Irgendwo am Polarkreis: Odinsland

2. April 1939

Es dauerte bis zum nächsten Morgen, ehe Indiana dazu kam, eine erste schreckliche Bilanz des Tieffliegerangriffs zu ziehen. Das Wrack der Dragon war mitsamt allem, was es noch enthalten hatte, bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, und das Lager war vollständig verwüstet. Aber auch diesmal hatten sie trotz allem noch Glück im Unglück gehabt: Mit Ausnahme der beiden Wächter, die dem Feuer des Unterseebootes zum Opfer gefallen waren, hatte es nur drei weitere Tote unter den Soldaten gegeben, und die meisten anderen waren mit dem Schrecken und mit leichten Verletzungen davongekommen. Die Deutschen hatten die ganze Nacht emsig gearbeitet, und als Indiana und Mabel am frühen Morgen von zwei Soldaten abgeholt wurden und das Zelt verließen, sahen sie auch, woran: Nur wenige Meter neben dem zerbombten Zeltlager waren zwei flache, aus vorgefertigten Teilen zusammengesetzte Baracken erstellt worden. Es waren niedrige fensterlose Wellblechhütten, in denen eine unerträgliche Enge herrschen mußte, die aber zumindest Schutz vor dem Wind und der eisigen Kälte boten. Rund zwanzig Soldaten in weißen Schneeuniformen eilten geschäftig hin und her oder standen einfach herum, und einige von ihnen hielten mit erhobenen Gewehren Wache vor der geschlossenen Tür einer Baracke. Indiana vermutete, daß dort die überlebenden Marinesoldaten gefangengehalten wurden. Mabel wollte hingehen, um sich um die Verwundeten zu kümmern, aber der Soldat, an den sie diese Bitte richtete, schüttelte nur den Kopf und deutete mit seinem Gewehr in die entgegengesetzte Richtung. Indiana sah, daß sich die Aktivitäten der Soldaten nicht nur auf das Lager beschränkt hatten. Auch am Rande des gewaltigen Kraters, der in der Oberfläche des Eisbergs gähnte, war ein heftiges Arbeiten und Werken im Gange. Dicht neben dem Punkt, an dem Mabel und er am vergangenen Abend beinahe abgestürzt wären, entstand eine große stelzbeinige Konstruktion aus Balken und Stahlträgern. Eine dritte, etwas kleinere Wellblechhütte war wenige Meter daneben entstanden, und als Mabel und er sich näherten, wurde die Tür geöffnet und Erich trat heraus.

Der Deutsche sah müde aus. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen, und seine Haut hatte einen grauen Schimmer. Seine Bewegungen wirkten fahrig, und Indiana fiel auf, daß die beiden Soldaten ängstlich ein Stück zurückwichen, als er sich ihnen näherte. Offensichtlich stand auch bei den Deutschen nicht alles zum besten.

«Guten Morgen«, begrüßte Erich sie.»Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Nacht.«

«Ja«, antwortete Indiana unfreundlich.»Ich schlafe besonders gut im Sitzen und mit zusammengebundenen Händen.«

«Es tut mir leid, wenn Sie nicht den gewohnten Service vorgefunden haben«, erwiderte Erich spöttisch.»Aber Sie haben es ja vorgezogen, den unbeugsamen Helden zu spielen, statt mein Angebot anzunehmen.«

«Was ist mit den anderen?«fragte Indiana. Er machte eine Kopfbewegung zu einer der beiden Wellblechhütten im Lager.»Die Männer, die Sie dort zusammengepfercht haben. Man wollte uns nicht zu ihnen lassen.«

«Wozu auch?«gab Erich zurück.»Wir haben einen Arzt dabei, der sich um die Verletzten kümmert. Oder suchen Sie nach jemand Bestimmtem?«

Indiana überlegte blitzartig. Erich wußte gut, wie er zu Quinn stand. Und die mißtrauische Art, in der er diese Frage stellte, konnte nur eines bedeuten.

«Nein«, antwortete Indiana.»Quinn habt ihr ja offensichtlich schon vorher erledigt.«

Erich zuckte mit den Schultern.»Was nicht unbedingt ein großer Verlust für die Menschheit ist«, sagte er lächelnd. Als er sah, wie es in Indianas Augen aufblitzte, fügte er kalt hinzu:»Es war schließlich nicht meine Schuld, daß er es vorgezogen hat, bei seinen Hunden zu bleiben, statt sich in Sicherheit zu bringen. «Er machte eine herrische Geste, die jeden Widerspruch im Keim erstickte, und begann, auf die beiden Konstruktionen am Rand des Kraters zuzugehen. Indiana und Mabel folgten ihm.

«Wie Sie sehen, Dr. Jones«, begann er,»waren wir nicht untätig. Die Arbeiten sind noch nicht ganz abgeschlossen, aber ich denke, daß es allerhöchstens noch zwei oder drei Stunden dauern wird. «Er legte eine winzige Pause ein und sah Indiana und Mabel bedeutungsvoll an.»Und ganz genau so lange gebe ich Ihnen noch Zeit, um über meinen Vorschlag nachzudenken.«

Indiana ersparte sich eine Antwort und ging vorsichtig weiter. Seine Schritte wurden automatisch langsamer, als er sich dem Kraterrand näherte, und einen halben Meter davor blieb er schließlich stehen. Erichs Soldaten hatten während der Nacht einen provisorischen Zaun rings um das gewaltige Loch gezogen, eine Anzahl meterhoher eiserner Stäbe, die in das Eis gerammt und zwischen denen rotweiße Bänder gespannt worden waren, die eher symbolischen Charakter hatten.

Erich machte eine einladende Bewegung. Indiana streckte den Arm aus, hielt sich an einer Metall Verstrebung des Gerüsts fest und beugte sich mit klopfendem Herzen nach vorne.

Was er sah, verschlug ihm für Sekunden im wahrsten Sinne des Wortes den Atem.

Was gestern abend nichts weiter als ein bodenloses schwarzes Loch gewesen war, das erwies sich jetzt, im hellen Licht des Morgens, als kreisrunder, sicherlich drei- oder vierhundert Meter weiter Schacht, dessen Wände aus spiegelblank poliertem Eis bestanden. Der ebenfalls runde See auf seinem Grund war so ruhig, daß das Wasser wie eine gewaltige Silberplatte glänzte. Und es war ganz genau so, wie Morton behauptet und die Fotos es gezeigt hatten:

Direkt unter ihnen, zu einem Teil ins Eis der Schachtwand eingefroren, lag ein gewaltiges Wikingerschiff mit einem rotweiß gestreiften Segel.

«Aber das ist doch unmöglich!«flüsterte Mabel, die sich ebenfalls vorgebeugt hatte.

Erich lachte leise.»Nichts ist unmöglich, meine Liebe. Ich sehe schon, Sie haben dem bedauernswerten Mr. Morton ebensowenig geglaubt wie alle anderen. «Er lachte leise und spöttisch.»Sehen Sie, in diesem Punkt unterscheiden wir uns eben auch. Wir haben ihm geglaubt, sonst wären wir kaum hier.«

Indiana richtete sich überrascht auf und sah den Deutschen an.»Was meinen Sie damit?«fragte er.

«Sie enttäuschen mich, Dr. Jones«, sagte Erich.»Ich dachte, Sie wären schon von selbst darauf gekommen. Wir hatten von Anfang an keine Zweifel, daß es dieses Schiff und diese Höhle wirklich gibt.«

«Es ist der einzige Grund, warum wir dafür gesorgt haben, daß Sie diese Expedition unternehmen.«

«Dafür… gesorgt?«vergewisserte sich Mabel.

«Ich gebe zu, es war nicht einfach. Aber es hat sich gelohnt.«

«Dann… dann sind Sie nicht wegen dieser Raketenbasis hier?«fragte Indiana.»Ich meine, man hat Sie nicht an Bord geschmuggelt, um — «

«Raketenbasis?«Erich lachte heftig.»Was für eine Raketenbasis, Dr. Jones? Es gibt keine solche Basis. Sie existiert nur in den Köpfen dieser Narren Lestrade und Browning.«

«Aber die Beweise — «begann Indiana, wurde aber sofort wieder von Erich unterbrochen.

«Beweise! Papperlapapp! Papier ist geduldig, wie man so schön sagt. Brownings sogenannte Beweise waren nichts als Fälschungen, die wir ihm zugespielt haben. «Sein Blick wurde verächtlich.»Glauben Sie wirklich, wir würden amerikanischen Spionen gestatten, an Informationen über ein so streng geheimes Vorhaben zu gelangen?«

«Aber warum, um Gottes willen«, murmelte Mabel fassungslos.

Erich antwortete nicht auf ihre Frage, aber Indiana tat es mit leiser, zitternder Stimme und geballten Fäusten, um sich nicht einfach auf den Deutschen zu stürzen und auf ihn einzuschlagen.»Damit wir ganz genau das tun, was wir getan haben, Mabel«, sagte er.»Mein Gott, sie haben uns alle zum Narren gehalten.«

«Aber wozu dann all das?«fragte Mabel noch einmal.»Warum haben sie uns nicht einfach gesagt, was sie wollten?«

«Weil wir ein Luftschiff wie die Dragon niemals losgeschickt hätten, nur um das da zu finden. «Indiana deutete mit einer Geste auf das Wikingerschiff unter ihnen. Erich nickte zustimmend, schwieg aber und sah Indiana neugierig an.

«Sie wußten genau, daß die Regierung der Vereinigten Staaten ganz bestimmt nicht ein paar Millionen Dollar investiert und ihr modernstes Luftschiff losgeschickt hätten, nur um ein tausend Jahre altes Wikingerboot zu bergen. Um eine deutsche Raketenbasis aufzuspüren, schon.«

«Aber warum haben Sie es nicht einfach selbst getan?«

«Weil wir kein Luftschiff wie die Dragon hatten«, antwortete Erich in fast freundlichem Ton.»Und aus einem anderen höchst simplen Grund, meine Liebe. Wir kannten die Position dieses Eisbergs nicht.«

«Sie hätten ihn suchen können!» schrie Mabel plötzlich.»Sie… Sie haben Schiffe und U-Boote und Flugzeuge. Sie hätten ihn einfach suchen können, ohne daß all diese Männer hätten sterben müssen!«

«Nein«, antwortete Erich,»das konnten wir eben nicht. Uns blieb einfach keine Zeit dazu. Sie sehen es selbst. «Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Krater und den See.»Der Berg beginnt sich aufzulösen. Er treibt zwar wieder nach Norden, aber irgend etwas geht hier vor. Das Eis schmilzt. Ihn zu suchen, hätte Wochen gedauert, wenn nicht Monate — falls wir ihn überhaupt gefunden hätten. Bis dahin wäre das Schiff vielleicht nicht mehr dagewesen.«

«Aber was ist denn an diesem verdammten Wrack so Besonderes? Es… es ist doch nur ein altes Schiff.«

«Nein, genau das ist es nicht«, widersprach Erich so heftig, daß Indiana ihn erneut überrascht anblickte.»Sie haben ja keine Ahnung, was das da unten wirklich ist, Dr. Rosenfeld. Das ist nicht irgendein Schiff.«

«Sondern?»

«Es ist das Nagelfahr«, flüsterte Indiana. Er sah Erich an.»Odins Schiff, das die Seelen gefallener Krieger nach Walhall bringt. Nicht wahr?«

Erich nickte.

«Aber das… das ist doch Unsinn! Das ist doch weiter nichts als eine uralte Legende!«

«O nein, meine Liebe«, sagte Erich kopfschüttelnd. In seiner Stimme schwang Stolz. Seine Augen leuchteten.»Das ist es ganz und gar nicht. Erinnern Sie sich an die Geschichte, die ich Ihnen an Bord der Dragon erzählt habe? Die Geschichte von der ersten Besiedelung Grönlands?«

Mabel starrte ihn an und nickte schließlich mühsam.

«Auch das war keine Legende«, fuhr Erich fort.»Es gibt genügend Beweise, daß die Wikinger tatsächlich in Grönland waren. Und auch dafür, daß sie eines Tages alle verschwanden, und zwar alle auf einmal. Und wir wissen jetzt auch, warum. Es war dieses Schiff, das sie abgeholt hat. Das Schiff der Götter.«

«Das ist doch Unsinn!«murmelte Mabel.

Erich war in viel zu euphorischer Stimmung, um sie überhaupt wahrzunehmen.»Wir werden es bergen, Dr. Rosenfeld«, sagte er aufgeregt.»Begreifen Sie, was das bedeutet? Wir werden Odins eigenes Schiff bergen! Wir werden die Macht der alten Götter auf unserer Seite haben!«

«Sie wissen ja nicht, was Sie da reden, Mann«, flüsterte Indiana erschüttert. Die Vorstellung ließ ihn schaudern. Er sah den Wahnsinn in Erichs Blick, und er dachte an einen anderen, noch viel Wahnsinnigeren, der etliche tausend Meilen entfernt in Berlin über ein unterdrücktes Volk regierte und sich gerade eben darauf vorbereitete, die Nachbarländer und vielleicht die ganze Welt mit Krieg zu überziehen. Wenn das dort unten wirklich das Nagelfahr war und es Erich und seinen Begleitern gelang, es in ihre Gewalt zu bringen, wenn es den Deutschen glückte, auch nur einen Teil der uralten Kräfte zu wecken, die in seinem schwarzen Rumpf schlummerten, dann bedeutete das…

«Ragnarök«, flüsterte er.

Erich starrte ihn nur an, während Mabel fragend die Brauen hob.

«Die Götterdämmerung«, erklärte Indiana.

«Jetzt übertreiben Sie, Dr. Jones«, sagte Erich mit sanftem Spott.»Wir haben keineswegs vor, die Welt zu zerstören. Wir wollen nur ein wenig Ordnung in sie bringen. Und sie hat es weiß Gott nötig.«

«Das stimmt sogar«, erwiderte Indiana.»Ich wüßte einen bestimmten Ort in Europa, an dem man damit beginnen sollte.«

Erich lachte und machte dann eine knappe Handbewegung, mit der er das Thema für beendet erklärte.»Genug«, sagte er.»Wie Sie sehen, werden wir bereits in den nächsten Stunden in der Lage sein, das Schiff zu erreichen. Ich frage Sie jetzt zum letztenmal, ob Sie mit uns zusammenarbeiten wollen oder es vorziehen, mit den anderen zu sterben.«

Mabel wollte auffahren, aber Indiana legte ihr rasch und beruhigend die Hand auf den Unterarm.»Warte«, warnte er.

Erich grinste.»Ich sehe, Sie kommen allmählich zur Vernunft, Dr. Jones«, sagte er.

«Habe ich gesagt, daß ich Ihr Angebot annehme?«fragte Indiana.

«Nein. Aber ich habe eine Menge über Sie gehört, Dr. Jones. Unter anderem, daß Sie ein gutes Spiel zu schätzen wissen. Das stimmt doch?«

Indiana nickte, und Erich fuhr fort.»Ich schlage Ihnen ein Spiel vor, Dr. Jones. Der Einsatz ist Ihr Leben — und das Ihrer Freundin.«

«Und die Regeln bestimmen Sie, nehme ich an«, knurrte Indiana.

Erich nickte.»Selbstverständlich. Interessieren sie Sie? Ich will Ihnen nichts vormachen, Dr. Jones. Wir brauchen Sie. Professor Bal-durson war leider der einzige Archäologe, über den ich hätte verfügen können. Und wie Sie wissen, ist er bedauerlicherweise beim Absturz Ihres Luftschiffs ums Leben gekommen. Es ist nicht so, daß wir unbedingt auf Ihre Mitarbeit angewiesen wären, aber es würde manches erleichtern. Für Sie, und auch für uns. Ich schlage Ihnen vor, Sie helfen uns, das Schiff zu bergen, und als Gegenleistung schenke ich Ihnen und Dr. Rosenfeld das Leben.«

«Oh, und Sie meinen, darauf würde ich eingehen?«

«Natürlich nicht«, antwortete Erich.»Halten Sie mich bitte nicht für einen Narren, Dr. Jones. Selbstverständlich ist mir klar, daß Sie jede Gelegenheit nutzen werden, zu fliehen oder gegen uns zu arbeiten. Aber so, wie die Dinge im Moment liegen, gibt es nicht besonders viele Möglichkeiten, wohin Sie fliehen könnten. Und sollten Sie versuchen, unsere Arbeit zu sabotieren oder uns irgendwie aufzuhalten, verspreche ich Ihnen, daß Ihre Kameraden dafür bezahlen werden.«

Indiana starrte den Deutschen haßerfüllt an. Aber er wußte auch, daß ihm gar keine andere Wahl blieb. Und trotz allem war da auch noch der Wissenschaftler in ihm, der Archäologe, der die vielleicht größte Entdeckung aller Zeiten zum Greifen nahe vor sich sah.

«Ich bin einverstanden«, sagte er schweren Herzens.»Aber ich sage Ihnen gleich, daß Sie scheitern werden. Wenn dieses Schiff dort unten wirklich das ist, wofür Sie es halten, dann kann kein lebender Mensch es betreten.«

«Professor van Hesling hat es getan«, erwiderte Erich.

«Woher wollen Sie das wissen?«fragte Indiana.»Er kann genausogut die ganze Zeit in einer Höhle oder in seinem Zelt unten am Strand überlebt haben.«

Erich seufzte.»Sie selbst haben den Beweis dafür in Händen gehalten«, sagte er.»Ist Ihnen an den Waffen und der Rüstung, die Dr. Browning uns an Bord des Luftschiffs gezeigt hat, nichts aufgefallen?«

Indiana schüttelte den Kopf.

«Mir auch nicht«, gestand Erich.»Aber ich habe mit Dr. Baldurson gesprochen, als wir allein waren. Ich bin nicht erstaunt, daß es Ihnen entgangen ist — Sie sind zwar eine Kapazität auf Ihrem Gebiet, aber Baldurson war wahrscheinlich der größte Kenner auf der Welt, was die Nordmeervölker anging. Er versicherte mir, daß er Dinge wie diese niemals zuvor gesehen habe. Sie müssen von diesem Schiff stammen. Alles andere, was wir je gefunden haben, waren nichts als schlechte Imitationen davon.«

«Selbst wenn«, sagte Mabel erregt.»Sie wissen, was mit van Hes-ling geschehen ist. Er verlor den Verstand.«

«Dafür kann es hundert Gründe geben«, entgegnete Erich.»Er war monatelang auf dieser Insel allein. Und ich bin nicht so sicher wie Sie, daß er wirklich verrückt war.«

«Oh«, meinte Mabel bissig.»Von Ihrem Standpunkt aus vielleicht nicht, aber — «Sie verstummte, als sie ein eisiger Blick aus Erichs Augen traf.

«Möglicherweise haben Sie auch recht«, sagte Erich plötzlich.»Es kann sein, daß dieses Schiff tatsächlich gefährlich ist. Aber um uns davor zu schützen, haben wir ja Sie und Dr. Jones, nicht wahr?«

«Das ist alles ein Alptraum«, murmelte Browning später, als sie wieder im Zelt waren. Indiana und Mabel hatten ihm und den anderen von ihrem Gespräch mit Erich erzählt. Der einzige, der nicht überrascht gewesen war, war Morton. Dafür war der Ausdruck von Entsetzen auf seinem Gesicht ungleich heftiger. Er sah aus wie ein Mann, der bereits mit dem Leben abgeschlossen hat und auf Schlimmeres wartet als nur den Tod.

«Es ist… Irrsinn«, sagte Browning.»Ich meine — selbst wenn es sich bei diesem Wrack wirklich um das sagenhafte Schiff handelt, was, um alles in der Welt, wollen Sie damit? Die Wehrmacht um ein Bataillon berittener Walküren aufstocken?«

Der Scherz mißlang kläglich. So absurd die Vorstellung im ersten Moment auch schien, ließ sie Indiana doch innerlich schaudern. Und auch Mabel sah den Regierungsbeauftragten eher erschrocken als belustigt an.

Indiana zuckte hilflos mit den Schultern. Für eine Weile sagte er gar nichts, sondern blickte nur versonnen auf Major von Ludolf hinab, der mit an den Körper gezogenen Knien in einer Ecke des Zeltes saß und ins Leere starrte, dann wandte er sich an Morton.

«Eines gibt mir zu denken«, meinte er.»Ich frage mich, was Erich gemeint haben könnte, als er sagte, er sei nicht sicher, ob Professor van Hesling wirklich den Verstand verloren habe.«

«Wie meinen Sie das?«fragte Morton.

«Bitte erinnern Sie sich, Kapitän«, erwiderte Indiana eindringlich.»Ich weiß es nicht mehr genau, aber da war irgend etwas, was Sie über van Hesling gesagt haben. Irgendeine Bemerkung…«

«Er ist auf uns losgegangen wie ein Wahnsinniger«, sagte Morton.

Indiana schüttelte den Kopf.»Nein. Das waren nicht Ihre Worte. Sie haben gesagt, wie… wie ein Berserker.«

Morton nickte.

«Großer Gott!«flüsterte Indiana entsetzt.»Was war ich doch für ein Idiot! Genau das ist es!«

Nicht nur Morton, sondern auch alle anderen sahen ihn fragend an.

«Begreift ihr denn nicht?«fuhr Indiana fort.»Denn ganz genau das war er! Er war nicht verrückt. Jedenfalls nicht nur. Er… er hat dieses Schiff verteidigt!«

«Er hat was?« fragte Browning.

«Morton hat es doch selbst gesagt!«antwortete Indiana erregt.»Er hat wie ein Berserker gekämpft! Ganz genau das waren seine Worte!«

«Das stimmt«, gab Browning zu,»aber ich verstehe nicht ganz, was das mit diesen Deutschen zu tun — «

«Das ist die Erklärung!«Indiana schrie fast.»Begreifen Sie doch! Genau das ist es, was sie wollen! Browning, jedes Kind kennt die Berserker-Sage! Van Hesling hat mit der Kraft eines Wahnsinnigen gekämpft! Er war fast unverwundbar, und er schien keinerlei Schmerz zu spüren! Das wollen sie! Die alten Legenden sind wahr! Es hat die Berserker gegeben, und es kann sie wieder geben! Und dieses Schiff hat die Macht, sie zu erschaffen!«

Browning erbleichte.»O mein Gott!«flüsterte er.»Sie glauben, Hitler will in Wahrheit — «

«Eine Armee unbesiegbarer Krieger aufstellen. Ja!«knurrte Indiana grimmig und sah wieder von Ludolf an. Aber der Wehrmachtsoffizier wirkte so entsetzt und ungläubig wie alle anderen.

«Er will die Macht, die alten Berserker wieder zum Leben zu erwecken. Ein Heer fast unverwundbarer Soldaten, die ohne Rücksicht auf sich selbst kämpfen.«

«Aber das ist doch Irrsinn!«sagte Mabel.»Wir haben doch alle gesehen, was mit van Hesling passiert ist. Er war ein geistiges Wrack, als alles vorüber war.«

«Und? Glaubst du, daß das diesen Wahnsinnigen stört?«

Mabels Augen wurden groß vor Entsetzen, und auch Browning rang hörbar nach Luft, als ihn die Erkenntnis, daß Indiana recht hatte, mit voller Wucht traf. Und vielleicht sah er in diesem Moment vor seinem geistigen Auge das gleiche wie Indiana: Legionen schier unverwundbarer, unbesiegbarer menschlicher Kampfmaschinen, die Europa überrollten und auch vor seinen Grenzen nicht haltmachen würden.

«Wir müssen dieses Ding zerstören«, sagte Bates, der als einziger bisher schweigend zugehört hatte.

«Eine grandiose Idee«, erwiderte Browning.»Warum gehen Sie nicht los und fangen schon mal an?«

«Das ist gar nicht nötig«, mischte Morton sich ein.»Es wird uns so oder so alle vernichten.«

«Unsinn!«rief Browning zornig. Er wandte sich wieder an Indiana.»Es war richtig von Ihnen, Erichs Angebot anzunehmen, Doktor Jones. Wir müssen diesen Wahnsinnigen daran hindern, sich des Schiffes zu bemächtigen. Ganz egal, wie.«

«Das ist es ja gerade, was mir Sorge macht«, entgegnete Indiana.»Ich weiß nicht, wie.«

«Es muß eine Möglichkeit geben«, beharrte Browning.»Ich weiß, es klingt hart, aber wenn es sein muß, dann müssen Sie eben Ihr eigenes Leben und auch das Dr. Rosenfelds opfern, um es zu schaffen. Ich würde keine Sekunde zögern, das gleiche zu tun.«

«Darum geht es nicht«, hielt Indiana entgegen.»Ich bin nicht sicher, daß man dieses Schiff überhaupt zerstören kann.«

«Natürlich kann man das«, widersprach Browning heftig.»Alles kann zerstört werden.«

Indiana blickte ihn lange und sehr niedergeschlagen an, ehe er beinahe im Flüsterton erwiderte:»Alles, was Menschen geschaffen haben, können Menschen auch zerstören, Dr. Browning. Aber wie zerstört man etwas, das ein Gott erschaffen hat?«

Zwei Stunden später wurden sie wieder abgeholt. Die Arbeiten am Kraterrand hatten sichtbare Fortschritte gemacht: Aus dem unfertigen Holz- und Metallgerüst war ein gut fünf Meter hohes Dreibein geworden, in dem an einem komplizierten Gewirr aus Tauen und Rädern ein metallener Korb hing, groß genug, um drei oder vier Menschen aufzunehmen. Während sich Indiana und Mabel dem Krater näherten, begannen zwei von Erichs Soldaten, eine große Winde zu bedienen, und der Korb verschwand schwankend und mit zwei Soldaten besetzt in der Tiefe des Eiskraters. Als Indiana dies sah, schritt er schneller aus, um zu Erich zu gelangen, der neben dem Dreibein stand und dem Herabsinken des Korbes gebannt nachblickte.

«Sind Sie wahnsinnig geworden?«begann er übergangslos. Er gestikulierte heftig in die Tiefe. Der Korb senkte sich mit beängstigender Geschwindigkeit in den Schacht hinab.»Die Männer dürfen das Schiff auf keinen Fall betreten!«

Erich maß ihn mit einem fast verächtlichen Blick.»Das werden sie auch nicht«, entgegnete er.»Aber um Ihre Frage zu beantworten: Ich bin auf jeden Fall nicht so wahnsinnig, Sie und Dr. Rosenfeld ohne entsprechende Bewachung und noch dazu als erste an Bord dieses Schiffes gehen zu lassen.«

Indiana preßte wütend die Lippen aufeinander und beugte sich vor. Der Korb hatte bereits die halbe Strecke nach unten hinter sich gebracht, aber man sah jetzt, daß er nicht direkt auf das Wikingerschiff zielte, sondern auf eine schmale, grob dreieckig geformte Eisfläche, die unmittelbar daneben wie eine glitzernde Zunge aus der Schachtwand hervorwuchs.

«Beruhigen Sie sich wieder, Dr. Jones«, sagte Erich spöttisch hinter ihm.»Ich kann Ihren Forscherdrang ja verstehen, aber die Ehre, als erster einen Fuß auf dieses Schiff zu setzen, kann ich Ihnen doch nicht überlassen. Aber Sie werden der zweite sein, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Mit dem nächsten Korb fahren Sie und ich hinunter. Und selbstverständlich auch Ihre entzückende Begleiterin«, fügte er mit einer angedeuteten spöttischen Verbeugung in Mabels Richtung hinzu.

Indiana bemerkte das Blitzen in Mabels Blick und signalisierte ihr hastig, nichts Unbedachtes zu tun oder zu sagen.

Gebannt verfolgten sie, wie der Drahtkorb weiter in die Tiefe glitt und nach wenigen Minuten auf der Eiszunge aufsetzte. Die beiden Soldaten kletterten hinaus, und Erich gab den Männern an der Winde einen Wink, den Korb wieder heraufzuziehen.

Die Zeit schien stehenzubleiben. Der Korb brauchte nur wenig mehr als zwei Minuten, um wieder zu ihnen hinaufzukommen, aber für Indiana vergingen Ewigkeiten. Seine Gedanken überschlugen sich. Sein Herz begann rasend schnell zu hämmern, und seine Handflächen wurden feucht vor Aufregung. Er war nervös.

Auf der einen Seite wünschte er sich nichts sehnlicher, als dieses phantastische Schiff zu betreten und sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, ob es auch das war, wofür sie alle es hielten.

Und gleichzeitig hatte er vor nichts auf der Welt mehr Angst, als genau davor.

Etwas Entsetzliches würde geschehen, wenn er es tat, das wußte er. Etwas Furchtbares, Drohendes und ungeheuer Altes umgab das schwarze Wikingerschiff. Es wirkte, als wäre es in einen Mantel aus geronnener Furcht gehüllt.

Hinter Mabels Stirn schienen sich ähnliche Überlegungen zu vollziehen, denn auch sie war bleich und zitterte vor Erregung, als sie in den kleinen Drahtkorb kletterte und sich mit beiden Händen festhielt. Die Winde begann knarrend zu arbeiten, dann hob sich der Korb ein wenig, schwenkte zur Seite — und unter ihnen war kein Boden mehr. Ganz langsam begannen sie in die Tiefe zu sinken.

«Ich begreife das nicht«, sagte Mabel, als sie ungefähr die halbe Strecke zurückgelegt hatten.»Diesen See dürfte es gar nicht geben. Seine Oberfläche liegt etliche hundert Meter unter dem Wasserspiegel.«

Erich schüttelte den Kopf.»Er ist nicht mit dem Meer verbunden, vermute ich«, meinte er.»Ich glaube, es ist einfach eine Höhle, die irgendwann voll Wasser gelaufen ist.«

Ja, dachte Indiana, oder es ist ein See, den es bisher noch gar nicht gegeben hat. Odinsland schmolz. Vielleicht war dieses Schiff über all die Jahrhunderte hinweg völlig im Eis eingeschlossen gewesen, und der See, auf dem es nun schwamm, war nur das Wasser, in das sich das Eis nun zurückzuverwandeln begann. Und wenn diese Vermutung zutraf, dann gab es noch eine weitere Gefahr, von der sie bisher nichts geahnt hatten: Odinsland war groß, aber es war nicht endlos. Irgendwann würde das Eis bis zum Meer hindurch weggeschmolzen sein — und dann würde sich dieser Schacht in eine Todesfalle verwandeln, die sich innerhalb weniger Sekunden mit Wasser füllte.

Er verscheuchte den Gedanken und beugte sich neugierig vor, um das Schiff zu betrachten.

Es bot einen unheimlichen Anblick. Obwohl man ihm sein ungeheures Alter deutlich ansah, wirkte es nicht im geringsten Maß verfallen. Das riesige rotweiß gestreifte Segel sah aus, als wäre es erst vor wenigen Tagen aufgezogen worden, nicht vor einem Jahrtausend. Der Rumpf war von tief schwarzer, matter Farbe, und er war nicht glatt, sondern mit zahllosen Sprüngen, Rissen, Erhebungen, Kanten und Vorsprängen übersät, als bestünde er gar nicht aus Holz, sondern aus lebendem Material. Die runden Metallschilde, die beiderseits der Reling aufgestellt worden waren, waren mit phantasievollen Mustern bemalt, und auch die Farbe wirkte so frisch und unversehrt, als wäre sie gestern aufgetragen worden. Selbst als sie weiter in die Tiefe glitten und Einzelheiten zu erkennen waren, konnte Indiana nicht genau sagen, was die Muster auf diesen Schilden darstellten. Sie erinnerten an germanische Runen, waren gleichzeitig aber auch völlig anders, und irgendwie schienen sie… sich in ständiger Bewegung zu befinden. Fast als versuchten sie, sich den Blicken der Menschen zu entziehen, als wären sie nicht für sie geschaffen. Zwischen diesen zwei Dutzend runden Schilden ragte dieselbe Anzahl armstarker schwarzer Ruder hervor. Aber auch sie waren keine wirklichen Ruder, sondern sahen nur wie Ruder aus; wenn Indiana seiner Phantasie Spielraum ließ, erinnerte ihn ihr Anblick eher an schwarzglänzende Insektenbeine, die es dem Schiff ermöglichten, über das Wasser zu laufen.

Es kostete ihn alle Mühe, die entsetzliche Vorstellung zu verdrängen, aber ganz gelang es ihm nicht. Irgendwie war dieses ganze gewaltige Schiff lebendig. Und etwas unsagbar Entsetzliches, Böses umgab es.

Der Korb setzte mit einem sanften Ruck auf, und Erich schwang sich als erster ins Freie. Rasch trat er einen Schritt zurück, damit die beiden Soldaten, die auf sie warteten, ihre Waffen in Anschlag bringen konnten, um Indiana und Mabel in Schach zu halten, und machte erst dann eine auffordernde Geste. Hintereinander kletterten sie aus dem Korb, und Erich hob die Hand und winkte den Männern oben an der Winde zu. Das bizarre Gefährt verschwand wieder über ihnen, um weitere Männer zu holen.

Schaudernd blickte Indiana das Schiff an. Sie waren ihm jetzt ganz nah — zwischen der dreieckigen Eiszunge und dem Rumpf des riesenhaften Schiffs befand sich nur noch ein knapp halbmeterbreiter Spalt. Und erst jetzt, als sie direkt neben ihm standen, erkannte Indiana, wie riesenhaft dieses Schiff wirklich war. Es mußte mindestens fünfmal so groß sein wie jedes andere Wikingerschiff, das er jemals gesehen hatte. Und es war nicht einfach nur ein großes Schiff; seine Proportionen stimmten nicht. Wenn er die Schilde und Ruder und die Höhe der Bordwand als Vergleichsmaßstab nahm, dann schien es für Riesen gemacht zu sein.

«Sagenhaft!«flüsterte Erich neben ihm. Der Blick des Deutschen hing gebannt an den schwarzen Flanken des Nagelfahr, und seine Hände zitterten. Indiana hatte ihn niemals so erregt gesehen wie in diesem Moment. Er schien sich nur noch mit Mühe zurückhalten zu können, um nicht einfach den letzten Schritt zu tun und an Bord des Schiffs zu gehen.

«Was ist das?«fragte Mabel. Sie deutete auf die schwarzen Flanken des Schiffes.»Das ist doch kein Holz!«

Indiana beugte sich vor, so weit er es wagen konnte. Mabel hatte recht: Was von oben wie schwarzes, verkrustetes Holz ausgesehen hatte, war keines. Erneut fiel ihm der Vergleich ein, den er gerade selbst gezogen hatte, und jetzt wußte er auch, warum er auf diese Idee gekommen war. Die Flanken des Schiffs bestanden nicht aus Holz. Sie waren aus Millionen und Abermillionen winziger schwarzer Splitter zusammengesetzt, keiner davon größer als ein Fingernagel.

Und ganz genau das waren sie auch.

«Das ist Horn«, stellte er fest.

Mabel blickte ihn irritiert an, während Erich nur lächelte. Er schien nicht im mindesten überrascht zu sein.

«Horn?«vergewisserte sich Mabel.

«Das Schiff Nagelfahr«, sagte Indiana leise.»Ich bin jetzt sicher, das ist es. Die Legende sagt, es ist aus den Finger- und Zehennägeln toter Krieger erschaffen worden. Daher der Name.«

Mabel verzog angeekelt das Gesicht, schwieg aber, und Erich riß sich endlich von dem eindrucksvollen Anblick des Götterschiffs los, machte einen Schritt rückwärts und gab Indiana und Mabel mit einer Geste zu verstehen, daß sie neben ihn treten sollten. Einer seiner Soldaten folgte ihrer Bewegung mit dem Lauf seiner Maschinenpistole.

Erich deutete mit einer Handbewegung auf den anderen.»Gehen Sie an Bord!«befahl er.

Der Soldat wurde blaß. Er zögerte. Voller Angst blickte er Erich an, dann — und mit deutlich mehr Angst — das gigantische Wikingerschiff, und er wollte etwas sagen, aber Erich fuhr ihn barsch an:»Haben Sie nicht verstanden, Soldat?«

Der grobe Ton wirkte. Der Soldat zögerte noch eine einzige Sekunde, dann drehte er sich widerstrebend um, hängte sich die Waffe über die Schulter und streckte vorsichtig die Arme aus.

Indiana hielt instinktiv den Atem an, als die Hände des Mannes das Schiff berührten. Aber nichts geschah. Zwei oder drei Sekunden lang stand der deutsche Soldat einfach nur reglos da, als warte er darauf, daß die Erde sich öffne und ihn verschlänge, dann atmete er hörbar erleichtert auf und schwang sich mit einer entschlossenen Bewegung in das Schiff. Wieder blieb er einen Augenblick stehen und sah sich angstvoll um, dann atmete er ein zweites Mal auf und drehte sich zu ihnen herum.»Alles in Ordnung«, sagte er.»Ich — «

Irgend etwas geschah. Indiana spürte es, eine Sekunde, bevor es wirklich geschah, und auch Mabel schlug mit einem erschrockenen kleinen Schrei die Hand vor den Mund. Keiner von ihnen konnte sehen, was wirklich passierte. Aber plötzlich erstarrte der Soldat mitten in der Bewegung, versuchte sich aufzurichten — und wurde von etwas Unsichtbarem, entsetzlich Starkem getroffen und wie ein Spielzeug in die Luft gewirbelt. Er begann zu schreien, aber sein Schrei brach sofort wie erstickt ab, während sein Körper, bereits tot, von einer unsichtbaren Riesenfaust zermalmt, in hohem Bogen vom Deck des Nagelfahr heruntergeschleudert wurde und im See verschwand.

Mabel schrie ein zweites Mal auf, schlug die Hände vor das Gesicht und warf sich mit einem Schluchzen gegen Indianas Brust, während Erich und der zweite Soldat entsetzt zurückwichen. Der Soldat löste eine Hand von seiner Waffe und schlug das Kreuzzeichen vor der Brust, als Erich das Schiff mit mehr Interesse als wirklichem Schrecken betrachtete und nach einem weiteren Moment mit den Schultern zuckte.

«Nun«, meinte er,»einen Versuch war es wert.«

Indianas Augen wurden groß, als er begriff, was Erichs Worte bedeuteten.»Sie… Sie haben das gewußt?«ächzte er.

Erich verzog abfällig die Lippen.»Gewußt nicht direkt, Dr. Jones«, antwortete er.»Aber sagen wir: Ich habe mit der Möglichkeit gerechnet.«

«Das heißt, Sie haben ihn ganz bewußt umgebracht«, sagte Indiana haßerfüllt.

«Umgebracht!«Erich machte eine wegwerfende Handbewegung.»Was für ein dramatisches Wort. Es war ein Experiment, verstehen Sie? Gerade Sie als Wissenschaftler dürften doch wissen, daß für die Forschung auch Opfer gebracht werden müssen. Immerhin«, fügte er mit einem bösen Lächeln hinzu,»habe ich nicht darauf bestanden, daß Sie oder Dr. Rosenfeld als erste an Bord gehen.«

«Ungeheuer!«zischte Indiana gepreßt.»Sie verdammte Bestie. Ich werde — «

Die Wand hinter Erich barst. Eine Lawine aus Eisbrocken und — splittern regnete auf sie herab, und plötzlich erweiterte sich der gezackte Riß in der Eiswand zu einem mehr als mannshohen schwarzen Loch, in dem eine riesenhafte, gehörnte Gestalt erschien. Erich kreischte erschrocken auf und versuchte, sich mit einem Satz in Sicherheit zu bringen, und der Soldat riß seine Maschinenpistole hoch und legte auf das hünenhafte Wesen an.

Er führte die Bewegung nie zu Ende. Der Riese sprang vor, und in seinen Händen blitzte plötzlich ein ein Meter langes Schwert. Ein Schuß löste sich aus der Maschinenpistole des Soldaten, aber die Kugel fuhr hinter dem Giganten ins Eis, und dann fiel die Maschinenpistole samt der Hand, die sie gehalten hatte, zu Boden, und der deutsche Soldat brach mit einem röchelnden Laut in die Knie und stürzte nach vorne. Erich fingerte an seinem Gürtelhalfter herum und versuchte, seine Pistole zu ziehen, aber auch er war nicht schnell genug. Trotz seiner ungeheuren Größe wirbelte der Gigant schnell wie ein Schatten herum und schlug ein zweites Mal mit dem Schwert zu. Der deutsche Offizier begriff die Gefahr, in der er schwebte, im allerletzten Moment, duckte sich und versuchte gleichzeitig, einen Schritt rückwärts zu machen, aber beide Bewegungen kamen zu spät. Die Klinge des Riesen enthauptete ihn nicht, wie er es vorgehabt hatte, aber sie grub eine tiefe, blutige Spur in seinen rechten Oberarm, und dort, wo Erich den Fuß hatte hinsetzen wollen, war kein Eis mehr, sondern nur noch Wasser. Erich schrie vor Schreck und Schmerz, stand einen Moment lang in fast grotesker Haltung und mit hilflos wirbelnden Armen da und kippte schließlich rücklings ins eisige Wasser des Sees, nur eine Handbreit vom Rumpf des Nagelfahr entfernt.

Dann fuhr der Riese herum und stürzte sich auf Indiana und Mabel.

Indiana fühlte sich von einer unmenschlich starken Hand gepackt und wie ein Kind in die Höhe gerissen, als der Riese zuerst ihn, dann Mabel ergriff und sie sich wie leblose Gewichte über die Schulter warf. Mabel begann zu kreischen, mit den Beinen zu strampeln und mit beiden Fäusten auf das Gesicht unter den gewaltigen Hörnern einzuschlagen, und auch Indiana wand sich verzweifelt im Griff des Riesen, weil ihm dieser die Luft abschnürte. Aber ihr Widerstand war sinnlos. Der Mann mit dem Hörnerhelm fuhr herum, duckte sich — und verschwand in dem Loch in der Eiswand, aus dem er aufgetaucht war.

Es war der Eingang zu einem hohlen Stollen, den man ins Eis von Odinsland getrieben hatte und der im steilen Winkel nach oben führte. Gut hundert, hundertfünfzig Meter weit trug sie der Hüne in rasendem Tempo diesen Stollen entlang, dann zweigte sich der Gang. Er nahm die rechte Öffnung, rannte eine natürlich gewachsene Treppe im Eis hinauf und tauchte in einen weiteren Gang ein, der plötzlich vom Hauptstollen abzweigte. Unter der scheinbar so massiven Oberfläche schien Odinsland ein Labyrinth von Gängen und Stollen im Eis zu sein.

Und ihr Weg war auch hier noch nicht zu Ende. Der Riese hetzte weiter, rannte in einen weiteren Seitengang, in noch einen, eine schräge Rampe hinauf, auf der seine Füße eigentlich gar keinen Halt hätten finden dürfen.

Dann, endlich, erreichten sie einen halbrunden, völlig aus Eis bestehenden Raum, und der Hüne hielt an. Hastig setzte er zuerst Ma-bel, dann Indiana zu Boden, fuhr herum und wälzte einen mannshohen, sicherlich eine halbe Tonne schweren Brocken aus milchigem Eis vor das Tunnelende, aus dem sie herausgekommen waren.

Erst dann entspannte er sich. Eine Weile blieb er einfach schwer atmend stehen, dann drehte er sich um, hob die Hände an den Kopf und nahm mit einem erleichterten Seufzer den gewaltigen Hörnerhelm ab.

«Mister Quinn!«rief Mabel ungläubig.

Und Indiana fügte hinzu:»Ich habe mich schon gefragt, wo du die ganze Zeit bleibst.«

Die Höhle konnte nicht sehr weit von der Außenwand des Eisbergs entfernt liegen, denn durch die rückseitige Mauer drang blasses, milchiges Licht. Wie alles hier, bestand die Höhle fast vollständig aus Eis. Und sie war voller Toter.

Es war Indiana nicht möglich, ihre Zahl zu schätzen. Einige wenige lagen auf dem Boden der Eishöhle, schon vor einem Jahrtausend gestorben und von der grausamen Kälte konserviert, die meisten waren im Eis eingeschlossen; einige nur wenige Zentimeter unter der Oberfläche, so daß sie wie mitten in der Bewegung erstarrte Puppen dastanden und Indiana, Mabel und Quinn aus ihren weit aufgerissenen, leeren Augen anzustarren schienen, andere tiefer im Berg, nur noch als Schemen zu erkennen. Es waren Wikinger. Männer in zerschrammten Kettenhemden und Wolfs- und Bärenfellmänteln, aber auch Frauen, alte und junge, und Kinder — die Bevölkerung eines ganzen Dorfes. Viele von ihnen trugen Bündel bei sich, einige geflochtene Weidenkörbe, in denen Indiana sogar noch Obst und große runde Brotfladen erkennen konnte. Und der Tod mußte sie in Sekundenbruchteilen ereilt haben, so schnell, daß ihre Körper nicht einmal mehr Zeit gefunden hatten, zu Boden zu sinken, sondern auf der Stelle erstarrt waren.

Mabel betrachtete die entsetzliche Ansammlung seit einem Jahrtausend toter Wikinger mit unverhohlenem Entsetzen. Und auch Indiana konnte sich eines Schauders nicht erwehren, obwohl er schon oft in Gräbern gewesen und an den Anblick von Toten gewöhnt war. Aber das hier war etwas anderes. Er hatte Leichen gefunden, die zehnmal älter als diese und auf ungleich schrecklichere Weise ums Leben gekommen waren. Aber all diese Menschen hier schienen ihm… nicht wirklich tot. Natürlich wußte er, daß sie nicht im nächsten Moment aus ihrem eisigen Gefängnis treten und wieder zum Leben erwachen würden. Trotz allem Zauber der nordischen Äsen war dies nicht möglich. Aber gleichzeitig hatte er das Gefühl, daß diesen Menschen Schlimmeres widerfahren war als der Tod. Sie waren betrogen worden von einem grausamen Schicksal, das ihnen das Tor zum Himmel gezeigt hatte, um sie dann im letzten Moment nur um so härter zu bestrafen.

Schaudernd wandte er sich ab und sah Mabel an.

«Sieh nicht hin«, sagte er.

Das war leichter gesagt als getan. Die Höhle war nicht besonders groß, und mit Ausnahme des Bereichs unmittelbar vor dem Eingang, vor den Quinn den Eisbrocken geschoben hatte, war sie mit Toten gefüllt.

«Großer Gott«, flüsterte Mabel.»Was ist hier nur passiert?«

«Das, was Erich uns auf der Dragon erzählt hat«, antwortete Indiana halblaut.»Erinnerst du dich? Er sagte, daß Odin sein Schiff geschickt hat, um die Bewohner der Neuen Welt zu holen. Sie haben es alle geschafft, bis auf die hier.«

«Aber wie konnten sie so sterben?«wunderte sich Mabel.»Sie sehen aus, als seien sie in einer Sekunde erstarrt.«

«So etwas kommt vor. Es ist selten, aber es ist schon passiert. Wenn ganz bestimmte meteorologische Voraussetzungen zusammentreffen, dann können die Temperaturen im Bruchteil einer Sekunde auf fünfzig oder hundert Grad unter Null sinken.«

Mabel starrte ihn ungläubig an, und Indiana fügte erklärend hinzu:»Man hat schon Mammute aus der Steinzeit gefunden, die so perfekt tiefgekühlt waren, daß man ihr Fleisch noch essen konnte.«

Er wandte sich an Quinn.»Ich wußte, daß du es schaffen würdest, alter Junge«, grinste er.»Als ich deine Leiche nicht bei den anderen gesehen habe, war es mir klar.«

«Es war nur Glück«, entgegnete Quinn.»Als die Flugzeuge kamen, bin ich einfach losgerannt. Plötzlich brach der Boden ein, und ich fand mich hier wieder.«

Indiana sah sich suchend um.»Hier?«

Quinn machte eine vage Handbewegung rückwärts.»Irgendwo in einem Stollen. Dieser ganze Eisklotz ist hohl. Es gibt Hunderte dieser Gänge. Ich habe das Lager die ganze Nacht beobachtet, aber ich konnte nichts tun. Sie passen zu gut auf. Und es sind zu viele. Ich mußte auf eine günstige Gelegenheit warten.«

Indiana verzog das Gesicht zu einem säuerlichen Lächeln.»Ja«, sagte er,»man kann dir einen gewissen Sinn für Dramatik nicht absprechen. Woher hast du die Kleidung und die Waffen?«

Quinn deutete auf die Toten.»Von ihnen. Sie brauchen sie nicht mehr. Ihr solltet euch auch Mäntel nehmen. Es ist verdammt kalt hier unten.«

Damit hatte er recht. Indiana fror erbärmlich, und auch Mabel zitterte vor Kälte. Ohne ein weiteres Wort bückte er sich zu einem der Wikinger herab, schälte ihn vorsichtig aus seinem Mantel und ging damit auf Mabel zu.»Hier, zieh das an.«

Mabel schüttelte den Kopf und wich entsetzt einen Schritt zurück.

«Niemals«, rief sie angeekelt.»Lieber erfriere ich.«

«Genau das wirst du«, knurrte Indiana ärgerlich.»Sei nicht albern!«

Mabel blickte ihn noch einen Moment lang trotzig an, aber dann bückte sie sich doch zu einer der erstarrten Gestalten hinab und begann sie aus ihrem Mantel zu schälen. Indiana sah sich in der Zwischenzeit etwas aufmerksamer in der Höhle um.

«Also so ist er an die Waffen gekommen«, murmelte er.

«Wen meinst du?«fragte Mabel.

«Van Hesling«, antwortete Indiana. Er deutete auf die Toten, dann auf Quinn.»Er muß diese Höhle ebenfalls gefunden haben. Er hat hier drinnen überlebt, nicht in diesem albernen Zelt.«

«Ja«, sagte Quinn.»Und ich kann dir sogar sagen, wie.«

Indiana sah ihn fragend an. Quinn deutete auf einen Leichnam, der ein Stück entfernt lag, und Indianas Augen wurden groß, als er ihn genau betrachtete. Mabel trat neben ihn, schlug entsetzt die Hand vor den Mund und wandte sich mit einem Ruck um.

«Oh«, flüsterte Indiana betroffen,»kein Wunder, daß der arme Kerl den Verstand verloren hat.«

Quinn zuckte gelassen mit den Achseln.»Was hättest du getan?«fragte er.»Die Lebensmittel in seinem Rettungsboot haben bestimmt nicht lange gereicht.«

«Könntet ihr… bitte… das Thema wechseln?«würgte Mabel mühsam hervor.

Indiana sah sie betroffen an, zuckte dann mit den Schultern und warf einen fragenden Blick auf den Eisbrocken vor dem Höhleneingang.»Kriegst du das Ding auch wieder weg?«fragte er.

Quinn grinste.»Kein Problem«, erwiderte er,»aber das ist nicht nötig. Es gibt einen zweiten Ausgang, dort hinten. Der Stollen ist nicht sehr hoch. Wir werden kriechen müssen. Aber er führt fast bis zum Strand. Ich war vorhin schon dort. Wenn wir warten, bis es dunkel wird, haben wir eine Chance.«

«Eine Chance? Wozu?«

«Unterseeboot«, erklärte Quinn.»Es liegt dort vor Anker. Ich glaube, sie haben nur ein paar Mann als Wache zurückgelassen.«

«Du meinst, wir sollten versuchen, es zu entern?«meinte Indiana.

Quinn nickte.»Was sonst?«

«Und die anderen im Stich lassen?«fragte Indiana. Er schüttelte den Kopf.»Das kommt nicht in Frage.«

«Willst du es ganz allein mit den Nazis aufnehmen?«fragte Quinn.

«Hast du eine bessere Idee?«

«Es sind fast vierzig Mann«, gab Quinn zu bedenken.»Und wir haben keine Waffen.«

«Nein?«fragte Indiana mit einem bezeichnenden Blick auf das Schwert an Quinns Seite.»Haben wir nicht?«

Quinn schürzte abfällig die Lippen.»Mach dich nicht lächerlich. Sie haben Maschinenpistolen.«

Indiana antwortete diesmal nicht gleich. Natürlich hatte Quinn völlig recht — daß er Erich und den Soldaten besiegt hatte, bedeutete überhaupt nichts. Er hatte den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite gehabt, und sie waren nur zu zweit gewesen. Das nächste Mal würden die Deutschen wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Und sie würden kaum so freundlich sein, einzeln zu ihnen zu kommen, um sich von Quinn und Indiana überrumpeln zu lassen.

Und trotzdem… Sie hatten gar keine andere Wahl. Weder er noch Quinn würden die anderen im Stich lassen, selbst wenn sie eine Chance gehabt hätten, das Unterseeboot zu kapern und damit davonzufahren, wie Quinn es vorgeschlagen hatte. Und außerdem war da noch das Schiff in dem Eiskrater, das darauf wartete, aus seinem eisigen Schlaf zu erwachen und damit vielleicht Gewalten freizusetzen, gegen die die Trompeten von Jericho wie der Schalmeienklang eines Friedensengels klingen mußten.

Sehr ernst sah er Mabel und Quinn an. Dann begann er, ihnen leise seinen Plan darzulegen.

Der Tag schien ein Ende zu nehmen. Quinn hatte sie tiefer in das Labyrinth aus Gängen und Stollen geführt, das das Innere Odinslands ausfüllte, bis sie in eine etwas kleinere Höhle gelangten, die weit genug vom See entfernt war, so daß nicht mehr die Gefahr bestand, von den Deutschen entdeckt zu werden, die garantiert einen Suchtrupp losschicken würden.

Indiana hatte Quinn und Mabel geraten, die verbliebene Zeit zu nutzen, um sich auszuruhen, aber wie üblich beherzigte er selbst seine Ratschläge am allerwenigsten. Er versuchte zwar, sich auf dem Eisboden auszustrecken und ein wenig zu schlafen, aber er war viel zu aufgeregt. Seine Gedanken drehten sich wie wild im Kreis, und hinzu kam, daß es grausam kalt war. Ungeachtet der Tatsache, daß Odinsland von innen heraus zu schmelzen begann, herrschten hier drinnen Temperaturen, die selbst das Atmen zur Qual machten. Indiana begriff immer weniger, wie es van Hesling gelungen war, an diesem Ort fünf Monate zu überleben. Er war sicher, daß er selbst keine fünf Tage durchhalten würde. Vielleicht nicht einmal einen.

Als es zu dämmern begann und der milchige Schein, der durch das Eis drang, allmählich blasser wurde, weckte er Mabel, die sich neben ihm in ihren Fellmantel gerollt und im Schlaf an ihn gekuschelt hatte. Sie fuhr erschrocken zusammen und blickte ihn eine Sekunde lang an, als wüßte sie gar nicht, wo sie war. Dann richtete sie sich auf, bemerkte erst jetzt, daß er den Arm um ihre Schultern gelegt hatte, und lächelte verlegen. Aber sie versuchte nicht, ihn abzustreifen.

Sie sprachen kaum ein Wort, während sie die Ausrüstung anlegten, die sie aus der Wikingerhöhle mitgebracht hatten. Obwohl der Plan von Indiana stammte, kam er sich ziemlich lächerlich dabei vor, sich in ein rostiges Kettenhemd zu hüllen, einen Wolfsfellmantel um seine Schultern zu legen und einen Hörnerhelm aufzusetzen, der ihm noch dazu um mindestens zwei Nummern zu groß war. Aber irgendwie erschien ihm diese Verkleidung dann auch wieder angemessen. Und das Schwert, das er sich schließlich um die Hüfte gurtete — so lächerlich es gegen die Maschinenpistolen und Kanonen der Deutschen sein mochte — beruhigte ihn irgendwie.

Als er fertig war, half er Mabel, ihre Rüstung anzulegen. Sie schien sich dabei ähnlich zu fühlen wie er, denn auch ihr Lächeln wirkte ein wenig gequält. Und sie zog im ersten Moment die Hand zurück, als er einen der großen Rundschilde aufhob und an ihrem rechten Arm befestigte. Das Ding wog fast einen halben Zentner, aber Mabel mußte stärker sein, als sie aussah, denn sie trug ihn ohne sichtbare Anstrengung.

«Du machst dich gut als Walküre«, sagte er spöttisch.

«Auf jeden Fall besser als du, du Thor«, gab Mabel freundlich zurück.

«Es sei denn, man entschließt sich, das Wort ohne ’h’ zu schreiben.«

Indiana lächelte flüchtig und wurde sofort wieder ernst. Ihr scherzhafter Ton hatte nur den Zweck, ihre Angst zu überspielen. Und damit stand sie nicht allein da. Auch ihm selbst schossen plötzlich hunderttausend Gründe auf einmal durch den Kopf, warum ihr Plan gar nicht aufgehen konnte, selbst wenn die Deutschen so dumm waren, auf diese Verkleidung hereinzufallen. Aber wenn man in einer Situation ist, in der man überhaupt keine andere Wahl hat, so dachte er, dann ist ein irrsinniger Plan vielleicht immer noch besser als gar keiner.

Der Tag verblaßte vollkommen, bis sie die Oberfläche erreichten — wie Quinn gesagt hatte, durch ein ausgezacktes Loch in der Decke eines Ganges, der genau unter dem ausgebrannten Wrack der Dragon lag.

Indiana war der erste, der umständlich ins Freie kletterte. Flach auf dem Bauch liegend, streckte er die Arme in die Tiefe und ergriff Ma-bels hochgereckte Hände. Mit Quinns Hilfe, der von unten kräftig schob, zog er sie durch das Loch zu sich herauf, dann halfen sie mit vereinten Kräften, auch Quinn an die Oberfläche zu hieven.

Aufmerksam sah Indiana sich um. In der Luft hing noch immer Brandgeruch, und das ausgeglühte Stahlgerippe der Dragon erhob sich wie das Skelett eines gestrandeten Wals über ihnen. Überall lagen Trümmer und verkohltes Holz herum, so daß sie aufpassen mußten, nirgendwo anzustoßen und kein verräterisches Geräusch zu machen. Aber die Nacht war sehr klar, und die Deutschen waren freundlich genug gewesen, einige kleine Feuer zu entzünden, so daß das Lager fast taghell erleuchtet war.

Indianas Vertrauen in seinen eigenen Plan sank noch weiter, als er sah, daß die deutschen Soldaten offensichtlich keinen Schlaf benötigten: Sie waren weniger als hundert Meter vom Lager entfernt, und er konnte deutlich beobachten, daß sich überall weißgekleidete Gestalten bewegten. Stimmen drangen zu ihnen, und vom Rand des Kraters, von dem sie nun fast wieder eine Meile entfernt waren, wehte ein helles, rhythmisches Hämmern und Klingen heran.

«Sie bauen irgend etwas«, flüsterte Mabel.

Indiana nickte und legte gleichzeitig warnend den Zeigefinger über die Lippen, obwohl im Lager der Deutschen soviel Lärm herrschte, daß sie wohl kaum gehört werden konnten. Mißtrauisch spähte er zu den Soldaten hinüber, die zwischen den beiden Wellblechhütten und dem einzigen stehengebliebenen Zelt hin und her hetzten. Irgend etwas an ihren Bewegungen war nicht normal. Er wußte nicht, was es war, aber er spürte, daß dort etwas vor sich ging.

Und auch Mabel schien es zu merken.»Da stimmt was nicht«, sagte sie leise.»Da muß… was passiert sein.«

Indiana sah genauer hin, und jetzt erkannte er, daß die Soldaten nicht einfach ziellos durch die Gegend liefen. Einige standen herum und unterhielten sich heftig gestikulierend miteinander, andere rannten wie gehetzt über das Eis, und jetzt hörte er auch Schreie. Und dann, wie auf ein Stichwort, begannen zwei der Männer plötzlich aufeinander einzuschlagen. Das Schreien und Rufen wurde lauter, und von überall rannten Soldaten herbei, um die beiden Streitenden auseinanderzutreiben.

«Was, zum Teufel, tun die da?«wunderte sich Quinn.

«Sie… streiken«, sagte Indiana verwirrt.»Aber weshalb?«

«Ich glaube nicht, daß sie einen Grund brauchen«, antwortete Ma-bel. Indiana warf ihr einen fragenden Blick zu, und sie fuhr fort:»Denk dran, was Morton erzählt hat. Und an die Stimmung, die auf der Dragon herrschte.«

Indiana nickte.»Und später, unter unseren eigenen Leuten«, sagte er.»Verdammt, ich glaube fast, Morton hatte recht. Dieser Berg macht alle wahnsinnig.«

«Aber wieso wirkt er dann nicht auf uns?«wunderte sich Mabel.

Indiana sah sie überrascht an. Auf ihn wirkte der böse Zauber Odinslands durchaus. Er hatte nicht vergessen, wie schwer es ihm gefallen war, sich zu beherrschen. Und auch Quinn erging es nicht anders. Die Art und Weise, wie er Erich und den deutschen Soldaten angegriffen hatte, war nur noch mit purer Raserei zu beschreiben gewesen.

Im Lager der Deutschen entstand immer mehr Aufregung. Es war den Männern nicht gelungen, die beiden Kämpfer voneinander zu trennen, ganz im Gegenteil: Plötzlich waren es nicht mehr zwei, sondern drei, dann vier, fünf und schließlich sechs Männer, die wie besessen aufeinander einschlugen, und die übrigen machten keinen Versuch mehr, sie zu trennen, sondern bildeten einen weit auseinandergezogenen Kreis, der die Kämpfenden mit beifälligem Geschrei anfeuerte.

«Das ist unsere Chance«, flüsterte Indiana aufgeregt.»Vielleicht haben wir diese ganze Verkleidung jetzt nicht mehr nötig.«

Er deutete mit der rechten Hand auf die Wellblechbaracke, in der sich die Gefangenen befanden, dann mit der linken auf das Zelt. Auch der Mann, der davor Wache gestanden hatte, hatte sich von seinem Posten entfernt und eilte auf den Kampfplatz zu.»Quinn! Versuche, die Männer rauszuholen. Mabel und ich kümmern uns um Browning und die anderen.«

Er huschte los, noch ehe Quinn antworten konnte. Geduckt rannten Mabel und er über das Eis, näherten sich dem Lager und schlugen einen großen Bogen nach links, um möglichst weit weg vom Feuerschein zu bleiben. Ihre dunkle Kleidung ließ sie in der Nacht beinahe unsichtbar werden, und Indiana hoffte, daß das Geschehen im Zentrum des Lagers die ganze Aufmerksamkeit der Deutschen beanspruchte. Im Moment sah es zumindest nicht so aus, als würde der Kampf aufhören. Ganz im Gegenteil, das Schreien und Brüllen wurde immer lauter.

Unbehelligt erreichten sie das Zelt und hielten noch einmal an. Indiana sah sich mit klopfendem Herzen um. Seine Hand legte sich auf den Schwertgriff an seiner Seite, ohne daß es ihm bewußt wurde, dann wurde ihm klar, wie lächerlich diese Bewegung war, und er zog die Finger beinahe hastig wieder zurück.

«Okay«, flüsterte er.»Du wartest hier. Paß auf, daß uns niemand überrascht.«

Er schlich weiter, erreichte das Zelt und riß die Plane mit einem Ruck auf.

Drinnen brannte eine winzige Gaslampe, die trübes gelbes Licht verbreitete. Bates, Morton und, zu Indianas Überraschung, auch Major von Ludolf lagen zusammengerollt auf dem Boden und schliefen, während Browning mit nach vorne gesunkenen Schultern dahockte und ins Leere starrte. Dann weiteten sich seine Augen in ungläubiger Überraschung, als er Indiana erkannte.

«Dr. Jones!«keuchte er.»Was — «

Indiana machte eine hastige Bewegung, aber Brownings Ausruf hatte die anderen geweckt. Bates blinzelte, riß die Augen auf und starrte ihn mit offenem Mund an, während Morton plötzlich wie irre zu lachen begann. Einzig Major von Ludolf bewahrte seine Fassung. Auch er sah Indiana überrascht an, reagierte aber ansonsten mit fast unnatürlicher Gelassenheit.

«Keinen Laut mehr!«sagte Indiana warnend.»Ich habe jetzt keine Zeit für Erklärungen. Wir müssen weg.«

Er griff unter den Mantel, zog den Bronzedolch hervor, den er einem der toten Wikinger abgenommen hatte, und säbelte heftig an Mortons Handfesseln herum.

«Wo, um Gottes Willen, kommen Sie her?«fragte Browning.»Obersturmbannführer Erich hat uns gesagt, Sie seien tot.«

«Und was soll diese Verkleidung?«fügte Bates hinzu.

Indiana hatte Brownings Fesseln durchtrennt und huschte geduckt zu Bates hinüber.»Seid endlich still«, warnte er.»Der Posten ist abgelenkt, aber ich weiß nicht, wieviel Zeit uns bleibt. Ich erkläre euch später alles.«

Er hatte auch Bates’ Fesseln durchtrennt und wollte sich Morton zuwenden, als draußen vor dem Zelt ein Schuß krachte. Für eine Sekunde erstarrten sie alle vor Schreck. Indiana wandte mit einem Ruck den Kopf und sah zum Ausgang, aber fast im selben Augenblick erschien Mabels Gesicht unter der Zeltplane, wie das seine von einem gewaltigen Wikingerhelm gekrönt, was Brownings Gesichtszüge vollkommen entgleisen ließ.

«Alles in Ordnung«, sagte sie hastig.»Aber beeilt euch. Hier bricht gleich die Hölle los.«

Indiana beugte sich über Morton, durchtrennte mit einem kraftvollen Schnitt auch seine Hand- und Fußfesseln und drehte sich wieder herum. Sein Blick streifte von Ludolf, und eine Sekunde lang zögerte er.

«Wieso sind Sie hier?«fragte er.

«Obersturmbannführer Erich war wohl der Meinung, daß ich hier besser aufgehoben sei«, antwortete von Ludolf ruhig.»Er hat mich vor die Wahl gestellt, mich an seinem Unternehmen zu beteiligen oder bei Dr. Browning und seinen Leuten zu bleiben.«

«Und das soll ich Ihnen glauben?«fragte Indiana mißtrauisch.

«Ich bin deutscher Wehrmachtsoffizier«, antwortete von Ludolf beleidigt.»Kein Mörder. Ich weiß nicht, wer diesen Einsatz geplant und Erich die Befehle gegeben hat. Aber solange ich diese Uniform trage, werde ich nicht dabei mithelfen, Kriegsgefangene und Zivilisten abzuschlachten.«

Indiana tauschte einen kurzen, fragenden Blick mit Morton — und drehte sich rasch wieder zu von Ludolf herum, um auch seine Fesseln zu durchtrennen.

Der Major starrte ihn ungläubig an.

«Habe ich Ihr Ehrenwort?«fragte Indiana eindringlich.

«Ich werde nicht gegen meine Kameraden kämpfen«, antwortete von Ludolf ernst.»Aber ich verspreche Ihnen, Sie weder zu verraten noch aufzuhalten.«

«Das reicht«, sagte Indiana.»Wir brauchen fünf Minuten. Und wenn ich Sie wäre, Major«, fügte er hinzu,»dann würde ich die Zeit nutzen, um von hier zu verschwinden.«

Er verließ als letzter das Zelt und deutete auf Mabel.»Folgen Sie ihr«, befahl er.»Sie bringt Sie weg.«

«Und Sie?«fragte Browning.

Indiana blickte kurz zum Lager zurück, ehe er antwortete. Der Tumult hatte weiter zugenommen, und wieder krachte ein Schuß, aber vor der Hütte mit den Gefangenen herrschte Ruhe. Es war auch kein Posten mehr dort.

«Ich helfe Quinn«, sagte er.»Er versucht, die anderen herauszuholen. Und jetzt verschwindet! Mabel zeigt euch den Weg. Wenn alles klappt, dann kommen wir später nach.«

Er gab Browning keine Gelegenheit, abermals zu widersprechen, sondern lief geduckt los. Er mußte einen gewaltigen Bogen schlagen, um nicht in Sichtweite der Deutschen zu geraten, die mittlerweile fast alle in der Mitte des Lagers zusammengeströmt waren, aber er hatte auch diesmal Glück. Ungehindert erreichte er die Wellblechhütte, preßte sich einen Moment lang schwer atmend gegen die Wand und lauschte. Geräusche und dumpfes Stimmengemurmel drangen aus dem Inneren des kleinen Gebäudes, aber er konnte die Worte nicht verstehen. Für einen Moment schoß ihm der entsetzliche Gedanke durch den Kopf, daß er sich vielleicht geirrt hatte. Möglicherweise waren dort drinnen gar keine Gefangenen, ganz einfach, weil Erich seine Drohung wahrgemacht und sie bereits hatte hinrichten lassen, und Indiana würde sich nicht einem Dutzend erleichterter Gesichter, sondern ebenso vielen Gewehrläufen gegenübersehen, wenn er durch die Tür stürmte. Aber es gab nur eine einzige Möglichkeit, das herauszufinden…

Indiana zog das Wikingerschwert, rückte den viel zu großen, wackelnden Helm auf seinem Kopf zurecht — und rammte die Tür mit der Schulter ein.

Sie bot sehr viel weniger Widerstand, als er erwartet hatte, was wohl zum Großteil daran lag, daß sich dort, wo eigentlich ein massives Schloß hätte sein sollen, nur ein verbogenes Loch im Blech befand. Indiana stolperte hilflos ein paar Schritte weit in den Raum hinein, verlor das Gleichgewicht und fiel der Länge nach hin. Der Helm rutschte von seinem Kopf und rollte davon.

Als er den Kopf hob, blickte er genau in Quinns schadenfrohes Grinsen.

Neben und hinter ihm drängte sich ein Dutzend schreckensbleicher Gesichter, die überrascht und zum Teil auch belustigt auf ihn herabblickten.

Indiana rappelte sich hastig hoch, hob seinen Helm auf und ließ ihn gleich darauf wieder fallen, als ihm klar wurde, daß diese lächerliche Verkleidung nun wirklich nicht mehr nötig war. Das Schwert behielt er. Es war immer noch besser als gar keine Waffe.

«Wie sieht es aus?«fragte er überflüssigerweise.»Was ist mit dem Wächter?«

Quinn deutete auf eine reglose Gestalt in einer weißen Jacke, die in der Ecke neben der Tür lag.»Hier drinnen ist alles in Ordnung«, sagte er.»Was geht dort draußen vor?«

Wie als Antwort auf diese Frage drang das Geräusch von drei oder vier weiteren Gewehrschüssen durch die Wand.»Ich hab’ keine Ahnung«, gestand Indiana.»Aber so, wie es aussieht, fallen sie im Moment gerade übereinander her. Eine bessere Chance bekommen wir nicht mehr.«

Rasch drehte er sich zur Tür und sah hinaus. Er hatte keineswegs übertrieben. Die Schüsse, die sie gehört hatten, waren alles andere als Warnschüsse gewesen. Auf dem Eis lagen zwei reglose Männer in weißen Jacken, und genau in diesem Moment krachte ein weiterer Schuß, und ein dritter deutscher Soldat brach tödlich getroffen zusammen. Was als Auseinandersetzung zwischen zwei Männern begonnen hatte und als Massenschlägerei weitergegangen war, drohte nun in eine regelrechte Schlacht zwischen den Deutschen auszuarten.

«Los!«befahl er.»Jetzt oder nie!«

Niemand rührte sich. Einzig Quinn machte eine Bewegung, um an ihm vorbei und aus der Hütte zu treten, führte sie aber nicht zu Ende, als ihm auffiel, daß keiner der anderen ihm folgte.

«Worauf wartet ihr?!«fragte Indiana unwirsch.»Eine bessere Chance kriegen wir nicht mehr.«

«Das stimmt«, antwortete einer der Männer.»Das ist die Gelegenheit, auf die wir gewartet haben.«

«Ich weiß, wo sie unsere Waffen untergebracht haben«, sagte ein anderer.»Laßt uns die Schweine umbringen.«

«Genau«, fügte ein dritter hinzu.»Wir machen sie fertig!«

Andere nickten zustimmend, und einer wollte sofort an Indiana vorbeieilen, um die Worte in die Tat umzusetzen, aber Indiana versetzte ihm einen Stoß, der ihn rücklings und in die Arme seiner Kameraden taumeln ließ.

«Seid ihr völlig verrückt geworden?«fragte er fassungslos.

Er bekam keine Antwort, aber als er in die Gesichter der Männer blickte, wurde ihm klar, welch fürchterlichen Fehler er begangen hatte. Es war genau so, wie Mabel vermutet hatte: Es war der böse Geist dieses Eisberges, der Atem des Götterschiffs, der aus Menschen tobsüchtige Kampfmaschinen machte und dessen Wirkung er draußen im Lager der Deutschen beobachten konnte. Aber er beschränkte sich keineswegs auf die Nazi-Soldaten. Hatte er sich wirklich eingebildet, sie seien immun dagegen?

«Seid vernünftig, Männer«, sagte er.»Es ist völlig sinnlos, jetzt — «

Er kam nicht einmal dazu weiterzusprechen, denn der gleiche Mann, den er gerade zurückgestoßen hatte, warf sich jetzt mit einem wütenden Knurren auf ihn, riß ihn einfach von den Füßen und begann, wie besessen auf ihn einzuschlagen. Quinn wollte Indiana zu Hilfe eilen, aber er erreichte ihn nicht. Drei, vier, fünf Soldaten auf einmal warfen sich auf ihn und zwangen ihn zu Boden, während die anderen an ihnen vorbei und aus der Hütte stürmten.

Als wäre dies ein Signal gewesen, ließen nun auch die übrigen Männer von ihm und Quinn ab und folgten ihren Kameraden. Das Schreien und Stimmengewirr draußen wurde lauter; dann plötzlich krachten mehrere Schüsse, und Indiana sah durch die offenstehende Tür, wie einer der Navy-Soldaten getroffen zusammenbrach. Die anderen stürmten unbeeindruckt weiter. Indiana beobachtete, wie ein zweiter Soldat von einer Gewehrkugel in die Schulter getroffen wurde und taumelte. Aber er stürzte nicht einmal, und seine Schritte wurden auch nicht langsamer.

Indiana konnte regelrecht fühlen, was geschah: Die latente Gewalttätigkeit, die bisher wie eine unsichtbare dräuende Wolke über der Insel gelegen hatte, entlud sich in einer fürchterlichen Explosion. Es war, als griffe irgend etwas nach seinem Bewußtsein und schaltete sein logisches Denken aus. Plötzlich war in ihm nur noch Zorn, ein lodernder, glühender Haß auf alles, was sich bewegte und lebte, was dachte und in der Lage war, etwas anderes zu empfinden als Haß und Wut. Mit einem Schrei sprang er auf, ballte die Fäuste und stürzte sich auf Quinn.

Sein Angriff überrumpelte den Eskimo vollkommen. Indianas Faust traf Quinn am Kinn und ließ ihn zurückstolpern, aber der hünenhafte Eskimo überwand seine Überraschung fast sofort. Als Indiana zum zweitenmal zuschlagen wollte, ergriff er blitzschnell seine Hand und hielt sie fest, streckte den Arm aus und packte auch sein anderes Handgelenk. Indiana versuchte, nach ihm zu treten, aber Quinn fegte seine Füße mit einer fast lässigen Bewegung beiseite und riß gleichzeitig die Arme hoch, so daß Indiana plötzlich fünf Zentimeter über dem Boden hing, hilflos mit den Beinen strampelnd und schreiend vor Wut.

Quinn schüttelte ein paarmal den Kopf, nahm Indianas Handgelenke in eine einzige seiner gewaltigen Pranken — und versetzte ihm mit der anderen eine Ohrfeige, die ihm beinahe das Bewußtsein raubte.

Aber der Schmerz riß ihn auch in die Wirklichkeit zurück. Als sich die flimmernden Sterne und Kreise vor seinen Augen verzogen, konnte er wieder halbwegs klar denken. Er spürte noch immer Zorn, eine rasende Wut, die sich nicht gegen Quinn im besonderen, sondern gegen jedes Lebewesen richtete; aber er war jetzt zumindest in der Lage, sie halbwegs zu beherrschen und im Zaum zu halten.

«Wieder in Ordnung?«fragte Quinn mißtrauisch.

Indiana nickte.»Danke«, murmelte er. Das Sprechen bereitete ihm Mühe. Quinn hatte so hart zugeschlagen, daß sein halbes Gesicht gelähmt zu sein schien.

Vorsichtig ließ der Eskimo ihn zu Boden sinken, lockerte seinen Griff und trat hastig einen Schritt zurück, um gegen einen neuerlichen Angriff gewappnet zu sein.

Indiana hob stöhnend die Hand ans Gesicht, betastete seine brennende Wange und sah gleichzeitig zur Tür.

In den wenigen Augenblicken, die vergangen waren, hatte sich das Bild draußen drastisch verändert. Die deutschen Soldaten hatten aufgehört, sich gegenseitig umzubringen, und konzentrierten statt dessen ihr Feuer auf die ausgebrochenen Gefangenen; aber die Raserei, in die sie verfallen waren, machte sie wohl gleichzeitig auch blind vor Wut, denn nur die allerwenigsten Schüsse trafen. Der Großteil der Navy-Soldaten hatte mittlerweile die zweite Wellblechhütte erreicht, und genau in diesem Moment brach einer von ihnen das Schloß einfach heraus und verschwand mit einem gellenden Schrei im Inneren. Eine Sekunde später fielen auch in der Hütte Schüsse, und plötzlich torkelte der Soldat rücklings wieder aus der Tür heraus: blutüberströmt und von mehreren Kugeln getroffen. Aber er stürzte nicht, sondern blieb nur einen Moment schwankend stehen und rannte dann wieder ins Innere der Wellblechbaracke.

Auch zwischen den übrigen Navy-Soldaten und den Deutschen brachen jetzt überall Handgemenge aus. Die Nazis schienen aus irgendeinem Grund vergessen zu haben, daß sie mit Schuß- und Stichwaffen und sogar Handgranaten ausgerüstet waren, denn sie feuerten jetzt kaum noch, sondern stürzten sich mit bloßen Händen auf ihre Gegner, so daß es zu Dutzenden von Handgemengen gleichzeitig kam.

Obwohl Indiana kaum eine Sekunde daran verschwendete, den an zahlreichen Stellen tobenden Kampf zu beobachten, bemerkte er doch, daß sie mit einer Wut aufeinander losgingen, die kaum noch etwas Menschliches hatte. Das war Mortons Berserker-Effekt, diese rücksichtslose Raserei, von der er erzählt und die Indiana selbst einmal an van Hesling und ein zweites Mal an seinem Freund Quinn beobachtet hatte.

Und auch in ihm weckte schon der Anblick des verbissenen Kampfes wieder die gleiche rasende Wut, die er jede Sekunde weniger zu beherrschen imstande war.

«Los! Versuchen wir es!«

Sie rannten aus der Hütte und wandten sich nach links, dem Wrack der Dragon zu. Hinter ihnen brach eine regelrechte Schlacht zwischen den Nazis und den Marinesoldaten aus, bei der, zumindest im Moment, keine der beiden Seiten eindeutig die Oberhand zu haben schien, obwohl die Deutschen den Amerikanern zahlenmäßig fast um das Doppelte überlegen waren. Aber vielleicht wirkte der unheimliche Einfluß auf die Marinesoldaten stärker, einfach weil sie ihm schon viel länger ausgesetzt waren. Möglicherweise aber war es auch nur die Überraschung, die die Deutschen noch lähmte.

Sie rannten geduckt und so schnell sie konnten; aber trotzdem der Kampf hinter ihnen an Heftigkeit immer mehr zunahm und ihre dunklen Mäntel sie zusätzlich tarnten, wurden sie doch entdeckt, kaum daß sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten. Eine schnurgerade Linie mannshoher Schnee- und Eisexplosionen raste in irrsinnigem Tempo auf sie zu, als einer der Deutschen mit einer Maschinenpistole auf sie schoß. Indiana warf sich mit einer verzweifelten Bewegung zur Seite, rollte haltlos über das Eis und prallte schmerzhaft gegen irgend etwas Hartes. Es war eine der ausgeglühten Stahlstreben der Dragon. Hastig richtete er sich auf, sah sich nach Quinn um und registrierte erleichtert, daß auch der Eskimo unverletzt geblieben war. Das MP-Feuer hatte aufgehört. Offensichtlich hatte der Schütze sein Interesse an ihnen verloren, oder er hatte ein lohnenderes Ziel gefunden.

Quinn rannte geduckt auf ihn zu, riß ihn ohne ein weiteres Wort in die Höhe und versetzte ihm einen Stoß, der ihn noch tiefer ins Wrack des Luftschiffs hineinstolpern ließ. Rings um sie herum wimmelte es von Menschen, die im Augenblick der gleichen Beschäftigung nachgingen wie die deutschen und amerikanischen Soldaten oben auf dem Eis: Sie schlugen mit verbissener Wut aufeinander ein.

Und nicht nur sie. Der Berserker-Effekt beschränkte sich keineswegs auf die Soldaten im Lager. Auch Browning und von Ludolf wälzten sich aneinandergeklammert und knurrend wie Tiere über das Eis und droschen wild aufeinander ein, und Mabel stand, das Wikingerschwert gezogen und mit beiden Händen haltend, ein paar Schritte abseits und sah sich mit einem Blick um, den Indiana nicht völlig einordnen konnte. Hatte sie nun Angst, oder hielt sie einfach nach einem Opfer Ausschau, das sie niederschlagen konnte…

Kurz darauf sprang Quinn zu ihnen in die Eishöhle herab, und er bereinigte jetzt die Situation auf seine ganz persönliche Art und Weise: Blitzschnell packte er Morton und Bates mit jeweils einer Hand, schlug sie mit den Köpfen aneinander und ließ sie los. Morton fiel stocksteif um, während Bates stöhnend auf die Knie sank und die Hände vor das Gesicht schlug. Quinn fuhr herum, pflückte Dr. Browning mit der linken und von Ludolf mit der rechten Hand vom Boden, hielt sie einen Moment fest und begann sie dann zu schütteln.

In der Zwischenzeit rappelte sich auch Indiana hoch und machte einen Schritt in Mabels Richtung. Das Schwert in ihrer Hand bewegte sich, so daß die Spitze nun genau auf Indiana deutete, und auch Indianas Hand kroch zum Gürtel und griff nach dem Wikingerschwert, das darin steckte.

«Nein«, flüsterte er mühsam. Schweiß bedeckte seine Stirn. Seine Hände zitterten, und die Wut und der Blutdurst in ihm wurden immer schlimmer. Mabels Gesicht begann vor seinen Augen zu verschwimmen. Er konnte nicht mehr denken, er spürte nur noch Haß, wollte nichts anderes als zerstören und töten.

Mabel hob das Schwert, und auch in ihren Augen flammte es auf.

«Bitte… tu das… nicht«, stöhnte Indiana. Selbst das Sprechen fiel ihm schwer. Irgend etwas Dunkles, Formloses und ungeheuer Starkes schien aus seiner Seele emporzukriechen und sein bewußtes Denken mehr und mehr auszuschalten.

«Kämpfe… dagegen an«, flüsterte er stockend.»Du mußt es… besiegen.«

Aber auch ihm fiel es immer schwerer, der tobenden Wut tief unter seinen Gedanken standzuhalten. Minutenlang, wie es schien, standen sie sich einfach gegenüber, zwei Menschen, die Freunde waren und sich vielleicht sogar liebten und die doch im Moment nichts lieber wollten, als sich gegenseitig zu töten.

Aber diesmal gewann er den Kampf noch. Langsam, fast widerwillig, zog sich das böse dunkle Etwas wieder in die finsteren Winkel seiner Seele zurück, aus der es hervorgekrochen war. Es verschwand nicht völlig. Indiana spürte, daß es noch da war, vielleicht die ganze Zeit, sein ganzes Leben über dagewesen war, wie eine schwarze, widerwärtige Spinne, die in ihrem Versteck lauert und auf eine Unaufmerksamkeit wartet, um hervorzukriechen und seinen Verstand zu überwältigen. Und er war nicht sicher, ob er sie noch einmal besiegen konnte.

Auch in Mabels Blick machte sich plötzlich Bestürzung breit. Sie sah auf das Schwert in ihren Händen herab, erbleichte plötzlich und ließ die Waffe fast angeekelt fallen. Dann sprang sie mit einem Satz auf ihn zu und warf sich an seine Brust. Indiana wartete darauf, daß sie zu weinen beginnen würde, aber sie sagte kein Wort, sondern hielt ihn einfach nur fest, wenn auch mit solcher Kraft, daß er kaum noch Luft bekam.

Als er sich zu Quinn herumdrehte, war auch das mörderische Lodern in den Augen der anderen erloschen. Bates hockte immer noch am Boden und hielt sich den Kopf, aber Kapitän Morton hatte sich wieder erhoben; und auch auf Brownings und von Ludolfs Gesichtern machte sich ein bestürzter, beinahe entsetzter Ausdruck breit.

«Was… was war das?«stammelte der deutsche Offizier.

«Das, wonach Ihr Kamerad Erich sucht«, antwortete Indiana zornig.»Die Macht, die er entfesseln will.«

Von Ludolf starrte ihn aus schreckgeweiteten Augen an.»Was wollen Sie damit sagen?«

«Das erkläre ich Ihnen später«, entgegnete Indiana ausweichend und fügte hinzu:»Was tun Sie überhaupt hier?«

«Er hat darauf bestanden mitzukommen«, sagte Mabel.»Er meinte, Erich würde ihn umbringen, wenn wir ihn zurückließen.«

«Na wunderbar«, knurrte Indiana.»Was glauben Sie, was er mit Ihnen tun wird, wenn er Sie bei uns erwischt?«

Er schwieg einen Moment, dann schob er Mabel mit sanfter Gewalt von sich und sah ihr ins Gesicht.»Glaubst du, daß du den Weg zur Wikingerhöhle zurückfindest?«fragte er. Mabel nickte, aber es wirkte nicht sehr überzeugt.»Warum?«

«Quinn und ich müssen noch einmal zurück ins Lager«, sagte er.

«Aber wozu denn?«

«Wir müssen noch einmal in diese Baracke«, antwortete Indiana. Er wandte sich an Quinn.»Erinnerst du dich, was der Soldat gesagt hat? Sie haben die Waffen aus der Dragon in der zweiten Hütte verstaut.«

Quinn nickte.

«Und was haben Sie vor?«fragte Browning mißtrauisch.»Wollen Sie die Deutschen angreifen, zwei Mann hoch?«

«Nein«, antwortete Indiana grimmig.»Ich will versuchen, ein wenig Dynamit zu stehlen. Ich werde dieses verdammte Schiff der Götter in die Luft jagen.«

Der Kampf im Lager tobte mit unverminderter Heftigkeit weiter, aber das Schießen hatte beinahe aufgehört. Vielmehr war aus der ungleichen Auseinandersetzung ein wütendes Handgemenge geworden, bei dem jeder gegen jeden zu kämpfen schien: Deutsche kämpften gegen Amerikaner, Amerikaner gegen Deutsche, Amerikaner gegen Amerikaner und Deutsche gegen Deutsche; was Indiana und Quinn in den wenigen Minuten sahen, die sie brauchten, um um das Lager zu schleichen und sich den beiden Wellblechhütten von der Rückseite her zu nähern, das überzeugte sie endgültig davon, daß die unheimliche Ausstrahlung des Schiffs nicht einfach nur aus den Männern unbesiegbare Kampfmaschinen machte, sondern ihnen auch den Verstand raubte. Es ging in diesem Kampf längst nicht mehr darum, daß irgendeine Seite die Oberhand gewann. Es war einfach eine tobende Explosion von Gewalt, die nur ein einziges Ziel kannte: zerstören. Ganz egal, was oder wen oder warum. Immerhin waren die Deutschen genug mit sich selbst und ihren Gegnern beschäftigt, um von den beiden Gestalten, die sich im Schutz der Dunkelheit der halbrunden Wellblechhütte näherten, keinerlei Notiz zu nehmen. Indiana schlich sich geduckt an die aufgebrochene Tür der Hütte heran, während Quinn das Lager im Auge behielt, aber weder von dort noch aus dem Inneren des kleinen Gebäudes drohte Gefahr. Indiana warf noch einen raschen sichernden Blick in die Runde, huschte dann mit einer schnellen Bewegung durch die Tür und winkte Quinn, ihm zu folgen. Das Innere des Wellblechgebäudes stellte eine Mischung aus Schlafraum, Funkzentrale und Lager dar. Etwa fünfundzwanzig schmale Metallpritschen drängten sich neben- und übereinander an einer der Wände, daneben war auf einem kleinen Tischchen eine komplizierte — und ziemlich demolierte — Funkanlage aufgebaut. Irgend jemand hatte eine Axt genommen und sie damit endgültig ausgeschaltet. Die Einzelteile waren überall in der Baracke verstreut. Auf der anderen Seite des Raums stand ein großer Tisch, der mit Landkarten und Schriftstücken übersät war, ein deutscher Soldat war tot darüber zusammengesunken. Im hinteren Drittel des Gebäudes schließlich fanden sie, wonach sie suchten:

Bis unter die Decke stapelten sich Kartons und Kisten, die zum Großteil mit deutscher, zum Teil aber auch mit amerikanischer Beschriftung versehen waren. Offensichtlich handelte es sich um Dinge, die Erichs Soldaten aus dem Wrack der Dragon geborgen hatten, denn viele der Kisten waren angesengt.

Indiana gab Quinn mit einer Geste zu verstehen, daß er an der Tür zurückbleiben und aufpassen sollte, und nahm dann wahllos eine der Kisten vom Stapel herunter. Mit Hilfe seines Wikingerschwerts brach er den Deckel auf, und diesmal hatte er auf Anhieb Glück: Unter dem angeschmorten Holz kam eine grün gestrichene Metallkiste zum Vorschein, und als er diese öffnete, fiel sein Blick auf über hundert Handgranaten, die säuberlich aufgereiht nebeneinander auf einer Schaumgummiunterlage ruhten. Indiana nahm zwei, drei Handgranaten heraus, stopfte sie hastig in die Taschen seines Fellmantels und überlegte es sich dann anders. Vorsichtig legte er die Granaten zurück, ließ die Schlösser des Metallkastens zuschnappen und nahm die ganze Kiste an sich. Sie war überraschend schwer. Aber die Sprengkraft dieser hundert Granaten mußte ausreichen, das riesige Wikingerschiff zu zerfetzen.

Er hörte, wie Quinn irgend etwas rief, achtete aber nicht weiter darauf, sondern stellte die Kiste zu Boden und sah sich suchend um. Nach ein paar Augenblicken entdeckte er, was er brauchte: eine etwas größere, ebenfalls angesengte Holzkiste, deren Beschriftung ihm verriet, daß sie Maschinenpistolen enthielt. Er erbrach auch ihren Deckel, nahm vier der kurzläufigen Gewehre heraus und hängte sie sich hintereinander über die Schultern. Hastig stopfte er sich die Taschen mit Magazinen voll, drehte sich — wankend unter seiner Last — herum, um nach der Kiste zu greifen -

— und erstarrte mitten in der Bewegung.

Quinn war nicht mehr allein. Indiana begriff plötzlich, daß er sich vielleicht doch besser umgedreht hätte, als der Eskimo ihm etwas zuschrie, aber diese Einsicht kam ein wenig zu spät. Der schwarzhaarige Riese stand mit erhobenen Armen und steinernem Gesicht an der Wand neben der Tür, in Schach gehalten von drei weißgekleideten deutschen Soldaten, deren Maschinenpistolen drohend auf seine Brust und sein Gesicht gerichtet waren. Drei weitere Soldaten standen auf der anderen Seite der Tür, und auch sie hatten die Waffen im Anschlag. Aber deren Mündungen zielten nicht auf Quinn, sondern auf Indiana. Und unter der Tür stand Erich, in eine zerfetzte, verdreckte Uniform gekleidet, Haare und Augenbrauen voller Eis und Rauhreif.

«Guten Abend, Dr. Jones«, sagte er spöttisch.

Indiana schwieg. Seine Gedanken rasten. Er zweifelte keine Sekunde daran, daß die Männer auf ihn schießen würden, wenn Erich auch nur eine entsprechende Bewegung mit dem kleinen Finger machte. Aber seine Lage war vielleicht nicht ganz so aussichtslos, wie es im ersten Moment schien.

«Es freut mich, daß wir uns doch noch einmal wiedersehen, Dr. Jones«, fuhr Erich fort.»Wenn Sie jetzt vielleicht die Güte hätten, die Waffen zu Boden zu legen und die Arme zu heben…?«

Indiana tat keines von beiden.»Warum schießen Sie nicht?«fragte er kalt. Dann deutete er mit dem Daumen über die Schulter zurück.»Aber Sie sollten sicher sein, daß Ihre Leute auch treffen. Da hinten liegt genug Sprengstoff, um diese ganze Insel in die Luft zu jagen.«

Es war ein Bluff, und natürlich funktionierte er nicht. Erich sah ihn nur eine Sekunde lang abschätzend an, dann wandte er sich an die Männer, die Quinn in Schach hielten.»Zerschießt ihm die Kniescheiben«, sagte er.»Zuerst die rechte, dann die linke. Aber paßt auf, daß ihr ihn nicht umbringt.«

«Halt!«rief Indiana entsetzt. Tatsächlich stockten die Soldaten mitten in der Bewegung, und auch Erich drehte sich wieder zu ihm herum. Ein böses, triumphierendes Lächeln erglomm in seinen Augen.

«Oh«, rief er,»ich sehe, Sie möchten das nicht, Dr. Jones. «Er schüttelte in gespieltem Bedauern den Kopf.»Aber ich fürchte, es gibt nur eine Möglichkeit, um das zu verhindern.«

Indiana starrte ihn haßerfüllt an. Aber er begriff, daß er verloren hatte. Den meisten anderen Männern gegenüber hätte er vielleicht eine winzige Chance gehabt, mit seinem Bluff durchzukommen, zumal es nicht unbedingt ein Bluff war: Er war tatsächlich bereit, lieber sein eigenes Leben zu opfern, als zuzulassen, daß dieser Wahnsinnige Gewalt über Odins Schiff und die darin schlummernden Mächte erlangte. Aber Erich war vielleicht verrückt, doch keineswegs dumm. Er wußte genau, daß Indiana niemals zugelassen hätte, daß ein Unschuldiger für ihn bezahlte.

Vorsichtig, um die Soldaten nicht durch eine unbedachte Bewegung zu erschrecken, legte er die Waffen zu Boden und hob die Arme.

Erich machte eine befehlende Geste. Zwei seiner Soldaten traten an Indianas Seite und stießen ihm grob die Läufe ihrer MPs in die Rippen, während der dritte hastig begann, die Waffen einzusammeln.

«Sehen Sie, Dr. Jones«, sagte Erich höhnisch,»jetzt habe ich doch noch gewonnen. «Er deutete mit einer Kopfbewegung auf die Kiste mit den Handgranaten.»Hatten Sie wirklich vor, das Schiff damit zu zerstören?«Er lachte.»Sie sind ein Narr, Dr. Jones. Ein gefährlicher Narr, aber trotzdem ein Narr. Nichts, was Menschen gemacht haben, kann diesem Schiff schaden. Oder dem, der es beherrscht.«

«Vielleicht bin ich wirklich ein Narr«, erwiderte Indiana gepreßt,»aber ich bin wenigstens nicht wahnsinnig wie Sie.«

Erichs vereiste linke Augenbraue rutschte ein Stück weiter in die Höhe.

«Wahnsinnig?«

Indiana nickte wütend.»Sehen Sie sich doch um!«rief er.»Gehen Sie hinaus, und sehen Sie, was aus Ihren Leuten geworden ist. Glauben Sie wirklich, daß es das ist, was sich Ihr famoser Führer wünscht? Eine Armee von Verrückten, die alles vernichtet, was sich ihr in den Weg stellt, ohne zu fragen, wer es ist?«

Erich lachte.»Sie wissen ja nicht einmal, wovon Sie reden, Dr. Jones«, sagte er.

Indiana wollte widersprechen, aber Erich gab einem der Männer einen blitzschnellen Wink, und Indiana fand gerade noch Zeit, die Luft anzuhalten, als ihm der Soldat den Lauf seiner Maschinenpistole so heftig in die Nieren stieß, daß er mit einem Schmerzenslaut auf die Knie sank.

«Vielleicht erkläre ich es Ihnen sogar«, höhnte Erich abfällig,»bevor ich Sie erschießen lasse, vielleicht aber auch nicht.«

Er drehte sich um und verließ die Baracke, und die beiden Soldaten zerrten Indiana grob auf die Füße und versetzten ihm einen Stoß, der ihn in Gang brachte.

Draußen im Lager wurde nicht mehr gekämpft. Überrascht registrierte Indiana, daß irgend etwas geschehen sein mußte in den wenigen Minuten, die Quinn und er in der Hütte gewesen waren. Er wußte nicht genau, was, aber er war ziemlich sicher, daß es etwas mit Erich zu tun hatte. Auf eine Art, die er nicht verstand, die ihm aber Angst machte, schien dieser Mann die zu Berserkern gewordenen Soldaten zu beherrschen.

Nach der apokalyptischen Schlacht, die sich die Soldaten geliefert hatten, wirkte die Ruhe im Lager fast unheimlich.

Nichts rührte sich. Die Männer, die noch am Leben und in der Lage waren, auf eigenen Beinen zu stehen, standen reglos, fast wie erstarrt da und blickten Erich und seine beiden Gefangenen ohne rechte Beteiligung an. Was Indiana in den Gesichtern der Männer las, erschreckte ihn beinahe noch mehr als die blindwütige Raserei zuvor: Leere. Da war nichts mehr. Kein Gefühl. Kein Bewußtsein. Indiana hatte den Eindruck, großen beweglichen Puppen gegenüberzustehen, die zu keinerlei Regung mehr fähig waren.

Sie durchquerten das Lager und näherten sich wieder dem Wrack des Luftschiffes, und dort hielt Erich eine weitere Überraschung für sie parat: Auf einen halblauten Ruf des SS-Offiziers hin trat eine weitere Anzahl Soldaten aus dem Schatten des Wracks hervor. Auch sie hielten ihre Waffen im Anschlag, und zwischen ihnen bewegten sich Mabel, Dr. Browning, Morton und Bates.

Erich ließ Indiana ausreichend Zeit, um seine Überraschung zu überwinden; vielleicht weidete er sich auch nur an dem Schrecken, der sich in diesem Moment auf Indianas Gesicht widerspiegeln mußte. Indiana wollte auf Mabel zueilen, aber einer der beiden Soldaten riß ihn grob an der Schulter zurück und hob drohend die Waffe.

«Sie sehen, Dr. Jones», sagte Erich höhnisch,»Ihre kleine Palastrevolution ist gescheitert.«

Indiana funkelte ihn haßerfüllt an und schwieg.

Erich schien auf eine Antwort oder irgendeine Reaktion zu warten, denn eine ganze Weile lang sagte auch er nichts, sondern sah Indiana nur fragend an.

Indiana eilte auf Mabel zu und schloß sie kurz und heftig in die Arme, bevor er sich wieder zu Erich umwandte.»Und jetzt?«fragte er.»Was haben Sie weiter mit uns vor?«

Der SS-Mann schürzte abfällig die Lippen.»Können Sie sich das nicht denken, Dr. Jones?«fragte er böse.»Sie hatten Ihre Chance. Es ist nicht meine Schuld, daß Sie es vorgezogen haben, sie zu verspielen. «Er machte eine herrische Handbewegung.

«Erschießt sie!«

Die sechs Soldaten in seiner Begleitung hoben ihre Gewehre, und auch die Männer, die Browning und die anderen Gefangenen eskortiert hatten, traten rasch ein paar Schritte zurück und brachten ihre Waffen in Anschlag.

«Halt!«

Erichs Kopf ruckte mit einer zornigen Bewegung herum. Seine Augen wurden schmal, als er die graugekleidete Gestalt sah, die aus der Dunkelheit herangelaufen kam. In ihrer Begleitung befanden sich vier Soldaten: drei Deutsche, wie unschwer an ihren weißen Tarnjacken zu erkennen war, aber auch ein Amerikaner. Und die Männer machten nicht unbedingt den Eindruck von Feinden.

Erich machte eine blitzschnelle Geste, und einer seiner Soldaten hob seine Waffe und richtete sie auf die Neuankömmlinge; die der anderen zielten unverwandt weiter auf Indiana und seine Mitstreiter.

«Major von Ludolf!«rief Erich überrascht, als die Leute näher kamen und er den Wehrmachtsoffizier erkannte, der sie anführte. Ein dünnes, unsympathisches Lächeln huschte über seine Lippen.»Ich wußte doch, daß ich jemanden übersehen habe.«

Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Indiana und die anderen und fuhr in spöttischem Tonfall fort:»Sind Sie gekommen, um sich Ihren Freunden anzuschließen, oder haben Sie endlich begriffen, auf welche Seite Sie gehören?«

Von Ludolf blieb stehen. Sein Blick glitt über Indianas und Mabels Gesichter, über die drohend erhobenen Maschinenpistolen in den Händen der deutschen Soldaten, und richtete sich schließlich auf Erichs Gesicht.

«Ich verbiete das!«sagte er sehr ernst.

Zwei oder drei Sekunden lang starrte Erich ihn nur verblüfft an. Dann lachte er hoch, schrill und in der Tonlage eines Wahnsinnigen.

«Sie sind ja verrückt«, höhnte er, nachdem er sich wieder halbwegs beruhigt hatte.»Sie haben hier gar nichts zu sagen, von Ludolf. Seien Sie froh, wenn ich Sie am Leben lasse. Wenigstens noch für eine Weile«, schränkte er nach einer Sekunde ein.

Von Ludolf schüttelte unbeeindruckt den Kopf und sagte noch einmal:»Ich lasse das nicht zu, Erich.«

Erichs Gesicht verzerrte sich zu einer Grimasse.»Schießt ihn nieder!«befahl er.

Tatsächlich hob ein Soldat die Waffe. Sein Finger tastete nach dem Abzug. Aber er zögerte. Auf seinem Gesicht war deutlich der Zwiespalt abzulesen, in dem er sich befand.

Erich fuhr herum, starrte den Mann einen Moment lang wütend an und packte ihn schließlich bei den Schultern.»Sie sollen ihn erschießen!«brüllte er, während er den Mann wild schüttelte.

Der Soldat befreite sich mühsam aus Erichs Griff, stolperte einen halben Schritt zurück und hob unsicher seine Waffe.

«Tun Sie das nicht, Soldat«, sagte von Ludolf. Er sprach ganz ruhig. Er hob nicht einmal die Stimme, aber vielleicht war es gerade das, was den Soldaten abermals zögern ließ. Erich hatte geschrien, sich wie hysterisch gebärdet, aber diese Männer waren es gewohnt, ihre Befehle in ruhigem, sachlichem Ton zu bekommen.

Die Maschinenpistole in der Hand des Soldaten zitterte. Für einen Augenblick richtete sich ihr Lauf noch einmal auf von Ludolfs Oberkörper, dann senkte er sich, und der Soldat schüttelte wortlos den Kopf und trat drei Schritte zurück.

«Ich enthebe Sie hiermit Ihres Kommandos, Herr Obersturmbannführer«, sagte von Ludolf ruhig.»Es ist offensichtlich, daß Sie nicht mehr Herr Ihrer Sinne sind.«

Erich keuchte vor Wut, wirbelte herum und war mit einem Satz bei einem anderen Soldaten. Er versuchte, ihm die Waffe zu entreißen, aber der Mann schlug seine Hand herunter und brachte sich mit einem hastigen Schritt in Sicherheit.

«Geben Sie endlich auf, Erich«, sagte von Ludolf ruhig.»Sie haben verloren. Begreifen Sie das doch.«

Erich knurrte wie ein wildes Tier. Sein Blick flackerte, und seine Fäuste schlossen und öffneten sich ununterbrochen, eine Bewegung, die er gar nicht wahrzunehmen schien.

«Legt die Waffen nieder!«sagte von Ludolf. Die Worte galten nicht nur den Männern in Erichs unmittelbarer Nähe, die Indiana und die anderen bedrohten, sondern allen hier. Ein paar Sekunden lang schien überhaupt nichts zu passieren, aber dann senkte der erste Soldat seine Maschinenpistole, dann ein zweiter, ein dritter — und schließlich ließen alle Männer ihre Waffen sinken; nicht nur das Exekutionskommando, sondern jeder, der von Ludolfs Worte gehört hatte.

Erich heulte wie ein geprügelter Hund, trat einen Schritt auf von Ludolf zu und blieb wieder stehen. Sein Gesicht loderte vor Zorn. Schaum trat vor seinen Mund, und irgend etwas geschah in seinen Augen, das Indiana schaudern ließ. Es war nicht nur der Blick eines Wahnsinnigen, es war…

Nein, er konnte nicht in Worte fassen, was es war. Es war wie das Wirken einer göttlichen Macht, dessen Zeugen sie wurden. Aber wenn, so war es ein finsterer, zerstörerischer Gott. Eine Macht, die aus uralten, vergessenen Zeiten auferstanden war und nie wieder leben durfte.

«Geben Sie auf, Erich«, sagte von Ludolf ruhig.»Die Männer werden Ihnen nicht mehr gehorchen. Weder jetzt noch später.«

«Dafür werden Sie bezahlen!«heulte Erich.»Sie Verräter! Ich werde persönlich dafür sorgen, daß Sie vor Gericht gestellt und hingerichtet werden!«

«Das glaube ich nicht«, sagte von Ludolf ruhig.»Niemand hier will das. Schauen Sie sich um.«

Er machte eine weit ausholende Geste mit der linken Hand, die das ausgeglühte Luftschiffwrack, das zerstörte Lager, die brennenden Baracken und die gesamte Insel einschloß.»Schauen Sie sich um, und fragen Sie sich, mit welchen Mächten wir uns eingelassen haben. Es gibt Dinge, an die niemand rühren darf, Erich. Sie würden uns allen den Tod bringen. Nicht nur unseren Feinden, sondern auch uns.«

Sekundenlang starrte Erich ihn einfach nur an, als begriffe er tatsächlich, was von Ludolf gesagt hatte. Abermals flackerte sein Blick, und Erschrecken trat in seine Augen und löste das Lodern des Wahnsinns darin ab.

Aber nur für kurze Zeit. Dann verwandelte sein Blick sich wieder in den eines Wahnsinnigen, und seine Stimme wurde zu einem schrillen, sich überschlagenden Heulen:

«Sie Hund! Sie verdammter, volksverräterischer Feigling!«kreischte er. Plötzlich fuhr er herum, entriß einem der Soldaten in seiner Nähe die Waffe und legte damit auf Indiana und die anderen an.

«Dann tue ich es eben selbst«, schrie er.

Von Ludolf schoß ihm in den Rücken.

Er zog die Hand nicht einmal aus der Tasche, sondern drückte ohne Warnung ab. Eine fingerlange orangerote Feuerzunge brach aus seiner Uniform, und eine Sekunde später taumelte Erich wie von einem Faustschlag getroffen nach vorn, ließ die MP fallen und brach mit einem Keuchen in die Knie. Seine Augen wurden glasig.

«Es tut mir leid«, sagte von Ludolf leise.»Aber ich kann das nicht zulassen.«

Er zog die rechte Hand mit der Pistole aus der Tasche, schüttelte traurig den Kopf und drückte noch einmal ab. Und noch einmal. Und noch einmal. Und noch einmal.

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