog er mißbilligend das Gesicht und schüttelte den Kopf.

«Der Kaffee ist lauwarm«, rügte er, während er mit der linken Hand Zugriff, den stöhnenden van Hesling vom Boden hochzerrte und mit der anderen bereits an der Türklinke war.»Sie sollten sich beim Zimmerservice beschweren. Bei dem, was Sie hier für eine Übernachtung bezahlen müssen, haben Sie ein Anrecht auf heißen Kaffee.«

Die Augen des alten Mannes wurden so groß, daß es Indiana nicht weiter gewundert hätte, wenn sie im nächsten Moment herausgefallen wären, während der Unterkiefer seiner Frau herunterklappte und sie ihre Kaffeetasse fallen ließ.

Er packte van Hesling noch etwas fester beim Kragen und zerrte ihn auf den Flur hinaus. Grob stieß er den Wissenschaftler vor sich her auf die Aufzugtüren zu, hatte aber noch nicht einmal die halbe Strecke zurückgelegt, als van Hesling plötzlich stehenblieb und mit einem zornigen Laut seine Hand abstreifte.

«Was ist geschehen?«fragte er. Er wirkte verwirrt, als erwache er aus einem tiefen Schlaf und wäre sich noch nicht ganz schlüssig, ob er das, woran er sich erinnerte, wirklich erlebt oder geträumt hatte. Zwei, drei Sekunden lang blickte er Indiana nur an, und dann glomm in seinen trüben Augen ein Zorn auf, der Indiana Jones unwillkürlich einen Schritt zurückweichen ließ.

Keine Sekunde zu früh.

Van Hesling brüllte auf, ballte seine gewaltigen Hände zu noch gewaltigeren Fäusten und schoß einen Hieb in Indianas Richtung ab, der den Kampf beendet hätte, noch bevor er richtig begann.»Du Hund!«brüllte er.»Was hast du getan? Ich habe die Bifröst gesehen! Odin! Der Weg nach Walhall stand mir offen!«

Indiana Jones brachte sich mit einem zweiten sehr hastigen Sprung nach hinten in Sicherheit, als der Wahnsinnige wie von Sinnen auf ihn einzuschlagen begann, konnte aber nicht allen Hieben ausweichen. Zwei-, dreimal trafen ihn van Heslings gewaltige Fäuste an Kopf und Schultern, und obwohl sie ihn im Grunde nur streiften, reichte schon diese Berührung aus, abermals Punkte, Kreise und Sterne vor seinen Augen flimmern zu lassen. Wie aus endlos weiter Entfernung registrierte er, daß die Aufzugtüren sich öffneten und etwa ein halbes Dutzend Menschen auf den Korridor entließen. Irgend jemand begann zu schreien. Überall längs des Flurs flogen Türen auf, neugierige Gesichter blickten zu ihnen heraus oder zogen sich hastig wieder zurück, als sie sahen, was geschah. Eine Gestalt im grauen Kostüm und mit kurzgeschnittenem dunklen Haar lief auf van Hesling zu, fiel ihm in den Arm und versuchte ihn zurückzurei-ßen, während Jones unter einem weiteren Hieb des tobenden Giganten gegen die Wand torkelte.

Van Hesling schüttelte Dr. Rosenfeld mit einer Bewegung ab, die er selbst wahrscheinlich nicht einmal spürte, die junge Wissenschaftlerin aber quer über den Flur taumeln ließ.»Odin!«brüllte der Verrückte noch einmal.»Ich komme!«

Und das schien er genau zu meinen, wie er es sagte, denn er verlor plötzlich jegliches Interesse an Indiana Jones und den anderen. Statt dessen fuhr er auf der Stelle herum und rannte mit zwei, drei gewaltigen Schritten zu der Tür des Zimmers zurück, aus der sie gerade herausgekommen waren.»Odin! Wotan! Ich komme.«

«Um Gottes willen — haltet ihn auf!«rief Dr. Rosenfeld.

Indiana Jones setzte ihm nach, packte seinen Arm und versuchte ihn herumzureißen. Genausogut hätte er versuchen können, ein durchgehendes Pferd mit bloßen Händen festzuhalten. Van Hesling kämpfte nicht nur mit der ganzen Kraft seines hünenhaften Körpers, er entwickelte auch die unmenschliche Stärke eines Verrückten: Ohne sichtliche Anstrengung schüttelte er Indiana ab, drehte sich mit einem fast tierischen Knurren zu ihm herum und schlug zu.

Es war nicht die Bewegung, sondern das Funkeln in seinen Augen, das Jones warnte — und ihm vermutlich das Leben rettete.

Im allerletzten Moment duckte er sich und drehte sich gleichzeitig zur Seite. Van Heslings Faust verfehlte sein Gesicht so knapp, daß er den Luftzug spüren konnte, traf die Tür und zerschmetterte sie wie dünnes Sperrholz. Die Wucht des Schlages war so gewaltig, daß der Verrückte nach vorne gerissen wurde und plötzlich sein ganzer Arm bis zur Schulter in dem Loch verschwand, das er selbst in die Tür geschlagen hatte.

Indiana machte einen halben Schritt zurück, blockte einen Schlag, den van Hesling mit der linken Hand ungeschickt auf sein Gesicht zielte, mit dem Unterarm ab — und schlug selbst mit aller Gewalt zu.

Er legte jedes bißchen Kraft, das er noch hatte, in diesen einen Hieb, denn er wußte, daß ihm keine Gelegenheit für einen zweiten bleiben würde: Van Hesling tobte weiter, und daß sein Arm dabei noch immer bis zur Schulter in der Tür feststeckte, störte ihn dabei nicht sonderlich. Er war drauf und dran, die ganze Tür einfach aus dem Rahmen zu reißen.

Indiana Jones war kein Schwächling. Es war auch, weiß Gott, nicht das erste Mal, daß er sich mit seinen Fäusten zur Wehr setzen mußte. Und trotzdem schwor er sich in diesem Sekundenbruchteil, daß es das letzte Mal sein würde.

Es war, als hätte er gegen Stahl geschlagen. Van Heslings Kinn mußte unter den Bartstoppeln aus solidem Gußeisen bestehen.

Ein scharfer, betäubender Schmerz fuhr durch Indianas Faust und lähmte seinen Arm bis zur Schulter hinauf. Er taumelte zurück, umklammerte seine rechte mit der linken Hand und starrte seine Knöchel an, die bereits anzuschwellen begannen.

Van Hesling schien den Schlag nicht einmal gespürt zu haben. Er stand einfach da, starrte Indiana Jones aus zusammengekniffenen, vor mörderischem Zorn funkelnden Augen an und streckte die linke Hand nach ihm aus. Seine rechte Schulter hing noch immer in der Tür fest, aber die hatte er mittlerweile vollends aus dem Rahmen gerissen, so daß er sie einfach hinter sich herschleifte. Er machte einen Schritt, öffnete den Mund, stammelte:»Odin!«und fiel stocksteif nach vorne. Indiana Jones mußte sich abermals mit einem hastigen Sprung zur Seite in Sicherheit bringen, um diesmal nicht von der herausgerissenen Tür erschlagen zu werden, die van Hesling dabei mit sich riß.

«O mein Gott! Der arme Mann!«

Dr. Rosenfeld kam mit weit ausgestreckten Armen und vor Entsetzen geweiteten Augen auf Indiana zu. Indiana nickte, verzog das Gesicht zu einer Grimasse und betrachtete wehleidig seine immer stärker anschwellende Rechte.»Das können Sie laut sagen«, jammerte er.»Der Kerl hat — «

Dr. Rosenfeld lief einfach an ihm vorbei, kniete neben van Hesling nieder und versuchte ächzend, ihn auf den Rücken zu wälzen.

«Sie armer Kerl«, sagte sie.»Oh, Sie Ärmster. Was hat er Ihnen nur angetan?«In ihren Augen flammte die pure Mordlust auf, als sie den Blick hob und Indiana anstarrte.

«Sie Ungeheuer!«zischte sie vorwurfsvoll.»Wie konnten Sie nur mit diesem armen kranken Mann so umspringen?«

Indiana öffnete den Mund, starrte sie an und klappte ihn wieder zu. Er war… fassungslos. Seine rechte Hand pochte, als würde sie jeden Moment auseinanderplatzen, und er konnte von Glück sagen, daß er den Kopf noch auf den Schultern trug.

«Sie… Sie Monster!«rief Dr. Rosenfeld.»Wie konnten Sie nur?«

Indiana hatte seine Selbstbeherrschung mittlerweile so weit wieder-gefunden, um antworten zu können, aber inzwischen waren auch die anderen herangeeilt. Loben und von Ludolf standen einfach nur da und blickten mit steinernen Gesichtern auf Dr. Rosenfeld und den Bewußtlosen hinab, während die beiden Dänen und Bates versuchten, der jungen Ärztin dabei zu helfen, van Hesling auf den Rücken zu wälzen und seinen Arm aus der zerschmetterten Tür zu befreien. Browning war ein Dutzend Schritte entfernt stehengeblieben und blickte mit finsterem Gesichtsausdruck auf die Szene, während Mor-ton langsam neben Indiana trat und sichtlich Mühe hatte, nicht vor Lachen laut herauszuplatzen — was Indianas Laune auch nicht unbedingt hob.

«Das ist skandalös!«sagte Dr. Rosenfeld.»So etwas habe ich ja noch nie erlebt. Der Mann ist krank. Haben Sie das denn nicht gesehen?«

«Doch«, antwortete Indiana wütend.»Und zwar ziemlich krank. Offensichtlich bildet er sich ein, ein Vogel zu sein oder ein Hochseilartist. Dummerweise ist er keins von beiden.«

Dr. Rosenfeld starrte ihn an und schwieg.

Vielleicht war es gerade dieses Schweigen, das Indiana noch mehr in Rage brachte. Anklagend streckte er seine mittlerweile rot und blau angelaufene Hand vor und sagte:»Zum Teufel, Gnädigste — falls es Ihnen entgangen sein sollte: Ich habe Ihrem Zwei-Zentner-Baby gerade das Leben gerettet! Und mir um ein Haar den Hals und höchstwahrscheinlich wirklich die Hand gebrochen.«

«Sie hätten ihm fast den Schädel eingeschlagen«, erwiderte Dr. Rosenfeld gereizt.»Sehen Sie denn nicht, daß dieser Mann krank ist? Wie konnten Sie nur so grob mit ihm sein? Er wollte doch nur heim zu seinen Göttern.«

«Das habe ich gemerkt!«knurrte Indiana.»Aber ich hatte keine besondere Lust, ihm dabei Gesellschaft zu leisten. Ich halte nicht viel von der Bifröst. «Er ballte die Faust, obwohl ihm die Bewegung schon fast Tränen des Schmerzes in die Augen trieb, und fügte hinzu:»Wenn überhaupt, dann halte ich es mehr mit Thors Hammer.«

Morton lachte unterdrückt, und auch über Bates’ Gesicht huschte ein Grinsen, während Dr. Rosenfeld wohl endgültig zu dem Entschluß kam, daß es keinen Zweck hatte, sich weiter mit Jones zu streiten. Mit einem Ruck wandte sie sich wieder ihrem Schützling zu.

Morton berührte Indiana an der Schulter.»Kommen Sie«, sagte er.»Im Moment können wir hier nicht mehr ausrichten. Sie haben getan, was Sie konnten.«

«Ja!«meinte Dr. Rosenfeld, gerade so leise, daß die anderen es hören mußten, ohne sicher zu sein, daß sie es auch sollten.»Das kann man wirklich sagen.«

Vor der zudringlich gewordenen Presse blieb nur die Flucht aus dem Hotel. Keiner der Beteiligten hatte auch nur die geringste Ahnung, wie es den Journalisten gelungen war, so schnell Wind von dem zu bekommen, was sich im Hilton abgespielt hatte — aber als Indiana, Morton und Bates weniger als zehn Minuten danach aus dem Aufzug im Erdgeschoß traten, um sich auf den Schrecken an der Hotelbar einen Drink zu genehmigen, wurden sie nicht nur von einem sehr aufgebrachten Manager, sondern auch von einer ganzen Meute mit Stenoblöcken und Fotoapparaten bewaffneter Journalisten empfangen. Sie hatten sich sehr hastig wieder in den Aufzug zurückgezogen und sogar das Kunststück fertiggebracht, die Türen zu schließen (nachdem Bates zwei- oder dreimal auf vorwitzige Finger geschlagen hatte, die versuchten, sich dazwischenzudrängen), aber ein Mann, der eine Treppe hinaufrennt, ist allemal schneller als ein Aufzug — vor allem, wenn es sich um einen Reporter handelt, der auf der Jagd nach einer Story ist. Der Weg zurück in das oberste, von Browning angemietete und von seinen Leuten hermetisch abgeriegelte Stockwerk des Hilton war zu einem Spießrutenlauf geworden; wobei Indiana hinterher selbst nicht mehr genau wußte, wie sie ihn überlebt hatten.

Brownings Kommentar über das, was geschehen war, hatte die nächsten zehn Minuten beansprucht.

Und wiederum zehn Minuten später fand sich die ganze Gruppe — einschließlich Dr. Rosenfeld, die den mittlerweile wieder zur Besinnung gekommenen, aber noch immer sehr benommen dreinblicken-den van Hesling wie ein zu groß geratenes Baby an der Hand führte und Indiana Jones mit Blicken begrüßte, die einen Eisberg binnen einer Sekunde in eine Dampfwolke verwandelt hätten — auf einem schmuddeligen, mit Mülltonnen und überquellenden Wäschecontainern vollgestopften Hinterhof des Hilton wieder, den garantiert noch kein zahlender Gast des Hotels zu Gesicht bekommen hatte. Eine Ratte huschte quiekend davon, als Indiana aus der Tür trat, und der Deckel eines übergroßen Müllbehälters flog plötzlich hoch, und eine schmutzstarrende, gebeugte Gestalt sprang ins Freie und rannte davon.

Indiana sah sich stirnrunzelnd um, ließ seinen Blick einen Moment lang auf Dr. Rosenfeld und ihrem Begleiter verweilen, und murmelte dann:»Reizend.«

«Was meinen Sie damit?«fragte Morton, der neben ihm ging. Indiana grinste, zuckte mit den Schultern und wandte sich mit einem fragenden Blick zu Browning.

Der Regierungsbeauftragte starrte ihn finster an und tat so, als begriffe er nicht, was Indiana von ihm wollte. Indiana hätte in diesem Moment eine Menge dafür gegeben, Brownings Gedanken lesen zu können.

Seine schadenfrohen Überlegungen wurden unterbrochen, als das Brummen eines Motors näher kam. Alle wandten sich um, und nicht nur Indiana runzelte überrascht die Stirn, als ein riesiger weißgestrichener Kastenwagen mit der Aufschrift einer Wäscherei in den Hof rumpelte.

Browning hob die Hand, der Wagen vollführte eine enge Kurve und kam unmittelbar vor dem Regierungsbeauftragten zum Stehen. Die Tür flog auf, und ein junger Mann in der weißen Kleidung eines Reinigungsangestellten sprang heraus, ging um den Wagen herum und öffnete die beiden großen rückwärtigen Türen. Dahinter verbarg sich nicht das Innere eines Transporters, sondern eine doppelte Reihe gepolsterter, durchaus bequem aussehender Sitzbänke, zwischen denen sogar ein schmaler Tisch auf dem Boden des Wagens festgeschraubt war.

Browning deutete mit einer halb einladenden, halb befehlenden, doch gänzlich ungeduldigen Geste auf die Türen, aber weder Jones noch einer der anderen bewegte sich.

«Sind das die neuen Gästewagen der Regierung?«fragte Jones spöttisch — was ihm einen weiteren giftgetränkten Blick Brownings eintrug. Aber er zögerte nicht mehr, sondern sprang mit einem federnden Satz in den Wagen hinauf und ließ sich auf eine der Bänke fallen. Von Ludolf und sein Assistent sowie Bates folgten ihnen, während die beiden Dänen noch zögerten.

Browning ging zu ihnen hinüber und begann leise mit ihnen zu sprechen, und Morton half Dr. Rosenfeld, auch van Hesling in den Lieferwagen zu bugsieren — was sich als gar nicht so einfach erwies. Der Wissenschaftler leistete zwar keinen Widerstand mehr, aber er unternahm auch nicht das geringste, um den beiden dabei zu helfen. Was zu einer einigermaßen grotesken Situation führte: Weder Dr. Rosenfeld noch Morton waren stark genug, den Hünen einfach in den Wagen zu heben, und als Morton schließlich ins Wageninnere sprang und einfach an van Heslings Arm zu zerren begann, da trug ihm das einen so giftigen Blick der Neurologin ein, daß er den Versuch unverzüglich wieder einstellte. Jones grinste fröhlich in sich hinein, betrachtete seine geschwollene Hand und sah weg.

Aber schließlich war auch der letzte im Wagen. Browning schloß die Türen, hantierte eine halbe Minute ärgerlich vor sich hinmurmelnd im Dunkeln herum, und dann glomm unter der Decke eine Glühbirne auf. Fast im gleichen Moment sprang der Motor an, und der Wagen setzte sich klappernd und holpernd in Bewegung.

«Wohin fahren wir?«erkundigte sich Dr. Rosenfeld.

Browning tat so, als hätte er die Frage nicht gehört, und Indiana sagte grinsend:»Warum schauen Sie nicht einfach aus dem Fenster?«

Dr. Rosenfeld schwieg, Bates und Morton grinsten, und van Hes-ling tat, was er immer tat, wenn er nicht gerade versuchte, über Regenbögen zu wandeln: Er lächelte dümmlich, während die Gesichter der beiden Deutschen unbewegt blieben und die beiden Dänen offensichtlich gar nicht verstanden, worum es ging. Browning schenkte Indiana einen weiteren wütenden Blick und knurrte irgend etwas von Geheimhaltung, das keiner von ihnen richtig verstand.

«Der Wagen hat keine Fenster«, sagte Indiana.

Browning schwieg beharrlich weiter.

«Nur wenn es nicht zuviel verlangt ist«, fuhr Indiana fort,»wäre die Frage gestattet, was das alles hier soll?«Er machte eine Bewegung mit der unverletzten Hand und sah Browning fragend an, so daß dieser nun keine Möglichkeit mehr hatte, so zu tun, als hätte er nichts gehört.

«Wir hatten leider nicht viel Zeit, für eine angenehmere Transportmöglichkeit zu sorgen«, sagte Browning zornig und fügte hinzu:»Woran Sie ja nicht ganz unbeteiligt waren, Dr. Jones.«

Jones lächelte.»Dieser Wagen macht keinen sehr improvisierten Eindruck«, meinte er. Browning bewegte sich unruhig auf seiner Sitzbank hin und her und suchte sichtlich nach Worten.

«Vielleicht kann ich Ihnen helfen?«bot Jones freundlich an.»So, wie ich das sehe, gibt es nur zwei Erklärungen: Sie wollten nicht, daß man uns sieht — oder wir sollen aus irgendeinem Grund nicht wissen, wohin wir gebracht werden.«

«Unsinn«, murmelte Browning, entschieden zu rasch und zu überzeugt, um wirklich überzeugend zu wirken.

«Dr. Jones hat recht«, sagte von Ludolf mit seiner unangenehmen, näselnden Stimme.»Das ist nicht unbedingt das, was ich mir unter den Vorbereitungen einer wissenschaftlichen Expedition vorgestellt habe, Dr. Browning.«

Browning sah plötzlich aus wie eine Maus, die von einem ganzen Dutzend Katzen in die Ecke gedrängt worden ist. Nervös griff er nach seiner Brille, schob sie eine Weile auf seiner Nase hin und her, setzte sie ab, klappte sie zusammen und setzte sie wieder auf.»Das… ähm… ist richtig«, gestand er.»Ich muß mich auch im Namen meiner Regierung noch einmal entschuldigen, für die… ähm…«Er begann vollends zu stammeln, verlor den Faden und rettete sich in ein reichlich verunglücktes Lächeln.

«Das war eine wirklich erschöpfende Auskunft«, konstatierte Lu-dolf kalt.

«Sie müssen Mr. Browning verstehen«, sagte Jones an Brownings Stelle.»Sehen Sie, ich weiß nicht, als was oder wer er sich Ihnen vorgestellt hat, aber er genießt einen gewissen… Ruf.«

Das Wort Ruf betonte er so, daß nicht nur Ludolf irritiert aufsah, sondern auch Bates die Stirn runzelte und die beiden Dänen plötzlich hellhörig wurden.

«Halten Sie den Mund, Jones«, polterte Browning grob.

Was Jones natürlich nicht tat. Statt dessen fuhr er mit einer Handbewegung auf den Regierungsbeauftragten fort.»Wissen Sie, wenn Dr. Browning nicht eine wundersame Wandlung mitgemacht und ein völlig neues Leben begonnen hat, dann können wir schon von Glück sagen, wenn die Hälfte von uns diese Expedition lebend übersteht. Ist es nicht so, Doktor?«fügte er mit einem freundlichen Lächeln in Brownings Richtung hinzu.

Brownings Lippen preßten sich zu einem dünnen, blutleeren Strich zusammen, während seine Augen unsichtbare Blitze in Indianas Richtung schossen.»Unsinn«, murrte er noch einmal.»Ich weiß nicht, warum Sie so agressiv sind, Dr. Jones, und solche Geschichten verbreiten, aber das ist alles ausgemachter Quatsch.«

«Trotzdem«, näselte Ludolf unbeeindruckt und noch immer mit einer Stimme, als lese er einen drei Wochen alten Wetterbericht vor,»wäre es vielleicht nett, wenn Sie uns jetzt erklärten, wo wir hingebracht werden.«

«Das… kann ich nicht«, sagte Browning gequält.»Jetzt noch nicht. Sie werden alles erfahren, sobald es soweit ist. Und ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß Sie weder in Gefahr noch in sonstigen Schwierigkeiten sind.«

Ludolfs Gesichtsausdruck war nicht anzusehen, ob er sich mit dieser Erklärung zufriedengab oder nicht, aber er sagte nichts mehr, sondern lehnte sich wieder zurück und erstarrte zur Statue eines deutschen Offiziers.

Und auch die anderen schwiegen jetzt. Mehr noch als das, was Browning gesagt hatte, war es die Art und Weise gewesen, wie er es gesagt hatte, die jeden seine eigenen — und wahrscheinlich düsteren — Überlegungen über den Sinn und das Ziel ihrer Autofahrt anstellen ließ.

Vor allem Indiana war plötzlich überhaupt nicht mehr sicher, daß es wirklich eine gute Idee gewesen war, Mortons Drängen in Alaska nachzugeben. Aber im Grunde hatte er das ja auch gar nicht getan. Was ihn letztendlich dazu bewogen hatte, doch an dieser Expedition teilzunehmen, waren weder Brownings Appelle, noch seine Vaterlandstreue, noch die Aussicht auf eine große wissenschaftliche Entdeckung gewesen.

Indiana Jones war Wissenschaftler mit Leib und Seele, aber noch viel mehr war er ein Abenteurer. Vielleicht einer der letzten Abenteurer, die es noch gab. Er hatte sein Archäologiestudium nicht begonnen und mit der besten Note seines Jahrgangs abgeschlossen, weil ihn die Archäologie interessierte. Das natürlich auch — aber mehr, ungleich mehr interessierten ihn die Abenteuer, die damit verbunden waren. Ob sie nun tatsächlich stattfanden oder nur in seiner Phantasie, das spielte im Grunde keine Rolle. Für ihn war Archäologie niemals etwas Trockenes gewesen, weder vor Ort, noch in seinem verstaubten Arbeitszimmer in der Universität. Schon als Kind war er in den heimatlichen Bergen herumgekrochen, hatte nach Resten der alten Indianerkulturen und Hinterlassenschaften der Con-quistadores gesucht und dabei so ganz nebenbei manche Entdeckung gemacht, auf die mehr als ein gestandener Wissenschaftler stolz gewesen wäre. Schon als Kind hatte ihn alles, was die Jahrhunderte oder auch Jahrtausende überdauert hatte und als Zeugnis untergegangener Kulturen übriggeblieben war, fasziniert.

Und etwas von diesem kindlichen Staunen hatte er sich bis heute bewahrt. Das war sicherlich ein Grund, warum Dr. Indiana Jones eindeutig der beliebteste Professor an seiner Universität war, aber nicht alles. Etwas umgab diesen Mann. Eine Ausstrahlung, die schwer in Worte zu fassen war, die aber jeder spürte, der ihn nur kurz sah. Selbst wenn er mit seiner dünnen Brille und im maßgeschneiderten Anzug hinter dem Pult im Hörsaal der Universität stand oder im Laboratorium mit weißem Kittel und der Geschicklichkeit und Geduld eines Chirurgen zweitausend Jahre alte Tonscherben zusammensetzte, hatte er noch immer etwas von einem Abenteurer, einem Romantiker, der vielleicht noch Spuren von dem Pioniergeist in sich trug, der dieses Land groß gemacht hatte. Und das war der wirkliche Grund gewesen, warum er schließlich eingewilligt hatte, an der Expedition nach Odinsland teilzunehmen: das Abenteuer.

Im Moment bestand dieses Abenteuer allerdings lediglich darin, mit einer Gruppe von Menschen, von denen ihm die meisten fremd, nur einer wirklich sympathisch und einer ganz und gar unsympathisch war, in einem engen, sich über mit Schlaglöchern übersäte Straßen quälenden Wagen eingesperrt zu sein und zu einem bisher unbekannten Ziel gebracht zu werden.

Und dabei blieb es auch für die nächsten zwanzig Minuten. Niemand sprach, aber die Stimmung im Wagen sank beharrlich weiter; einzig van Heslings Grinsen blieb, wie es war.

Aber endlich wurde der Wagen langsamer. Geräusche, die sich von denen in der Stadt unterschieden, drangen durch das Blech des Tarnaufbaus, und schließlich erstarb der Motor mit einem letzten röchelnden Laut. Dann näherten sich Schritte dem Wagen, und die beiden hinteren Türen wurden aufgerissen.

Indiana blinzelte in das ungewohnt grelle Sonnenlicht. Im ersten Moment sah er nur Schatten, aber er erkannte immerhin, daß es nicht mehr der junge Mann in dem weißen Anzug war, sondern zwei hochgewachsene Männer in den dunkelblauen Paradeuniformen der Marine. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Ludolf und sein Assistent überraschte Blicke tauschten und selbst Morton leicht zusammenfuhr.

Seine Augen hatten sich völlig an die Helligkeit gewöhnt, als er aus dem Wagen sprang. Sie befanden sich am Hafen, nicht in dem lauten, Besuchern, Passagieren und Neugierigen zugänglichen Teil des Hafens, sondern in einem schmalen Seitenarm, in dem sich nur wenige Schiffe aufhielten, von denen das größte eine Zweimastyacht war. Und es war selbst für diesen Teil des New Yorker Hafens zu ruhig.

Indiana argwöhnte, daß die beiden Marinesoldaten nicht allein waren. Wahrscheinlich war das gesamte Becken abgesperrt worden, damit niemand den Wagen und seine Passagiere beobachtete.

Er wollte sich mit einer Frage an Browning wenden, aber der Regierungsbeauftragte machte nur eine herrische Geste und winkte den anderen ungeduldig, ebenfalls aus dem Wäschereiwagen zu klettern. Bis auf van Hesling und seine Begleiterin folgten ihm auch alle gehorsam, aber Dr. Rosenfeld machte keine Anstalten, das Fahrzeug zu verlassen.

«Ich verlange jetzt endlich zu wissen, wohin wir gebracht werden«, sagte sie bestimmt.»Vorher rühre ich mich hier nicht von der Stelle.«

Browning verdrehte die Augen. Für einen ganz kurzen Moment schien er dicht vor einem seiner gefürchteten Wutanfälle zu stehen, und es hätte Indiana nicht im geringsten gewundert, wenn er den beiden Marinesoldaten Befehl gegeben hätte, die Neurologin und ihren Patienten einfach mit Gewalt aus dem Wagen zu schleifen. Aber dann besann er sich eines Besseren, kletterte noch einmal in das Fahrzeug und redete einige Augenblicke lang mit gedämpfter Stimme auf Dr. Rosenfeld ein. Weder Jones noch die anderen konnten verstehen, was er sagte, aber Indiana sah, wie sich Dr. Rosenfelds Augen erstaunt weiteten und sie einen raschen ungläubigen Blick auf die Zweimastyacht am Kai hinter ihnen warf.

Auch Indiana drehte sich herum und musterte das Schiff noch einmal aufmerksamer. Irgendwie kam es ihm bekannt vor, obwohl er ganz sicher war, es noch nie gesehen zu haben. Es war ein relativ kleines, aber sehr feines Schiff, das das Flair des Besonderen umgab, obwohl es sich weder in Größe noch Ausstattung von einem anderen Schiff seiner Klasse unterschied. Und trotzdem — irgend etwas…

«Kommen Sie, meine Herren.«

Browning hatte es endlich geschafft, Dr. Rosenfeld zum Verlassen des Wagens zu bewegen, und ging jetzt mit eiligen Schritten vor ihr her auf die Yacht zu. Die beiden Marinesoldaten flankierten van Hes-ling; sehr unauffällig, aber auch sehr geschickt. Sollte der Wahnsinnige wieder einen seiner Anfälle bekommen, würden sie ihn in Sekundenschnelle überwältigen und festhalten.

Sie betraten das Schiff über eine schmale Laufplanke. Indiana sah sich abermals neugierig um. Jetzt, als er an Bord war, kam ihm die Yacht noch kleiner vor als bisher — und noch bekannter. Er glaubte nicht, daß sie mehr als sieben oder acht Besatzungsmitglieder hatte.

Und wenn sie alle an Bord dieses Schiffes bleiben und damit fahren sollten, dann war sie wahrscheinlich sogar überfüllt.

Sie sollten. Browning und die beiden Marineoffiziere dirigierten sie sanft, aber sehr nachdrücklich unter Deck, wo bereits einige Kabinen für sie vorbereitet waren: eine für Loben und von Ludolf sowie die beiden Dänen, eine andere für Bates, Morton, Browning und offensichtlich auch Indiana, denn auch in ihr befanden sich vier Betten, und eine etwas kleinere Kajüte für van Hesling und sein» Kindermädchen«.

Noch während sie die Kabinen betraten, hörte Indiana, wie der Motor der Yacht ansprang, und spürte, wie das Deck unter seinen Füßen zu beben begann. Sie hatten ganz offensichtlich abgelegt. Browning verlor keine Zeit.

«Doktor Jones?«

Etwas am Klang von Brownings Stimme irritierte ihn. Indiana drehte sich herum und sah den Regierungsbeauftragten fragend an. Browning wirkte mit einem Mal überhaupt nicht mehr feindselig, sondern ein ganz klein bißchen nervös. Und das entschuldigende Lächeln, das er auf sein Gesicht zwang, war nicht einmal hundertprozentig falsch — allerhöchstens neunundneunzig Prozent.

«Ja?«fragte Indiana.

Browning machte eine einladende Geste und hob gleichzeitig die andere Hand, als auch Morton und Bates sich von ihren Kojen erheben wollten, auf die sie sich gerade erst niedergelassen hatten. Er schüttelte den Kopf, was aber nur den beiden anderen galt.»Bitte folgen Sie mir«, sagte er, zu Indiana gewandt.

Indiana gehorchte, ein wenig verwirrt, aber auch beunruhigt.

Wenn es etwas gab, was Dr. Browning nervös machen konnte, dann mußte das schon etwas Besonderes sein.

Sie verließen die Kabine, gingen den nur ein knappes halbes Dutzend Schritte messenden Gang entlang und betraten den Salon des Schiffes. Auch hier drinnen entsprach alles dem äußeren Eindruck, den die Yacht hinterließ: gediegen, solide, mit einem dezenten Luxus, der fast nur angedeutet, trotzdem aber deutlich spürbar war.

«Was ist das hier?«fragte er.

Browning runzelte ärgerlich die Stirn.»Ein Schiff«, sagte er patzig.

«Das sehe ich selbst«, antwortete Indiana im gleichen Ton.»Ich meine auch nicht, was es ist, sondern was wir — «

«Ich habe Sie nicht hierher gebeten, um mit Ihnen über Schiffe zu diskutieren«, unterbrach ihn Browning, nun wieder ganz in seiner gewohnt groben Art.»Bitte, hören Sie mir zu, Doktor Jones. Wir haben nicht viel Zeit, und es ist vielleicht das letzte Mal, daß wir unter vier Augen miteinander reden können.«

Der Ernst, der plötzlich wieder in seiner Stimme war, ließ Indiana aufhorchen. Er nickte.»Also geht es doch um mehr als einen treibenden Eisberg und ein paar Fetzen von einem Wikingersegel. Hab ich recht?«

«Ich fürchte«, sagte Browning.»Aber um Ihrer nächsten Frage zuvorzukommen: Wir wissen wirklich nicht, worum es tatsächlich geht. Alles, was wir haben, ist die Aussage eines Verrückten und ein paar Vermutungen.«

«Und die wären?«fragte Indiana. Browning zuckte hilflos mit den Schultern.

«Selbst darüber kann ich nicht sprechen«, sagte er.»Es klingt zu verrückt, als daß selbst Sie es glauben würden.«

Indiana verzog das Gesicht zu einer säuerlichen Grimasse.»Vielen Dank für das Kompliment«, erwiderte er.»Aber wenn Sie mir schon von sich aus nichts erzählen, dann darf ich vielleicht ein paar Fragen stellen?«

Browning sah ihn reglos an.

Indiana machte eine Geste auf die geschlossene Tür hin.»Diese beiden Deutschen«, sagte er.»Warum sind sie wirklich hier? Doch nicht nur, weil van Hesling zufällig Mitglied einer deutschen Forschungsexpedition war.«

Er hatte mit seiner Vermutung ins Schwarze getroffen, wie der Ausdruck auf Brownings Gesicht verriet. Aber der Regierungsbeauftragte antwortete auch jetzt nicht gleich, sondern blickte betreten zu Boden und begann mit den Füßen zu scharren.

«Das ist«, begann er schließlich nach einer geraumen Weile und in einem sehr gequälten Tonfall,»nicht so einfach zu erklären.«

«Ich bin ein geduldiger Zuhörer«, sagte Indiana.»Und manchmal verstehe ich sogar etwas. Wissen Sie?«

Hinter ihm erklang ein leises, spöttisches Lachen.

Indiana drehte sich erschrocken um — und sog ungläubig die Luft ein.

«Aber das ist doch…!«

«Ganz genau der«, antwortete der schlanke Mann, der plötzlich wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht war.»Das ist er.«

Er lächelte, ging mit raschen Schritten an Indiana und Browning vorbei und nahm eine Flasche und drei Gläser vom Regal der Bar, die neben der Tür in die Wand eingelassen war.»Ich nehme an, Sie trinken immer noch Whisky, Doktor Jones?«fragte er, wobei er bereits Eis aus einem Kühlbehälter in die Gläser warf und diese zwei Finger hoch auffüllte. Dann drehte er sich, alle drei Gläser in einer Hand balancierend, herum, reichte eines davon Browning und das zweite Indiana, der es verblüfft entgegennahm. Das dritte behielt er selbst, nippte daran, sagte:»Prost «und nahm einen zweiten, deutlich größeren Schluck.

Indiana starrte sein Gegenüber noch immer fassungslos an. Er begriff sehr wohl, daß der angebotene Drink nur dem einzigen Zweck diente, das Eis zwischen ihnen zu brechen und ihm Gelegenheit zu geben, sich mit der plötzlich völlig veränderten Situation vertraut zu machen. Aber wenn er sonst auch selten Schwierigkeiten hatte, sich auf etwas Neues einzustellen — diesmal hatte er sie. Er hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit.

«Doktor Browning hat leider recht mit dem, was er Ihnen gerade erzählt hat, Doktor Jones«, sagte der Mann, nachdem Indiana ihn eine volle Minute lang weiter angestarrt und dabei sogar fast das Atmen vergessen hatte.

«Das, was er und Mister Morton Ihnen in Saint Claire erzählt haben, ist wirklich schon beinahe alles, was wir über diesen Eisberg wissen. Nicht ganz, aber fast. Alles andere sind Vermutungen… Und ein paar Befürchtungen.«

Die Pause vor den letzten Worten entging Indiana Jones keineswegs, und er fand seine Fassung jetzt auch wieder. Zumindest weit genug, um stammeln zu können:»Mister President…«

Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika nickte, als schmeichle ihm die Bezeichnung, nahm einen weiteren Schluck aus seinem Whiskyglas, wobei er es leerte, und fuhr sich genießerisch mit der Zungenspitze über die Lippen.

«Leider hatte Doktor Browning auch mit seiner anderen Bemerkung recht«, fuhr er fort.»Nämlich der, daß wir überhaupt keine Zeit haben. Ich dürfte gar nicht hier sein, und offiziell bin ich es auch nicht, wenn Sie verstehen?«

Indiana nickte. Er verstand kein Wort.

«Um es kurz zu machen«, fuhr der Präsident fort,»die Situation ist diese: Wir sind ziemlich sicher, daß die Expedition, an der Doktor van Hesling teilgenommen hat, nicht nur wissenschaftlicher Neugier diente. Wir haben sogar Beweise, daß sich mehrere SS-Offiziere und eine Gruppe regimetreuer Wissenschaftler an Bord befanden sowie einige Ingenieure und Physiker. Fragen Sie mich jetzt nicht, warum oder woher wir diese Informationen haben. Aber es ist so.«

«Aber van Hesling ist — «

«Ich weiß, wer Doktor van Hesling ist«, unterbrach ihn der Präsident mit einem milden, aber auch tadelnden Lächeln.

«Mir ist bekannt, daß Doktor Browning und Sie keine Freunde sind, aber glauben Sie mir: Er ist einer der fähigsten Männer auf seinem Gebiet, über die unser Land verfügt. Informationen, die von ihm kommen, stimmen.«

Das hatte Indiana Jones auch nie bezweifelt. Er hielt Browning nur einfach für einen Idioten. Das war alles.

Plötzlich lächelte der Präsident, als hätte er seine Gedanken gelesen.

«Ich hätte eine Menge darum gegeben, die Deutschen aus der Sache herauszuhalten. Glauben Sie mir, Doktor Jones. Aber leider ging es nicht. Kapitän Morton hat den Vorfall über Funk gemeldet — was seine Pflicht war —, und wir wissen ebenfalls aus sicherer Quelle, daß die Deutschen den Funkspruch abgefangen haben. Sie kennen die angespannte Lage, die im Moment zwischen Hitler-Deutschland und den Vereinigten Staaten von Amerika herrscht. Wir können es uns aus politischen und auch wirtschaftlichen Gründen nicht leisten, die Deutschen vor den Kopf zu stoßen, und es wäre mehr als ein Affront, sie an einer Expedition nicht teilnehmen zu lassen, die offiziell dem Zweck dient, das Schicksal eines verschollenen deutschen Forschungsschiffes aufzuklären.«

«Und inoffiziell?«fragte Indiana.

Das Lächeln des Präsidenten wurde zu einem Grinsen, das an das eines Schuljungen erinnerte, dem ein besonders guter Scherz gelungen war.»Demselben», schmunzelte er.»Herauszufinden, was mit dem Schiff geschehen ist — und weshalb es sich wirklich dort herumgetrieben hat.«

«Ich verstehe«, sagte Indiana.»Sie fürchten, daß die Deutschen dort oben irgendeine Schweinerei vorhaben.«

«Wir wissen es nicht«, sagte Browning anstelle des Präsidenten.»Aber wir wissen, daß der deutsche Geheimdienst völlig aus dem Häuschen geriet, als er die Nachricht bekam, daß van Hesling noch lebt.«

«Es hat uns sogar alle nur erdenkliche Mühe gekostet, von den Deutschen das Einverständnis zu bekommen, diese Expedition überhaupt durchzuführen.«

«Das verstehe ich nicht«, gestand Indiana.

«Das ist ganz einfach«, erklärte der Präsident.»Natürlich können sie uns nicht daran hindern, eine Expedition in die Antarktis loszuschicken.«

«Arktis«, korrigierte Jones.»Verzeihung, Mister President — es heißt Arktis.« Er deutete mit dem Zeigefinger zum Boden hin.»Die Antarktis ist auf der anderen Seite.«

Browning schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, aber in den Augen des Präsidenten blitzte es abermals belustigt auf.»Von mir aus auch zum Mars«, sagte er lächelnd.»Das ändert nichts. Wie gesagt: Sie können uns nicht daran hindern, eine Expedition nach Was-weiß-ich-wohin zu schicken. Aber sie können uns sehr wohl daran hindern, dabei einen deutschen Wissenschaftler mitzunehmen.«

«Van Hesling?«vermutete Jones.

Der Präsident nickte.»Ja. Wenn das, was wir vermuten, zutrifft, dann hat das alles keinen Sinn ohne seine Begleitung.«

«Und was ist das, was Sie vermuten?«fragte Jones zum wiederholten Mal.

«Das einzige, woran die Deutschen wirklich interessiert sind«, sagte Browning düster.

«Sauerkraut?«

Browning wurde nicht nur blaß, sondern grün im Gesicht, und der Präsident lachte herzhaft.»Waffen«, grinste er, nachdem er sich wieder beruhigt hatte.»Sehen Sie, Doktor Jones, wir haben die ursprüngliche Expedition van Heslings und der anderen rekonstruiert, soweit es uns anhand der wenigen, uns zugänglichen Daten möglich war. Alles spricht dafür, daß dieses Schiff unterwegs war, um nach irgend etwas zu suchen, was die Wehrmacht als Waffe benutzen kann. Ich habe keine Ahnung, was das sein könnte. Niemand hat eine Ahnung — aber es muß verdammt wichtig gewesen sein. Sie haben die besten Köpfe ihres Landes losgeschickt.«

«Und keiner ist zurückgekommen.«

«Keiner ist zurückgekommen«, bestätigte der Präsident.»Außer van Hesling. Und kaum hatte Hitler die Nachricht von seinem Überleben erhalten, da hatte er auch schon ungefähr die Hälfte seiner Nordmeerflotte losgeschickt. Die Gewässer rings um Grönland wimmeln im Moment so sehr von deutschen Schiffen und Unterseebooten, daß die Fische wahrscheinlich auswandern werden.«

Indiana überlegte einen Moment.»Unter diesen Umständen«, sagte er dann,»erscheint es mir immer sonderbarer, daß wir diese Expedition durchführen. Immerhin sind wir alles andere als Freunde.«

«Aber auch keine Feinde«, fügt der Präsident hinzu.»Zumindest nicht offiziell — noch nicht. Außerdem haben sie gar keine andere Wahl. Sehen Sie, Doktor Jones, wir haben den Kurs dieses Eisbergs — «

«Odinsland«, warf Browning ein. Der Präsident nickte dankbar.»Wir haben den wahrscheinlichen Kurs Odinslands also hochgerechnet. Natürlich sind es nur Schätzungen, aber wenn unsere Berechnungen auch nur ungefähr zutreffen, dann dürfte sich der Eisberg im Moment in einem Seegebiet befinden, das sowohl für Über- als auch für Unterwasserschiffe völlig unzugänglich ist. Zumindest bis zum nächsten Frühjahr. So wie es im Moment aussieht, sind wir die einzigen, die die Transportmittel haben, um dorthin zu kommen. Und schnell hinzukommen, was aus irgendeinem Grund wichtig sein muß.«

«Und deshalb — «

«— hat Hitler sich bereit erklärt, das Hilfsangebot der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika anzunehmen«, sagte der Präsident spöttisch.»Ja.«

Indiana überlegte einen Moment. Das war nicht alles. Der Präsident verschwieg ihm irgend etwas. Er war ein ausgezeichneter Schauspieler (das mußte man wohl sein, bei einem Job wie seinem), aber Browning hatte sich nicht gut genug in der Gewalt. Sein Gesicht blieb zwar ausdruckslos und unfreundlich wie immer, aber sein Blick verriet, daß da noch mehr war. Etwas Wichtiges. Aber er spürte auch ebenso deutlich, daß er auf alle Fragen, die er jetzt noch stellen konnte, sowieso keine Antwort bekommen würde.

«Sie möchten also, daß ich ein Auge auf diese beiden Deutschen werfe«, meinte er schließlich.

Der Präsident schüttelte den Kopf.»Das bleibt Ihnen natürlich unbenommen, aber dafür werden schon Doktor Browning und seine Begleiter sorgen. Keine Angst. Nein — was wir von Ihnen möchten, ist folgendes: Wir haben Sie gebeten, an dieser Expedition teilzunehmen, weil Sie über einen… nun, sagen wir: einen gewissen Ruf verfügen. Wie Sie ja selbst besser wissen als ich. Und Sie sind unbestritten einer unserer fähigsten Archäologen. Wenn Sie auf diesem Eisberg irgend etwas finden, das unsere Vermutungen bestätigt, dann versuchen Sie, es für uns zu sichern. Und sollte dies nicht möglich sein, dann zerstören Sie es. Ganz egal, was es ist.«

Indiana blickte den Präsidenten verstört an. Er versuchte zu lächeln, aber es mißlang kläglich.»Ich verstehe Sie richtig?«vergewisserte er sich.»Sie wollen, daß ich nach etwas suche, von dem wir nicht einmal wissen, was es ist, und es mitnehme oder zerstöre, ganz egal, was ich finden sollte — wenn wir etwas finden.«

Der Präsident nickte.»Ich weiß, es klingt verrückt, aber genau das ist es, was ich von Ihnen möchte, Doktor Jones.«

«Ja«, gestand Indiana mit einem gequälten Lächeln.»Das klingt verrückt.«

Brownings Gesicht färbte sich allmählich wieder rot.»Jones«, zischte er gepreßt.»Es reicht allmählich. Sie — «

«Aber lassen Sie ihn doch, Doktor«, sagte der Präsident lächelnd.»Es tut gut, jemanden vor sich zu haben, der nicht nur katzbuckelt, sondern seine Meinung sagt. In einer Stellung wie der meinen trifft man viel zu selten auf Leute, die es noch wagen, ihre Meinung zu sagen. «Er lachte leise, füllte sein Glas erneut mit einer gewaltigen Portion Whisky und blickte fast vorwurfsvoll das Glas in Indianas Hand an, das der bisher noch nicht einmal angerührt hatte.

«Nun, Doktor Jones«, meinte er nach einer Weile.»Ich weiß, es ist nicht sehr fair, eine solche Entscheidung innerhalb einer einzigen Minute von Ihnen zu verlangen, aber ich fürchte, mir bleibt keine andere Wahl. Werden Sie tun, was ich von Ihnen verlange?«

«Hab’ ich denn eine Wahl?«fragte Indiana.

Der Blick seines Gegenübers wirkte mit einem Mal fast verletzt.»Sie können tun und lassen, was Sie wollen, Doktor Jones«, erwiderte er.»Ich meine das ernst. Wenn Sie es ablehnen, dann lasse ich das Schiff sofort anlegen und Sie zurück in Ihre Universität bringen. Also?«

Es dauerte fast eine Minute, bis Indiana antwortete. Aber dann nickte er.»Warum eigentlich nicht?«fragte er.

Das Schiff fuhr eine gute Stunde lang flußaufwärts. Und Indiana verbrachte den allergrößten Teil dieser Zeit auf dem Rücken auf seiner Koje liegend und die Kabinendecke anstarrend. Morton und Ba-tes hatten ihn sofort mit Fragen bestürmt, kaum daß er wieder in die Kajüte gekommen war, aber er hatte keine einzige davon beantwortet, ja, nicht einmal reagiert, so daß sie es schließlich aufgegeben und sich in ihre eigenen Betten zurückgezogen hatten, von wo aus sie ihn mit einer Mischung aus Ärger und Beunruhigung anstarrten.

Indiana registrierte es nicht einmal. Das Gespräch mit dem Präsidenten hatte ihn mehr aufgewühlt, als er es sich selbst eingestehen wollte. Wie bei Browning zuvor, war es nicht einmal so sehr das gewesen, was er gesagt hatte, sondern mehr das, was er zwischen seinen Worten herausgehört hatte. Wenn auch nur die Hälfte dessen zutraf, was er befürchtete, dann war dies mehr als ein Abenteuer. Mehr als ein Ausflug in die Vergangenheit, wie er ihn schon mehrmals überstanden hatte. Vielleicht waren er und die anderen ahnungslosen Mitglieder ihrer kleinen Expedition schon längst zu Schlüsselfiguren im Ringen zweier gewaltiger Giganten geworden, in dem es um nichts anderes als um die Macht über die gesamte Welt ging.

Aber er konnte sich einfach nicht vorstellen, was die Deutschen dort in den eisigen Gewässern des Nordmeeres gefunden haben sollten, noch dazu auf einem Eisberg, der vielleicht seit Jahrtausenden seine Kreise über das Meer zog.

Und er verstand noch weniger, was er als Archäologe bei dieser Expedition sollte. Sein Fachgebiet waren versunkene Kulturen und das, was sie hinterlassen hatten. Aber in Grönland oder gar der Arktis hatte es niemals eine Kultur gegeben, von einigen nur wenige Jahre überdauernden Ansiedlungen der Wikinger einmal abgesehen und vielleicht ein paar Eskimostämmen, die heute noch so lebten wie vor zweihunderttausend Jahren. Was, um alles in der Welt, mochte es dort oben geben, das die Deutschen als Waffe gebrauchen konnten?

Sicherlich, Indiana war Archäologe und kein Physiker, und er konnte nicht ausschließen, daß es in den menschenleeren Gegenden des Polargebietes physikalische Phänomene gab, die ein phantasiebegabter Wissenschaftler für seine Zwecke nutzen konnte. Aber welche Rolle sollte er dabei spielen?

Fast die gesamt Zeit, in der sich die Yacht des Präsidenten den Hudson hinaufarbeitete, dachte Indiana über diese und ähnliche Fragen nach, ohne jedoch auch nur den Schimmer einer Antwort zu erahnen. Aber er würde Browning danach fragen. Das nahm er sich vor. Und zwar noch heute. Und er würde keinerlei Ausflüchte mehr gelten lassen. Fast bedauerte er schon, nicht auf einer Antwort bestanden zu haben, auch auf die Gefahr hin, sie nicht zu bekommen und daraufhin von der Expedition ausgeschlossen zu werden. Aber das war Theorie. Praktisch hatte er nicht irgend jemandem, sondern dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gegenüber gestanden. Nicht nur einem der mächtigsten Männer der Welt überhaupt, sondern dem Regierungsoberhaupt seines Heimatlandes. Und vielleicht war doch so etwas wie Patriotismus in ihm, und zwar in stärkerem Maße, als er bisher selbst gewußt hatte. Vielleicht war er auch nur ein Feigling.

Schließlich legte das Boot wieder an, nicht in einem Hafen, sondern an einem schmalen, offensichtlich nagelneuen hölzernen Steg, der ein ganzes Stück weit in den Fluß hineinragte und wahrscheinlich eigens für diesen Anlaß und diesen Tag erbaut worden war. Sie verließen das Schiff und stiegen abermals in Wagen um — diesmal allerdings nicht in einen umgebauten Wäschereiwagen, sondern in drei offene Limousinen, die von Marinesoldaten chauffiert wurden. Sie rumpelten eine viertel Stunde lang über ausgefahrene Feldwege, bevor sie auf eine besser ausgebaute Straße stießen, durchquerten eine kleine Ortschaft und näherten sich schließlich einer Ansammlung riesiger Wellblechhallen und kleinerer, aber immer noch gewaltiger Gebäude, die sich rings um ein geradezu gigantisches Betonfeld gruppierten.

Wiederum hatte Indiana das Gefühl, eigentlich wissen zu müssen, wo er sich befand — aber die Erkenntnis kam erst, als Bates neben ihm überrascht die Luft einsog und ein einziges Wort vor sich hin flüsterte:»Lakehurst!«

Lakehurst!

Indiana richtete sich erschrocken im Sitz der Limousine auf. Das war ein Flughafen, aber nicht irgendein Flughafen. Indiana konnte den Schrecken und das kaum noch verhohlene Entsetzen in Bates’ Stimme sehr gut verstehen. Lakehurst war der Luftschiffhafen der Vereinigten Staaten, eben jenes Lakehurst, wo erst vor wenigen Jahren die Hindenburg explodiert war und dabei zahllose Menschen in den Tod gerissen hatte. Seither war es still um die lautlosen Giganten der Lüfte geworden, wenn man sie auch dann und wann noch sah. Aber Indiana hätte sich niemals träumen lassen, eines Tages selbst an Bord einer dieser riesigen fliegenden Zigarren zu gehen. Er konnte auch nicht sagen, daß er allzu scharf darauf war.

Dann fiel ihm etwas ein, was der Präsident gesagt hatte:»… die einzigen, die im Moment über die dazu nötigen Transportmittel verfügen.«

Eine ungute, eine sehr ungute Ahnung stieg in ihm auf. Und sie wurde zur Gewißheit, als die Wagen das große Maschendrahttor passierten und ohne anzuhalten auf eine riesige, an die fünfzig Yard hohe und sicherlich eine halbe Meile lange Halle zurollten, deren zweigeteiltes Tor auseinanderzuschwingen begann, während sie sich ihm näherten.

«Was ist das hier?«fragte Morton nervös.

«Lakehurst«, antwortete Bates. Verwundert fügte er hinzu:»Sie haben noch nie davon gehört?«

«Natürlich weiß ich, was Lakehurst ist«, erwiderte Morton in leicht gereiztem Ton. Er deutete mit der ausgestreckten Hand auf die gigantische Halle.»Ich frage mich, was das da ist.«

«Ein Hangar«, antwortete Bates.»Um genau zu sein, ein Luftschiffhangar.«

Morton wurde blaß.»Sie meinen, daß wir… daß wir mit einem dieser Dinger fliegen werden?«

Bates zuckte mit den Schultern und sagte gar nichts. Indiana Jones nickte und meinte:»Ja.«

«Woher wollen Sie das wissen?«fragte Morton.

Indiana Jones lächelte.»Jemand hat es mir gesagt«, antwortete er.

«Und wer? Browning?«

Indiana schüttelte den Kopf.»Nein. Der Präsident der Vereinigten Staaten.«

Morton starrte ihn böse an und sagte gar nichts mehr, während Ba-tes plötzlich Mühe hatte, ein Lachen zu unterdrücken. Manchmal war es wirklich am einfachsten, die Wahrheit zu sagen. Vor allem dann, wenn man sicher sein konnte, daß einem sowieso niemand glaubte.

Die Wagen wurden langsamer und reihten sich hintereinander auf, um durch das Tor zu rollen. Das Innere der Halle war noch gigantischer, als ihr Äußeres hatte vermuten lassen. Allerdings war von ihren wahren Abmessungen im Moment nicht allzuviel zu erkennen, denn der allergrößte Teil des vorhandenen Raumes wurde von einem gigantischen silbergrauen Etwas beansprucht, das, von einem wahren Spinnennetz armdicker Taue und Stahlseile gehalten, unter der Hallendecke schwebte. Bates stieß einen anerkennenden Pfiff durch die Zähne aus, während Morton abermals und diesmal eindeutig die Luft einsog.

Auch Indiana betrachtete das Luftschiff voller ungläubigem Staunen. Es war nicht der erste Zeppelin, den er sah. Aber es war der mit Abstand größte. Es war schwer, hier drinnen irgendwelche Vergleiche anzustellen, denn die riesige Halle ließ das Luftschiff wiederum kleiner erscheinen, als es tatsächlich war — aber selbst die legendäre Hindenburg mußte gegen diesen Giganten ein Zwerg gewesen sein. Seine wahre Größe kam Indiana erst zu Bewußtsein, als sie sich der Gondel näherten, die unter dem zigarrenförmigen, schimmernden Rumpf hing, und er sah, wie winzig die beiden vor ihm fahrenden Wagen plötzlich aussahen.

Sie stiegen aus. Bates entfernte sich wortlos in Richtung der Luftschiffgondel und begann fast augenblicklich ein Gespräch mit einem der herumstehenden Matrosen, während Morton noch immer sichtlich fassungslos vor Staunen dastand und den Kopf in den Nacken legte, um den schwebenden Giganten zu betrachten, der über ihnen hing.

Auch Indiana sah nach oben — und bereute es eine Sekunde später. Für seinen Geschmack war es ein verdammt ungutes Gefühl, ein Gebilde von der Größe eines dreißigstöckigen Wolkenkratzers zu sehen, das über ihm schwebte und scheinbar nur darauf wartete, herunterzufallen und die winzigen Menschen unter sich zu zermalmen. Natürlich wußte er, daß das nicht passieren konnte; ja, nicht einmal möglich war. Aber das war nur der logische Anteil in ihm, der das behauptete. Außer diesem kleinen und im Moment ziemlich hilflosen Teil gab es noch einen größeren, unlogischen Indiana Jones, der ihm erklärte, daß dieses Ding dort oben sich einfach nicht in der Luft halten konnte und jeden Moment wie ein Berg zu Boden krachen und sich bis nach China durchbohren mußte.

«Überrascht?«

Der hämische Klang des Wortes hätte ihm verraten, wem die Stimme gehörte, auch wenn er sie nicht erkannt hätte. Aber so hatte er wenigstens noch Gelegenheit, ein unfreundliches Lächeln auf sein Gesicht zu zaubern, ehe er sich umdrehte, damit Browning nicht sah, wie er sich wirklich fühlte.

«Ein wenig«, gestand er.»Obwohl ich mir irgend etwas in dieser Art hätte denken sollen, nach unserem… Gespräch.«

«Ja«, sagte Browning ungerührt.»Und jetzt verstehen Sie sicher auch, warum ich bisher niemandem sagen konnte, wohin wir wirklich fahren werden.«

«Wieso?«Indiana wies mit einer Kopfbewegung auf das Luftschiff.»Hatten Sie Angst, daß die Hälfte Ihrer Expedition abspringt und sich weigert, mit dem Ding da zu fliegen?«

«Aber wieso denn?«erwiderte Browning mit perfekt geschauspie-lerter Überraschung.

«Weshalb dann?«wollte Indiana wissen.

«Weil das hier nicht unbedingt für jedermanns Augen bestimmt ist«, antwortete Browning.»Das ist ein Versuchsmodell. Ein eigentlich streng geheimes Projekt der Navy, von dem bisher nur die unmittelbar Beteiligten und eine Handvoll Außenstehender wußten.«

«Und seit zehn Minuten auch zwei deutsche Wehrmachtsoffiziere«, fügte Indiana Jones mit einem schadenfrohen Grinsen hinzu.

Browning machte plötzlich ein Gesicht, als hätte er unversehens in eine Zwiebel gebissen.»Ja«, gestand er bekümmert.»Ich fürchte, so ist es.«

«Und wie werden Sie mit diesem Problem fertig?«fragte Indiana.»Auf Ihre altbewährte Methode? Werden Sie sie irgendwo über dem Atlantik über Bord werfen?«

In Brownings Augen blitzte es auf, aber er verbiß sich die wütende Antwort, die ihm sichtlich auf der Zunge lag.»Ich habe meine diesbezüglichen Bedenken geäußert«, sagte er nur.»Aber wir werden uns um das Problem kümmern, sobald der eigentliche Anlaß unserer Expedition erledigt ist.«

«Falls Sie Hilfe brauchen«, schlug Indiana Jones todernst vor,»dann melden Sie sich. Ich kann Ihnen sagen, wie man ein Grab anlegt, das man mindestens zweitausend Jahre lang nicht findet.«

Browning starrte ihn an, knirschte hörbar mit den Zähnen und drehte sich auf dem Absatz herum, um wütend davonzustampfen.

«Warum sind Sie so feindselig?«fragte Morton.

Indiana zögerte einen Moment.»Das ist eine alte Geschichte«, sagte er dann.»Und eine ziemlich lange. Vielleicht erzähle ich sie Ihnen eines Tages, aber nicht jetzt.«

Nur um weiteren lästigen Fragen zu entgehen, drehte er sich von Morton weg und näherte sich der Gondel des Luftschiffs. Sie kam ihm immer größer vor, je näher er kam. Die Tür, breit genug, um drei Männer nebeneinander durchzulassen, wirkte winzig in der schimmernden Flanke, und die Fenster waren nicht mehr als Nadelstiche in der Aluminiumhaut. Seine Schritte wurden immer langsamer, je mehr er sich dem Luftschiff näherte, und er war nicht der einzige, dem es so erging. Auch die beiden Dänen und Dr. Rosenfeld nebst ihrem Schützling zögerten sichtlich, die breite Metalltreppe zu betreten, die nach oben führte. Einzig Loben und von Ludolf marschierten im Stechschritt an ihnen vorbei und die Stufen hinauf, als wäre es für sie das Selbstverständlichste der Welt.

Auch Indiana überwand sich und wollte das Luftschiff betreten, blieb dann aber noch einmal stehen, als hinter ihm Stimmen laut wurden, die er als die Dr. Rosenfelds und Brownings identifizierte, zwischen denen es offensichtlich zu einer Auseinandersetzung kam.

Neugierig und von einer Mischung aus Schadenfreude und Beunruhigung erfüllt, drehte er sich um und sah, wie Browning heftig gestikulierend auf die Neurologin einredete, wobei er abwechselnd auf sie und auf van Hesling deutete. Dr. Rosenfeld ihrerseits gestikulierte auch — und sie deutete abwechselnd auf van Hesling und Indiana Jones.

Indiana näherte sich den beiden langsam und blieb stehen, als Browning aufsah und ihm einen zornigen Blick zuwarf.»Kann ich vielleicht irgendwie vermitteln?«fragte er.»Ich habe das Gefühl, daß es zwischen Ihnen beiden zu kleinen… Unstimmigkeiten kommt.«

Rosenfeld warf ihm einen giftgetränkten Blick zu, während Browning ärgerlich die Hände zu Fäusten ballte und sie in Ermangelung eines Gesichts, in die er sie schlagen konnte, in seine eigenen Hüften rammte.

«Das stimmt«, sagte er wütend.»Und es ist ganz allein Ihre Schuld.«

«Ach«, meinte Indiana Jones.

«Ach ja«, zischte Browning gereizt. Anklagend deutete er auf Dr. Rosenfeld.»Doktor Rosenfeld weigert sich, ihren Patienten mit uns kommen zu lassen.«

«Solange Sie dabei sind«, fügte Dr. Rosenfeld hinzu.

Indiana sagte vorsichtshalber nichts, sondern sah Browning nur fragend an. Der Regierungsbeauftragte wandte sich noch einmal an die Neurologin und versuchte es diesmal offensichtlich im Guten.»Bitte, seien Sie doch vernünftig, Doktor Rosenfeld«, sagte er.»Wir müssen Doktor van Hesling mitnehmen. Das müssen Sie einsehen.«

«Ich muß überhaupt nichts«, antwortete Dr. Rosenfeld spitz.»Das einzige, was ich muß, ist, mir Sorgen um das Wohl meines Patienten zu machen — und diese sind nur zu berechtigt, solange dieser grobe Mensch dort in seiner Nähe ist.«

Mit dem groben Menschen meinte sie offensichtlich Indiana Jones, der diese Worte mit einem Stirnrunzeln, aber kommentarlos registrierte.

Browning seufzte.»Ich verstehe ja Ihre Besorgnis, Doktor«, sagte er.»Aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich selbst auf Doktor van Hesling achtgeben werde.«

«So wie heute morgen im Hotel?«fragte Dr. Rosenfeld.

Browning verdrehte die Augen, kam aber nicht dazu, noch etwas zu sagen, denn Dr. Rosenfeld fuhr lauter und in erregtem Tonfall — und heftig in Indianas Richtung gestikulierend — fort: »Mister Browning«, sagte Dr. Rosenfeld, wobei sie das Mister so betonte, daß es einer Beleidigung nahekam.»Ich möchte eines ein für alle Mal klarstellen: Professor van Hesling ist mein Patient. Der Mann ist krank, das sollten eigentlich sogar Sie erkennen. Und ich allein trage die Verantwortung für ihn! Ich weiß ja nicht, was Sie vorhaben oder wo Sie mit dem Ding da«- sie deutete auf das riesige Luftschiff —»hinwollen, aber Sie werden meinen Patienten nirgendwo hinbringen, ohne daß ich ihn begleite!«

Browning blinzelte irritiert. Für einen Moment sah er so verwirrt und hilflos aus, daß er Indiana beinahe leid tat; aber auch nur beinahe. Dann schüttelte er den Kopf, machte einen halben Schritt rückwärts und maß Dr. Rosenfeld mit einem langen, bewußt abschätzenden Blick.»Mein liebes Kind«, begann er.»Ich glaube nicht, daß — «

«Ich bin nicht Ihr liebes Kind!«unterbrach ihn Dr. Rosenfeld scharf.»Und es ist mir völlig egal, was Sie glauben, Mister Browning. Professor van Hesling wird nirgendwo hingehen ohne mich. Und ich glaube auch nicht, daß er mit mir dort hingeht, wohin Sie ihn bringen wollen.«

Indiana grinste, verschränkte die Arme vor der Brust und musterte Browning mit einem schadenfrohen Blick, der Browning keineswegs entging, denn das kampflustige Funkeln in seinen Augen nahm noch zu.»Ich fürchte, Sie überschätzen Ihre Macht, Doktor Rosenfeld«, sagte er.

«Ach?«entgegnete Dr. Rosenfeld spitz.

Browning nickte. Indiana sah, wie schwer es ihm fiel, wenigstens noch den Schein von Höflichkeit zu wahren, aber es waren im Moment einfach zu viele Ohren in der Nähe, als daß er in seiner gewohnt aufbrausenden Art lospoltern konnte. Dr. Rosenfeld hatte alles andere als leise gesprochen, und obwohl in der gewaltigen Halle ein reger Betrieb und ein erstaunlicher Lärm herrschten, wandten sich doch immer mehr Blicke ihr und dem kleinwüchsigen Regierungsbeauftragten zu.

«Es handelt sich hier um eine Sache von höchster Wichtigkeit«, sagte Browning.»Um genau zu sein: Ich handle im direkten Auftrag des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika.«

«Meinetwegen des Kaisers von China!«rief Dr. Rosenfeld ungerührt.»Wissen Sie, Mister Browning, es interessiert mich herzlich wenig, was Sie vorhaben oder wer Sie sind. Das einzige, was mich interessiert, ist das Wohl meines Patienten. «

Brownings Augen wurden schmal.»Ich könnte Ihnen eine Menge Ärger bereiten«, drohte er.

Einen größeren Fehler hätte er wahrscheinlich gar nicht begehen können. Dr. Rosenfelds Gesicht schien zu versteinern. Zwei oder drei Sekunden lang funkelte sie Browning nur an, dann sagte sie:»Das glaube ich Ihnen sogar. Aber wissen Sie, Mister Browning, ich könnte Ihnen wahrscheinlich noch mehr Ärger bereiten.«

«Das bezweifle ich. Sie — «

Indiana hörte nicht mehr zu. Er wußte, wie rücksichtslos und hartnäckig Browning sein konnte. Aber es schien, als hätte er in dieser zarten, so zerbrechlich aussehenden jungen Frau einen Gegner gefunden, der ihm durchaus gewachsen war. Und Indiana hatte das sichere Gefühl, daß die Auseinandersetzung zwischen Browning und Dr. Rosenfeld nur die erste in einer langen Reihe war, die er noch miterleben würde; ob er wollte oder nicht. Statt dem Wortduell der beiden weiter zu lauschen, wandte er sich um und ging ein paar Schritte in den Hangar hinein. Während der wenigen Minuten, die sie jetzt hier waren, hatte das Bodenpersonal die Startvorbereitungen schon fast ganz abgeschlossen; ein weiterer Beweis für seine Vermutung, daß diese ganze Aktion von langer Hand vorbereitet war. Und er wußte immer noch nicht, worum es ging.

Sein Blick glitt über die riesige, silberne Hülle des Luftschiffs. Er war niemals im Leben mit einem Zeppelin geflogen, und er interessierte sich auch nur am Rande für diese gigantischen fliegenden Zigarren. Aber selbst er begriff, daß dieses Schiff etwas ganz Besonderes war. Es hatte die gewohnte, konventionelle Zigarrenform, war aber fast doppelt so lang wie jedes andere Luftschiff, das er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Und auch die Gondel, die unter dem Rumpf befestigt war, war um ein Mehrfaches größer als die normalen Passagierkabinen anderer Zeppeline. Und es gab noch etwas Eigenartiges an diesem Zeppelin: Auch in der Hülle des Luftschiffs befanden sich eine große Anzahl runder Bullaugen, was darauf hindeutete, daß das Schiff weitaus mehr Passagiere befördern konnte, als ein Luftschiff es normalerweise tat. Und nichts von alldem, was er sah, gefiel ihm. Dieses Schiff, all die Marinesoldaten, die den Hangar bevölkerten, Brownings schon fast hysterische Geheimniskrämerei — das alles bestärkte ihn in seinem unguten Gefühl.

Er hatte sich ein gutes Stück von Browning und Dr. Rosenfeld entfernt, als das aufgeregte Bellen eines Hundes an sein Ohr drang. Indiana blieb stehen, drehte sich um und sah verwirrt nach rechts und links, ohne das Tier zu entdecken. Dann wiederholte sich das Kläffen, und diesmal begriff er, daß es von oben kam.

Überrascht hob er den Blick. In der Tür der Passagiergondel war eine riesige, in einen Fellmantel gehüllte Gestalt erschienen, die ihm zuwinkte. Und neben ihr zappelte ein weißes Fellbündel, das sich in dieser luftigen Höhe offensichtlich alles andere als wohl fühlte, denn das Kläffen des Eskimohundes wurde immer nervöser.

Indiana hob die Hand, winkte Quinn und seinem vierbeinigen Begleiter zu und warf einen raschen Blick zu Dr. Rosenfeld und Browning hinüber, die immer noch damit beschäftigt waren, sich zu streiten. Er war zwar jetzt zu weit entfernt, um die Worte zu verstehen, aber Brownings Gesten waren hektischer und aufgeregter geworden, während Dr. Rosenfeld im gleichen Maß, in dem er die Beherrschung verlor, ruhiger und entschlossener zu werden schien.

Und irgend etwas stimmte nicht.

Es dauerte einige Sekunden, bevor Indiana klar wurde, was ihn am Anblick der beiden störte: Es war nicht das, was da war, sondern etwas, das fehlte.

Professor van Hesling.

Erschrocken fuhr er herum, sah hastig nach rechts und links — und sah gerade noch den Schatten einer hünenhaften humpelnden Gestalt, die aus dem offenen Hangartor schlüpfte.

«Doktor Rosenfeld!«schrie er.»Ihr Riesenbaby entwischt!«

Gleichzeitig rannte er los.

Van Hesling war zwar durch seine Verletzung behindert, aber er hatte einen gehörigen Vorsprung, und er entwickelte auch jetzt wieder ein Tempo und eine Geschicklichkeit, die man ihm kaum zugetraut hätte. Als Indiana das Tor erreichte, hatte van Hesling bereits einen gehörigen Vorsprung. Und Indiana fuhr erschrocken zusammen und zischte einen Fluch, als er sah, worauf der verrückte Wissenschaftler zusteuerte!

Weniger als fünfzig Schritt neben dem Hangartor erhob sich ein gewaltiges, sicherlich dreißig bis vierzig Meter hohes Metallgerüst; einer der Landemaste, an denen die Zeppeline festgemacht wurden. Und nach allem, was Indiana mit van Hesling erlebt hatte, gehörte wahrlich nicht mehr viel Phantasie dazu, sich auszumalen, was der Verrückte dort wollte!

«Van Hesling!«brüllte Jones.»Bleiben Sie stehen!«

Was van Hesling natürlich nicht tat. Ganz im Gegenteil: Er drehte im Laufen den Kopf, sah seinen Verfolger und beschleunigte seine Schritte noch mehr. Auch Indiana rannte schneller, aber er begriff, daß er zu spät kommen würde. Van Hesling war allerhöchstens noch zehn Meter von dem Landemast entfernt, und trotz seiner Behinderung war sein Vorsprung groß genug, daß er ihn erreichen und damit beginnen konnte, ihn hinaufzuklettern, lange bevor Indiana ihn eingeholt haben konnte.

«Van Hesling!«schrie Indiana noch einmal.»Verdammt noch mal, bleiben Sie stehen! Das ist nicht der Weg nach Walhall!«

Er kam sich selbst reichlich lächerlich bei diesen Worten vor, aber die Vorstellung, hinter dem Wahnsinnigen herzuklettern, und ihn in zehn oder auch dreißig Metern Höhe von dem Drahtgerüst zu pflücken, gefiel ihm noch sehr viel weniger. So verdoppelte er seine Anstrengungen noch einmal, rannte so schnell hinter dem Deutschen her, wie er konnte — stolperte und fiel der Länge nach hin.

Als er sich wieder aufrichtete, hatte van Hesling den Landemast fast erreicht.

«O nein«, stöhnte Indiana.»Nicht schon wieder.«

Ein weißer Blitz raste an ihm vorbei, schoß auf van Hesling zu, stieß ein schrilles Kläffen aus und rannte ihn kurzerhand über den Haufen. Van Hesling schrie gellend auf, stürzte zu Boden und riß schützend die Hände vor das Gesicht, als der Husky knurrend zu einem weiteren Angriff ansetzte.»Hilfe!«brüllte er.»So helft mir doch!«

Der Husky wich ein Stück zurück, bleckte drohend die Zähne, stieß ein tiefes, wütendes Knurren aus, versuchte aber nicht noch einmal, sich auf den Wahnsinnigen zu stürzen. Aber als van Hesling versuchte, sich auf Knie und Ellbogen hochzustemmen, sprang er mit einem Satz vor und zeigte ihm drohend ein furchteinflößendes Gebiß. Van Hesling kreischte, als hätte der Hund tatsächlich zugebissen, krümmte sich auf dem Boden und verbarg wimmernd das Gesicht zwischen den Armen.

«Fenris! Zurück!«

Neben Indiana Jones erschien die riesenhafte Gestalt Quinns. Der Husky zögerte. Sekundenlang irrte sein Blick zwischen van Hesling und seinem Herrn hin und her, dann rief Quinn noch einmal:»Fenris! Aus!«und das Tier wich gehorsam von seinem Opfer zurück. Quinn streckte die Hand aus und tätschelte den Hund zwischen den Ohren, und Fenris hob den Blick und sah seinen Herrn beifallheischend an.

«Gut gemacht, Junge«, lobte Quinn.

Indiana Jones verzog das Gesicht und stemmte sich in die Höhe, und Dr. Rosenfeld reagierte ganz genau so, wie er erwartet hatte. Sie sagte gar nichts, war aber mit zwei Schritten neben ihrem Schützling und ließ sich auf die Knie sinken. Der Anblick war beinahe lächerlich: Van Hesling mußte fast doppelt soviel wiegen wie sie, und aufgerichtet war er fast einen halben Meter größer. Trotzdem nahm Dr. Rosenfeld ihn jetzt wie ein Kind in die Arme und begann, seinen Oberkörper zu wiegen, während sie leise, beruhigende Töne in sein Ohr summte.

Indiana Jones schüttelte den Kopf, rappelte sich hoch und begann sich den Schmutz von Hose und Jacke zu klopfen.»Herzlichen Glückwunsch«, sagte er, an Quinn gewandt.»Jetzt stehst du auch auf ihrer Abschußliste. Gleich neben mir.«

Quinn sah ihn sehr irritiert an, schließlich wußte er nichts von dem, was im Hotel vorgefallen war. Dann zuckte er einfach mit den Schultern, drehte sich auf der Stelle um und ging wieder in den Hangar zurück. Fenris trottete wie ein Schoßhündchen neben ihm her. Es war fast eine Wiederholung der Szene aus dem Hilton: Dr. Rosenfeld, Bates und die beiden Dänen bemühten sich auch jetzt wieder um van Hesling, während Browning mit einem Gesicht dabeistand, das jeder Beschreibung spottete, und Morton nun wirklich ganz unverhohlen schadenfroh grinste.

Und da Indiana Jones ahnte, was nun kommen würde, zog er es vor, sich nicht einzumischen, sondern statt dessen lieber zum Luftschiff zurückzugehen.

Jedenfalls wollte er das.

Browning hielt ihn zurück.

«War das unbedingt nötig?«fragte er.

«Was?«

Browning verzog das Gesicht.»Sie wissen sehr gut, was ich meine, Jones«, sagte er.»Ich habe Ihnen gesagt, daß ich nur zustimme, daß Ihr Freund und die Hunde uns begleiten, wenn er uns keine Schwierigkeiten macht.«

«Schwierigkeiten?!«japste Indiana.»Ich glaube, Sie verwechseln da etwas, Doktorchen!«Er deutete anklagend auf van Hesling.»Mir ist dieser Bursche nicht entwischt. Aber Sie hatten ja offensichtlich damit zu tun, sich mit dieser Walküre zu streiten, statt auf ihn aufzupassen.«

Browning setzte zu einer scharfen Antwort an, kam aber nicht dazu, denn in diesem Augenblick stand Dr. Rosenfeld mit einem Ruck auf und stürmte mit gesenktem Kopf und kampflustig vorgestreckten Schultern auf ihn zu. Für einen Moment erinnerte sie ihn nun wirklich an eine Walküre, wie Indiana sie gerade bezeichnet hatte.

«Doktor Browning!«begann sie schrill.»Das reicht nun wirklich! Ich verlange, daß mein Patient und ich auf der Stelle zurückgebracht werden!«

Browning verdrehte die Augen, aber zu Indianas Überraschung war seine Stimme ganz ruhig, als er antwortete:»Es tut mir leid, Doktor Rosenfeld, aber das geht einfach nicht. Professor van Hesling muß uns begleiten, oder diese ganze Expedition ist sinnlos.«

«Dann komme ich auch mit!«sagte Dr. Rosenfeld bestimmt.

«Auch das geht nicht«, sagte Browning.»Wir haben doch schon — «

«Es interessiert mich nicht, was wir vor fünf Minuten besprochen haben«, fiel ihm Dr. Rosenfeld ins Wort. Anklagend deutete sie auf Indiana, dann in die Richtung, in der Quinn und der Hund verschwunden waren.»Zuerst lassen Sie diesen ungehobelten Klotz da auf meinen Patienten los, und dann wird er auch noch von einem Hund angefallen! Ich glaube, das reicht für einen Tag!«

«Wäre es Ihnen lieber gewesen, wir hätten tatenlos zugesehen, wie er dort hinaufklettert und sich den Hals bricht?«fragte Indiana mit einer Handbewegung auf den Landemast. Dr. Rosenfeld ignorierte ihn kurzerhand.»Ich überlasse Ihnen die Wahl, Mister Browning«, sagte sie, plötzlich wieder ganz kühl.»Entweder ich begleite Professor van Hesling, oder er begleitet mich!«

Browning musterte sie drei oder vier Sekunden lang ganz ruhig, ehe er leise sagte:»Ich könnte Sie auf der Stelle verhaften lassen, ist Ihnen das klar?«

Doktor Rosenfeld nickte.»Sehr klar. Aber ich gebe Ihnen mein Wort, daß diese Geschichte dann spätestens in vierundzwanzig Stunden in jeder Zeitung des Landes steht.«

Browning wurde bleich.»Das wagen Sie nicht! Das wäre Hochverrat.«

«Was für ein Unsinn!«sagte Dr. Rosenfeld.»Es gibt in diesem Land etwas, was sich Pressefreiheit nennt, Browning. Auch wenn ich fast annehme, daß Sie von diesem Begriff noch nie etwas gehört haben. Aber ich denke, all diese Journalisten und Reporter, die im Hil-ton-Hotel hinter uns her waren, würden sich gierig auf diese Geschichte stürzen. Was sie dann daraus machen, liegt nicht in meiner Hand.«

Browning starrte sie an. Seine Kiefer mahlten, und seine kurzen, dicken Stummelfinger schlossen sich in hilflosem Zorn zu Fäusten. Aber Indiana wußte, daß er verloren hatte. Dr. Rosenfeld gehörte nicht zu den Menschen, die leere Drohungen ausstießen. Und Browning mußte das ebensogut erkannt haben wie er.

«Das ist Erpressung«, sagte er schließlich.

«Nennen Sie es, wie Sie wollen«, erwiderte Dr. Rosenfeld.»Aber entscheiden Sie sich. Ich und Doktor van Hesling, oder keiner von uns.«

Wieder vergingen Sekunden, in denen Browning sie nur anstarrte. Aber schließlich nickte er. Welche Wahl hatte er auch schon?

Die Passagiergondel des Luftschiffs war noch größer, als es von außen den Anschein gehabt hatte. Nachdem Indiana über die wankende Metalltreppe nach oben gestiegen war, hatte er sich unvermittelt in einem weitläufigen, allerdings sehr spartanisch eingerichteten Raum wiedergefunden, der nur einer von vielen war. Außer Quinn und allen anderen Expeditionsteilnehmern, die er bereits im Hilton kennengelernt hatte, befanden sich auch noch zahlreiche Männer in den blauen Uniformen der Marine an Bord. Und obwohl keiner von ihnen eine Waffe trug, erkannte Indiana sie auf den ersten Blick als das, was sie wirklich waren: keineswegs Techniker oder Bordpersonal, sondern Soldaten. Noch dazu eine ganz besondere Art von Soldaten. Keiner von ihnen sagte etwas Verräterisches, keiner machte eine eindeutige Geste oder auch nur eine Andeutung. Aber Indiana Jones war Männern wie ihnen ein paarmal zu oft begegnet, um sie nicht sofort zu erkennen. Die Männer waren Angehörige einer Eliteeinheit, ausgesucht harte Männer, die vor nichts Angst hatten und darauf vorbereitet waren, durch die Hölle zu gehen. Was, um alles in der Welt, hatte Morton auf Odinsland gefunden?

Das nervöse Bellen von Hunden schlug ihm entgegen, als er eine Klappe am oberen Ende einer schmalen Treppe, die aus der Gondel hinaus und ins Innere des eigentlichen Luftschiffrumpfes hinaufführte, öffnete und hindurchstieg. Indiana zögerte einen Moment, um seinen Augen Gelegenheit zu geben, sich an das hier drinnen herrschende Halbdunkel zu gewöhnen, dann kletterte er weiter, ließ die Klappe hinter sich zufallen und sah sich um. Er befand sich in einem gewaltigen, schier endlosen Raum. Über ihm spannten sich die mit breiten Metallstegen verbundenen Gaskammern des Zeppelins, zwischen denen sich ein ganzes Gewirr von Laufgängen, schmalen eisernen Leitern und Stegen entlang zog. Aber das Innere des Zeppelins bestand nicht zur Gänze aus gasgefüllten Kammern. Rechts und links des schmalen, mit einem zerbrechlich wirkenden Eisengeländer versehenen Steges, auf das die Leiter hinausgeführt hatte, befanden sich große, offensichtlich nachträglich eingebaute Kabinen. Das Licht reichte nicht aus, um den riesigen Zeppelin ganz zu überblicken, aber Indiana schätzte, daß es gut zehn bis fünfzehn dieser Verschlage geben mußte; und das auf jeder Seite.

Das Hundegebell drang aus einem dieser Aufbauten. Indiana ging hin, öffnete die Tür, ohne anzuklopfen, und hob grüßend die Hand, als er Quinn inmitten eines nervösen Hunderudels entdeckte.

Der Eskimo erwiderte seinen Gruß knapp. Quinn war niemals ein Mann vieler Worte gewesen, und er schwieg auch jetzt, bis Indiana sich durch das Durcheinander aus unruhig auf und ab laufenden Hunden zu ihm durchgekämpft und sich neben ihn auf den Boden gehockt hatte. So groß der Verschlag war — Indiana schätzte seine Länge auf mindestens zwanzig Meter —, herrschte hier drinnen doch fast eine erdrückende Enge. Außer Quinn und seinen Hunden waren auch die beiden Schlitten sowie eine große Anzahl in Segeltuch eingeschlagener Bündel hier untergebracht. Offensichtlich enthielten sie eine komplette Polarausrüstung: Indiana erkannte ein gutes Dutzend zusammengerollter Zelte, einige Gaskocher und — heizungen samt einer großen Anzahl dazugehöriger Flaschen, eine komplette tragbare Funkanlage sowie ganze Paletten voller kältefest eingepackter Nahrungsmittel. Er fragte sich, was in den anderen Verschlagen sein mochte und warum man es Quinn zumutete, sich mitsamt seinen Hunden den Platz hier drinnen zu teilen.

«Was hältst du von alldem, mein Freund?«fragte er.

Quinn zuckte mit den Schultern, wandte gemächlich den Kopf und blickte aus der Höhe seiner gut sieben Fuß auf Indiana herab.»Nichts«, sagte er auf seine gewohnt bündige Art.

Indiana lächelte. Quinn drückte sich manchmal — selbst für seinen Geschmack — etwas zu wortkarg aus, aber diesmal kam er mit seiner Antwort der Wahrheit ziemlich nahe. Auch Indiana bedauerte längst, Browning an jenem Tag in Saint Claire nicht kurzerhand rausgeworfen zu haben. Er ahnte, daß das, was sie auf dem treibenden Eisberg erwarten würde, wirklich wichtig sein mußte. Spätestens seit seinem Gespräch mit dem Präsidenten wußte er, daß es sich diesmal nicht um ein x-beliebiges Abenteuer, sondern um eine Sache handelte, von der vielleicht das Wohl und Wehe dieses ganzen Landes abhing. Und trotzdem wäre ihm wohler gewesen, er wäre nicht dabei. Dieses ganze Unternehmen schien von Anfang an unter einem schlechten Stern zu stehen. Das begann damit, daß es von Doktor Browning geleitet wurde, einem Mann, der nicht einfach nur einen schlechten Ruf hatte, sondern sozusagen die Verkörperung dieses Begriffs war. Jones war ihm niemals zuvor persönlich begegnet, aber er hatte genug von ihm gehört, um zu wissen, daß er nicht nur im übertragenen, sondern auch im wortwörtlichen Sinne über Leichen ging. Es ging weiter mit dem wahnsinnigen van Hesling, von dem Indiana ahnte, daß er ihnen noch so manche unangenehme Überraschung bereiten würde, und seiner zwar nicht wahnsinnigen, dafür aber reichlich hysterischen Betreuerin, die mit Sicherheit auch für die eine oder andere Abwechslung während der Reise gut war. Und letztlich diese beiden deutschen Soldaten: zwei Männer, die sich nicht einmal mehr sonderliche Mühe gegeben hatten zu verheimlichen, wer sie wirklich waren. Nämlich Männer, die für die SS oder gar die Gestapo arbeiteten. Was, um alles in der Welt, war dort, nördlich von Grönland?

Ein leichtes Beben lief durch den Rumpf des Luftschiffs, und die Hunde wurden noch nervöser. Einige von ihnen begannen schrill und ängstlich zu jaulen, andere drängten sich schutzsuchend an Quinn und Indiana, und Fenris, das Leittier des Rudels, bleckte die Zähne und begann tief und drohend zu knurren. Quinn streckte die Hand aus, berührte ihn zwischen den Ohren und begann leise, beruhigende Worte in seiner Muttersprache zu murmeln. Der Husky beruhigte sich sofort. Er hörte auf zu knurren, aber er hatte immer noch Angst; sein Nackenfell war gesträubt und die Ohren angelegt.

Abermals bebte der Boden, und diesmal glaubte Indiana eine sachte gleitende Bewegung zu spüren. Er stand wieder auf, breitete hastig die Arme aus, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, als ein neuerlicher, diesmal härterer Ruck durch den Boden lief, und ging mit unsicheren, tapsigen Schritten zu einem der Bullaugen hinüber.

Das riesige Luftschiff hatte sich in Bewegung gesetzt. Sanft, fast majestätisch glitt es aus dem gewaltigen Hangar hinaus, und Indiana hob schützend die Hand vor die Augen, als das Halbdunkel der riesigen Montagehalle plötzlich dem grellen Licht des Tages wich. Tief unter sich konnte er winzige Gestalten erkennen; Dutzende, wenn nicht Hunderte winziger Gestalten, die wie Ameisen an den Enden der zahllosen Taue zappelten, an denen das Schiff hing. Ihrer Zahl nach zu schließen, mußte das Luftschiff einen gewaltigen Auftrieb haben. Was Indiana abermals verwunderte, wenn er bedachte, daß fast ein Drittel des Innenraums nicht von gasgefüllten Kammern, sondern von den nachträglich eingebauten Verschlagen beansprucht wurde.

Er wandte sich an Quinn.»Ich denke, ich gehe hinunter und schaue mir den Start von der Kanzel aus an«, sagte er.»Kommst du mit?«

Quinn schüttelte den Kopf.»Die Hunde sind unruhig«, antwortete er.

Indiana zuckte bedauernd mit den Achseln und bewegte sich vorsichtig durch den überfüllten Laderaum zurück zur Tür. Sie wurde von außen geöffnet, kurz bevor er sie erreichte, und einer der Marinesoldaten blickte zu ihnen herein.»Doktor Jones?«

Indiana nickte.

«Colonel Lestrade möchte Sie sprechen«, sagte der Soldat.

«Wer, zum Teufel, ist das schon wieder?«fragte Indiana.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über die kantigen Züge des Marinesoldaten.»Der Kapitän der Diagon«, antwortete er. Mit einer erklärenden Geste fügte er hinzu:»Dieses Luftschiffs.«

«Welch aparter Name. «Indiana verzog das Gesicht, nickte Quinn zum Abschied zu und folgte dem Soldaten in die eigentliche Gondel des Luftschiffes.

Der Passagierraum, der ihm vorhin noch so gewaltig vorgekommen war, schien geschrumpft zu sein. Indiana schätzte, daß sich gut vier oder fünf Dutzend blaugekleidete» Besatzungsmitglieder «auf den einfachen Sperrholzsitzen lümmelten, eine kleine Armee, die ganz offensichtlich nicht nur er als das erkannte, was sie wirklich war. Morton und die beiden Dänen standen neben der Tür und machten einen reichlich verlorenen Eindruck, während die beiden deutschen Soldaten sich so weit von ihren Konkurrenten zurückgezogen hatten, wie es überhaupt möglich war. Indiana lächelte flüchtig, als er den verbissenen Ausdruck auf von Ludolfs Gesicht gewahrte. Der Major sah aus wie ein Soldat, der sich zum letzten Gefecht gegen eine erdrückende Übermacht bereitmacht. Van Hesling und seine Beschützerin entdeckte er nirgendwo.

Der Soldat, der ihn begleitet hatte, deutete auf eine Tür am anderen Ende des Passagierraums. Mit raschen Schritten folgte ihm Indiana, wobei er immer mehr Mühe hatte, mit dem Mann Schritt zu halten, denn der Boden zitterte und bebte jetzt immer stärker. Offensichtlich war das Luftschiff bereits gestartet oder befand sich zumindest direkt in der Startphase. Und auch das war etwas, was Indiana sehr verwirrte: Auch mit der geringen Erfahrung, die er im Umgang mit Luftschiffen hatte, wußte er doch, daß diese Riesen der Lüfte sich mit lautloser Eleganz fortbewegen, nicht bockend und schaukelnd und wie ein Boot auf hoher See.

Morton schloß sich ihnen an, als sie durch die Tür am vorderen Ende der Passagierkabine gingen. Sie durchquerten einen kurzen Gang, stiegen eine Wendeltreppe hinab und fanden sich unversehens im Steuerraum des Luftschiffs wieder.

Staunend sah sich Indiana um. Er wußte selbst nicht genau, was er erwartet hatte — vielleicht etwas, das an das Ruderhaus eines Schiffes erinnerte oder an die Steuerkanzel eines Flugzeugs. Aber keines von beidem war der Fall. Was er sah, war eine zu zwei Dritteln von Glas umgebene Kabine, die dem Kapitän einen fast uneingeschränkten Rundumblick gewährte, und ein sehr kompliziert anmutendes Steuerpult, auf dem zahllose Skalen, Anzeigeinstrumente und verschiedenfarbige Lichter um die Wette blinkten und zuckten. Und dazu ein Steuerruder, das nun wirklich wie das eines Schiffes aussah, nur etwas kleiner war.

Vor diesem Steuerruder stand eine hochgewachsene schlanke Gestalt. Ein Mann mit schütterem grauen Haar und einem scharfgeschnittenen Gesicht. Er hatte wache, sehr klare Augen, aber um seinen Mund lag ein verbissener Zug, und seine Haltung wirkte ein kleines bißchen mehr angespannt, als es der Situation angemessen schien. Er mußte Indiana gesehen haben, denn dessen Gestalt spiegelte sich in der Glasscheibe vor ihm, und die Schritte waren auf der Metalltreppe alles andere als leise gewesen. Trotzdem verging fast eine Minute, ehe er sich zu ihm herumdrehte und ihn mit einem langen, nicht besonders freundlichen Blick maß.

«Colonel Lestrade, nehme ich an«, sagte Indiana.

Wieder vergingen Sekunden, dann nickte der Mann.»Und Sie sind Doktor Indiana Jones. Der berühmte Indiana Jones.«

«Sie wollten mich sprechen?«Indiana überging die Frage absichtlich. Er hatte soeben beschlossen, Lestrade nicht zu mögen.

Lestrade hob die Hand und deutete auf einen Punkt hinter Indiana, und als der sich umdrehte, erkannte er Browning, der mit vor der Brust verschränkten Armen an der Rückwand der Steuerkabine lehnte und so tat, als beobachte er interessiert die Startvorbereitungen. Das Luftschiff hing noch immer an seinen Tauen, gewann aber bereits allmählich an Höhe.

«Doktor Browning sagte mir, daß Sie der richtige Mann sind.«

«Der richtige Mann wofür?«

Lestrades Gesicht verdunkelte sich.»Es geht um diese Hunde«, sagte er.»Und den Eingeborenen.«

Indiana blickte ihn finster an, schwieg aber.

«Um es kurz zu machen«, fuhr Lestrade fort, als Indiana ihm nicht den Gefallen tat, in irgendeiner Weise zu antworten,»ich bin und war dagegen, daß diese Tiere an Bord meines Schiffes sind. Aber man sagte mir, daß Sie es zur Bedingung gemacht haben, sie mitzunehmen. Also werden Sie auch dafür sorgen, daß sie keinen Ärger machen.«

Indiana sagte immer noch nichts. Er blickte Lestrade nur kühl an, und sekundenlang erwiderte der Luftschiffkapitän seinen Blick auf die gleiche Weise. Dann sagte er.»Ich nehme an, wir haben uns verstanden.«

«Keineswegs«, antwortete Indiana. Lestrades Stirnrunzeln vertiefte sich.

«Dann muß ich wohl deutlicher werden«, meinte er. Er machte eine weit ausholende Geste, die das gesamte Luftschiff einschloß.»Ich bin für dieses Fahrzeug und seine Besatzung verantwortlich. Mir ist zu Ohren gekommen, daß einer Ihrer Hunde bereits einen Mann angefallen hat. Sie werden also dafür sorgen, daß die Tiere ihr Quartier während der gesamten Reise nicht verlassen.«

Indiana zählte in Gedanken bis zehn, ehe er antwortete:»Ich glaube, Sie verwechseln da etwas, mein lieber Colonel. Ich habe mich keineswegs darum gerissen, an dieser sonderbaren Unternehmung teilzunehmen. Und wenn ich vorher gewußt hätte, daß wir mit dieser fliegenden Zigarre fahren werden, hätte ich es wahrscheinlich auch rundheraus abgelehnt.«

Lestrade fiel ihm ins Wort:»Jones, Sie befinden sich hier an Bord eines Luftschiffs der US-Navy, und — «

«Das ist Ihre Meinung, Colonel«, unterbrach ihn Jones.»Wenn Sie meine hören wollen, dann ist das hier nichts als ein fliegendes Irrenhaus, und das da«- er deutete auf Browning —»ist der Oberirre. Und mein Freund Quinn, den Sie als Eingeborenen bezeichnen, und ich gehören zufällig nicht zur Marine oder zu einem anderen Teil der Army. Und sollte Ihnen das nicht passen, dann können Sie diesen fliegenden Bus gerne zur nächsten Haltestelle bringen und uns aussteigen lassen.«

Lestrade setzte zu einer scharfen Antwort an, aber Browning kam ihm zuvor.»Bitte, meine Herren«, sagte er.»Beginnen Sie die Reise doch nicht gleich mit einem Mißklang. Ich bin sicher, daß sich Doktor Jones und Mister Quinn um die Tiere kümmern werden. «Er warf Indiana einen beinahe flehenden Blick zu, der diesen tatsächlich davon abhielt, Lestrade die Antwort zukommen zu lassen, die ihm auf der Zunge lag, und fuhr fort:»Colonel Lestrade hat Sie im Grunde nur hierher gebeten, um Ihnen mitzuteilen, daß wir einen Sturm umfahren müssen. Es könnte ziemlich unruhig werden. Daher wäre ES vielleicht besser, wenn Sie Ihren Begleiter warnen. Ich weiß nicht, wie die Hunde darauf reagieren, falls es unruhig werden sollte.«

«Wahrscheinlich nicht so ungehalten wie ich, wenn das so weitergeht«, murmelte Indiana. Aber so leise, daß nur Browning die Worte verstehen konnte, nicht aber Lestrade. Er wandte sich wieder an den Marineoffizier.»Wir werden versuchen, die Tiere zu beruhigen«, sagte er mühsam beherrscht. Nach einer winzigen Pause und an Browning gewandt, fügte er hinzu:»Sonst noch etwas?«

Browning schüttelte beinahe hastig den Kopf.»Nein. Im Moment war das alles. Ich danke Ihnen, Doktor Jones.«

Wenn Indiana überhaupt noch daran gezweifelt hatte, daß sein Besuch in der Steuerkanzel einem völlig anderen Zweck dienen sollte als dem, den Lestrade vorgab, so war es Brownings Reaktion, die ihn endgültig davon überzeugte.

«Und noch etwas«, sagte Lestrade, als er sich umwenden und das Steuerhaus verlassen wollte.

Indiana blieb auf der untersten Stufe der Treppe stehen und war ganz bewußt unhöflich genug, sich nicht zu Lestrade herumzudrehen.»Ja?«fragte er.

«Ich möchte nicht, daß die Tiere oder dieser Eingeborene in meinem Schiff frei herumlaufen«, betonte Lestrade.»Und schon gar nicht oben in den Laderäumen.«

Indiana schluckte auch diesmal die wütende Antwort, die ihm auf der Zunge lag, nickte nur abgehackt und verließ das Steuerhaus wieder. Und was ihn vielleicht am meisten ärgerte, war, daß es keine Tür gab, die er hinter sich zuknallen konnte.

Lestrade hatte keineswegs übertrieben. Das Luftschiff gewann innerhalb der nächsten dreißig Minuten zunehmend an Höhe und entfernte sich von Lakehurst, und im gleichen Maß, in dem die Erde unter ihm zusammenschrumpfte, wurde das Wetter schlechter. Nachdem die Diagon ihre Reisehöhe erreicht und den stumpfen Bug nach Norden gewendet hatte, begannen die vier riesigen Propeller des Luftschiffs dröhnend zu arbeiten, und aus dem gemächlichen Dahin-treiben der Diagon wurde ein rasches, zwar nicht lautloses, aber doch sanftes Gleiten.

Allerdings nicht lange.

Der Himmel, der vor und während des Starts über Lakehurst von einem strahlenden, fast schon unnatürlichen Blau gewesen war, begann zunehmend sich zu verdunkeln, und nach einer Weile prasselten die ersten schweren Regentropfen gegen die silbernen Flanken des Zeppelins.

Nach dem Disput mit Lestrade war Indiana wutschnaubend wieder zu Quinn und den Hunden zurückgekehrt, hatte den Laderaum aber schließlich auf Quinns Drängen hin verlassen, um wieder zu den anderen zu gehen. Zu seinem Erstaunen hatte Quinn nicht halb so empört auf Lestrades Worte reagiert, wie er erwartet hatte, sondern nur sanft gelächelt und erklärt, daß er ohnehin nicht vorgehabt habe, seine Tiere allein zu lassen.

Die große Passagierkabine hatte sich wieder geleert, als Indiana zurückkehrte. Die Besatzung, die nur während des Startes komplett hier zusammengekommen war, hatte sich auf die diversen Kabinen und Unterkünfte der großen Gondel verteilt, und zu seiner Erleichterung waren auch Doktor Rosenfeld und van Hesling immer noch abwesend. Die beiden Deutschen saßen mit verbissenen Gesichtern an einem Tisch im äußersten Winkel des Raums, und Morton und Browning standen neben der Tür zur Steuerkabine und unterhielten sich leise.

Indiana sah sich unschlüssig um, entdeckte Bates und die beiden dänischen Forscher rund um einen Tisch an einem der großen Fenster und balancierte vorsichtig zu ihnen hinüber. Der Boden hatte wieder zu beben begonnen. Und manchmal erzitterte das ganze Luftschiff wie unter harten, hallenden Hammerschlägen. Das Dröhnen der Motoren klang jetzt nicht mehr ganz so ruhig wie zuvor. Offensichtlich begann der Sturm sie einzuholen.

Er setzte sich, nickte Baldurson und Erikson freundlich zu, und wartete darauf, daß einer der beiden das Gespräch eröffnete. Aber die beiden Dänen starrten ihn nur an. Schließlich wandte Baldurson den Blick und sah angestrengt aus dem Fenster, als gäbe es dort etwas Interessanteres zu sehen als weiße Wolken unter und schwarze Wolken über ihnen, während Erikson in irgendwelchen Papieren zu kramen begann, die er vor sich auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

Bates grinste, warf Indianas schweigenden Forscherkollegen einen vielsagenden Blick zu und sagte:»Ich höre, Sie haben unseren liebreizenden Kommandanten bereits kennengelernt.«

Indiana verzog das Gesicht.»Wenn Sie Colonel Lestrade meinen, dann ja.«

Bates’ Grinsen wurde noch etwas breiter.»Machen Sie sich nichts draus«, riet er.»Lestrade ist dafür bekannt, ein Armleuchter zu sein. Aber er ist auch einer der verdammt besten Piloten, die die Marine jemals gehabt hat.«

«Das muß er auch sein«, grollte Indiana.»Ansonsten wäre er mit dem Charakter wohl nie übers Latrinensäubern hinausgekommen.«

Bates lächelte noch breiter, griff in die Tasche seiner abgewetzten Fliegerjacke und zog eine silberne Zigarettendose und ein Streich-holzbriefchen heraus. Er klappte die Dose auf, hielt sie Jones hin und zuckte mit den Achseln, als dieser nur den Kopf schüttelte. Umständlich nahm er sich selbst eine Zigarette, steckte die Dose wieder ein und klappte das Streichholzbriefchen auf. Indiana blinzelte überrascht, als er den Aufdruck Hindenburg auf dem Streichholzbrief-chen gewahrte.

«Ist das… ein Scherz?«fragte er.

Bates nickte, riß ein Streichholz an und nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarette, ehe er antwortete.»Ja. Aber nicht von mir. Die Dinger liegen hier überall herum.«

Plötzlich grinste auch Jones.»Es sieht so aus, als wäre ich nicht der einzige, der unseren Chauffeur nicht leiden kann.«

«Ganz bestimmt nicht«, gab Bates zu. Dann wurde er plötzlich ernst.»Allerdings wäre ich vorsichtig mit solchen Scherzen. Ich weiß ja nicht, wer auf diese Idee gekommen ist, aber man sollte mit so etwas vorsichtig sein. Lestrade reagiert reichlich allergisch darauf. Er hat schon einmal ein Luftschiff verloren.«

«Oh«, sagte Indiana.

«Es war nicht seine Schuld«, meinte Bates.»Soviel ich weiß, hat einer der Motoren Feuer gefangen, und er hatte die Wahl, eine Notlandung zu versuchen und das Risiko einzugehen, das Ding über einem Vorort von Los Angeles explodieren zu lassen, oder es aufs Meer hinaus zu steuern und damit sein und das Leben der gesamten Besatzung zu riskieren.«

«Und was hat er getan?«

«Es aufs Meer hinausgelenkt«, antwortete Bates.»Ich glaube, er und sein Erster Offizier waren die einzigen, die die Explosion überlebten. Und das auch nur durch einen Zufall. Damals hat er geschworen, nie wieder ein Luftschiff zu kommandieren.«

Indiana schwieg einen Moment. Was Bates ihm gerade erzählt hatte, das machte ihm Lestrade zwar nicht sympathischer, aber es erklärte manches.

«Und warum tut er es jetzt trotzdem wieder?«

Bates zuckte mit den Schultern.»Vermutlich, weil er der einzige ist, der mit diesem Ding hier umgehen kann. «Er nahm die Zigarette aus dem Mund und deutete mit der glühenden Spitze eine weit ausholende Geste an, die das gesamte Luftschiff einschloß.»Er ist der einzige, der Erfahrung mit diesem Monstrum hat.«

«Es ist ein besonderes Schiff, wie?«fragte Jones.

Bates nickte.»Sogar ein einmaliges«, erwiderte er.»Ein Prototyp. Eine völlig neue Konstruktion. Die Marine hat es vor zwei oder drei Jahren bauen lassen, eigentlich als erstes einer ganzen Flotte. Und das Modernste vom Modernen. Soviel ich weiß, soll es bis zu dreihundert Mann und etliche Tonnen Nutzlast transportieren können.«

«Soll?«fragte Indiana.

Bates zögerte.»Höchstwahrscheinlich kann es das auch«, sagte er.»Aber es ist bei diesem ersten Modell geblieben. Und bis vor ein paar Tagen war es auch eingemottet.«

Indiana sah sich demonstrativ um.»Was spricht dagegen, mehr Schiffe dieser Art zu bauen?«

«Die Kosten«, antwortete Bates.»Und — «, er lächelte ein flüchtiges Verschwörerlächeln und warf einen raschen Blick zu den beiden Deutschen hinüber, die am anderen Ende der Kabine saßen,»unsere Freunde vom Kontinent.«

Indiana blickte ihn fragend an.

«Die Dinger sind zu groß und zu verwundbar«, fuhr Bates mit gesenkter Stimme und plötzlich sehr ernst fort.»Ein einziger gezielter Schuß aus einer kleinen Kanone, und…«, er schlug sich mit der geballten Faust in die geöffnete Linke, »bumm!«

«Sie wissen eine Menge über diese Dinger«, wunderte sich Indiana.»Ich meine, wenn es sich doch um ein geheimes Forschungsprojekt handelt…«

Plötzlich grinste Bates wieder.»Es ist ein Marineschiff«, erinnerte er.»Und ich gehöre zu demselben Haufen, schon vergessen?«

Erikson sah flüchtig von seinen Papieren auf, blickte von Bates zu Indiana und wieder zurück und versenkte sich dann wieder in seine Lektüre.

«Wenn Sie so viel wissen, dann wissen Sie wohl auch, wohin wir überhaupt fliegen«, sagte Jones.

«Fahren«, korrigierte ihn Bates lächelnd.»Beim Luftschiff spricht man vom Fahren.«

«Meinetwegen auch paddeln«, antwortete Indiana gereizt.»Aber allmählich reicht mir diese Geheimniskrämerei.«

«Mir auch«, gestand Bates.»Aber glauben Sie mir, ich weiß ebensowenig wie Sie. Niemand hier an Bord weiß etwas.«

Draußen vor den Fenstern hatten sich die Wolken weiter zusammengezogen. Rechts und über der Dragon türmten sich gewaltige schwarze Gebilde auf, in denen es ab und zu unheilvoll wetterleuchtete. Und auch das Zittern und Beben des Bodens hatte zugenommen. Aus dem anfangs gleichmäßigen Grollen der Propellermotoren war ein stampfendes, mühsames und irgendwie drohendes Geräusch geworden, und der Regen klatschte jetzt so heftig gegen die Fenster, daß die Welt draußen wie hinter einem grauen Schleier zu liegen schien. Dann traf die erste richtige Sturmbö das Luftschiff, und nicht nur Indiana klammerte sich erschrocken an die Kante des am Boden festgeschraubten Tisches, als sich der ganze Zeppelin in einer langsamen, aber ungeheuer kraftvollen Bewegung auf die Seite legte und sich ebenso gemächlich wieder aufrichtete. Irgendwo zerbrach klirrend ein Glas.

«Wird das… noch schlimmer?«erkundigte sich Indiana mit einem gequälten Lächeln.

Bates nickte und sog an seiner Zigarette. Er schien der einzige an Bord zu sein, der keinerlei Beunruhigung empfand.»Garantiert«, sagte er.»Aber nicht sehr lange. Keine Angst.«

Indiana blickte mit wachsender Beunruhigung aus dem Fenster. Er war sicher, daß es nur Einbildung war, aber in diesem Moment hätte er einen heiligen Eid geschworen, daß die Wolkenfront bereits sichtbar nähergekommen war, seit er das letzte Mal hinausgesehen hatte.»Können wir diesen Sturm nicht umfahren?«

«Genau das tun wir«, antwortete Bates.»Jedenfalls das Schlimmste.«

«Das Schlimmste?«Indiana mußte sich beherrschen, um in seiner Stimme keinen hysterischen Unterton aufkommen zu lassen. So ganz schien es ihm nicht zu gelingen, denn Bates feixte jetzt ganz unverblümt.»Sie dürfen ein Luftschiff nicht mit einem Flugzeug vergleichen, Doktor Jones«, sagte er.»Die Dragon ist schnell, aber auch ein schnelles Luftschiff ist immer noch langsam. Wir können nicht vor dem Sturm davonfliegen. Ich vermute, daß Lestrade versuchen wird, über die Wolken zu kommen. Aber seine Ausläufer werden uns wohl erwischen.«

Wie um seine Worte zu bestätigen, erzitterte die Dragon in diesem Moment unter einem weiteren dröhnenden Hieb des Sturms, der die gesamte Hülle zum Erbeben brachte. Der Zeppelin schwankte jetzt in sanftem Rhythmus hin und her, wie um der zweiten Hälfte des Wortes Luftschiff gebührende Beachtung zu verschaffen. In Indiana Jones’ Magen begann sich ein flaues Gefühl auszubreiten.

«Sie sollten in Ihre Kabine gehen und sich hinlegen«, riet Bates.

«Oh«, sagte Indiana kleinlaut.»Sieht man es mir so deutlich an?«

Statt sofort zu antworten, deutete Bates mehrmals zu den beiden Deutschen hinüber. Von Ludolf saß mit steinernem Gesicht da und starrte aus dem Fenster, aber Loben war reichlich blaß geworden. Die Haut um seinen Mund herum hatte einen ganz leichten Stich ins Grüne, und er schluckte ununterbrochen.

«Sehen Sie die beiden da?«fragte Bates. Indiana nickte, und der Marineflieger fügte fast fröhlich hinzu:»Gegen Sie sieht der Major aus wie das blühende Leben, Doktor Jones.«

Indiana lächelte gequält, versuchte aufzustehen und fiel unsanft auf seinen Sitz zurück, als sich die Dragon in genau diesem Moment abermals auf die Seite legte.

«Vielleicht haben Sie recht«, gestand er.»Ich sollte wirklich in meine Kabine gehen und mich ein wenig ausruhen. «Und hoffen, daß es nicht noch schlimmer wird, fügte er in Gedanken hinzu.

Aber es wurde noch schlimmer.

Sehr viel schlimmer.

Indiana Jones erinnerte sich hinterher nicht daran, wie lange es gedauert hatte. Von Bates erfuhr er später, daß es Lestrade tatsächlich gelungen war, den Sturm zu umfahren, so daß die Dragon lediglich von ihm gestreift wurde. Aber ihm kam es vor, als tauche das riesige Luftschiff direkt ins Herz eines Tornados ein. Aus dem Zittern und Beben des Bodens wurde ein ununterbrochenes Bocken und Stampfen, und aus dem leichten Unwohlsein, daß sich in seinem Magen ausgebreitet hatte, eine solche Übelkeit, daß er sich nach einer Viertelstunde in seinem Bett wiederfand und sich beinahe wünschte, auf der Stelle zu sterben, nur um endlich erlöst zu sein. Er hatte niemals unter See- oder Luftkrankheit gelitten, aber das hier war selbst für ihn zuviel. Er erinnerte sich kaum daran, daß Bates nach einer Weile wieder zu ihm gekommen war und ihn angesprochen hatte. Ihm war einfach nur übel. So übel wie niemals zuvor im Leben und selten danach. Stöhnend wälzte er sich auf der schmalen Pritsche hin und her, kämpfte abwechselnd gegen Übelkeit, Schwindelgefühl oder auch beides und kehrte erst langsam wieder ins Bewußtsein zurück, als jemand einen Becher an seine Lippen setzte und ihn mit sanfter Gewalt zwang, seinen Inhalt zu schlucken.

Sein Magen revoltierte. Die Flüssigkeit, die ihm eingeflößt wurde, schmeckte scheußlich, und es kostete ihn all seine Kraft, sich nicht zu übergeben.

Aber es half.

Indiana machte noch einmal schreckliche, qualvolle Minuten durch, aber das Rumoren in seinem Leib hörte allmählich auf, und auch das Schwindelgefühl zwischen seinen Schläfen legte sich, wenn es auch nicht ganz verschwand. Immerhin nahm er seine Umgebung nicht mehr als Durcheinander von ineinanderfließenden Farben und Formen wahr, als er das nächste Mal die Augen öffnete.

Trotzdem hatte er Mühe, das Gesicht zu identifizieren, das sich über ihn beugte: ein schmales, blasses Gesicht, das von kurzgeschnittenen dunklen Haaren eingerahmt wurde und aus dem ihn Augen mit einer Mischung von Spott, Schadenfreude und echtem Mitleid anblickten.

«Sie…?«

Dr. Rosenfeld nickte, während das spöttische Glitzern in ihren Augen zunahm.»Haben Sie jemand anderen erwartet? Ich bin der einzige Arzt an Bord.«

«Eigentlich… nicht«, gestand Indiana verwirrt. Er versuchte sich auf die Ellbogen hochzustemmen, aber Dr. Rosenfeld drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück und schüttelte den Kopf.

«Lassen Sie das«, warnte sie.»Was ich Ihnen gegeben habe, wirkt nur gegen die schlimmsten Beschwerden.«

«Ich… ich dachte, Sie wären Gehirnklempner«, sagte Jones.

Dr. Rosenfeld lächelte.»So kann man es auch nennen. Aber ein bißchen Allgemeinmedizin habe ich auch studiert. Jedenfalls genug, um Ihnen über das Schlimmste hinwegzuhelfen.«

«Das ist nett«, sagte Indiana schleppend. In seinem Mund war ein bitterer Geschmack, und er mußte ununterbrochen schlucken. Schon diese flüchtige Bewegung hatte seinen Magen wieder in Aufruhr versetzt.»Ich danke Ihnen jedenfalls ganz besonders, daß Sie sich trotzdem um mich bemüht haben«, stöhnte er.

Zwischen Mabel Rosenfelds Augen entstand eine steile, tief eingegrabene Falte.»Trotzdem?«

Indiana lächelte unsicher.»Ich dachte, Sie…«

«…können mich nicht leiden?«führte Dr. Rosenfeld den Satz zu Ende.

Indiana zuckte mit den Schultern und zog es vor, nicht zu antworten.

«Das ändert nichts daran, daß Sie krank sind«, betonte Doktor Rosenfeld.»Und ich bin Ärztin. Ich behandle Patienten nicht nach Sympathie oder Antipathie.«

«Das wollte ich damit auch nicht sagen«, beteuerte Indiana hastig.»Es ist nur…«Er brach verwirrt ab. Offensichtlich hatte sich der Sturm nicht nur auf seinen Magen ausgewirkt, sondern auch auf seinen Verstand. Er begann Unsinn zu reden.

Dr. Rosenfeld sah ihn eine ganze Weile schweigend und mit undeutbarem Gesichtsausdruck an, dann beugte sie sich hinab und nahm eine kleine schwarze Arzttasche vom Boden. Sie klappte sie auf, griff hinein und zog ein Glasfläschchen heraus, aus dem sie drei winzige weiße Tabletten auf ihre Handfläche schüttete.

«Ich lasse Ihnen etwas hier, falls die Beschwerden noch zunehmen sollten«, sagte sie.»Aber seien Sie vorsichtig damit. Es ist ein ziemlich starkes Beruhigungsmittel. Nehmen Sie immer nur eine, wenn überhaupt.«

Indiana nickte dankbar, nahm die drei Tabletten aus Dr. Rosenfelds Hand und schluckte eine gleich auf der Stelle hinunter, was die Neurologin zu einem abermaligen mißbilligenden Stirnrunzeln veranlaß-te. Aber sie enthielt sich jedes Kommentars, klappte ihre Tasche wieder zu und stand auf. Obwohl der Boden immer noch wild hin und her wankte und sich die ganze Kabine samt des Luftschiffs um Indiana Jones drehte, stand sie völlig ruhig da.»Kann ich Sie alleine lassen?«

Indiana nickte schwach. Dr. Rosenfeld zögerte noch einen Moment, wandte sich dann um und ging zur Tür, aber Indiana rief sie noch einmal zurück.

«Doktor Rosenfeld?«

Sie blieb stehen, drehte sich zu ihm herum und sah ihn fragend an.

«Das von heute morgen tut mir leid«, sagte Indiana.»Ich meine die Sache im Hilton.«

Dr. Rosenfeld lächelte. Und zum ersten Mal, seit Indiana sie kennengelernt hatte, kam ihm dieses Lächeln echt und weder geschauspielert noch schadenfroh vor.

«Schon gut«, sagte sie.»Ich glaube, ich habe auch etwas übertrieben reagiert. Ich würde einfach sagen, wir sind quitt. Einverstanden?«

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