Hundert Meilen vor der Küste Grönlands

1. April 1939

Zehntausend Fuß unter dem Luftschiff erstreckte sich das Meer, so weit das Auge reichte. Der Himmel war wolkenlos und klar, und in ihrem Zenit stand eine Sonne, deren greller Glanz die eisigen Temperaturen vergessen ließ, die draußen herrschten. Irgendwo weit, weit im Osten, noch nicht wirklich zu sehen, sondern fast nur zu erahnen, war eine dünne weiße Linie: die Westküste Grönlands, der sie sich nun näherten. Und damit dem Punkt, an dem sich Odinsland jetzt befinden mußte, sollten die Berechnungen, die Browning hatte anstellen lassen, zutreffen.

Sie taten es nicht.

Browning war noch nicht bereit, es zuzugeben, und Lestrade hatte Indianas einzige Frage in diese Richtung mit einem so eisigen Blick quittiert, daß keiner der anderen nachgehakt hatte, aber im Grunde war allen im Steuerhaus klar, daß sie sich auf eine lange Suche einstellen mußten.

Dabei hätten sie eigentlich nicht enttäuscht sein dürfen. Allen war klar gewesen, daß Brownings sogenannte Berechnungen in Wirklichkeit eher Vermutungen waren. Und daß es schon an ein Wunder gegrenzt hätte, hätten sie die schwimmende Eisinsel auch nur im Umkreis von fünfhundert Meilen von dem angenommenen Punkt gefunden. Trotzdem wirkte nicht nur Browning enttäuscht. Auf Kapitän Mortons Gesicht lag ein verbissener, beinahe wütender Ausdruck, und Bates sah aus, als wäre er soeben zu einer sechsmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt worden.

Wahrscheinlich fühlte er sich auch so. Und nicht nur er.

Während der beiden vergangenen Tage war die Situation an Bord beinahe unerträglich geworden. Es war nichts weiter geschehen — wenn es einen Verräter an Bord gab und der Anschlag auf die Hus-kys nicht nur die Tat eines Wahnsinnigen war, so hatte er sich in den letzten beiden Tagen still verhalten —, aber ein Luftschiff, so groß und komfortabel eingerichtet es auch sein mochte, war trotz allem klein. Die Platzverhältnisse entsprachen in etwa denen an Bord eines Unterseeboots, und auch die Anfälligkeit der Besatzung und Passagiere für Klaustrophobie war ebenso hoch. Während der letzten beiden Tage war es mehrmals zu lautstarken Auseinandersetzungen zwischen Mitgliedern der Besatzung gekommen, und einmal hatte Lestrade nur noch im letzten Moment den Ausbruch einer Schlägerei zwischen einem Soldaten und einem seiner Offiziere verhindern können. Und dazu kam — und das war vielleicht das Schlimmste — die Atmosphäre von Mißtrauen, die vom gesamten Schiff und seiner Besatzung Besitz ergriffen hatte. Irgendwie mißtraute hier jeder jedem, und das strikte Funkverbot, das Lestrade vor vier Tagen verhängt und seither nicht wieder aufgehoben hatte, machte die Situation auch nicht besser. Bisher hatte er sich beharrlich geweigert, seinen Befehl zu erklären. Und Browning, der vielleicht der einzige an Bord war, der außer Lestrade wußte, welchem Zweck diese übermäßige Geheimhaltung galt, schwieg ebenso stur und wich Indianas diesbezüglichen Fragen mit erstaunlicher Geschicklichkeit aus.

Selbst Indiana fühlte sich gereizt und nervös. Und auch er war wider besseres Wissen enttäuscht, daß sie nicht auf Anhieb den Eisberg gefunden hatten.

«Also?«Bates, der zwischen Morton und Browning am Fenster stand und wie sie die letzten zehn Minuten gebannt nach unten geblickt hatte, sah Lestrade fragend an.»Was tun wir jetzt?«

«Wir beginnen mit dem, weswegen wir hergekommen sind«, antwortete Lestrade unfreundlich.»Wir suchen nach diesem Berg.«

Bates zog eine Grimasse.»Und wie, wenn ich fragen darf?«

«Es gibt noch zwei, drei andere Punkte, an denen er sein könnte«, antwortete Browning an Lestrades Stelle.»Wenn wir ihn auch dort nicht finden, dann müssen wir kreisen. Sie kennen das ja: Man sucht sich einen Ausgangspunkt und sucht in immer weiter werdenden Spiralen.«

Bates japste.»Aber das kann Wochen dauern!«

Browning nickte ungerührt.»Möglicherweise sogar Monate«, sagte er.

«Aber so lange wird es nicht dauern.«

Alle blickten überrascht auf und sahen Morton an, der die Worte gesprochen hatte. Auch er stand am Fenster und sah hinunter, aber da sich alle Aufmerksamkeit in der letzten halben Stunde auf den Ozean konzentriert hatte, hatte niemand besonders auf ihn geachtet. Und auch Indiana fiel erst jetzt auf, daß der Ausdruck auf Mortons Gesicht zwar ebenso enttäuscht und verbittert war wie bei den anderen, aber daß auf seinen Zügen noch etwas war. Er wußte nicht genau, was, aber es erschreckte ihn.

«Was wollen Sie damit sagen?«fragte er.

Morton zuckte unglücklich mit den Schultern und schwieg fast eine halbe Minute lang.»Der Berg ist nicht mehr weit entfernt«, sagte er leise.

«Woher wollen Sie das wissen?«herrschte Lestrade ihn an.

Wieder vergingen Sekunden, ehe Morton antwortete:»Wir sind ganz in der Nähe. Ich… spüre es.«

Browning und auch Indiana sahen ihn sehr aufmerksam an, während sich Lestrades ärgerliches Stirnrunzeln vertiefte.»Was soll das heißen, Sie spüren es? Haben Sie so eine Art zweites Gesicht, oder was?«

Der beißende Spott in seinen Worten prallte von Morton ab, falls er ihn überhaupt registrierte. Er sagte nur noch einmal:»Wir sind ganz in seiner Nähe.«

«Warum verraten Sie uns dann nicht, wo genau wir ihn finden?«fragte Lestrade sarkastisch.

«Lassen Sie das!«zischte Browning scharf, an den Colonel gewandt. Dann drehte er sich wieder zu Morton um.»Bitte erklären Sie Ihre Worte, Kapitän«, sagte er.

Morton sah ihn unglücklich an, zuckte mit den Schultern und breitete mit einer hilflosen Geste die Hände aus.»Ich weiß es einfach«, sagte er.

«Das ist… ein bißchen wenig«, antwortete Browning. Aber es klang eher enttäuscht als spöttisch. Und nach einer weiteren Sekunde wandte er sich auch wieder an den Colonel:»Also gut, Colonel«, meinte er.»Dann fliegen Sie den zweiten Suchpunkt auf Ihrer Karte an. Sie kennen den Kurs.«

Als sie wieder in den Aufenthaltsraum hinaustraten, übersah Indiana einen der Marinesoldaten und rempelte ihn versehentlich mit der Schulter an. Er stolperte, drehte sich im Schritt halb herum, schenkte dem Mann ein entschuldigendes Lächeln und wollte sich entschuldigen — aber dann blickte er ihn statt dessen nur verwirrt an, als er den wütenden, ja fast schon haßerfüllten Blick registrierte, den der Mann ihm zuwarf. Er sagte nichts, und auch der Soldat blieb nur eine Sekunde lang stehen und starrte ihn an, aber Indiana bemerkte, daß sich seine Hände zu Fäusten schlossen und er zornig die Kiefer aufeinanderpreßte. Er sah aus, als hielte er sich nur noch mit Mühe zurück, sich einfach auf ihn zu stürzen und ihn wegen dieses kleinen Versehens niederzuschlagen.

Als der Soldat endlich weiterging und auch Indiana sich wieder umdrehte, begegnete er Mortons Blick. Und plötzlich wußte er, was der Ausdruck auf diesem Gesicht bedeutete, der ihn die ganze Zeit über so irritiert hatte: Es war Angst.

«Was haben Sie?«fragte er.

«Dieser… Mann«, stammelte Morton stockend.

Indiana sah dem Soldaten nach, der mit weit ausgreifenden Schritten und zornig angehobenen Schultern den Raum verließ.»Er war ein bißchen wütend«, meinte er.

Morton schüttelte den Kopf.»Das ist es nicht«, sagte er leise.»Es geht wieder los.«

«Was?« fragte Indiana. Er sah sich rasch und beinahe alarmiert um, ergriff Morton am Arm und zog ihn mit sich in eine Ecke, in der sie weit genug von den anderen entfernt waren, so daß diese ihre Worte nicht hören konnten.»Was haben Sie gemeint, Kapitän?«fragte er.»Was geht wieder los?«

Morton versuchte, seine Hand abzustreifen, aber Indiana hielt ihn eisern fest.»Ich habe Sie vorhin unten im Steuerhaus beobachtet, Kapitän«, sagte er.»Sie verschweigen uns etwas.«

«Es ist wie… wie damals«, flüsterte Morton stockend.»Auf der POSEIDON. Es war genauso.«

«Was war genauso?«

Indiana fuhr erschrocken herum. Doktor Rosenfeld war so leise hinter ihn getreten, daß er ihre Schritte nicht gehört hatte.»Nichts«, sagte er rasch.»Es ist nichts.«

Doktor Rosenfeld runzelte die Stirn und maß ihn mit einem ärgerlichen Blick von Kopf bis Fuß.»Für wie dumm halten Sie mich, Doktor Jones?«fragte sie spitz.»Kapitän Morton ist bleich wie ein Toter, und Sie sehen aus wie das personifizierte schlechte Gewissen. «Sie wandte sich an Morton.»Also?«

«Es ist… dasselbe wie auf der POSEIDON«, sagte Morton noch einmal. Er fand seine Selbstbeherrschung wieder, blieb aber nervös.»Es ist irgend etwas an diesem Berg. Ich spüre ihn. Ich kann seine Nähe fühlen. Ich weiß, es klingt lächerlich, aber genauso ist es.«

«Ich lache nicht«, erwiderte Indiana ernst.

«Was meinen Sie damit: etwas an diesem Berg?«erkundigte sich Doktor Rosenfeld. Auch sie wirkte sehr ernst und eher alarmiert als spöttisch.

Morton hob hilflos die Schultern.»Es ist wie ein Gift, das in unsere Gedanken schleicht«, sagte er.»Auf der POSEIDON war es das gleiche. Die Besatzung war gereizt und nervös, und es wurde schlimmer, je mehr wir uns dem Berg näherten. Es hätte um ein Haar einen Toten gegeben. Selbst mein Erster Offizier hat die Beherrschung verloren und einen der Männer geschlagen.«

«Vielleicht waren die Männer einfach nervös«, meinte Indiana.»Mit einem Schiff und noch dazu im Winter in diesen Gewässern zu fahren, muß verdammt anstrengend sein.«

Morton nickte und schüttelte fast in der gleichen Bewegung den Kopf.

«Das war es nicht«, sagte er überzeugt.»Es ist dieser Berg. Und es geht auch hier los. Spüren Sie es denn nicht?«

Natürlich spürte Indiana es. So deutlich wie Morton, Doktor Rosenfeld und jeder andere hier an Bord. Während der letzten beiden Tage war die Stimmung an Bord immer schlechter und schlechter geworden. Aber natürlich hatte er es auf die drückende Enge, die Anstrengung der Reise oder das Gefühl, einen Verräter an Bord zu haben, geschoben — auf irgend etwas eben. Wahrscheinlich genau wie Mor-ton, dachte er, als er sich zum erstenmal Odinsland näherte.

«Irgend etwas will nicht, daß wir diesen Berg betreten«, sagte Mor-ton.»Und wir sollten es besser auch nicht tun.«

«Unsinn«, meinte Doktor Rosenfeld. Aber ihre Stimme klang alles andere als überzeugt. Und der Blick, mit dem sie erst Morton und dann Indiana maß, war nervös. Sehr nervös.

Morton ging ohne ein weiteres Wort, und Indiana blickte ihm besorgt nach.

«Glauben Sie, daß er es durchhält?«

«Kapitän Morton?«Doktor Rosenfeld zuckte mit den Schultern.»Wie meinen Sie das? Haben Sie Angst, er könnte die Beherrschung verlieren?«

«Einen sehr beherrschten Eindruck machte er nicht«, sagte Indiana.

«Er ist ein starker Mann«, beruhigte ihn Doktor Rosenfeld.

«Das war Doktor van Hesling auch«, erwiderte Indiana.

Die Worte taten ihm fast sofort wieder leid, denn bei der Erwähnung des deutschen Wissenschaftlers fuhr Doktor Rosenfeld sichtlich zusammen. Eine Sekunde lang blickte sie ihn erschrocken und sehr unglücklich an, dann wandte sie sich mit einem Ruck ab und trat ans Fenster.

Indiana zögerte kurz, ehe er ihr folgte.»Entschuldigung«, murmelte er.»Es war taktlos von mir. Ich wollte Sie nicht daran erinnern.«

«Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Doktor Jones«, antwortete Doktor Rosenfeld, ohne ihn anzusehen. Ihr Blick ging weiter starr aus dem Fenster, aber ihre Finger spielten unruhig miteinander.

«Es war nicht Ihre Schuld«, sagte Indiana leise.

«Doch«, widersprach Doktor Rosenfeld.»Das war es.«

«Unsinn!«erwiderte Indiana, nun schon etwas heftiger.»Sie hätten überhaupt nichts tun können.«

«Ich habe in der Kabine nebenan gelegen und geschlafen, während er umgebracht wurde«, rief Doktor Rosenfeld. Ihre Stimme zitterte.

«Seien Sie froh, daß Sie nicht aufgewacht sind«, sagte Indiana.»Wahrscheinlich hätten sie Sie auch umgebracht.«

«Es ist trotzdem meine Schuld«, beharrte Doktor Rosenfeld.»Ich hätte es besser wissen müssen. Ich hätte niemals zustimmen dürfen, daß van Hesling mitkommt.«

«Sie hatten gar keine andere Wahl«, meinte Indiana.»Glauben Sie mir, Doktor Rosenfeld. «Er streckte den Arm aus, zögerte und griff dann nach ihrer Hand. Für einen Moment versteifte sich Doktor Rosenfeld, aber sie versuchte nicht, ihre Finger wegzuziehen, sondern drehte sich um und blickte ihm jetzt ins Gesicht.

«Sie hätten gar nichts tun können«, wiederholte Indiana.»Ich kenne Browning. Wenn er sich einmal etwas vorgenommen hat, dann führt er es auch durch. Und nichts und niemand auf der Welt bringt ihn davon ab. Ich nicht, Morton nicht — und Sie schon gar nicht.«

Mabel Rosenfeld lächelte schmerzlich.»Sie wollen mich trösten, nicht wahr?«

«Sicher«, gestand Indiana.»Das auch. Aber es ist trotzdem die Wahrheit. Vielleicht«, fügte er hinzu, und das eigentlich nur, um Doktor Rosenfeld abzulenken und über etwas anderes als van Hes-ling zu sprechen,»sollten wir uns lieber um die Zukunft Gedanken machen, statt um das, was passiert und nicht mehr zu ändern ist. Es wäre mir lieb, wenn Sie ein Auge auf Kapitän Morton werfen könnten.«

Doktor Rosenfeld schüttelte entschieden den Kopf.»Er ist nicht mehr und nicht weniger hysterisch als jeder Mann hier an Bord«, sagte sie überzeugt.»Glauben Sie mir, ich habe ein bißchen Erfahrung in solchen Sachen. «Sie lächelte flüchtig, aber Indiana blieb ernst.

«Jeder hat irgendwo seine Grenzen«, sagte er.»Ich frage mich, was auf diesem Berg geschehen ist, das ihm solche Angst macht.«

«Er hat ein paar seiner Männer verloren«, antwortete Doktor Rosenfeld.»Und wurde selbst schwer verletzt.«

Indiana schüttelte abermals den Kopf.»Das allein ist es nicht«, beharrte er.»Sie haben ihn doch gesehen, oder? Er war halb wahnsinnig vor Angst. Und Professor van Hesling hat es völlig um den Verstand gebracht.«

«Van Hesling war wochenlang auf diesem Eisberg«, berichtigte Doktor Rosenfeld.»Vielleicht sogar Monate. Er war mehr tot als lebendig, als Morton ihn fand.«

«Wir sollten aufhören, uns verrückt zu machen, noch ehe wir dort sind«, sagte Indiana entschieden. Plötzlich hatte er eine Idee.

«Ich gehe jetzt hinauf zu Quinn und den Hunden, um ihnen ein bißchen Gesellschaft zu leisten«, meinte er.»Hätten Sie nicht Lust mitzukommen?«

Doktor Rosenfeld zögerte.

«Die Hunde sind friedlich«, sagte Indiana hastig.»Sie tun keinem Menschen etwas. Und Quinn auch nicht.«

Doktor Rosenfeld zögerte noch eine Sekunde, aber dann nickte sie.»Warum eigentlich nicht?«fragte sie.

Sie verließen den Aufenthaltsraum und stiegen die Treppe hinauf. Es war düster wie immer hier oben, und es war noch kälter geworden: Ihr Atem erschien als weißer Dampf vor ihren Gesichtern, und Indianas Fingerspitzen begannen vor Kälte zu kribbeln. Er schauderte — und fühlte sich gleichzeitig ein wenig schuldbewußt. Er war in den letzten beiden Tagen kaum hier herauf gekommen. Er hätte es viel eher tun sollen. Vielleicht wäre ihm dann aufgefallen, wie kalt es hier oben geworden war. Quinn und seine Tiere mußten halb erfroren sein.

Der Gedanke rief ihm wieder Lestrades ausdrücklichen Befehl ins Gedächtnis, daß nicht nur die Tiere, sondern auch Quinn die Reise in den Laderäumen zu verbringen hatten. Und die abfällige Art, in der der Colonel über den Eskimo gesprochen hatte. Und das erfüllte ihn mit einem tiefen Groll gegen den Kommandanten der Dragon.

Das Gefühl irritierte ihn. Er hatte allen Grund, ärgerlich auf Lestra-de zu sein, ja sogar wütend, aber das, was er im Augenblick spürte, das war… beinahe so etwas wie Haß. Etwas, das ihn an den Blick des Matrosen erinnerte, den er unten versehentlich angerempelt hatte.

Vor der Tür von Quinns Unterkunft stand ein Soldat mit Pelzjacke und Handschuhen. Der Mann blickte Doktor Rosenfeld und ihm mißtrauisch entgegen, trat aber wortlos zur Seite, als Indiana eine entsprechende Bewegung machte.

Indiana klopfte — Quinn hatte darauf bestanden, daß er sich mit einem Klopfzeichen meldete, denn er würde niemand anderen als ihn zu seinen Tieren lassen —, und Augenblicke später hörte er, wie sich schwere Schritte der Tür näherten. Ein Schlüssel wurde im Schloß gedreht, und dann schwang die dünne Tür nach innen auf. Quinns mächtige, in einen dicken Pelzmantel gehüllte Gestalt erschien in der Öffnung.

Und eine zweite, sehr viel kleinere und struppige Gestalt, die mit einer blitzschnellen Bewegung zwischen Quinns Beinen durchflitzte und um ein Haar Doktor Rosenfeld von den Füßen gerissen hätte, wäre sie nicht rasch genug zur Seite gesprungen.

«Fenris!«schrie Quinn und setzte dem Hund nach. Das Tier schlug einen blitzschnellen Haken, so daß Quinns zupackende Hände ins Leere griffen, und rannte direkt auf den Soldaten zu.»He!«brüllte der Mann.»Bleib stehen!«Er beugte sich vor, streckte die Hände aus — und zog sie mit einem Schrei wieder zurück, als der Husky mit einem wütenden Knurren nach seinen Fingern schnappte. Sein rechter Handschuh färbte sich rot.

Der Mann keuchte vor Schmerz, taumelte einen Schritt rückwärts und steckte die verwundete Hand unter die Achselhöhle.

«Du verdammtes Mistvieh!«kreischte er, holte aus und versetzte dem Husky einen wuchtigen Fußtritt in die Flanke, der das Tier mit einem schrillen Jaulen gegen die Wand prallen ließ. Wütend riß der Soldat seine Waffe von der Schulter und stieß sie nach vorne, um das Tier mit dem aufgepflanzten Bajonett aufzuspießen.

Er kam nicht dazu, die Bewegung zu Ende zu führen, denn plötzlich war Quinn über ihm, riß ihm mit der Linken das Gewehr aus der Hand und packte ihn mit der rechten Hand an der Brust, um ihn wie ein Kind in die Höhe zu heben. Der Soldat brüllte vor Wut und Schmerz, strampelte mit den Beinen und schlug mit beiden Fäusten nach Quinns Gesicht. Er traf, aber der schwarzhaarige Riese schien die Hiebe nicht einmal zu spüren. Er schüttelte den Soldaten wie einen nassen Hund, ließ ihn plötzlich fallen und ballte die Faust, als der Mann vor ihm zusammenbrach.

«Quinn!«

Indianas Schrei ließ den Eskimo erstarren. Einen Moment lang stand er noch reglos und drohend über den Soldaten gebeugt da, dann trat er zurück, entspannte sich und fuhr mit einer blitzartigen Bewegung herum, um sich um seinen Hund zu kümmern.

Indiana kniete neben dem Soldaten nieder und streckte die Hände aus.»Alles in Ordnung mit Ihnen?«fragte er.

Die Reaktion des Soldaten fiel anders aus, als er erwartet hatte: Der Mann richtete sich mit einer blitzartigen Bewegung wieder auf, schlug Indianas hilfreich ausgestreckte Hände zur Seite und funkelte ihn zornig an. Dann verzog er das Gesicht, hob die rechte Hand und versuchte, mit den Zähnen den Handschuh herunterzuzerren.

«Warten Sie«, rief Doktor Rosenfeld.»Ich helfe Ihnen.«

Tatsächlich protestierte der Mann nicht mehr, als dann Doktor Rosenfeld neben ihm in die Hocke ging, behutsam seine Hand nahm und mit spitzen Fingern den Handschuh herunterzog. Indiana registrierte erleichtert, daß er nicht so schlimm verletzt war, wie es im ersten Moment den Anschein gehabt hatte. Der dicke Pelzhandschuh hatte das Schlimmste verhütet. Die Hand blutete zwar heftig, aber es war nur eine Fleischwunde. Er überlegte, ob der Mann überhaupt wußte, welches Glück er gehabt hatte. Quinns Huskys waren ausgesucht starke Tiere. Und Fenris, das Leittier des Rudels, konnte einem Mann normalerweise mühelos die Hand abbeißen.

«Das sieht schlimmer aus, als es ist«, murmelte Doktor Rosenfeld beruhigend.»Aber die Wunde muß verbunden werden. Warten Sie — ich hole etwas.«

Der Soldat starrte erst sie, dann länger und sehr viel wütender Indiana Jones und den Eskimo an und riß seine Hand schließlich mit einem Ruck wieder an sich.»Das ist alles eure Schuld!«sagte er.»Sie und dieser… Wilde mit seinen Bestien!«

Indiana warf Quinn einen raschen besorgten Blick zu. Aber wenn der Eskimo die Worte überhaupt gehört hatte, reagierte er jedenfalls nicht darauf. Er kniete neben seinem Hund, hatte ihn wie ein krankes Kind in die Arme genommen und streichelte ihm beruhigend den Kopf. Auch das Tier schien nicht wirklich verletzt, soweit Indiana das beurteilen konnte — und doch… Irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Fenris’ Lefzen waren gehoben und das ehrfurchtgebietende Gebiß drohend gebleckt. Seine Flanken zitterten vor Erregung, und aus seinem Maul troff Speichel.

«Was ist mit ihm?«fragte Indiana.

«Ich weiß es nicht«, antwortete Quinn. Er warf einen weiteren zornigen Blick auf den Soldaten, aber auch er schien zu spüren, daß Fenris nicht nur wegen des Fußtritts so zitterte. Der Hund war vorher schon erregt gewesen, und überhaupt: Indiana konnte sich nicht erinnern, daß einer der Huskys in der ganzen Zeit, die sie jetzt an Bord waren, auch nur einmal versucht hätte davonzulaufen.

«Kann es sein, daß er irgend etwas wittert?«fragte er.

Quinn zuckte nur mit den Schultern und fuhr fort, den Hund zu streicheln und ihm beruhigende Worte ins Ohr zu flüstern, und Indiana wandte sich an den Soldaten, der sich mittlerweile wieder aufgerichtet hatte.

«Was ist hinter dieser Tür?«fragte er mit einer Handbewegung auf die nachträglich eingezogene Sperrholzwand, die den Gang vor ihm abschloß.

Der Soldat runzelte die Stirn.»Ich weiß es nicht«, sagte er unfreundlich.»Und es geht mich auch nichts an. Nur Colonel Lestrade und Doktor Browning dürfen durch diese Tür gehen.«

«Und jeden anderen, der es versucht, erschießen Sie auf der Stelle, wie?«grinste Indiana sarkastisch.

Der Soldat schwieg, aber sein Blick machte deutlich, daß sein Befehl vielleicht nicht so lautete, er sich aber im Moment vielleicht wünschte, Indiana solle versuchen, es doch zu tun.

Genau das hatte er übrigens vor.»Ich bin sicher, daß der Hund etwas gewittert hat«, sagte er.»Öffnen wir die Tür.«

«Das darf ich nicht«, rief der Soldat.»Und selbst wenn ich es wollte — ich kann es gar nicht.«

Indiana trat nahe an die Tür heran und rüttelte an der Klinke. Sie machte keinen sonderlich stabilen Eindruck, war aber abgeschlossen.

«Lassen Sie mich mal.«

Indiana trat verwundert zur Seite, als Doktor Rosenfeld an ihm vorbeiging, das Schloß kurz und fast abfällig musterte und dann in ihre Jackentasche griff. Sie zog eine Haarnadel hervor, bog sie mit raschen, geschickten Bewegungen ein paarmal um und steckte sie in das Schloß. Es dauerte kaum länger als eine Sekunde, bis ein helles metallisches Schnappen erklang — und die Tür ein kleines Stück nach innen schwang.

«Was tun Sie da?«rief der Soldat zornig.

Indiana ignorierte ihn.»Wie haben Sie das gemacht?«fragte er.

«Ich war einmal Einbrecherin«, antwortete Doktor Rosenfeld spöttisch. Indiana runzelte die Stirn, und sie fügte erklärend und in ernsterem Tonfall hinzu:»Nein, keine Angst. Mein Vater war Schlosser. So einfach ist das. Er hat mir gezeigt, wie man die meisten Schlösser aufbekommt. Es ist ganz leicht, wenn man weiß, wie.«

«Bleiben Sie von der Tür weg!«sagte der Soldat hinter ihnen noch einmal, und jetzt noch lauter.

Indiana drehte sich um und sah, wie es in seinen Augen zornig aufblitzte. Dann hörte er ein dunkles, drohendes Knurren, und der Soldat und er wandten fast gleichzeitig den Blick ab und sahen auf den Husky hinab, der sich in Quinns Armen aufgerichtet hatte und mit angelegten Ohren und gebleckten Zähnen die Tür anknurrte.

«Er wittert etwas«, sagte Indiana.»Sehen Sie das denn nicht, Mann?«

«Es ist mir völlig egal, was dieses blöde Vieh wittert oder nicht«, antwortete der Soldat erregt.»Ich habe meine Befehle, und die lauten, daß niemand diese Tür öffnen darf.«

«Dann gehen Sie doch meinetwegen zu Lestrade und beschweren sich über uns«, antwortete Indiana verärgert.»Ich sehe jetzt jedenfalls nach, was hier los ist.«

Er versuchte es tatsächlich, aber er hatte die Tür noch nicht einmal ganz durchschritten, da war der Soldat schon hinter ihm und riß ihn grob an der Schulter herum.

Indiana schlug seinen Arm zur Seite und funkelte ihn an.»Rühren Sie mich noch einmal an!«fauchte er.»Und…«

Er brach verwirrt ab. Für einen Augenblick erschreckte ihn seine Reaktion, dieser plötzliche, kaum zu beherrschende Jähzorn, den er überhaupt nicht an sich kannte. Mit mühsam beherrschter Stimme fuhr er fort:»Seien Sie doch vernünftig, Mann. Sie sehen doch selbst, daß hier etwas nicht stimmt. Ich kenne diese Hunde! Sie machen nicht grundlos so ein Theater.«

Der Soldat schien einen Moment irritiert. Verwirrt blickte er von Quinn zu dem Hund, dann zurück zu Indiana und wieder zu dem weißen Husky, der sich mittlerweile so wild gebärdete, daß selbst Quinn alle Mühe zu haben schien, ihn zu halten. Schließlich nickte er widerstrebend.

«Also gut«, sagte er.»Meinetwegen. Aber halten Sie mir dieses Mistvieh vom Leib. Wenn er mir zu nahe kommt, schieße ich ihn über den Haufen.«

Indiana antwortete vorsichtshalber nicht darauf, während Quinn dem Soldaten einen mordlüsternen Blick schenkte, Fenris aber fest am Halsband ergriff und neben sich her führte.

Die Nase dicht an den Boden pressend und heftig schnüffelnd, lief der Hund vor ihnen her und blieb schließlich vor einer der Frachtkabinen stehen. Er stieß ein leises Winseln aus und begann mit der Pfote an der Tür zu kratzen.

Indiana wandte sich an den Soldaten.»Haben Sie einen Schlüssel?«

«Nein«, antwortete der Mann.»Nur Kapitän Lestrade selbst hat die Schlüssel und — «

«— und Browning, ich weiß«, unterbrach ihn Jones verärgert. Mit einem fragenden Blick wandte er sich an Doktor Rosenfeld.»Versuchen Sie Ihr Glück noch mal?«

Doktor Rosenfeld zögerte.»Ich weiß nicht, ob das gut ist.«

«Colonel Lestrade läßt Sie auf der Stelle einsperren, wenn er das erfährt«, sagte der Posten. Er klang nervös. Und er sah ganz so aus, als bedauere er seinen Entschluß, Indiana hier hereinzulassen, schon längst.»Und mich gleich dazu.«

«Er muß es ja nicht erfahren«, beruhigte ihn Indiana.»Wenn wir nichts finden, erfährt er kein Wort. Das verspreche ich Ihnen. Und wenn, dann wird er Ihnen dankbar sein.«

Der Soldat machte keinen sehr überzeugten Eindruck, widersprach aber nicht mehr, als Doktor Rosenfeld erneut ihre umfunktionierte Haarklammer nahm und sich damit an der Tür zu schaffen machte. Diesmal dauerte es länger, aber am Ende drang auch aus diesem Schloß ein helles Schnappen, und Doktor Rosenfeld trat mit einer einladenden Handbewegung zurück.

Hinter der Tür herrschte Dunkel — aber es war nicht vollkommen. Für einen Moment sah Indiana Licht — einen schmalen, wie mit dem Lineal gezogenen hellen Streifen, der im gleichen Augenblick, in dem er die Tür öffnete, schmolz und erlosch. Ein dumpfes Geräusch erklang; wie das Zuschlagen einer Tür, nur heftiger.

Fenris stieß ein drohendes Knurren aus und sträubte das Nackenfell, und Indiana tastete ganz automatisch in seiner Jackentasche nach Streichhölzern.

«Sind Sie wahnsinnig geworden?«Der Soldat ergriff seine Hand und schlug sie so grob zur Seite, daß das Streichholzbriefchen davonflog. Sein Gesicht hatte vor Schrecken jede Farbe verloren.»Wollen Sie uns in die Luft jagen?«

Indiana blickte ihn eine Sekunde lang betroffen an, bevor er überhaupt begriff, was der Soldat meinte.»Oh«, murmelte er kleinlaut.»Entschuldigung.«

Der Soldat zog eine Taschenlampe unter seiner Jacke hervor und schaltete sie ein. Ein bleicher, zitternder Lichtstrahl fiel an Indiana, Quinn und dem Hund vorbei ins Innere des Raums, als er die Lampe darauf richtete.

«Warten Sie«, sagte er.»Hier muß irgendwo Licht sein. Ich habe gesehen, wie sie Kabel verlegt haben.«

Er trat an Indiana vorbei in den Laderaum, machte sich eine Zeitlang im Dunkel darin zu schaffen — und dann glommen unter der Decke ein halbes Dutzend trüber Glühbirnen auf.

Und Indiana hielt überrascht den Atem an, als er sah, was sich in dem Raum befand.

Der Großteil des vorhandenen Platzes wurde von einem sorgfältig zusammengeschweißten Metallgerüst eingenommen, in dem sich ein halbes Dutzend fast meterdicker und gut sechsmal so langer Metallzylinder befanden. Ihre vorderen Enden waren feuerrot angestrichen, während sich an den hinteren, schlanker zulaufenden Enden drei pfeilförmige, dreieckige Flossen befanden.

Mabel wollte etwas sagen, aber in diesem Moment hörten sie ein Geräusch: ein Geräusch, das ganz und gar nicht hierhergehörte. Es klang fast wie Schritte, aber es kam von unten — nur, daß unter ihren Füßen der Rumpf der Dragon war, und sonst absolut nichts mehr.

Verwirrt blickte Indiana sich um und erinnerte sich erst jetzt wieder an den haarfeinen Lichtstreifen, den er bemerkt zu haben glaubte. Und jetzt sah er auch, woher dieser gekommen war. In der Mitte des Raums gab es eine gewaltige zweiteilige Klappe, die durch eine komplizierte Mechanik aus Zahnrädern, Stangen und Ketten offenbar geöffnet werden konnte…

Er gab Mabel mit einer Geste zu verstehen, daß sie zurückbleiben sollte, ging vorsichtig weiter — und stockte erschrocken mitten im Schritt, als der Boden unter ihm zu ächzen begann.

Die Klappe war nicht verriegelt. Wäre er mit seinem ganzen Körpergewicht draufgetreten, wäre er vermutlich einfach in die Tiefe gestürzt…

Hastig ließ er sich auf die Knie sinken, löste seine Peitsche vom Gürtel und wickelte sich das Ende um den linken Arm. Dann reichte er den Griff an Quinn weiter.»Festhalten!«befahl er knapp.

Quinn gehorchte, und auch der Soldat machte keine Einwände mehr, sondern sah ihn nur verstört an, als er sich behutsam vorbeugte und die gespreizten Finger der Rechten auf die Klappe legte.

Es war genauso, wie er vermutet hatte: Die Klappe war geschlossen, aber nicht verriegelt. Er mußte sich nicht einmal besonders anstrengen, um die eine Hälfte ganz herunterzudrücken.

Eiskalter Wind schlug ihm ins Gesicht, und obwohl er sich mit beiden Knien auf sicherem Boden befand und sich noch dazu an der Peitsche festhielt, schwindelte ihm im ersten Moment. Unter ihm lag nichts als das Meer, scheinbar Meilen entfernt.

«Was… tun Sie da?«fragte der Soldat nervös.

Indiana antwortete nicht, sondern beugte sich weiter vor.

Und was er sah, überraschte ihn nicht einmal mehr — aber es ließ ihn trotzdem erstaunt die Augen aufreißen.

Jemand war hier gewesen. Jemand, den sie offensichtlich gestört und der in aller Hast geflohen war, auf einem Weg, der selbst Indiana Jones einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ: Unter der Dragon, nur nachlässig an der Klappe und ein paar durch den Rumpf getriebenen Drähten befestigt, baumelte eine Strickleiter. Der Eindringling mußte sich wie ein Trapezkünstler daran entlanggehangelt haben…

«Verdammt, was ist los?«fragte der Soldat hinter ihm.

Indiana richtete sich auf und sah ihn an.»Jemand war hier«, sagte er.»Unmittelbar vor uns. Wir haben ihn nur knapp verpaßt.«

«Quatsch!«meinte der Soldat überzeugt.»Wie sollte er wohl hier hereingekommen sein?«

Indiana trat einen Schritt von der Klappe zurück und machte eine einladende Handbewegung.»Sehen Sie selbst nach.«

Der Mann zögerte. Er wurde bleich und trat sogar im ersten Moment einen weiteren Schritt zurück — aber dann schürzte er trotzig die Lippen, legte sein Gewehr auf den Boden und griff nach der Peitschenschnur, die Quinn ihm hinhielt.

Er war noch bleicher, als er sich nach ein paar Augenblicken wieder aufrichtete und Indiana anstarrte.»Das ist… unglaublich«, murmelte er.»Ich sehe es, aber ich… ich glaube es einfach nicht.«

«Tun Sie es besser«, sagte Indiana grimmig.»Und bis Sie sich dazu durchgerungen haben, gehen Sie vielleicht hinunter und holen Lestrade. Ich glaube, das hier dürfte ihn interessieren.«

Der Mann verließ den Frachtraum so schnell, daß es schon einer Flucht ähnelte. Indiana und Quinn schlossen mit vereinten Kräften die Klappe im Boden wieder, und diesmal überzeugte Indiana sich davon, daß sie auch wirklich verriegelt war. Erst dann wagte er, aufzuatmen und sich wieder zu Dr. Rosenfeld herumzudrehen.»Was… was, um Gottes willen, ist das?«fragte sie verstört.

«Ich glaube«, sagte er,»das ist der Grand, warum niemand hier heraufdurfte. Der wirkliche Grund unserer Reise. Erinnern Sie sich noch, was Bates über die Dragon erzählte? Daß sie ein Versuchsschiff gewesen sei? Ein Prototyp, der niemals in Serie gegangen ist?«

«Sicher«, erwiderte Doktor Rosenfeld.»Und?«

«Jetzt wissen Sie auch, warum«, sagte Indiana.»Die Dragon ist kein Forschungsschiff. Das ist sie niemals gewesen. Sie ist ein Bomber. «Er deutete anklagend mit der Hand auf die riesigen Zylinder in dem Metallgestell hinter ihnen.»Das da sind Torpedos!«

Es dauerte nur wenige Minuten, bis Lestrade kam. Und er war nicht allein: In seiner Begleitung befanden sich Dr. Browning, Morton und auch Bates. Und vier bewaffnete Soldaten, die wie durch Zufall einen perfekten Halbkreis um Indiana, Dr. Rosenfeld und den Eskimo bildeten.

Lestrade ließ Indiana gar nicht erst zu Wort kommen, sondern brüllte sofort los:»Wer, zum Teufel, hat Ihnen erlaubt, in diesen Teil des Schiffes zu gehen?!«

«Niemand«, antwortete Indiana,»aber — «

Lestrade hörte nicht zu, sondern fuhr mit einer wütenden Bewegung den Posten an, der vor Quinns Tür gestanden hatte:»Und Sie, Leutnant, machen sich auf ein Kriegsgerichtsverfahren gefaßt! Sie hatten strengsten Befehl, niemanden hier hereinzulassen!«

«Das hat er auch nicht«, sagte Indiana ruhig.

Im ersten Moment glaubte er fast, daß Lestrade auch jetzt nicht auf seine Worte reagieren würde, aber dann drehte sich der Colonel langsam um und funkelte ihn an. Sein Gesicht war nicht nur zornig, der Ausdruck darauf war beinahe haßerfüllt.

«Ich habe die Tür geöffnet«, stellte Indiana fest.»Gegen seinen Willen übrigens.«

«Dann hätte er Sie daran hindern müssen!«

«Und wie?«fragte Indiana mit einem süffisanten Lächeln.»Sollte er Quinn, Dr. Rosenfeld und mich vielleicht erschießen?«

«Was, zum Teufel, hatten Sie überhaupt hier zu suchen?«schnappte Lestrade.

«Gar nichts«, erwiderte Dr. Rosenfeld.»Wir wollten Dr. Jones’ Freund und den Hunden einen Besuch abstatten. Aber eines der Tiere ist entwischt und fing an, an der Tür zu kratzen und zu bellen. «Sie deutete auf Fenris, der sich neben Quinns Füßen niedergelassen hatte und Lestrade und die ihn begleitenden Soldaten mißtrauisch musterte.

«Sie sollten froh sein, daß der Hund so wachsam war«, sagte Indiana, bevor Lestrade abermals lospoltern konnte.»Jemand war hier drinnen. Und ohne das Tier hätten wir es niemals bemerkt.«

«Das ist völlig ausgeschlossen!«behauptete Lestrade.»Es sei denn, und damit wandte er sich wieder an den Wachsoldaten, der unter seinem Blick zusammenfuhr wie ein geprügelter Hund,»Sie sind nicht die einzigen, die diese Schlafmütze da vorbeigelassen hat.«

«Der Mann hat sich nichts zuschulden kommen lassen«, beharrte Indiana. Der Posten warf ihm einen raschen dankbaren Blick zu, der Lestrade übrigens keineswegs entging, und Indiana beeilte sich zu erklären, auf welchem Wege der unbekannte Eindringling in den Torpedoraum hinein- und auch wieder herausgekommen war. Lestrade hörte ihm schweigend zu, aber der Ausdruck, der sich dabei auf seinem Gesicht ausbreitete, machte sehr deutlich, was er von Indianas Ausführungen hielt.

«Das ist ausgeschlossen!«behauptete er, als Indiana zu Ende berichtet hatte.»Was Sie da erzählen, ist völlig unmöglich.«

«Vielleicht aber auch nicht«, mischte Browning sich ein. Lestrade warf ihm einen wütenden Blick zu, aber der Regierungsbeauftragte fuhr unbeirrt fort:»Ein wirklich geschickter Mann könnte es schaffen. Voraussetzung wäre allerdings, daß er Nerven wie Drahtseile hat.«

«Ja«, grollte Lestrade.»Oder fliegen kann!«

«Was ist los mit Ihnen, Colonel?«fragte Indiana.»Haben Sie Angst davor zuzugeben, daß sich ein Verräter an Bord befindet? Oder wollen Sie nur nicht eingestehen, daß Sie sich geirrt haben, was die beiden Deutschen angeht?«

«Wie meinen Sie das?«zischte Lestrade.

Indiana lächelte abfällig.»Nun, Major von Ludolf und Loben sitzen ja wohl offensichtlich immer noch in ihrer Kabine. Sie können es kaum gewesen sein.«

«Und für meine Mannschaft lege ich die Hand ins Feuer«, sagte Lestrade wütend.»Für jeden einzelnen Mann.«

«Tja, dann bleibt ja nur noch eine Möglichkeit übrig«, grinste Indiana spöttisch.»Dann muß es wohl einer von uns gewesen sein. Oder wir haben einen blinden Passagier an Bord.«

«Was bedeutet das alles hier überhaupt?«fragte Dr. Rosenfeld, ehe Lestrade antworten und damit wahrscheinlich vollends einen Streit vom Zaun brechen konnte.

Lestrades Kopf ruckte mit einer zornigen Bewegung herum. Seine Augen blitzten, als er die dunkelhaarige Neurologin anstarrte.»Das geht Sie überhaupt nichts an!«

«Ich glaub’ doch, daß uns das etwas angeht«, meinte Indiana.»Wissen Sie«- er deutete auf Browning —»Doktor Browning und Kapitän Morton haben mich überredet, an einer wissenschaftlichen Mission teilzunehmen. Wenn ich jetzt an Bord plötzlich genügend Waffen finde, um einen Zweiten Weltkrieg damit zu beginnen, dann fange ich schon an, mir die eine oder andere Frage zu stellen.«

Lestrade starrte ihn an und schwieg verbissen.

Indiana wandte sich an Browning.»Also? Und kommen Sie mir nicht wieder mit irgendwelchen Ausflüchten, wie Fragen der Landessicherheit, oder geheimnisvollen Andeutungen. Ich will jetzt endlich die Wahrheit wissen. Was hat das alles hier zu bedeuten?«

Browning druckste einen Moment herum, dann warf er einen beinahe Verzeihung heischenden Blick in Lestrades Richtung und seufzte:»Also gut, ich denke, Sie haben ein Recht, es zu erfahren. Aber nicht hier. Ich schlage vor, wir gehen hinunter und verlegen die Unterredung in Colonel Lestrades Kabine. Das ist vielleicht der einzige Raum an Bord, wo wir wirklich ungestört sind.«

Lestrades Blick verdüsterte sich noch weiter, aber er widersprach nicht mehr, sondern wandte sich mit einer ruckartigen Bewegung um, ging zum Ausgang — und blieb plötzlich wie angewurzelt stehen.

Und auch Indiana und die anderen sahen alarmiert auf. Ohne daß es einer von ihnen bisher bemerkt hätte, hatte Fenris sich von seinem Platz neben Quinns Füßen erhoben und war zu einem der Torpedoregale gelaufen. Jetzt zerrte er, knurrend und heftig mit den Vorderläufen scharrend, an einem Stück Zeltplane, das scheinbar achtlos darunter liegengelassen worden war. Unter der Plane kam ein schwarzes schweres Metallkästchen zum Vorschein, auf dessen Vorderseite eine Anzahl roter und grüner Lichter glommen und auf dem sich eine in zahlreiche Segmente unterteilte Skala befand. Ein daumendickes Kabel ringelte sich aus dem Kästchen hervor und verschwand in einem Loch, das in den Boden gebohrt worden war.

«Was ist das?«fragte Browning alarmiert. Lestrade antwortete nicht, sondern machte nur eine abwehrende Bewegung mit der Hand, streckte den anderen Arm aus und versuchte, den Hund zurückzuziehen. Fenris knurrte drohend und zeigte ihm die Zähne, bis Quinn den Husky am Halsband fortzerrte.

Lestrade zog die Plane jetzt ganz herunter, und nun erkannte jeder von ihnen, was der Hund da gefunden hatte:

Es war ein Funkgerät.

Bates stieß einen halblauten, anerkennenden Pfiff durch die Zähne aus, und der Ausdruck auf Brownings Gesicht verwandelte sich von Betroffenheit in pures Erschrecken.

Indiana sagte:»Vielleicht glauben Sie mir jetzt, Colonel. Oder denken Sie vielleicht immer noch, das Ding da wäre von einem Hirngespinst aufgestellt worden?«

Lestrade antwortete nicht. Dafür ließ sich jetzt auch Dr. Rosenfeld neben Indiana und dem Colonel niedersinken und blickte abwechselnd sie und das blinkende Kästchen unter dem Regal an.»Was ist das?«fragte sie.

«Ein Funkgerät«, antwortete Indiana Jones düster.»Aber eine ganz besondere Art von Funkgerät. Ein Peilsender, um genau zu sein.«

Eine halbe Stunde später versammelten sie sich alle in Lestrades Privatkabine. Die Kajüte war zwar größer als jede andere an Bord der Dragon, aber sie war trotzdem noch klein und mit sechs Personen eindeutig überfüllt.

Lestrade hatte trotz Indianas ausdrücklicher Forderung die beiden deutschen Offiziere bisher nicht freigelassen; aber immerhin war es Indiana gelungen, daß auch Quinn und Dr. Rosenfeld an der Unterredung teilnehmen durften. Bedachte er den Ruf, der Colonel Lestra-de vorauseilte, dann war das im Grunde schon mehr, als er eigentlich hätte erwarten dürfen.

Aber auch an Lestrade war die unheimliche Spannung nicht spurlos vorübergegangen. Auch er wirkte nervös, auch er wirkte fahrig und aufgelöst, und auch er hatte den größten Teil seiner Ruhe und Selbstsicherheit eingebüßt. Wozu allerdings in nicht unerheblichem Maß der Peilsender beigetragen hatte — und der mittlerweile unzweifelhafte Umstand, daß es außer von Ludolf und Loben noch mindestens einen weiteren deutschen Spion an Bord gab.

«Also«, begann Indiana, als Lestrade auch nach weiteren Minuten keinerlei Anstalten machte, das Gespräch von sich aus zu eröffnen,»ich denke, daß die Zeit für Ihre Geheimniskrämerei endgültig vorbei ist, Colonel. Wir erwarten eine Erklärung.«

Lestrades Blick irrte unsicher zwischen ihm, Dr. Rosenfeld, Quinn und Browning hin und her. Er sagte nichts, aber sein Gesichtsausdruck machte sehr deutlich, was er von der Anwesenheit der Zivilisten in diesem Raum hielt.

«Bitte, Colonel«, forderte Browning.»Dr. Jones hat recht. Wir sollten ihm und den anderen sagen, warum wir wirklich hier sind.«

«Das gefällt mir nicht«, sagte Lestrade. Er deutete auf Rosenfeld und Quinn.»Diese beiden da sind Zivilisten, und — «

«— und das hier ist ganz eindeutig ein Kriegsschiff«, unterbrach ihn Indiana in scharfem Tonfall.»Ich weiß. Aber niemand hat uns gesagt, daß es das ist. Hätte man es getan, wären wir nicht hier. «Er sah beifallheischend in die Runde und erntete Kopfnicken, zu seiner Überraschung nicht nur von Quinn, Dr. Rosenfeld und Morton, sondern auch von Bates.

«Dieses Schiff ist vollgestopft mit Waffen. Und wir verlangen jetzt endlich zu wissen, warum.«

«Es könnte sein, daß wir…«, Lestrade zögerte und sah unsicher, beinahe flehend in Brownings Richtung, der seinem Blick jedoch auswich,»…daß wir uns wehren müssen«, sagte er schließlich.

«Quatsch!«meinte Dr. Rosenfeld nachdrücklich.»Gegen wen? Soweit ich weiß, befinden sich die USA im Moment mit keinem Land im Kriegszustand. Ich habe allein in diesem Raum acht Torpedos gezählt, und ich verstehe zwar nichts davon, aber ich gehe jede Wette ein, daß jeder einzelne groß genug ist, einen Schlachtkreuzer zu versenken. Und ich gehe ebenfalls jede Wette ein, daß die übrigen Laderäume, die Sie so sorgsam vor uns abgeschlossen haben, Colo-nel, bis unters Dach mit Waffen vollgestopft sind.«

Lestrades Blick bewies, daß sie mit ihrer Vermutung der Wahrheit ziemlich nahe gekommen war. Aber er schwieg weiter. Und schließlich war nicht er es, sondern Browning, der das Schweigen beendete.»Sie haben recht, Dr. Rosenfeld«, sagte er.»In den Laderäumen befinden sich Waffen.«

Er hob rasch und begütigend die Hand, als Dr. Rosenfeld auffahren wollte, und fuhr fort:»Und auch Sie haben recht, Dr. Jones. Die Dragon ist kein Forschungs-, sondern ein Kriegsschiff. Vielleicht das einzige Luftschiff, das jemals zu Kriegszwecken gebaut wurde, aber mit Sicherheit das beste.«

Indiana dachte an das Gespräch, das er in der kleinen Yacht auf dem Hudson geführt hatte, und schluckte die wütende Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag. So ruhig wie möglich sagte er:»Und wir sind auch nicht nur unterwegs, um das Schicksal von Professor van Heslings Begleitern aufzuklären.«

Browning nickte bekümmert.»Nicht nur«, gestand er.»Wenn ich ehrlich sein soll — dies ist nicht einmal der Hauptgrund unserer Reise.«

«Und welcher ist es dann?«fragte Indiana.»Und welche Rolle spielen wir überhaupt dabei?«Er deutete auf Mabel Rosenfeld, Quinn und sich.

Jetzt war es Lestrade, der einen Augenblick herumdruckste.»Es ist… nicht so einfach zu erklären«, sagte er schließlich.»Aber ich werde es versuchen. Sie alle, auch Sie, Dr. Rosenfeld, und ich denke, selbst Sie, Mr. Quinn, kennen die derzeitige politische Lage. Europa ist zu einem Pulverfaß geworden, und im Moment ist der mächtigste Mann dort leider ein Verrückter, der gern mit Streichhölzern spielt. Sie erinnern sich, was der…«, er korrigierte sich hastig,»…was unser Auftraggeber Ihnen vor Beginn dieser Reise gesagt hat? Uns liegen sehr sichere Hinweise vor, daß Hitler-Deutschland einen Überfall auf eines seiner Nachbarländer plant. Und höchstwahrscheinlich wird es nicht dabei bleiben. Ich will Ihnen nichts vormachen: Die Vereinigten Staaten von Amerika rechnen ernsthaft damit, daß noch in diesem Jahr ein Krieg in Europa ausbrechen wird.«

«Und was hat das alles mit uns zu tun?«fragte Dr. Rosenfeld.

«Ich fürchte, eine ganze Menge«, meinte Browning bedrückt.»Sehen Sie, Dr. Rosenfeld, nachdem wir Professor van Hesling gefunden haben, fragten wir uns natürlich, was das Schiff in diesem Teil des Ozeans zu suchen hatte. Wir haben gewisse Nachforschungen angestellt, und was wir herausgefunden haben, war mehr als nur beunruhigend. Dieses Schiff war ganz gewiß nicht unterwegs, um das Klima im Polarmeer zu erforschen.«

«Hören Sie endlich auf, wie die Katze um den heißen Brei herum-zuschleichen«, sagte Indiana.»Was haben Sie herausgefunden?«

«Die Deutschen bauen eine Raketenbasis im Polarmeer«, stieß Lestrade hervor.

Sekundenlang herrschte fassungslose Stille in der kleinen Kabine. Nicht nur Indiana sah den Colonel ungläubig an. Nur Browning wirkte weder überrascht noch erschrocken, aber noch niedergeschlagener als bisher. Als Indiana den Kopf drehte und ihn fragend ansah, nickte er.

«Ich fürchte, Colonel Lestrade hat nur zu recht«, sagte er.»Alles deutet darauf hin. Die Besatzung des Schiffs, die Güter, die es an Bord hatte, sein Kurs, gewisse… Transporte, die im Lauf des vergangenen Jahres Cuxhaven und Hamburg verlassen haben, ohne daß wir uns bisher einen Reim darauf machen konnten. «Er breitete in einer hilflosen Geste die Hände aus.»Wir wissen aus zuverlässiger Quelle, daß die Deutschen schon seit geraumer Zeit an der Entwicklung ferngelenkter Raketengeschosse arbeiten, die auch über große Entfernungen hinweg Städte oder Hafenanlagen zerstören können. Es gibt da eine kleine Gruppe äußerst fähiger Wissenschaftler um einen gewissen Dr. Wernher von Braun, die uns auf diesem Gebiet um Längen voraus ist.«

«Aber warum sollten sie diese Basis ausgerechnet im Polarmeer bauen?«fragte Indiana ungläubig.

Browning seufzte.»Nun, dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen ist dieses Seegebiet selbst für moderne Schiffe kaum zu erreichen. Das ist ideal, um das Unternehmen geheimzuhalten. Selbst wenn wir es wollten, würde es uns verdammt schwerfallen, einen Spion dort einzuschleusen. Und zum anderen…«Diesmal zögerte er länger, und nicht nur Indiana spürte, wie schwer es ihm fiel weiterzusprechen.

«Wenn es in Europa zum Krieg kommt«, sagte er schließlich,»dann ist es beinahe unvermeidlich, daß über kurz oder lang auch die Vereinigten Staaten mit hineingezogen werden.«

«Wieso?«fragten Dr. Rosenfeld und Bates wie aus einem Mund.

«Glauben Sie wirklich, daß die Vereinigten Staaten von Amerika tatenlos zusehen werden, wie sich ein Wahnsinniger die ganze Welt unter den Nagel reißt?«fragte Lestrade an Brownings Stelle.

Indiana nickte zögernd.»Ich glaube, ich verstehe. Sie fürchten, diese Basis und die Raketen, die darauf gebaut und stationiert werden, könnten die Vereinigten Staaten direkt bedrohen.«

«Das ist… ungeheuerlich!«empörte sich Dr. Rosenfeld.

Browning nickte zustimmend, bis er begriff, daß ihre Worte einen völlig anderen Sinn hatten, als er annahm.

«Das werden Sie bereuen!«versprach Dr. Rosenfeld aufgebracht.»Sie haben Dr. Jones, mich und einen todkranken Mann auf diese Reise mitgenommen, obwohl Sie ganz genau wußten, daß sie nur ein Vorwand für einen…«, sie suchte krampfhaft nach Worten und fand keine,»einen… einen… einen Privatkrieg ist«, stieß sie schließlich hervor.

«Jetzt tun Sie mir unrecht, Dr. Rosenfeld«, sagte Browning ruhig.»Alles, was wir Ihnen über Odinsland und das, was Morton darauf gefunden hat, erzählt haben, entspricht der Wahrheit. Es gibt diesen Berg, und es gibt auch dieses Wikingerschiff. Die Fotos sind echt, darauf gebe ich Ihnen mein Ehrenwort.«

«Aber sie sind nicht der Grund, weswegen wir hier sind«, erwiderte Dr. Rosenfeld aufgebracht.

«Doch«, widersprach Browning.»Wir suchen wirklich Odinsland. Und wir werden Dr. Jones, seinen Begleiter und ein Forscherteam unter der Leitung der beiden dänischen Wissenschaftler auch dort absetzen.«

«Und natürlich auch die beiden deutschen Offiziere«, vermutete Indiana.

Browning lächelte flüchtig.»Natürlich«, sagte er.

«Und die Dragon?«fragte Indiana.

«Wir fliegen weiter«, antwortete Lestrade.»Es ist nicht einmal eine Tagesreise von hier bis zu dem Punkt, an dem sich die Raketenbasis vermutlich befindet. Wir sind in achtundvierzig Stunden zurück.«

«Oder überhaupt nicht.«

Lestrade machte eine abfällige Handbewegung.»Jetzt überschätzen Sie die Deutschen, Dr. Jones«, sagte er.»Glauben Sie mir, Sie haben nur einen Bruchteil von dem gesehen, was sich wirklich an Bord der Dragon befindet. Wenn wir wollten, könnten wir es mit einer ganzen Flotte aufnehmen. Und wir haben den Vorteil der Überraschung auf unserer Seite. Sie ahnen nicht einmal, daß wir kommen.«

Dr. Rosenfelds Augen wurden schmal, als sie den Colonel ansah.»Einen Moment«, rief sie.»Ich verstehe Sie doch richtig? Sie haben vor, diese Basis zu suchen und zu zerstören?«

Lestrade blickte sie kühl an und nickte.

«Das wäre ein kriegerischer Akt«, gab Indiana zu bedenken.

«Das kommt auf die Auslegung an«, meinte Lestrade.»Wenn es diese Basis wirklich gibt und wenn die Deutschen dort tun, was wir vermuten, dann stellt ihre bloße Existenz schon fast eine Kriegserklärung dar. Und außerdem würde sich Hitler niemals die Blöße geben, ihre Existenz einzugestehen. Offiziell gibt es diese Basis nicht. Er kann sich schlecht in der Öffentlichkeit darüber beschweren, daß wir etwas zerstören, dessen Existenz er unter Eid ableugnet.«

«Falls Sie sie zerstören«, sagte Indiana. Diesmal gelang es Lestrade nicht mehr ganz, seinen Ärger zu verhehlen, aber Indiana fuhr ungerührt fort.»Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, mein lieber Colonel, was aus uns und den Männern wird, die uns begleiten? Ich meine, für den Fall, daß Sie nicht zurückkommen.«

«Wir werden zurückkommen«, widersprach Lestrade überzeugt. Und er tat es in einem Ton, der Indiana einsehen ließ, wie sinnlos jedes weitere Wort in dieser Richtung war.

«Da mache ich nicht mit!«rief Dr. Rosenfeld.»Ich verlange, daß Sie auf der Stelle den Kurs ändern und Dr. Jones und mich an Land absetzen.«

Lestrade gab sich nicht einmal die Mühe zu antworten. Und Browning schüttelte nur den Kopf.»So leid es mir tut, Dr. Rosenfeld«, sagte er,»aber es geht nicht. Nicht nach dem, was wir dort oben gefunden haben.«

«Ich denke nicht daran, an Bord eines Luftschiffs zu bleiben, das unterwegs ist, um zahllose unschuldige Menschen umzubringen«, empörte sich Dr. Rosenfeld.

«Ich akzeptiere und achte diese Einstellung, Dr. Rosenfeld«, antwortete Browning traurig.»Trotzdem: Wir können den Kurs nicht ändern. Nachdem wir dieses Funkgerät gefunden haben, müssen wir davon ausgehen, daß unser Unternehmen verraten wurde.«

«Dann ist es doch sowieso sinnlos geworden«, sagte Dr. Rosenfeld.

«Ganz im Gegenteil, Dr. Rosenfeld«, erwiderte Browning.

«Dieser Peilsender war vielleicht der letzte Beweis, den wir noch brauchten. Warum sollten sich die Deutschen — oder irgendwer sonst — die Mühe machen, einen Spion bei uns einzuschleusen und unseren Kurs mittels eines Funkgerätes zu verfolgen, wenn es dort oben nichts gibt, was wir entdecken könnten?«

«Aber sie sind jetzt gewarnt«, wandte Indiana ein.»Wenn es diese Basis wirklich gibt, werden sie Ihnen einen heißen Empfang bereiten.«

Lestrade lachte abfällig.»Gewarnt oder nicht — sie haben einfach keine Zeit, sich auf uns vorzubereiten«, sagte er.»Sehen Sie, Dr. Jones, die Dragon ist das einzige Fahrzeug auf dieser weiten Welt, das die Basis innerhalb von vierundzwanzig Stunden erreichen kann. Selbst wenn die Deutschen gewarnt wurden und Hilfe angefordert haben, können sie auf keinen Fall früh genug da sein. Aber das ändert sich, wenn wir jetzt beidrehen und einen Umweg von zwei oder drei Tagen in Kauf nehmen. «Er schüttelte entschlossen den Kopf und machte eine Handbewegung.»Es bleibt dabei — wir setzen Sie und jeden, der dies wünscht, auf diesem Eisberg ab, falls wir ihn finden, und fliegen dann weiter.«

«Das heißt, Sie überlassen uns unserem Schicksal?«fragte Dr. Rosenfeld fassungslos.»Wenn Ihnen und dem Schiff etwas zustößt, dann sind auch wir verloren.«

«Keineswegs«, antwortete Browning.»Wir werden Sie mit genügend Lebensmitteln und allem Nötigen ausstatten, um zur Not Monate dort durchzustehen. Aber so lange werden Sie nicht warten müssen. Zeitgleich mit der Dragon sind zwei Polarschiffe der US-Navy ausgelaufen. Zu ihrer Ausrüstung gehört selbstverständlich auch ein Funkgerät. Sollte die Dragon nicht innerhalb der verabredeten Frist zurückkehren, dann können Sie einen Hilferuf absetzen. Sie werden dann innerhalb von drei oder vier Tagen abgeholt.«

Dr. Rosenfeld wollte abermals wütend widersprechen, aber in diesem Moment wurde die Tür zu Lestrades Kabine aufgerissen, und ein völlig aufgelöster Matrose stürmte herein. Lestrade fuhr herum und schnauzte den Mann an:»Was fällt Ihnen ein? Ich hatte gesagt, daß — «

«Der Berg, Sir!«unterbrach ihn der Soldat. Er mußte gerannt sein, denn sein Atem ging schnell, er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen.»Wir haben den Eisberg gefunden!«

Aus einer Höhe von fünf- oder sechstausend Fuß und einer Entfernung von vielleicht noch fünfzehn Meilen betrachtet, wirkte Odinsland weder gigantisch noch in irgendeiner Weise beeindruckend. Aber es war ganz zweifellos der Eisberg, den sie auf den Fotos gesehen hatten: Die Perspektive stimmte nicht, und auf dem Schwarzweiß-Foto, das noch dazu gegen die Sonne aufgenommen worden war, hatte er viel bedrohlicher und düsterer gewirkt. Trotzdem gab es keinen Zweifel daran, daß der treibende weiße Punkt tief unter ihnen die gesuchte Eisinsel war. Die Form stimmte, und Indiana mußte nur in Mortons Gesicht blicken, um auch noch den allerletzten Zweifel auszuräumen. Der Kapitän der POSEIDON war bleich vor Schreck. Seine Hände zitterten ganz leicht, und er hatte die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen und kaute darauf herum, ohne es überhaupt zu bemerken. Seine Augen waren groß und blickten beinahe glasig. Wenn Indiana jemals einen Menschen gesehen hatte, der Angst hatte, dann war es Morton in diesem Moment.

«Das gefällt mir nicht«, murmelte Lestrade neben ihm.

«Was?«Indiana sah verwundert auf.»Wir haben ihn doch schneller gefunden, als Sie erwartet haben, oder? Und ich denke, daß er groß genug ist, um bequem daran anlegen zu können.«

Lestrade schüttelte den Kopf, hob die Hand und deutete nach Norden, aber nicht genau auf den Berg, sondern auf den Horizont, genauer gesagt: einen Punkt ungefähr eine Handbreit darüber.»Ich meine nicht diese verdammte Eisscholle, sondern das da.«

Indianas Blick folgte seiner Geste, und Indiana war auch nicht der einzige, der leicht zusammenfuhr, als er begriff, was es war, das Co-lonel Lestrade solche Sorgen bereitete:

Im Norden, vielleicht hundert, vielleicht aber auch nur noch zwanzig oder dreißig Meilen entfernt, ballten sich schwarze, riesige Wolken zu einer dunklen Front. Dann und wann glaubte Indiana Jones im Inneren dieser gewaltigen Masse etwas aufblitzen zu sehen; vielleicht einen Blitz, vielleicht auch nur das Schimmern von Milliarden und Abermilliarden winziger Eiskristalle, die in den Wolken darauf warteten, über das Schiff herzufallen und es zu Staub zu zermahlen.

«Wo kommt dieser Sturm auf einmal her?«wunderte sich Browning.»Wir hatten herrliches Wetter während der letzten drei Tage.«

«Das bedeutet in dieser Meeresgegend überhaupt nichts«, knurrte Lestrade.»Hier zieht ein Sturm schneller auf, als Sie Ihren Namen buchstabieren können.«

«Es ist genau dasselbe«, flüsterte Morton.

«Was ist dasselbe?«Indiana tauschte einen alarmierten Blick mit Doktor Rosenfeld, ehe er sich zu Morton umwandte.

Der Kapitän der POSEIDON sah ihn nicht an, sondern starrte weiter auf die schwarze Wolkenformation im Norden.»Das Wetter war völlig ruhig«, flüsterte er.»Bis wir uns dem Berg näherten. Ein… ein Sturm zog auf. Und die Besatzung wurde immer nervöser. «Plötzlich fuhr er herum und wandte sich mit schriller, erregter Stimme an Lestrade.

«Drehen Sie bei, Colonel«, rief er aufgeregt.»Ich beschwöre Sie! Sie… Sie dürfen nicht näher herangehen. Wir werden alle sterben!«

Lestrade musterte ihn mit einer Mischung aus Verwirrung und Herablassung.»Sie sind ja verrückt«, sagte er.

Morton schüttelte fast hysterisch den Kopf.»Wir werden alle umkommen!«behauptete er.»Drehen Sie bei, Lestrade! Vielleicht ist es noch nicht zu spät!«

Er streckte die Arme aus, wie um Lestrade bei den Rockaufschlägen zu packen, aber der Colonel schlug seine Hände mit einer zornigen Bewegung beiseite und schrie ihn an:

«Sie sind ja wahnsinnig, Mann! Verlassen Sie das Ruderhaus, auf der Stelle!«

«Aber begreifen Sie denn nicht!?« Mortons Stimme war jetzt schrill, drohte sich zu überschlagen. »Es ist dieser Berg! Er ist verflucht! Ich weiß es!«

Lestrades Gesicht begann sich vor Zorn zu verdunkeln, und Doktor Rosenfeld trat hastig zwischen ihn und Morton, bevor die Situation vollends entgleisen konnte.»Bitte, Kapitän Morton«, sagte sie beschwörend.»Beruhigen Sie sich.«

Aber Morton beruhigte sich nicht; ganz im Gegenteil — er begann immer heftiger zu zittern, starrte abwechselnd Lestrade, den Eisberg und die Wolkenfront an und rang krampfhaft, aber vergebens nach Worten.

«Bringen Sie den Kerl raus!«verlangte Lestrade.»Ehe ich ihn in Ketten legen lasse.«

Doktor Rosenfeld wollte auffahren, aber Indiana begriff, wie sinnlos jedes weitere Wort war. Rasch trat er hinter den Kapitän, legte ihm die Hand auf die Schultern und führte ihn mit sanfter Gewalt zur Treppe. Einen Moment lang versuchte Morton sich zu sträuben, aber Indiana verstärkte den Druck seiner Hand, und dann konnte er fast spüren, wie alle Kraft aus Mortons Körper wich. Die Schultern des Kapitäns sanken nach vorne, und der Ausdruck von Erregung auf seinem Gesicht machte dem einer dumpfen, mit Entsetzen gepaarten Resignation Platz. Er versuchte nicht mehr sich zu wehren, als Indiana ihn mit sanfter Gewalt die Treppe hinauf und aus der Steuerkabine führte. Doktor Rosenfeld folgte ihnen, während die anderen bei Lestrade zurückblieben.

Oben wollte Morton stehenbleiben, aber Indiana schüttelte nur den Kopf und schob ihn weiter, und auch diesmal ließ der Kapitän es widerspruchslos geschehen. Erst als sie den Aufenthaltsraum durchquert hatten und in seiner Kabine angelangt waren, brach er das Schweigen wieder.

«Sie müssen mit Ihnen reden, Doktor Jones!«sagte er. Seine Stimme zitterte. Er war halb wahnsinnig vor Angst.»Bitte«, wiederholte er noch einmal.»Ich weiß, daß sie auf Sie hören. Sie dürfen nicht auf diesem Berg landen.«

Indiana drückte ihn mit sanfter Gewalt auf seine Liege hinab und sah Doktor Rosenfeld an. Sie schwieg, aber ihr Blick antwortete auf die unausgesprochene Frage, und dann griff sie in die Jackentasche und zog eine kleine Glasflasche hervor, aus der sie zwei winzige runde Tabletten auf ihre Handfläche schüttete.»Hier«, sagte sie, während sie Morton die Hand entgegenstreckte.»Nehmen Sie das. Das wird Sie beruhigen.«

Morton starrte die Tabletten an, ohne einen Finger zu rühren. Dann flog sein Kopf mit einem Ruck in den Nacken.»Sie halten mich für verrückt, wie?«fragte er.»Aber das bin ich nicht!«

Doktor Rosenfeld schüttelte den Kopf und lächelte milde.»Keineswegs, Kapitän«, antwortete sie.»Das ist nur ein leichtes Beruhigungsmittel. Sie sind erregt.«

«Aus gutem Grund!«erwiderte Morton.»Ich weiß, daß Sie mich für verrückt halten. Es klingt ja auch verrückt, ich gebe es zu. Aber es ist so. Keiner von uns wird lebend davonkommen, wenn wir auf diesem verdammten Eisklotz landen!«

Dann griff er nach kurzem Zögern doch nach den beiden Tabletten und schluckte sie.

«Sie glauben also, daß es gefährlich sein könnte, wenn wir auf Odinsland landen?«fragte Indiana.

Morton antwortete nicht, aber das war auch nicht nötig. Indiana spürte einfach, daß er recht hatte. Irgend etwas… schien von diesem Eisberg auszugehen. Etwas, das so stark war, daß er es trotz der enormen Entfernung, die sie noch von ihm trennte, dort unten im Steuerhaus gefühlt hatte. Irgend etwas geschah mit ihm, mit ihnen allen. Er war von allen hier an Bord vielleicht derjenige, der am allerbesten wußte, daß es Dinge auf der Welt gab, die mit Logik und dem normalen Menschenverstand nicht zu erklären waren, aber das hier war… etwas völlig anderes. Es war, als begännen sie alle sich zu verändern, auf eine ungute, unheimliche Art. Er dachte an die sonderbaren Gedanken und Empfindungen, die der Anblick des aufziehenden Unwetters in ihm ausgelöst hatte. Gedanken, die irgendwie… nicht seine eigenen zu sein schienen. Er schüttelte die Vorstellung ab.

«Es ist genau wie auf der POSEIDON«, murmelte Morton leise.»Es fängt wieder an.«

«Ich fürchte, das ist ein bißchen zu wenig, um Colonel Lestrade zu überzeugen«, meinte Indiana.

Morton blickte ihn an.»Ich weiß«, sagte er.»Aber es ist so. Wir… wir werden alle umkommen.«

«Ich werde noch einmal mit Lestrade sprechen«, versprach Indiana.»Ich glaube nicht, daß er auf mich hören wird, aber ich werde es wenigstens versuchen.«

Morton nickte dankbar, und Indiana und Doktor Rosenfeld verließen die Kabine.

«Was glauben Sie?«fragte Indiana.»Ist er einfach durchgedreht, oder — «

«Der Mann hat Angst«, antwortete Doktor Rosenfeld überzeugt.»Er ist fast verrückt vor Angst.«

«Das habe ich auch gemerkt«, sagte Indiana ungehalten.»Ich frage mich nur, ob er Grund dazu hat.«

«Es gibt keine grundlose Angst«, erwiderte Doktor Rosenfeld.»Es spielt keine Rolle, ob die Gefahr eingebildet oder echt ist, vor der wir Angst haben, verstehen Sie?«Sie hob die Hand und tippte sich mit Zeige- und Mittelfinger gegen die Stirn.»Es passiert alles hier oben.«

«Eine wirklich erschöpfende Auskunft«, sagte Indiana enttäuscht.

«Sie wollten meine Meinung als Wissenschaftlerin, oder?«entgegnete Doktor Rosenfeld spitz. Dann wurde sie übergangslos sehr ernst.»Wenn Sie allerdings an meiner privaten Meinung interessiert sind…«

«Das bin ich in der Tat«, erwiderte Indiana.

Doktor Rosenfeld druckste einen Moment herum.»Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll«, begann sie umständlich.»Aber ich…«

«Ja?«

«Ich fühle mich auch… seltsam«, gestand sie nach einem abermaligen Zögern.»Irgend etwas an diesem Berg macht mir angst.«

Und Indiana Jones ging es ebenso. Es war, als hätte es erst Doktor Rosenfelds Worte bedurft, damit er es sich selbst eingestand, aber gefühlt hatte er es die ganze Zeit über: Diese gigantische schwimmende Eisinsel machte auch ihm angst. Ganz entsetzliche Angst sogar.

Hastiger, als ihm selbst lieb war, wandte er sich um und deutete zum Bug der Dragon.»Kommen Sie, Doktor Rosenfeld«, sagte er.»Sehen wir nach, ob er recht hat.«

Als sie den Aufenthaltsraum durchquerten, begegneten sie den beiden deutschen Offizieren. Von Ludolf und Loben standen an einem der Aussichtsfenster und unterhielten sich mit Erikson, der gebannt auf den winzigen weißen Fleck im Meer hinabblickte. Als er das Geräusch der Tür hörte, sah von Ludolf kurz auf, entschuldigte sich mit einer Geste bei Erikson und kam auf Indiana und Doktor Rosenfeld zu.

«Doktor Jones?«begann er. Indiana blieb stehen und musterte den Deutschen neugierig.

«Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Doktor Jones«, sagte von Ludolf.

«Bedanken?«

Von Ludolf nickte.»Ich habe erfahren, daß Sie sich in den letzten Tagen mehrmals für unsere Freilassung eingesetzt haben. Ich danke Ihnen dafür.«

«Dazu besteht kein Grund«, antwortete Indiana — unfreundlicher, als er eigentlich wollte.»Ich habe es nicht aus Sympathie getan oder weil Sie zufällig diese Uniform tragen. Ich war nur nicht ganz so von Ihrer Schuld überzeugt wie Colonel Lestrade.«

Jeder andere hätte verärgert auf solche Worte reagiert, aber in von Ludolfs Gesicht zeigte sich nicht die mindeste Regung.»Das weiß ich«, sagte er.»Und darum danke ich Ihnen um so mehr. Jemand, der seinen Feind verteidigt, wenn er von seiner Unschuld überzeugt ist, muß schon ein Mann von Ehre sein.«

«Ich wußte gar nicht, daß wir Feinde sind«, erwiderte Indiana scharf.

«Das sind wir auch nicht, Doktor Jones«, entgegnete von Ludolf.»Und wer weiß, vielleicht werden wir sogar noch Freunde.«

«Ganz bestimmt nicht«, meinte Indiana unfreundlich, maß den deutschen Wehrmachtsoffizier mit einem eisigen Blick und ging weiter.

«Warum waren Sie so abweisend zu ihm?«fragte Doktor Rosenfeld, als sie außer Hörweite waren.

«War ich das?«erwiderte Indiana. Dabei wußte er die Antwort genau. Er war nicht nur abweisend, er war feindselig gewesen, und das eigentlich ohne Grund. Der Major hatte völlig recht: Indiana war von Anfang an ganz und gar nicht von seiner Schuld überzeugt gewesen, wie zum Beispiel Lestrade und wahrscheinlich auch die meisten anderen an Bord. Wieso er jetzt die ausgestreckte Hand, die von Ludolf ihm geboten hatte, so grob beiseite schlug, das konnte er selbst nicht sagen.

Sie gingen zurück ins Steuerhaus. Der Eisberg war nicht sichtbar näher gekommen, aber die Wolkenfront im Osten war doppelt so hoch und breiter geworden. Es waren jetzt keine einzelnen schwarzen Wolken mehr, sondern eine massive Mauer.

«Wie sieht es aus?«erkundigte sich Indiana überflüssigerweise.

Lestrade antwortete gar nicht, aber Browning warf ihm einen langen, besorgten Blick zu.»Nicht sehr gut«, gestand er nach einer Weile.»Das Unwetter kommt schnell näher. Ich fürchte, es wird hier sein, bevor wir Odinsland erreichen.«

«Können wir trotzdem landen?» fragte Indiana.

Diesmal antwortete Lestrade. Er zuckte mit den Schultern.»Möglicherweise«, sagte er.»Es ist nicht gesagt, daß der Sturm sehr schlimm ist. Es ist nicht einmal gesagt, daß er uns wirklich einholt. Diese Polarstürme sind unberechenbar. Sie wechseln manchmal von einer Minute auf die andere die Richtung.«

«Und wenn nicht?«

Wieder hob Lestrade die Schultern.»Wir könnten versuchen, ihn zu überfliegen«, sagte er.»Aber das würde Zeit kosten. Zeit, die wir nicht haben.«

«Spielt es denn eine Rolle, ob wir ein paar Stunden früher oder später ankommen?«fragte Doktor Rosenfeld.

Diesmal antwortete Lestrade nicht. Da sagte Bates:»Sie haben Angst, daß Sie zu spät zu dieser verdammten Basis kommen, nicht wahr?«

Lestrade starrte ihn an und schwieg. In seinem Gesicht arbeitete es.

«Sehen Sie doch endlich ein, daß es sowieso zu spät ist!«rief Bates wütend.»Die Deutschen sind längst gewarnt.«

«Woher wollen Sie das wissen?«fragte Lestrade gepreßt.

«Ich weiß es!«behauptete Bates.»Und Sie wissen es auch. Zum Teufel, was glauben Sie, warum uns jemand diesen Sender an Bord geschmuggelt hat? Sie wissen über jeden unserer Schritte Bescheid.«

«Sie sind ziemlich gut auf dem laufenden, was die Deutschen betrifft, nicht wahr? fragte Lestrade lauernd.

Bates starrte ihn an und wurde bleich, als er begriff, worauf der Co-lonel hinauswollte.»Sie…!«japste er, wurde aber sofort wieder von Lestrade unterbrochen.

«Ich halte Ihnen Ihre Erregung zugute, Mister Bates. Und ich unterstelle zu Ihren Gunsten einfach einmal, daß Sie ein verdammter Feigling sind. Wäre das nicht so, dann müßte ich nach dem, was Sie gerade gesagt haben, gewisse andere Überlegungen anstellen.«

«Dann tun Sie es doch!«brüllte Bates plötzlich.»Meinetwegen lassen Sie mich doch verhaften oder gleich auf der Stelle erschießen! Sie bringen uns doch sowieso alle um, wenn Sie auf Ihrem wahnsinnigen Plan bestehen!«

Lestrades Gesicht verlor alle Farbe. Er trat auf Bates zu, aber der Marineflieger wich nicht zurück, sondern starrte ihn sogar herausfordernd an und verschränkte kampflustig die Arme vor der Brust.

Das stumme Duell dauerte nur wenige Sekunden, aber es war ganz eindeutig Lestrade, der es verlor.

Schließlich wandte er sich mit einer zornigen Bewegung ab, trat ans Ruder und starrte auf den Eisberg hinab. Er sagte nichts.

Indianas Blick wanderte verwirrt zwischen ihm, Bates und Doktor Browning hin und her. Die Reaktionen der drei verwirrten ihn. Ihm war, als wären das gar nicht mehr die Männer, die er bisher gekannt hatte. Er hatte Bates als stets fröhlichen, lebenslustigen jungen Mann kennengelernt, der das Wort Angst nicht einmal zu kennen schien, und Lestrade als einen herrischen, stahlharten Kommandanten, der seinen Männern nicht einmal die kleinste Nachlässigkeit durchgehen ließ. Und jetzt das! Auch Doktor Browning hatte sich verändert. Der Mann, dem er jetzt gegenüberstand, bebte innerlich vor Angst, und während des Streits zwischen Bates und Lestrade hatte er sich instinktiv in eine Ecke des Steuerhauses zurückgezogen, wie ein verängstigtes Tier, das sich verkroch.

Und er selbst? Indiana Jones scheute beinahe davor zurück, sich diese Frage ehrlich zu beantworten. Aber auch in ihm ging diese unheimliche Veränderung vor. Und er wußte mit einem Mal, daß Mor-ton recht hatte. Irgend etwas geschah mit ihnen, und es geschah nicht einfach, es wurde getan. Es war dieser Eisberg. Es war Odinsland, von dem etwas Unheimliches, Beängstigendes ausging.

Und es wurde schlimmer.

Während der nächsten zwanzig Minuten breitete sich ein fast lähmendes Schweigen in der Steuerkanzel aus. Mit Ausnahme Lestra-des, der dem Mann am Steuer dann und wann einen halblauten Befehl gab, sprach niemand ein Wort, und der Eisberg kam allmählich näher.

Aber auch die Gewitterwolken: Sie kamen nicht allmählich näher — sie näherten sich mit rasender Geschwindigkeit, wie es schien. Aus dem sanften Gleiten der Dragon wurde bald wieder ein Schütteln und Bocken, und auch als Lestrade den Befehl gab, die vier riesigen Propellermotoren mit voller Kraft laufen zu lassen, wurde es eher schlimmer als besser. Das Luftschiff begann sich wie ein Boot auf stürmischer See hin und her zu bewegen, und immer häufiger mußte der Mann am Ruder den Kurs korrigieren, damit sie wenigstens noch halbwegs auf Odinsland zuhielten. Es war, dachte Indiana, als würden sie von einer unsichtbaren, aber ungeheuer starken Hand zur Seite geschoben, zu Anfang vielleicht eher sanft, wie eine Warnung, nicht weiterzufliegen, aber als sie sie ignorierten, wurde der Druck stärker, und aus dem sachten Widerstand wurde ein Trommelfeuer unsichtbarer Hammerschläge, unter denen der Zeppelin zu erzittern begann.

Es wurde dunkler. Die Wolken schoben sich näher, glitten über den Eisberg und schließlich auch über die Dragon. Da die Sonne bereits tief stand, blieb es unter ihnen noch ein wenig länger hell, aber vielleicht war es gerade das, was den Anblick so unheimlich machte. Über ihnen befand sich eine kompakte schwarzbraune Masse, in der es unentwegt brodelte und zuckte und aufblitzte, während das Meer unter ihnen noch für Momente in hellgoldenem Sonnenlicht dalag, ehe es von einer rasch näher kommenden, wie mit einem Lineal gezogenen Schattenfront verschlungen wurde.

Dann traf die erste richtige Sturmbö die Dragon.

Es war wie ein Hieb mit Thors Hammer. Das gigantische Luftschiff dröhnte wie eine Glocke. Indiana konnte hören, wie die Metallspanten des Rumpfes hoch über ihnen unter der Belastung ächzten. Das Schiff legte sich fast auf die Seite, so daß sie alle, eingeschlossen der Mann am Ruder, den Halt verloren und gegen die Wand stürzten, richtete sich mit einer mühsamen, schwerfälligen Bewegung wieder auf und kippte gleich darauf wieder, ehe Lestrade selbst ans Ruder springen und das Schiff wieder halbwegs in seine Gewalt bringen konnte. Aus dem Geräusch des Sturms wurde ein ungeheuerliches Heulen, ein Wimmern und Schreien wie von hunderttausend losgelassenen Wölfen, die aus dem Nichts auf das Schiff einstürmten. Indiana hörte Schreie, das Klirren von Glas, spürte, wie er durch einen gewaltigen Schlag von den Beinen gerissen wurde, und taumelte gegen die Wand. Eine Gestalt prallte gegen ihn, und er griff instinktiv zu und hielt sie mit aller Kraft fest, ehe er bemerkte, daß es Doktor Rosenfeld war.

Die Dragon tanzte wild auf und ab, begann sich wie ein überdimensionaler Kreisel zu drehen und kämpfte mit heulenden Rotoren gegen den Sturm, an. Lestrade schrie seinen Männern Befehle zu, die diese zwar ausführten, die aber wirkungslos blieben, und das Bocken und Schütteln des Schiffes wurde immer schlimmer. Ein unheimliches düsteres Mahlen und Knirschen lief jetzt unentwegt durch den Rumpf. Vor Indianas geistigem Auge stieg die entsetzliche Vision von zerborstenen Stahlträgern und zerrissenen Gaskammern auf. Das Schiff zitterte wie ein waidwundes Tier, legte sich abermals auf die Seite, richtete sich wieder auf und begann zu schaukeln. Eines der Fenster zerbrach klirrend, und eisige Luft und nadelspitze Regentropfen schlugen in ihre Gesichter.

«Raus hier!«brüllte Lestrade.»Verlassen Sie das Steuerhaus! Alle!«

Indiana versuchte es, aber es war gar nicht so einfach, zumal er Doktor Rosenfeld und dann auch noch Bates mit sich schleifen mußte. Auf der schmalen Treppe nach oben verlor er beinahe das Gleichgewicht und prallte so hart gegen das Metallgeländer, daß er glaubte, seine Rippen knacken zu hören. Aber irgendwie schafften sie es, sich bis in den Aufenthaltsraum hochzukämpfen, ehe eine neuerliche Sturmbö die Dragon traf und sie allesamt von den Füßen riß.

Browning überschlug sich und landete mit einem gellenden Schrei in einem Durcheinander zerborstener Tische und Stühle, und auch Indiana stürzte schwer zu Boden, wobei er Doktor Rosenfeld mit sich riß und sich im letzten Moment so herumdrehte, daß er mit seinem Körper die ärgste Wucht des Sturzes abfing.

Als er es wagte, die Augen wieder zu öffnen und den Kopf zu heben, glaubte er, direkt in die Hölle zu sehen.

Rings um die Dragon herrschte absolute Finsternis. Eine schwarze, brodelnde Dunkelheit, die das Luftschiff völlig eingeschlossen hatte und in der es unentwegt grellweiß und — blau aufblitzte. Taubeneigro-ße Hagelkörner prasselten wie Maschinengewehrfeuer gegen die Hülle und die Scheiben, und das Geräusch des Regens war zu einem unablässigen düsteren Grollen geworden, wie das Rauschen eines Wasserfalls, unter den die Dragon geraten war. In das Ächzen und Stöhnen des Rumpfes hatte sich ein neuer Laut gemischt: ein unheimliches, fast rhythmisches Knirschen und Knacken, als zerbrächen ringsherum Balken und Bindungen.

Mühsam arbeitete sich Indiana auf die Füße und zog Doktor Rosenfeld mit sich in die Höhe.»Kommen Sie!«brüllte er über das Kreischen der entfesselten Naturgewalten hinweg.»Nach oben!«

Doktor Rosenfelds Antwort ging im Heulen des Sturms unter, und er wartete ihre Reaktion auch gar nicht ab, sondern zerrte sie einfach hinter sich her. Gestalten tauchten vor ihnen auf. Ein Matrose versuchte, Indiana festzuhalten, ein anderer schrie ihm etwas zu, das er nicht verstand; einen Moment lang sah er Erikson, der mit schreckensbleichem Gesicht in der Tür zu seiner Kabine stand und sich mit beiden Händen am Rahmen festklammerte. Sie hatten den Aufenthaltsraum durchquert, und Indiana stieß Doktor Rosenfeld grob vor sich durch die Tür. Bevor er ihr folgte, blieb er noch einmal stehen und warf einen Blick zurück.

Eine halbe Sekunde später wünschte er sich, es nicht getan zu haben. Er hatte sich eingebildet, es könnte nicht mehr schlimmer werden, aber das stimmte nicht.

Es wurde schlimmer.

Außerhalb des Schiffs herrschte noch immer eine ägyptische Finsternis, aber in der Dunkelheit war… irgend etwas. Etwas Gewaltiges, Großes, das sich rasend schnell auf die Dragon zu bewegte, sie treffen und schlichtweg zermalmen mußte.

Er wollte hinter Doktor Rosenfeld herstürmen, doch in dem Moment ergriff eine Hand seinen Arm und zerrte ihn grob herum. Es war Bates. Das Gesicht des jungen Marinefliegers war angstverzerrt, und seine Stimme hatte sich in ein schrilles, hysterisches Kreischen verwandelt.»Wir stürzen ab!«brüllte er.»Das ist das Ende!«

Indiana löste seine Hand mit erheblich mehr als sanfter Gewalt von seinem Arm und schüttelte ihn, um ihn zur Vernunft zu bringen. Aber Bates schrie immer lauter, jetzt keine Worte mehr, sondern nur noch hysterische Laute, und schlug sogar schließlich nach ihm. Es bereitete Indiana keine Mühe, dem Hieb auszuweichen, aber er hatte genug Erfahrung im Umgang mit Menschen in Situationen wie dieser, um ganz instinktiv das einzig Richtige zu tun: Er holte aus und versetzte Bates eine schallende Ohrfeige.

Der Schlag, zusammen mit dem unablässigen Schütteln und Beben des Bodens, reichte aus, um Bates von den Füßen zu reißen. Er stolperte rückwärts, fiel schwer zu Boden und blieb für einen Moment benommen sitzen, ehe er sich wieder aufrichtete und betroffen Indiana ansah.»Ich…«

«Schon gut«, knurrte Indiana.»Ich weiß, was Sie sagen wollen.

Kommen Sie mit. «Er deutete auf die Tür, durch die er Doktor Rosenfeld gestoßen hatte, trat einen halben Schritt zur

— und erstarrte, als sein Blick aus dem Fenster fiel. Dort draußen wurde es wieder hell. Aber nicht etwa, weil der Sturm abflaute oder es Lestrade gelungen wäre, die Dragon durch die Wolkendecke nach oben zu drücken. Ganz im Gegenteil.

Die Dragon befand sich jetzt nicht mehr in der Wolkenhülle, sondern wieder unter ihr; genauer gesagt, in einem allerhöchstens noch hundert Meter hohen Streifen halbwegs klarer Luft, der sich zwischen den tobenden Gewitterwolken und der Meeresoberfläche befand. Und sie näherten sich dieser Meeresoberfläche mit rasender Geschwindigkeit!

«Großer Gott!« flüsterte Indiana. Er stand wie gelähmt da, völlig unfähig, irgend etwas zu tun oder auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Anders als sonst, wenn er in einer gefährlichen Situation gewesen war, war er paralysiert, vollkommen gelähmt vor Schrecken und nicht in der Lage, an etwas anderes zu denken als diese schaumgekrönte Fläche, auf die die Dragon mit hoher Geschwindigkeit herabschoß!

Die Propellermotoren des Luftschiffs brüllten auf, als auch Lestrade eine Etage unter ihnen die Gefahr begriff, in der die Dragon und all ihre Besatzungsmitglieder schwebten. Ein heftiges Zittern lief durch den Rumpf, und die Neigung des Bodens nahm ein wenig ab. Aber nicht genug. Das Schiff stürzte jetzt nicht mehr ganz so schnell wie noch vor Sekunden, und der stumpfe Bug deutete in einem etwas weniger steilen Winkel auf das Meer. Aber Indiana wußte, daß sie es nicht schaffen würden. Wenn es überhaupt noch etwas gab, das die Dragon retten konnte, dann nur ein Wunder.

Es geschah nicht.

Im allerletzten Moment erst begriff Indiana Jones, was wirklich passieren würde, aber da war es zu spät. Er fuhr noch herum, packte Doktor Rosenfeld und preßte sie schützend an sich, doch im gleichen Moment schon prallte die Dragon mit ungeheurer Wucht auf die Meeresoberfläche. Vor den großen Scheiben der Gondel war plötzlich Wasser, eine schaumgekrönte Linie, die mit rasender Geschwindigkeit nach oben schoß und den Tag und das Schiff verschlang, mit einem fürchterlichen Krachen gegen den Zeppelinrumpf prallte und sprudelnd daran emporwuchs. Indiana wurde von den Füßen gerissen und begrub Doktor Rosenfeld unter sich, gleichzeitig zerbarsten zwei der riesigen Scheiben, und ein zischender Strahl eiskalten Wassers schoß in die Gondel. Zertrümmerte Möbelstücke und kreischende Gestalten flogen vorüber, und plötzlich fühlte sich auch Indiana Jones von einer eiskalten Riesenfaust gepackt und durch den Raum geschleudert. Instinktiv drückte er Doktor Rosenfeld so heftig an sich, wie er nur konnte, strampelte hilflos mit den Beinen, um den erwarteten Aufprall abzufangen, und rang vergeblich nach Atem. Rings um ihn war nur noch Wasser, eiskaltes, tödlich kaltes Wasser; Wasser, das ihn mit unvorstellbarer Wucht fortzerrte und gegen etwas Weiches, Nachgiebiges schleuderte.

Und dann, von einer Sekunde auf die andere, konnte er wieder atmen. Das Wasser verschwand fast so schnell, wie es gekommen war, und plötzlich wurde es wieder hell. Zitternd, unendlich mühsam und langsam, aber beständig, hob sich die Dragon wieder. Der Sturm hatte das Schiff wie eine riesige Faust auf das Meer hinunter und ein Stück in seine Oberfläche hinein gedrückt, aber noch erwies sich der Auftrieb der gasgefüllten Kammern im Inneren des Rumpfes als stärker. Sprudelnd und schäumend zog sich das Wasser wieder zurück.

Irgend etwas regte sich unter ihm. Indiana wandte den Blick wieder vom Fenster ab und stellte erst jetzt fest, daß er noch immer auf Doktor Rosenfeld lag, über die er sich vorher schützend geworfen hatte. Ihre Blicke begegneten sich, und außer dem Entsetzen und der ungläubigen Erleichterung in ihren Augen las er noch etwas anderes darin. Ein sonderbares Glitzern, das ihm nie zuvor aufgefallen war und der Situation völlig unangemessen schien — und dessen Anblick trotzdem unendlich wohl tat.

«Sie können jetzt wieder aufstehen, Doktor Jones«, sagte Doktor Rosenfeld.

Indiana lächelte verlegen, stemmte sich hastig auf Knie und Hände hoch und stand vorsichtig auf. Das Schiff zitterte und bebte noch immer, so daß er um ein Haar beinahe wieder gefallen wäre, aber er fand an den Überresten eines zertrümmerten Tisches Halt und hatte sogar noch die Kraft, die Hand auszustrecken, um Doktor Rosenfeld aufzuhelfen.

«Also hatte mein Vater doch recht«, meinte sie.

«Womit?«Indiana sah sie fragend an. Doktor Rosenfeld lächelte flüchtig.»Er hat mich vor Männern gewarnt«, erwiderte sie.»Er sagte, sie sind wie Automobile: Wenn man nicht aufpaßt, dann liegt man schnell drunter.«

Indiana klappte den Mund auf und wieder zu, starrte sie eine Sekunde lang fassungslos an — und begann zu lachen. Gleichzeitig fragte er sich, woher diese so zerbrechlich aussehende Frau die Kraft nahm, jetzt Witze zu machen. Aber vielleicht war es nur ihre ganz persönliche Art und Weise, mit der Anspannung fertigzuwerden.

Dann fiel sein Blick auf etwas neben ihnen, und sein Lachen erlosch wie abgeschaltet. Erst jetzt erinnerte er sich, daß irgend etwas seinen Sturz abgefangen hatte. Und plötzlich wußte er auch, was es gewesen war.

Eine schlanke, braunhaarige Gestalt in einer zerrissenen grauen Wehrmachtsuniform.

«Um Gottes willen«, wisperte Doktor Rosenfeld. Hastig ließ sie sich neben dem deutschen Offizier auf die Knie sinken, drehte ihn herum und fuhr zurück, als ihr Blick in Lobens weit aufgerissene, gebrochene Augen fiel.

Er war tot. Indiana hätte ihn nicht einmal anzusehen brauchen, um das festzustellen. Er erinnerte sich nur zu gut der fürchterlichen Wucht, mit der Rosenfeld und er gegen den Soldaten geschleudert worden waren. Es war fast schon absurd: Einer der beiden Männer an Bord, denen er vielleicht am meisten mißtraute, hatte ihm und der Neurologin unabsichtlich das Leben gerettet — und sein eigenes dabei verloren.

Behutsam griff er nach Doktor Rosenfelds Hand und zog sie fort.»Kommen Sie«, sagte er.»Wir müssen hier weg. Es ist noch lange nicht vorbei.«

Doktor Rosenfeld widersprach nicht, aber auf ihrem Gesicht hatte sich ein Ausdruck von fassungslosem Entsetzen und auch Schuldbewußtsein breitgemacht.

Sie mußte so gut wie er wissen, daß eigentlich sie und Indiana jetzt tot sein sollten, nicht dieser deutsche Offizier.

Aber sie schien auch einzusehen, daß Indiana recht hatte. Irgendwie war es Lestrade — oder auch nur dem puren Zufall — gelungen, das Schiff noch einmal vom Meer hochzureißen. Aber es mochte sein, daß es diesmal eine Gnadenfrist war, eine letzte, nur scheinbare Chance, die ihnen das Schicksal gab, um sie gleich darauf nur um so härter treffen zu können. Die Dragon gewann langsam wieder an Höhe, aber über ihnen war noch immer die brodelnde schwarze Wand, als hätte jemand einen Deckel über das gesamte Meer gestülpt, und der bloße Versuch, diese zu durchstoßen, mußte zu einer weiteren, dann aber wahrscheinlich endgültigen Katastrophe führen.

So schnell es der unablässig zitternde Boden zuließ, durchquerten sie den völlig zerstörten Raum und machten sich zum zweitenmal auf den Weg nach oben. Indiana verzichtete diesmal bewußt darauf, noch einmal zurückzublicken.

Als sie die Leiter hinaufstiegen, begann das Schiff wieder stärker zu beben. Das Dröhnen der Motoren wurde immer lauter und lauter, und auch das unheimliche Mahlen und Knirschen des Rumpfes nahm wieder zu. Offensichtlich versuchte Lestrade erneut, die Wolkendecke zu durchstoßen, um die Dragon über das Gewitter zu bekommen. Möglicherweise die einzige Methode, diesen Höllensturm zu überstehen — aber zumindest nach Indianas Auffassung auch eine ziemlich selbstmörderische Methode.

Er verscheuchte den Gedanken und verwandte statt dessen lieber jedes bißchen Kraft, das er hatte, darauf, dicht hinter Doktor Rosenfeld Hand über Hand die Leiter hinaufzuklettern.

Auch das Innere des eigentlichen Luftschiffes hatte sich in eine Hölle aus Lärm, Bewegung und Kälte verwandelt, als er die Klappe aufstieß. Die Hülle der Dragon war an zahllosen Stellen gerissen, so daß Regen und Hagel eindringen konnten, und Indiana sah voller Schreck, daß auch ein zweiter der riesigen Gassäcke gerissen war und schlaff von seinen Haltetauen hing. Hastig stemmte er sich neben Doktor Rosenfeld aus der Luke, richtete sich in eine halbwegs sichere Stellung auf und half ihr, ebenfalls auf die Füße zu kommen. Der Sturm heulte hier oben so laut, daß eine Verständigung völlig unmöglich war. So deutete er nur heftig gestikulierend auf die Tür, hinter der Quinns Kabine lag, ergriff sie am Arm und zerrte sie einfach mit sich. Er verzichtete darauf zu klopfen, sondern riß die Tür einfach auf, taumelte hindurch und zog Doktor Rosenfeld mit sich.

Im Inneren des Laderaums herrschte ein heilloses Chaos. Ein Teil der Ladung hatte sich losgerissen, und Indiana sah voller Entsetzen, daß sie einen der Hunde unter sich begraben hatte. Das Tier lebte noch, schien aber schwer verletzt zu sein, und Quinn bemühte sich trotz seiner riesigen Kräfte vergeblich, es unter dem Berg von Kisten und Ballen hervorzuzerren, unter dem es eingeklemmt war.

Indiana ließ Dr. Rosenfeld los, trat wortlos neben Quinn und versuchte, ihm zu helfen. Aber selbst ihre vereinten Kräfte reichten nicht aus. Und hinzu kam, daß die anderen Hunde sich wie wahnsinnig gebärdeten: Quinn hatte sie festgebunden, und das war wahrscheinlich der einzige Grund, warum sie nicht längst übereinander oder auch über Quinn hergefallen waren. Sie kläfften und jaulten wie wild, bissen wie von Sinnen um sich und versuchten, mit den Pfoten den Boden aufzureißen. Offensichtlich machte das Heulen des Sturms und das Zittern und Beben des Bodens die Tiere völlig verrückt.

«Was ist passiert?«schrie Indiana über das ungeheure Brüllen der Sturmböen hinweg.

Quinn deutete auf den eingeklemmten Hund.»Er hat sich losgerissen! Wollte wohl raus. Wir müssen ihm helfen!«

Sie versuchten es. Nach einer Weile gesellte sich sogar Doktor Rosenfeld zu ihnen und zog und zerrte mit aller Kraft an den ineinander verkeilten Kisten und Kartons und Ballen, aber auch zu dritt gelang es ihnen nicht, das Tier zu befreien. Schließlich richtete Quinn sich auf, sah Indiana und Doktor Rosenfeld sehr ernst und sehr traurig an und machte eine Handbewegung; sie sollten zurücktreten.

Indiana ahnte, was der Eskimo vorhatte, und wollte die Hand heben, aber ein einziger Blick aus Quinns Augen ließ ihn innehalten.

Außerdem hatte der Eskimo recht. Das Tier mußte schwer verletzt sein. Mit Sicherheit hatte es mehrere Knochenbrüche und mit großer Wahrscheinlichkeit auch innere Verletzungen. Und sie hatten weder die nötigen Instrumente noch die Zeit oder Gelegenheit, ihm zu helfen. Wortlos wandte er sich ab, während Quinn unter seinen Mantel griff und ein Messer zog.

«Was hat er vor?«fragte Doktor Rosenfeld entsetzt.

«Das, was er tun muß«, antwortete Indiana so leise, daß sie die Worte kaum verstehen konnte. Aber sie sagte nichts mehr, sondern wandte sich ebenfalls mit einem Ruck ab und suchte nach einem freien Platz, an dem sie sich setzen konnte. Es gab keinen. Der größte Teil der Ladung hatte sich losgerissen und bildete ein heilloses Durcheinander auf dem Boden, und dazwischen waren die Hunde, die an ihren Leinen zerrten und rissen und in blinder Panik nach allem schnappten, was sich bewegte.

«Wir müssen hier raus«, sagte Indiana entschlossen.»Quinn! Wie weit bist du?«

Er drehte sich nicht zu dem Eskimo um, und Quinn antwortete auch nicht; aber er wußte, daß der Eskimo ihm folgen würde. Sobald er getan hatte, was er tun mußte.

Sein Blick suchte das Bullauge. Draußen vor der Dragon herrschte jetzt graues Zwielicht, für Indiana ein Beweis, daß sie sich wieder der Wolkendecke näherten, das Zittern des Bodens hatte ein ganz klein wenig nachgelassen, und das Heulen des Sturms schien nicht mehr ganz so ungeheuerlich wie noch vor Augenblicken. Vielleicht hatten sie noch einmal Glück gehabt. Vielleicht ließ der Sturm nach, oder Lestrade hatte einen Weg gefunden, irgendwie damit fertig zu werden. Er betete, daß es so sein möge.

«Quinn!«rief er noch einmal.»Beeil dich!«

Der Eskimo antwortete auch jetzt nicht, aber nach ein paar Sekunden trat er neben ihn und Doktor Rosenfeld. Sein Gesicht war wie aus Stein. Seine Miene war völlig ausdruckslos, aber in seinen Augen lag ein Schmerz, als hätte er eines seiner Kinder getötet.

Als sie den Laderaum verließen, hörte der Boden auf zu zittern. Und nur ein paar Sekunden später verstummte das Heulen des Sturms, und durch die zahllosen Risse und Löcher in der Außenhaut der Dragon drang plötzlich wieder klares, goldenes Sonnenlicht.

Indiana blickte fassungslos nach oben.»Was ist denn jetzt los?«fragte er. Das Wenige, das er vom Inneren der Dragon sehen konnte, bot einen völlig chaotischen Anblick. Das Schiff war zerstört. Einen anderen Ausdruck dafür gab es nicht. Es schwebte zwar noch, und es würde wahrscheinlich auch nicht abstürzen, aber wenn es irgendwann und irgendwo einen Flugplatz erreichen und landen würde, so würde es nie wieder starten. Drei der acht riesigen Gastanks waren zerrissen, und das Gewirr von Leitern und Stegen, das sie miteinander verband, zum größten Teil zerbrochen. Selbst die gewaltigen metallenen Spanten, die das Außengerüst bildeten, waren verbogen. Die Dragon sah aus, als hätte ein Ungetüm die Hand danach ausgestreckt und sie kurz zusammengepreßt, aber heftig genug, um diesen Flug zu ihrem letzten zu machen.

«Kommt«, sagte er.»Gehen wir hinunter. Sie werden unsere Hilfe brauchen.«

Doktor Rosenfeld nickte wortlos, aber Quinn schüttelte den Kopf.»Ich bleibe bei den Tieren«, widersprach er.

Indiana sagte nichts darauf. Er ahnte, was in dem Eskimo vor sich ging. Die Huskys waren mehr als Tiere für ihn. Sie waren mehr als seine Freunde. Sie waren alles, was er hatte. Quinn hätte eher sein eigenes Leben geopfert, als sie im Stich gelassen.

Vorsichtig, um nicht über eines der herumliegenden Trümmerstücke zu stolpern oder abzurutschen, gingen sie zur Luke zurück und stiegen wieder in die Gondel hinab.

Die Passagiersektion der Dragon bot einen noch schlimmeren Eindruck, als er befürchtet hatte. Überall lagen Verletzte herum, und viele rührten sich überhaupt nicht mehr. Die Männer, die das Chaos halbwegs unverletzt überstanden hatten, versuchten mit aller Kraft, sich um ihre Kameraden zu bemühen, aber es gab nicht viel, was sie tun konnten.

Einer der Motoren lief ungleichmäßig und stotternd. Als Indiana die Passagierkabine durchquerte und einen Blick aus dem zerborstenen Fenster warf, sah er, daß einer der Propeller sich kaum noch drehte.

Fettiger, schwarzer Qualm quoll aus dem Motor.

Er mußte durch knöcheltiefes Wasser waten, um den Raum zu durchqueren. Auch hier gab es zahlreiche Verletzte, und Indiana befürchtete zu recht, daß Loben nicht der einzige Tote war. Als er die Tür öffnete und den Weg zur Steuerkanzel einschlug, fiel ihm mit jähem Schrecken wieder ein, daß das Ruderhaus der Dragon noch eine Etage tiefer lag — und das bedeutete nichts anderes, als daß es fünf oder sechs Meter weiter unter Wasser gelegen hatte als der Aufenthaltsraum.

Aber diesmal trafen seine schlimmsten Befürchtungen nicht ein. Anders als die großen Fenster oben im Aufenthaltsraum hatten die Scheiben des Steuerhauses dem Wasserdruck standgehalten. Die Erschütterung des Aufpralls hatte auch hier alles losgerissen und kleingeschlagen, was nicht festgenietet oder — geschraubt war, und in einem Winkel neben der Treppe hockte ein Matrose und krümmte sich vor Schmerzen, aber es schien keine Toten gegeben zu haben. Lestrade stand vornübergebeugt und mit verbissenem Gesicht am Steuer, beide Hände so fest um die Lenkung geklammert, daß das Blut aus seiner Haut gewichen war, und starrte ins Leere, während Browning beim Geräusch von Indianas Schritten herumfuhr und ihn aus schreckgeweiteten Augen anstarrte.

«Was ist passiert?«fragte Indiana.»Wieso ist es vorbei?«

«Es ist nicht vorbei«, sagte Browning düster. Er deutete nach draußen.»Sehen Sie doch!«

Indiana blickte nach draußen, dann nach oben -

— und dann stöhnte auch er vor Entsetzen auf. Plötzlich begriff er, warum der Sturm so plötzlich vorüber gewesen war; viel, sehr viel schneller, als das eigentlich möglich war.

Die Dragon war in jeder Himmelsrichtung von einer schwarzen, wabernden Wand umgeben. Nur noch wenige Meter unter ihnen erhob sich ein zyklopisches weißes Ungetüm: Odinsland, das wie eine schwimmende Burg mit zahllosen spitzen Türmchen und Erkern unter ihnen lauerte, um das Luftschiff aufzuspießen. Über ihnen spannte sich ein strahlend blauer, völlig wolkenloser Himmel, aber dieser wolkenlose Bereich war nicht besonders groß. Vielleicht einen Kilometer im Durchmesser, höchstens anderthalb. Und er war kreisrund, ein Loch in den Wolken, in dem sich die Dragon befand.

Der Sturm war kein Sturm. Es war ein Orkan.

Und das Schiff befand sich genau in seinem Auge.

«Wie lange noch?«

«Ich weiß es nicht. «Lestrades Stimme war nur noch ein Flüstern. Es hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem selbstbewußten, befehlenden Klang, den Indiana gewohnt war. So wenig wie der Mann Ähnlichkeit mit dem forschen, unnachsichtigen Kommandanten hatte, als den er ihn kennengelernt hatte. Lestrade war ein gebrochener Mann; ein Mann, der wußte, daß er verloren hatte, endgültig und unwiderruflich. Er starrte nach draußen, aber Indiana war sich ziemlich sicher, daß er die schwarzen Wolken gar nicht sah. Sein Blick ging ins Leere. Er mußte wissen, daß die Dragon sterben würde. Und Indiana wußte plötzlich, daß nicht nur im übertragenen Sinn auch etwas von ihm mit dem gewaltigen Luftschiff sterben würde.

«Vielleicht ein paar Minuten«, meinte er, fuhr aber nach einer Weile fort:»Vielleicht auch eine Stunde. Das kommt darauf an, wie sich der Orkan bewegt. Man kann so etwas nicht vorhersagen.«

«Warum versuchen Sie nicht zu steigen?«fragte Doktor Rosenfeld.

Lestrade schüttelte den Kopf. Die Bewegung war kaum zu sehen.»Es geht nicht«, erwiderte er.»Ich habe es versucht. Unser Auftrieb reicht nicht. Zwei Motoren sind ausgefallen, und wir haben zuviel Gas verloren.«

Langsam, wie gegen einen unsichtbaren Widerstand ankämpfend, drehte er den Kopf und sah Indiana an.»Bringen Sie die Männer nach oben«, sagte er.»Wenn… wir aufprallen, dann bleibt vielleicht die Hülle unbeschädigt.«

Es dauerte einen Moment, bis Indiana überhaupt begriff, was Lestrade meinte. Ungläubig starrte er den Colonel an.»Sie wollen auf dem Eisberg landen?«fragte er.

«Die einzige Chance«, antwortete Lestrade.»Wir kommen hier nie mehr raus. Aber vielleicht können Sie Ihr Leben retten. Und das der Männer.«

Indiana entging keineswegs, daß er Sie gesagt hatte, nicht wir. Aber er schwieg dazu.

«Aber das ist doch Wahnsinn!«rief Doktor Rosenfeld.»Sie können niemals — «

«Tun Sie, was ich sage!« brüllte Lestrade. »Auf der Stelle!«

Indiana machte eine rasche Handbewegung zu Doktor Rosenfeld, sie möge schweigen, und sagte dann:»Ich werde es versuchen. Aber dort oben sieht es nicht besonders gut aus. Ich weiß nicht, wo ich fast siebzig Männer unterbringen soll.«

«Dann werfen Sie diese verfluchten Waffen über Bord«, schrie Lestrade.

«Das verbiete ich!«mischte sich Browning ein.»Wir sind hier, um — «

«Es ist mir völlig egal, was Sie verbieten oder nicht«, unterbrach ihn Lestrade, noch immer schreiend.»Sie sind doch schuld an dieser Katastrophe, Sie verdammter Idiot! Sie und Ihre Idee, diese Basis aus der Luft anzugreifen! Sie…!«

Er brach ab, starrte Browning eine Sekunde lang betroffen an und wandte sich dann wieder mit einem Ruck um. Browning sagte nichts. Aber auch er wirkte mit einem Mal erschüttert.

«Kommen Sie, Doktor«, sagte Indiana.»Colonel Lestrade hat recht. Dort oben sind wir immer noch sicherer als hier.«

Browning starrte ihn feindselig an und rührte sich nicht von der Stelle, nach einem weiteren Moment drehte sich Indiana wortlos um und verließ die Steuerkanzel, gefolgt von Doktor Rosenfeld, Bates und dem verletzten Matrosen, der mit schmerzverzerrtem Gesicht hinter ihnen herhinkte.

Nach allem, was geschehen war, schien das Schicksal ausnahmsweise einmal gnädig mit ihnen zu sein. Der Orkan verharrte die nächste Viertelstunde lang auf der Stelle, so daß die Dragon weiter reglos über Odinsland schwebte. Aber irgendwann würde er sich weiterbewegen, und bei dem Zustand, in dem sich das Luftschiff befand, war es allerhöchstem noch eine Frage von Sekunden, bis es in der Luft zerrissen oder einfach abermals auf das Meer hinuntergedrückt und diesmal zermalmt werden würde.

Dann, mit quälender Langsamkeit, wie es schien, wuchs der Eisberg unter ihnen heran. Indiana erkannte jetzt, daß er noch sehr viel größer war, als die Bilder hatten vermuten lassen. Seine Oberfläche, die sich mehr als eine Viertelmeile aus dem Meer erhob, war annähernd kreisrund und mußte einen Durchmesser von gut drei bis vier Meilen haben. Es gab nur eine einzige Stelle, an der ein Schiff hätte anlegen können, eben jene halbrunde Bucht, vor der die POSEIDON vor Anker gegangen war, der Rest bestand aus beinahe senkrecht aufsteigenden, spiegelglatt polierten Wänden. Aber etwas war anders als auf dem Foto: Dort, wo auf dem Bild und nach Mortons Aussagen ein kleines Gebirge aus Eisnadeln und Zacken sein sollte, gähnte jetzt ein Krater. Ein fast kreisrundes Loch, dessen Wände so sauber in die Tiefe führten, als wäre es aus dem Berg herausgestanzt worden, und in dessen Tiefe es silberweiß blitzte. Offensichtlich war die Decke der Höhle eingestürzt oder geschmolzen. Und auch die Oberfläche der treibenden Insel war nicht mehr glatt.

Indiana wandte den Blick vom Fenster, als er spürte, wie sich Doktor Rosenfeld enger an ihn drängte. Er legte den Arm um ihre Schulter und versuchte aufmunternd zu lächeln, aber es mißlang. Aus dem Lächeln wurde eine Grimasse. Auch ihm gelang es nicht mehr, seine Angst völlig zu unterdrücken. Und abermals spürte er, daß diese Angst mehr war als die Angst vor dem Tod, die Angst vor einem möglichen Absturz oder dem, was ihm folgen könnte. Der böse Atem von Odinsland war noch immer spürbar. Ja, er war sich mittlerweile nicht einmal mehr sicher, daß all dies Zufall war. Dieser Orkan, dieses unheimliche, stille Auge des Orkans, das ganz genau über Odinsland lag und auch dort zu verharren schien, nichts von all dem war Zufall. Er wußte es einfach.

«Hast du Angst?«fragte ihn Doktor Rosenfeld.

Indiana nickte.

«Ich auch«, sagte sie.

Dann schwiegen sie. Niemand in der großen Passagierkabine sagte noch ein Wort, während die Dragon langsam tiefer sank. Die Motoren arbeiteten unregelmäßig, und was ein sanftes Gleiten sein sollte, wurde zu einem ruckenden, nur noch notdürftig gebremsten Sturz, der immer schneller zu werden schien. Odinsland wuchs groß und abweisend unter ihnen heran, schien schließlich die ganze Welt auszufüllen und wuchs immer noch weiter, eine drohend glitzernde Fläche, in der sich der Umriß der Dragon als verzerrte Reflexion spiegelte.

Und dann kam der Aufprall.

Er war entsetzlich. Indiana hörte ein fürchterliches Krachen, Splittern und Bersten, das aus der Tiefe des Rumpfes zu ihnen drang, Klirren und Kreischen von Stahl, Schreie, das Splittern von Holz, dann wurde er von den Füßen gerissen, flog hilflos quer durch den Raum und prallte auf. Fast alle Scheiben brachen. Plötzlich gähnte ein gewaltiger gezackter Riß in der Außenwand der Kabine, und ein Teil der Decke brach herab und begrub einige Männer unter sich. In das Splittern und Krachen der auseinanderbrechenden Passagiergondel mischten sich Schmerzensschreie.

Indiana riß schützend die Hände über den Kopf, versuchte auf die Füße zu kommen und mußte hilflos mit ansehen, wie Morton, Doktor Rosenfeld und zwei der Matrosen an ihm vorübergeschleudert wurden und mit entsetzlicher Wucht gegen die Wand prallten. Wahrscheinlich war es einzig der Umstand, daß fast alles hier drinnen nur aus dünnem Sperrholz bestand, der sie vor schweren Verletzungen oder gar dem Tod bewahrte. Aber auch so glaubte er die Wucht, mit der Doktor Rosenfeld gegen das Holz krachte, körperlich zu fühlen und stöhnte auf.

Die pure Angst um sie gab ihm die Kraft, sich trotz allem hochzustemmen und auf sie zuzutaumeln. Das Schiff legte sich jetzt auf die Seite. Der Himmel rutschte nach oben weg und machte einer gigantischen weißen, blitzenden Fläche Platz; und wieder zerbrach etwas unter ihm. Er stürzte, schrie Doktor Rosenfelds Namen und streckte hilflos die Hände in ihre Richtung aus, ohne auch nur in ihre Nähe zu gelangen, dann prallte jemand gegen ihn und schleuderte ihn meterweit weg.

Diesmal blieb er einige Augenblicke benommen liegen. Als er sich wieder hochrappelte, hatte sich auch Mabel auf die Knie hochgestemmt und lächelte, wenn auch mit schmerzverzerrtem Gesicht.

«Ich bin in Ordnung«, behauptete sie. Das war zwar glatt gelogen, aber immerhin war sie bei Bewußtsein und offensichtlich nicht sehr schwer verletzt.

Was man nicht von allen behaupten konnte. Wieder hatte es Tote gegeben, wie Indiana mit schmerzlicher Gewißheit erkannte, und es schien niemanden in diesem Raum zu geben, der nicht mehr oder weniger schwer verletzt worden war. Dann fiel sein Blick aus dem Fenster, und er begriff, daß es noch lange nicht vorbei war. So furchtbar der Aufprall gewesen war, er hatte das Schiff nicht so schwer beschädigt, daß es nicht mehr flog. Aber es war jetzt steuerlos, und das bedeutete, daß die Dragon sich langsam, aber unbarmherzig wieder von der Oberfläche Odinslands löste und in die Höhe zu steigen begann! Das Dröhnen der Motoren war verstummt. Das Schiff war jetzt nicht mehr als ein Luftballon.

«Bates!«schrie Indiana.»Wie hält man dieses Ding an?!«

«Ich weiß es nicht!«schrie der Pilot zurück. Indiana konnte ihn in dem Chaos aus Trümmern und übereinanderliegenden Körpern nicht sehen, aber seine Stimme verriet, daß er nur wenige Meter entfernt sein konnte.

«Der Notanker!«rief eine andere Stimme. Indiana sah auf und erkannte einen Matrosen, der sich mit blutüberströmtem Gesicht unter den Trümmern eines Tisches hervorarbeitete.»Es gibt einen Notanker im Heck. Aber jemand müßte hinunter und ihn festmachen.«

«Wissen Sie, wo das Ding ist?«

Der Mann nickte, und Indiana erhob sich taumelnd auf die Füße.»Dann nehmen Sie ein paar Mann und gehen hin«, sagte Indiana.»Ich versuche mein Bestes.«

Er taumelte zum Fenster, suchte irgendwo nach einem Halt und zerschnitt sich an einem Glassplitter die Finger, ohne es überhaupt zu merken; mit klopfendem Herzen blickte er nach unten. Die Dragon begann wieder zu steigen, aber das Eis lag nur zehn oder zwölf Meter unter ihnen. Noch.

Indiana verschwendete keine Zeit mehr damit, seine Chancen abzuwägen, sondern löste die Peitsche von seinem Gürtel, wickelte ihr Ende um eine Fenstersprosse und schwang sich mit einer entschlossenen Bewegung hinaus. Es war kein besonders eleganter Sprung. Die Peitsche war nun einmal kein Seil, und sie war zudem nur knapp vier Meter lang, so daß sich seine Füße immer noch gut fünf oder sechs Meter über dem spiegelnden Eis befanden, als er sich bis an ihr Ende hinabgehangelt hatte. Und dazu kam, daß die Dragon immer weiter in die Höhe stieg, wenn sich ihr Tempo jetzt auch verlangsamte. Über ihm erschien Mabel Rosenfelds schreckensbleiches Gesicht im Fenster. Er sah, wie sich ihr Mund bewegte, und hörte, daß sie ihm irgend etwas zurief, ohne die Worte zu verstehen. Indiana schloß die Augen, zählte in Gedanken bis drei — und ließ los.

Sekundenlang blieb er benommen auf dem Eis liegen, ehe es ihm wieder gelang, die Augen zu öffnen und sich mühsam in die Höhe zu stemmen.

Die Dragon schwebte zehn Meter über ihm, und ihr Anblick ließ ihn abermals aufstöhnen. Das Ruderhaus war völlig verschwunden. Lestrade mußte tot sein. Alles, was sich über ihm befand, war ein Gewirr aus zerborstenem Holz und Metall und heraushängendem Stoff, und aus der zertrümmerten Gondel regneten ununterbrochen Trümmer und Glassplitter herab. Ein Mensch steckte eingeklemmt und mit hängenden Armen zwischen zwei verbogenen Trägern und schien ihm zuzuwinken.

Indianas Blick tastete verzweifelt über die Gondel. Wie lange würden die Männer brauchen, um diesen Notanker zu finden — falls er überhaupt noch da war? Eine Minute? Zwei?

Er wußte auch hinterher nicht, wie lange es gedauert hatte, aber schließlich öffnete sich in dem unteren Viertel der Gondel eine quadratische Luke, und etwas Dunkles, Glänzendes fiel wie ein Stein auf das Eis herab und zog eine lange silbrige Kette hinter sich her. Indiana rannte los, verlor natürlich auf der spiegelglatten Oberfläche sofort den Halt und schlug der Länge nach hin. Und erst in diesem Moment wurde ihm bewußt, daß die Oberfläche Odinslands keineswegs eben war. Ganz im Gegenteil, sie bildete eine gefährliche Schräge, auf der jede unbedachte Bewegung zu einer tödlichen Rutschpartie werden konnte. Es war pures Glück, daß er nicht völlig den Halt verlor, sondern nach einigen Metern wieder zum Liegen kam und sich vorsichtig aufrichten konnte.

Sein Blick suchte den Rettungsanker. Es war eine gewaltige, fast mannshohe Konstruktion, deren messerscharfe Dornen sich tief ins Eis gegraben hatten. Die Dragon stieg allmählich weiter, und die Kette begann sich bereits wieder zu spannen. Indiana hoffte, daß sie das Schiff auch wirklich halten und nicht kurzerhand in zwei Stücke reißen würde, so stark beschädigt, wie es war.

Hilflos blickte er den gewaltigen Anker an. Was sollte er tun? Er war eigentlich losgestürmt, ohne einen konkreten Plan zu haben, und hatte sich auf seine Intuition verlassen, die ihm schon mehr als einmal aus scheinbar ausweglosen Situationen herausgeholfen hatte. Aber es sah so aus, als würde es diesmal nicht klappen. Er konnte schlecht die Kette ergreifen und das gewaltige Luftschiff daran herunterziehen.

Als wäre dieser Gedanke ein Stichwort gewesen, erschienen in den zertrümmerten Fenstern der Gondel Gesichter und hektisch winkende Arme. Irgend jemand warf etwas zu ihm herunter, das mit einem Krachen auf dem Eis landete, plötzlich flog ein Tau zu ihm herab, dann ein zweites, drittes, viertes. Jemand schrie etwas, aber Indiana konnte die Worte nicht verstehen.

Hastig näherte er sich dem Bündel, das von der Dragon herabgeworfen worden war, und stellte fest, daß es eine Anzahl übergroßer Metallheringe und einen schweren Fausthammer enthielt. So schnell es der gefährliche Grund, auf dem er stand, zuließ, nahm er einen der Heringe heraus und versuchte, ihn mit wuchtigen Hammerschlägen in das Eis zu treiben; ein Vorhaben, das rascher beschlossen als ausgeführt war, denn das Eis war hart wie Stahl, und er mußte verdammt aufpassen, um nicht durch die Wucht seiner eigenen Schläge das Gleichgewicht zu verlieren.

Endlich hatte er es geschafft, den ersten Haken zu befestigen, angelte nach einem der Taue und zog es durch die große Öse am Hakenende.

Trotzdem hätte er es niemals geschafft, wären nach einigen Augenblicken nicht zwei weitere Männer aus der Dragon herabgeklettert, um ihm zu helfen. Schließlich hatten sie es geschafft, das Schiff wenigstens notdürftig zu verankern. Die Dragon hüpfte und sprang noch immer am Ende der sechs Haltetaue, die er im Eis befestigt hatte, und trotz aller Beschädigungen war der Auftrieb der gasgefüllten Hülle immer noch viel zu stark, als daß sie auch nur daran denken konnten, das Schiff ganz auf das Eis herabzuziehen. Aber zumindest schwebte die zertrümmerte Gondel jetzt in einer Höhe von nur mehr zehn oder fünfzehn Metern über ihnen, so daß es den Überlebenden gelingen konnte, das rettende Eis zu erreichen, ohne sich zu Tode zu stürzen.

Indiana blickte gehetzt um sich, während aus dem zerschmetterten Heck der Passagiergondel eine Strickleiter heruntergelassen wurde, an deren oberem Ende eine Gestalt erschien. In die schwarze Wolkenwand, die Odinsland nach allen Richtungen einschloß, war Bewegung gekommen. Offensichtlich hatte der Orkan sich entschlossen, jetzt doch weiterzuziehen. Aber er tat es sehr langsam. Vielleicht hatten sie eine Chance, dachte er verzweifelt. Vielleicht würden wenigstens die meisten der Männer noch aus dem Schiff herauskommen, ehe der Orkan da war und die Dragon in Fetzen riß. Vielleicht -

Sein Blick verharrte auf einem Punkt im Meer, vielleicht einen Kilometer entfernt, scheinbar unmittelbar vor der schwarzen Wolkenwand. Irgend etwas dort erregte seine Aufmerksamkeit. Im ersten Moment fiel es ihm etwas schwer, es zu erkennen, denn der wabernde Hintergrund machte es unmöglich, Einzelheiten wahrzunehmen. Irgend etwas… tauchte aus dem Meer auf, etwas Großes, Dunkles, Wuchtiges. Es wuchs heran, wurde größer, wie die Spitze eines Turms, der direkt aus dem Meeresgrund emporstieg, und wurde schließlich zu einer langgestreckten, gedrungenen Masse; ein stählerner Hai aus grauem Eisen, auf dessen Flanke ein blutroter Kreis mit einem Hakenkreuz prangte!

Ein Unterseeboot!

Seltsamerweise empfand Indiana keinerlei Erleichterung; ganz im Gegenteil. Daß dieses Boot ausgerechnet hier und ausgerechnet jetzt auftauchte, konnte kein Zufall mehr sein. Er hatte plötzlich eine ganz bestimmte Vorstellung davon, wer die Signale des Peilsenders verfolgt hatte, den sie an Bord der Dragon gefunden hatten.

Und warum.

Und seine Befürchtungen erwiesen sich als nur zu berechtigt. Das Unterseeboot tauchte völlig auf, nahm langsam Fahrt auf und richtete den Bug auf Odinsland. Es bewegte sich nicht allzu schnell, aber Indiana konnte trotz der großen Entfernung erkennen, wie das Turmbug geöffnet wurde und Gestalten in dunkelblauen Uniformen auf das Deck strömten. Gehetzt blickte er um sich. Ein Großteil der Männer hatte die Dragon bereits verlassen, unter ihnen auch Bates, Browning und — wie er mit einem Gefühl unendlicher Erleichterung feststellte — auch Dr. Rosenfeld. Einige andere waren dabei, große Bündel mit ihrer Notausrüstung von Bord zu werfen. Die meisten davon prallten auf das Eis auf und verschwanden sofort auf Nimmerwiedersehen, weil sie auf dem abschüssigen Untergrund keinen Halt fanden.

Aber wo war Quinn?

Indiana rannte los. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Dr. Rosenfeld entsetzt zusammenfuhr, und er hörte, wie auch Bates und Browning ihm zuschrien, zurückzukommen, aber er lief nur noch schneller.

Mehr schlitternd als laufend erreichte er die wild pendelnde Strickleiter, ergriff sie und begann in fliegender Hast hinaufzuklettern. Mehr als einmal mußte er ausweichen und sich nur mit einer Hand oder einem Fuß festhalten, um einem Mann Platz zu machen, der von oben zu ihm herabgeklettert kam, und einmal sauste eines der verschnürten Bündel mit der Überlebensausrüstung so dicht an ihm vorbei, daß er um ein Haar in die Tiefe gerissen worden wäre.

«Indiana! Komm zurück!« schrie ihm Dr. Rosenfeld hinterher. Und auch Bates brüllte: »Jones! Sind Sie wahnsinnig geworden!!«

Vermutlich war er das. Aber er würde seinen Freund niemals im Stich lassen, und er hatte auch gar keine Zeit, wirklich über das nachzudenken, was er tat. Zitternd vor Erschöpfung und Kälte erreichte er die Gondel, zog sich ins Innere des zertrümmerten Wracks und hastete an den Männern vorbei, die ihm entgegenströmten.

«Quinn!«brüllte er.»Wo bist du?«

Wie als Antwort drang ein ungeheures Dröhnen und Knirschen aus der Höhe zu ihm herab, und eine Sekunde später hörte er das schrille Jaulen eines Hundes. Indiana lief noch schneller, stolperte über Trümmer und reglos daliegende menschliche Körper und erreichte die Leiter nach oben. Das Hundegebell und — heulen wurde lauter und schriller, und auch das schreckliche Mahlen und Knirschen des zerberstenden Luftschiffrumpfes nahm zu.

Indiana kletterte nach oben, dabei unentwegt Quinns Namen brüllend, stieß einen Mann beiseite, der ihn aus großen Augen anstarrte und ihn zurückzuhalten versuchte, und zog sich mit einer verzweifelten Bewegung durch die Bodenklappe ins Innere des Zeppelinrumpfes.

Die Dragon war kaum mehr wiederzuerkennen. Hier oben schien es nichts zu geben, was noch heil war, und obwohl er all seine Aufmerksamkeit darauf konzentrierte, auf den Beinen zu bleiben und sich dem Laderaum mit den Hunden zu nähern, sah er doch, daß nur noch die Hälfte der Gastanks gefüllt war.

Er sprengte die Tür mit der Schulter auf, taumelte in den Raum und sah, wie Quinn einen der Hunde unter einem umgestürzten Schlitten hervorzuziehen versuchte. Das Tier mußte schwer verletzt und halb verrückt vor Schmerz und Angst sein, denn es schnappte unentwegt nach ihm. Quinns rechte Hand war voller Blut.

«Quinn! Wir müssen raus hier!«Indiana war mit einem Satz bei dem Eskimo, packte ihn bei der Schulter und versuchte ihn zurück-zuzerren. Aber das einzige Ergebnis war ein wütendes Knurren des Eskimos — und ein derber Stoß mit dem Ellbogen, der Indiana zurück — und gegen die Wand taumeln ließ. Ein weißes Fellbündel schoß an ihm vorbei, raste durch die offenstehende Tür und verschwand mit einem schrillen Jaulen in der Tiefe, weil es zu spät bemerkte, daß der Laufgang vor der Tür nicht mehr vorhanden war.

«Quinn!«brüllte Indiana.»Du kannst nichts mehr für sie tun!«

Quinn reagierte auch diesmal nicht, sondern versuchte weiterhin vergeblich, den eingeklemmten Hund zu befreien, ohne darauf zu achten, daß das Tier, das fast rasend vor Schmerz und Angst war, seine Zähne immer wieder in seinen rechten Arm grub. Indiana rappelte sich mühsam hoch, starrte den riesigen Eskimo eine Sekunde lang beinahe verzweifelt an und ballte die Fäuste. Wenn es sein mußte, würde er seinen Freund eher niederschlagen und aus dem Schiff tragen, als ihn seinem Schicksal zu überlassen.

Als er den ersten Schritt in Quinns Richtung machte, erscholl von draußen ein peitschendes, rasend schnelles Hämmern, und fast im gleichen Sekundenbruchteil erschien eine schnurgerade diagonale Linie faustgroßer, ausgezackter Löcher in der Außenwand der Kabine. Ein helles Schwirren und Heulen von Querschlägern mischte sich in das Jaulen der Hunde und den tobenden Lärm des sterbenden Luftschiffs, und irgend etwas surrte mit einem ekelhaften Geräusch so dicht an Indianas Gesicht vorbei, daß er den kochenden Luftzug spüren konnte.

Instinktiv warf er sich zu Boden, kam mit einer Rolle wieder auf die Füße und stürzte sich auf Quinn. Der Eskimo versuchte ihn abzuschütteln, aber die Angst verlieh Indiana schier übermenschliche Kräfte: Er zerrte seinen Freund einfach mit sich, nahm zwei, drei zornige Hiebe, die Quinn auf sein Gesicht abschoß, einfach hin und versetzte ihm einen Stoß, der ihn fast bis zur Tür taumeln ließ.

Wieder erscholl dieses peitschende Geräusch draußen auf dem Meer, und diesmal konnte Indiana hören, wie hoch über ihren Köpfen die Außenhülle ihres Luftschiffs zerriß und zischend das Gas ausströmte.»Sie schießen!«schrie er.»Diese verdammten Schweine feuern auf uns!«

Die Worte schienen Quinn endgültig in die Wirklichkeit zurückzu-reißen. Eine Sekunde lang stand er hoch aufgerichtet und reglos einfach da und starrte abwechselnd Indiana und die Hunde an, dann hob er wie in einer flehenden Geste beide Hände und wollte etwas sagen, aber Indiana ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Grob packte er ihn am unverletzten Arm, zerrte ihn mit sich aus der Kabine und stolperte, so schnell er konnte, den zerstörten Laufsteg entlang auf die Bodenklappe zu. Sein Blick fiel durch eines der gewaltigen Löcher in der Außenhülle der Dragon aufs Meer hinaus. Er konnte das Unterseeboot jetzt sehen. Das dumpfe Hämmern und Dröhnen erklang jetzt ununterbrochen, und auf dem Bug des U-Boots blitzte es im gleichen Rhythmus auf. Dünne grelle Lichtfinger stachen nach der Dragon und schlugen mit fürchterlicher Wucht in ihren Rumpf; Leuchtspurgeschosse, mit denen das MG am Bug des U-Boots das sterbende Luftschiff eindeckte. Der Weg nach unten wurde zu einem Spießrutenlauf. Es war nicht nur das MG-Feuer, mit dem das U-Boot die Dragon regelrecht in Stücke schoß. Rings um sie herum begann das Schiff, nun vollends seiner Stabilität beraubt, auseinanderzubrechen. Ganze Teile der Passagiergondel brachen auseinander und stürzten polternd in die Tiefe, und von oben regneten jetzt unentwegt Trümmer herab. Irgend etwas explodierte, und einmal blieb Quinn für eine einzige, aber entsetzlich lange Sekunde stehen und blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren, als sich in das Krachen und Bersten des sterbenden Schiffes das schrille Jaulen eines Hundes mischte. Wie sie es geschafft hatten, in einem Stück und unverletzt nach unten zu kommen, wußte selbst Indiana hinterher nicht mehr zu sagen. Irgendwann, nach einer Ewigkeit, die sie durch ein Chaos aus zusammenbrechenden Wänden, fliegenden Trümmern und tödlichen Leuchtspurgeschossen getaumelt zu sein schienen, lag der Notausstieg unter ihnen, und das Wunder, auf das Indiana kaum noch zu hoffen gewagt hatte, war geschehen: Die Strickleiter war noch da, und die Dragon hatte sich sogar noch ein gutes Stück weiter auf das Eis herabgesenkt, jetzt, wo das Gas aus ihren durchschossenen Tanks schneller entwich. Das U-Boot feuerte noch immer, aber das MG konzentrierte seine Garben jetzt auf die Hülle der Dragon, so daß sie zumindest im Moment nicht Gefahr liefen, getroffen zu werden.

Indiana gestikulierte heftig mit Quinn, um ihn dazu zu bewegen, als erster die Strickleiter hinabzusteigen, aber der Eskimo schüttelte nur den Kopf. Indiana verschwendete keine kostbare Zeit darauf, mit ihm zu diskutieren, sondern schwang sich auf die Strickleiter und begann, so schnell er konnte, in die Tiefe zu steigen. Über ihm erschien die riesige Gestalt Quinns.

Sie hatten die Hälfte des Weges hinter sich, als sie auch dem U-Boot-Kommandanten aufzufallen schienen. Für eine Sekunde verstummte das MG-Feuer, und als es wieder einsetzte, zielten die weißglühenden Leuchtspurgeschosse wie tödliche Lichtblitze auf Quinn und ihn. Wahrscheinlich war es einzig der Umstand, daß sich die Dragon wie ein sterbender Wal über ihnen hin und her warf und die Strickleiter immer stärker zu hüpfen und schwanken begann, der ihnen das Leben rettete. Mehr als einmal kamen die MG-Garben so nah, daß Indiana in Erwartung des tödlichen Aufschlages bereits die Augen schloß, aber sie wurden nicht getroffen. Eines der Geschosse durchschlug eine der geflochtenen Sprossen, kaum eine Handbreit über ihm, und ein zweites streifte Quinn, brannte aber nur eine rauchende Spur in das Fell seines Mantels, ohne ihn wirklich zu treffen.

Dann waren sie aus dem Schußfeld heraus und in einem toten Winkel, in dem sie das MG nicht mehr erreichen konnte. Wieder stockte das Feuer, und die winzige Pause, die ihnen blieb, reichte für Indiana gerade aus, den letzten Meter mit einem gewaltigen Sprung zurückzulegen und hastig beiseite zu treten, als Quinn ihm auf die gleiche Weise folgte.

«Verschwindet! Um Gottes willen, lauft weg!«

Indiana wußte nicht, wem die Stimme gehörte oder woher sie kam — aber als er sich herumdrehte, sah er, wie die Besatzung der Dragon in ihrer Panik vor ihm und Quinn zurückwich. Genauer gesagt, weniger vor Quinn und ihm, als vielmehr vor der Dragon selbst, die sich langsam, aber unaufhaltsam auf die Seite zu legen und gleichzeitig zu stürzen begann.

In verzweifelter Hast rannten sie los. Der Abstand zwischen ihnen und der zerrissenen Unterseite der Dragon betrug noch zehn Meter, dann noch acht, sieben…

Sie hätten es trotz allem nicht geschafft, hätte das deutsche U-Boot nicht abermals in diesem Moment das Feuer eröffnet. Seiner beiden lebenden Zielscheiben beraubt, lenkte der MG-Schütze seine Garben wieder auf das gewaltige Luftschiff. Die Leuchtspurgeschosse rissen kopfgroße Löcher in die Außenhülle der Dragon, prallten als funkensprühende Querschläger von den Leichtmetallrippen ab oder zerfetzten die Luftsäcke darunter. Das Schiff bebte, schien sich wie ein tödlich getroffenes Riesentier aufzubäumen — und zerbrach in zwei Teile!

Das hintere, größere Bruchstück, in dem sich noch ein oder zwei intakte Gastanks befinden mußten, taumelte wie ein übergroßer durchlöcherter Luftballon davon, während das vordere Drittel mit den Überresten der Passagiergondel plötzlich wie ein Stein zu Boden stürzte. Indiana kam nicht einmal mehr dazu, einen Schreckensruf auszustoßen, sondern riß nur noch instinktiv die Arme über den Kopf und warf sich flach auf den Boden; eine halbe Sekunde, bevor etwas von der Größe eines Berges direkt auf ihn und Quinn herabzustürzen schien und sie unter sich begrub. Die gesamte Eisinsel erbebte unter dem Aufprall des tonnenschweren Wracks, und rings um ihn herum zersplitterten Glas, Holz und Stahl. Etwas traf seinen Arm und jagte einen dumpfen und betäubenden Schmerz durch seinen Körper, und ein glühendheißer Luftzug streifte seinen Hinterkopf und seinen Rücken. Ein Regen kleiner und großer Trümmerstücke prasselte auf ihn herab, und dann legte sich etwas Gewaltiges, Weiches über ihn und verschluckte auch noch das letzte bißchen Licht.

Sekundenlang blieb er einfach reglos liegen und überlegte ernsthaft, ob er überhaupt noch am Leben war. Eigentlich hätte er es nicht sein dürfen; er lag völlig unter den Trümmern eines ganzen Luftschiffs begraben. Und als wäre das noch nicht genug, schien ein Teil des Wracks direkt über ihm explodiert oder zumindest in Brand geraten zu sein, denn aus dem anfangs warmen Hauch, der ihn gestreift hatte, wurde allmählich Hitze, die schon mehr als unangenehm war. Er versuchte, sich zu bewegen, aber es ging nicht: Seine Beine waren unter einem scheinbar tonnenschweren Gewicht eingeklemmt, und alles, was unterhalb seiner Hüfte lag, war völlig gefühllos. Im ersten Moment empfand er einen jähen Schrecken, als ihm die Möglichkeit durch den Kopf schoß, daß er zwar überlebt hatte, möglicherweise aber gelähmt war. Dann versuchte er noch einmal, sein rechtes Bein zu bewegen, und diesmal spürte er nicht nur einen scharfen Schmerz, der durch seinen Knöchel bis ins Knie hinaufschoß, sondern auch, wie sich das Gewicht auf seinem Unterleib unter den Bewegungen ein wenig verlagerte.

Aber das Wissen, nicht mit gebrochenem Rückgrat, sondern nur hilflos eingeklemmt dazuliegen, beruhigte ihn nur wenig. Die Hitze stieg immer mehr, jetzt konnte er das Prasseln von Flammen hören, und auch die Dunkelheit rings um ihn war nicht mehr ganz so undurchdringlich. Ein blasser rötlicher Schein drang durch die Schwärze. Indiana versuchte abermals, sich hochzustemmen, aber das Ergebnis war das gleiche wie vorher. Was immer quer über seinen Beinen lag und ihn gegen den Boden nagelte, mußte Tonnen wiegen.

Durch das Zischen der Flammen drangen jetzt Schreie an sein Ohr, Schritte und die Geräusche zahlreicher Menschen, die sich näherten. Indiana begann verzweifelt um Hilfe zu schreien, aber er ahnte, daß seine Rufe kaum gehört werden würden.

Die Zeit wurde ihm lang und länger. Die Hitze stieg immer mehr, erreichte die Grenze des Erträglichen und überstieg sie. Die Luft in seinem winzigen Versteck wurde warm und schließlich kochend heiß, so daß jeder einzelne Atemzug ihm unerträgliche Schmerzen bereitete. Und er begann den Druck des auf ihm lastenden Gewichts nun doch ganz erheblich zu spüren.

Schließlich näherten sich Schritte. Er hörte die Geräusche von Männern, die die Trümmer durchsuchten und sich Worte zuschrien, und brüllte mit seinem letzten bißchen Atem um Hilfe. Er wußte nicht, ob seine Stimme überhaupt gehört wurde oder ob es purer Zufall war — aber dann waren die Schritte ganz nah, und dann spürte er, wie sich jemand an der Plane, die ihn unter sich begraben hatte, zu schaffen machte. Man schrie seinen Namen, dann hörte er ein Scharren und Rasseln, und plötzlich durchbrach etwas die dunkle Decke über ihm und schlitzte sie auf eine Länge von fast einem Meter auf: eine Messerklinge, die sein Gesicht nur um Zentimeter verfehlte und dann zurückgezogen wurde, um einer Hand Platz zu machen, die mit aller Kraft an der Plane riß und zerrte, um das Loch zu erweitern. Und dann waren schließlich Hände da, Dutzende von Händen, wie es schien, die die Trümmerstücke von ihm herunterzerrten und seinen eingeklemmten Körper befreiten.

Das erste, was er wieder bewußt wahrnahm, war Mabels besorgtes Gesicht, als sie sich über ihn beugte und seinen Körper nach Verletzungen abtastete. In ihrem Blick erschien ein Ausdruck unendlicher Erleichterung, als sie sah, wie er die Augen aufschlug und sie anblickte.

«Indiana!«rief sie erleichtert aus und umarmte ihn — mit dem Ergebnis, daß Indiana vor Schmerz die Zähne zusammenbiß und die Luft einsog.

Mabel ließ ihn erschrocken wieder los und richtete sich auf.»Bist du verletzt?«fragte sie ihn.

«Ich… bin nicht ganz sicher«, antwortete Indiana stockend. Er versuchte, sich aufzurichten, und stellte zu seiner Überraschung fest, daß es ihm gelang. Sein Rücken fühlte sich immer noch an, als hätte eine ganze Horde Eisbären Rumba darauf getanzt, und alles, was unterhalb seiner Hüften lag, war taub und gefühllos. Aber als er erschrocken an sich herabsah, registrierte er, daß er die Beine bewegen konnte. Es schien zumindest nichts gebrochen zu sein.

Ein Marinesoldat erschien neben Dr. Rosenfeld und streckte die Hand aus. Indiana griff dankbar danach, zog sich vorsichtig in die Höhe und stand — zwar schwankend und alles andere als sicher, aber immerhin aus eigener Kraft.

«Danke«, murmelte er müde.»Haben Sie mich ausgegraben?«

Der Soldat schüttelte den Kopf.»Das war der da«, sagte er und deutete auf einen Punkt hinter Indiana. Indiana drehte sich um. Hinter ihm türmte sich das Wrack der Dragon auf. Sämtliche Gastanks schienen zerfetzt zu sein, so daß die Hülle schlaff über den zusammengedrückten Stahlträgern hing, in denen sich heulend der Wind fing. Überall lagen Trümmer herum, und dazwischen entdeckte er eine hünenhafte, in Fell gekleidete Gestalt, neben der zwei weiße Huskys aufgeregt hin und her sprangen.

Im ersten Moment begriff Indiana nicht, woher die Hunde kamen. Dann wurde ihm klar, daß sich der Laderaum mit den Tieren im vorderen, abgestürzten Drittel der Dragon befunden haben mußte. Und mit ihm die gesamte Ausrüstung.

Er winkte Quinn flüchtig zu, drehte sich wieder herum und sah abwechselnd Mabel und den Marinesoldaten an.»Wo sind die anderen?«fragte er.

Der Soldat deutete auf eine Gruppe von vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Personen, die in respektvollem Abstand zu dem Wrack standen. Er schwieg. Indiana blickte erst ihn, dann Mabel betroffen an.»Sind das alle?«fragte er.

Mabel nickte stumm, und der Soldat sagte:»Alle, die herausgekommen sind. Vielleicht gibt es in den Trümmern noch ein paar Überlebende. «Aber seine Worte klangen nicht sehr überzeugend.

Wie sich herausstellte, waren von den fast siebzig Passagieren, die in Lakehurst an Bord der Dragon gegangen waren, noch sechsundzwanzig am Leben. Und annähernd die Hälfte davon war mehr oder weniger schwer verletzt. Als Indiana und Mabel zu der kleinen Gruppe Überlebender hinübergingen, die sich in zwei-, dreihundert Schritten Entfernung vom Wrack des Schiffes versammelt hatten, entdeckte er auf Anhieb ein halbes Dutzend Männer, denen er kaum noch eine Chance einräumte, den nächsten Morgen zu erleben. Und auch von denen, die mehr Glück gehabt hatten, war kein einziger ohne eine Unzahl von Kratzern, Prellungen und mehr oder weniger schlimmen Hautabschürfungen davongekommen. Er hielt nach Mor-ton Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken.

Dafür sah er Bates und Dr. Browning, die beide ebenso aufgeregt wie vergeblich versuchten, eine Handvoll Soldaten zurückzuhalten, die eine Gestalt in einer zerrissenen, grauen Wehrmachtsuniform gepackt hatten und auf sie einschlugen.

Mabel hielt erschrocken die Luft an, als sie sah, was vorging, und Indiana zögerte nur eine Sekunde, bevor er losrannte. Er packte den erstbesten Mann, dessen er habhaft wurde, riß ihn herum und versetzte ihm einen wuchtigen Fausthieb in den Magen, der den Marinesoldaten zusammenklappen ließ. Blitzschnell schleuderte er ihn davon, stieß einen zweiten Mann, der sich auf ihn werfen wollte, zu Boden und stellte sich schützend vor von Ludolf, der wimmernd auf die Knie gesunken war und die Hände gegen das Gesicht preßte. Zwischen seinen Fingern sickerte Blut hervor.

«Was geht hier vor?«schrie er.»Seid ihr völlig verrückt geworden?«

Ein Soldat trat herausfordernd auf ihn zu und deutete wütend auf von Ludolf.»Geh mir aus dem Weg!«forderte er.»Dieses verdammte Schwein ist doch schuld an allem!«

Er machte einen weiteren Schritt — und Indiana schickte ihn mit einem blitzschnellen Fausthieb zu Boden.

Drohend rückten die übrigen näher. Und nicht nur sie. Immer mehr und mehr Soldaten gesellten sich zu ihnen, bis Indiana, von Ludolf, Bates und Browning, die neben ihn getreten waren, von einem Ring wütender Gestalten eingeschlossen waren.

«Seid doch vernünftig, Leute«, sagte Browning beschwörend.»Das führt doch zu nichts.«

Die Männer reagierten nicht, sondern rückten abermals näher. Und plötzlich lag etwas wie Mordlust in der Luft, ein Haß, den sich Indiana in dieser Intensität trotz allem einfach nicht erklären konnte. Irgend etwas ging mit diesen Männern vor. Das waren nicht mehr die disziplinierten Soldaten, die das Schiff in Lakehurst betreten hatten. Es war ein mordlüsterner Mob, der Blut sehen wollte, ganz egal, wessen.

«Ihr glaubt doch nicht im Ernst, daß von Ludolf dafür verantwortlich ist?«fragte er.

«Wer denn sonst«, brüllte einer der Männer.»Es war ein deutsches U-Boot, oder?«

«Sicher«, antwortete Indiana sarkastisch.»Deswegen haben sie uns ja auch beschossen. Wahrscheinlich, weil sie genau wußten, daß wir ihre eigenen Leute an Bord hatten.«

Wäre die Situation normal gewesen, dann hätten die Worte sogar gewirkt. Aber die Männer waren nicht mehr für Ironie oder Logik empfänglich. Sie rückten wieder ein Stück näher, und Indiana spürte, wie sich die Spannung unter ihnen noch weiter ausbaute.

Plötzlich ertönte hinter ihnen ein drohendes Knurren. Zwei, drei Soldaten wichen erschrocken zur Seite, um einer riesenhaften Gestalt in einem blutbefleckten Fellmantel Platz zu machen, die von zwei großen, ebenfalls über und über blutbeschmierten Hunden eskortiert wurde. Quinn sagte kein Wort, aber allein der Ausdruck, der auf seinem Gesicht lag, ließ die Männer erbleichen und hastig noch ein paar Schritte weiter zurückweichen. Und was sein Anblick allein vielleicht noch nicht erreicht hatte, das bewirkte der der Hunde.

Selbst Indiana erschrak, als er die beiden Huskys sah. Es war nicht allein ihr Aussehen. Die Tiere waren verletzt und blutverschmiert, aber das Schlimmste war das Glitzern in ihren Augen. Aus den großen, aber normalerweise sanftmütigen Tieren waren reißende Bestien geworden. Die Lefzen waren drohend hochgezogen und entblößten furchteinflößende Gebisse, und das Knurren, das aus ihren Kehlen drang, klang eher wie das von Wölfen als das von seit Jahrhunderten domestizierten Schlittenhunden. Es war die gleiche mörderische Wut, die auch in den Augen der Soldaten loderte; aber sie war schlimmer, denn es war die Wut eines Tieres, der rücksichtslose Haß eines Ungeheuers, das nur einen Wunsch kennt: sich auf seine Beute zu stürzen und sie zu zerreißen.

«Okay«, sagte Indiana.»Wer immer noch Lust hat, sich auf Major von Ludolf zu stürzen, der kann es ja versuchen. «Er wartete, bis Quinn und die beiden Hunde neben ihn und die anderen getreten waren, und blickte herausfordernd in die Runde.

Niemand rührte sich, aber Indiana spürte, daß die Gefahr auch jetzt noch nicht vorüber war. Was mit diesen Männern geschehen war, schien sie auf einer tieferen Ebene ihres Bewußtseins in ebenso reißende Bestien verwandelt zu haben wie die Hunde.

Aber diesmal verging der gefährliche Moment, ohne daß es zur Katastrophe kam. Langsam, fast widerwillig, trat einer der Männer zurück und trottete davon, dann ein zweiter, ein dritter — und schließlich löste sich die ganze Gruppe auf.

Neben ihm atmete Browning erleichtert auf, während sich Bates und Mabel um von Ludolf bemühten, der noch immer auf den Knien hockte. Er hatte aufgehört zu stöhnen und die Hände heruntergenommen. Sein Gesicht war geschwollen und blutüberströmt, und in seinem Blick war ein Flackern, das Indiana an das von van Hesling erinnerte.

«Alles in Ordnung?«fragte er.

Es dauerte Sekunden, bis von Ludolf überhaupt auf die Worte reagierte. Mühsam hob er den Blick und sah Indiana an, dann versuchte er, etwas zu sagen, brachte im ersten Moment aber nur ein unverständliches Stammeln zustande.

«Laß ihn in Ruhe«, bat Mabel.»Du siehst doch, daß er kaum sprechen kann.«

Sie betrachtete besorgt von Ludolfs zerschlagenes Gesicht und fuhr mit den Fingerspitzen über seine Schläfen. Der Major sog schmerzerfüllt die Luft ein und machte eine Bewegung, als wolle er ihre Hand beiseite schlagen, führte sie aber nicht zu Ende.

«Ich… ich habe keine Ahnung«, stammelte er.»Ich weiß nicht, woher dieses Schiff kam. Ich weiß nicht, warum sie auf uns geschossen haben.«

Indiana glaubte ihm sogar. Von Ludolf war nicht in der Verfassung, um noch zu lügen. Und außerdem waren seine Worte die einzige Erklärung, die Sinn machte. Selbst die Deutschen opferten nicht zwei hochrangige Offiziere, nur um den Schein zu wahren.

«Wo, zum Teufel, ist dieses Schiff dann hergekommen?«fragte Ba-tes.

Von Ludolf stöhnte, als Mabel einen Streifen aus ihrer Bluse riß und damit das Blut von einer üblen Platzwunde auf seiner Schläfe zu tupfen begann.

«Ich weiß es nicht«, sagte er noch einmal.»Ich habe keine Ahnung, warum… warum sie das getan haben.«

«Vielleicht sollten wir uns später darum kümmern«, meinte Browning.»Im Moment interessiert mich eher, wo dieses Schiff jetzt ist, nicht, wo es hergekommen ist.«

«Auf der anderen Seite. «Quinn deutete nach Norden, zum entgegengesetzten Ende von Odinsland.»Ich habe gesehen, wie es beigedreht hat.«

Indiana sah den Eskimo zweifelnd an, aber er widersprach nicht; anscheinend war er länger unter den Trümmern begraben gewesen, als ihm bis jetzt klargewesen war.

«Aber warum haben sie uns beschossen?«fragte er.»Es war doch nicht einmal mehr nötig.«

«Vielleicht doch«, sagte Browning halblaut.

Indiana sah ihn fragend an, und auch von Ludolf und Mabel blickten auf.

«Ich meine… von ihrem Standpunkt aus«, ergänzte Browning hastig. Plötzlich wirkte er nervös, als bedaure er die Worte, die ihm so vorschnell herausgerutscht waren.

«Sie verheimlichen uns etwas, nicht wahr, Dr. Browning?«fragte Indiana geradeheraus.

Browning wich seinem Blick aus und antwortete nicht.

«Verdammt, was muß denn noch passieren, bis Sie uns die ganze Geschichte erzählen?«rief Bates aufgebracht.

«Es gibt nichts mehr zu erzählen«, verteidigte sich Browning. Die Lüge war so ungeschickt, daß sie wahrscheinlich nicht einmal mehr in seinen eigenen Ohren überzeugend klang. Trotzdem fuhr er fort:»Ich versuche ja nur, mich in den Kommandanten dieses U-Bootes zu versetzen. Wahrscheinlich… hatte er Befehl, uns am Betreten der Insel zu hindern. Und als er gesehen hat, daß die Dragon zur Landung ansetzte — «

«So ein Unsinn!«sagte Mabel.»Und wir sind nicht gelandet, sondern abgestürzt. Und warum sollte ein deutsches U-Boot uns daran hindern, auf Odinsland zu landen? Immerhin sind wir hier, weil die deutsche Regierung uns darum gebeten hat, diese Expedition durchzuführen.«

«Dann schwimmen Sie doch hin und fragen ihn, warum er das getan hat!«brüllte Browning. Sein Gesicht flammte vor Zorn, und plötzlich war auch in seinen Augen diese Wut.

Indiana trat hastig zwischen ihn und Mabel und hob besänftigend die Hand.»Bitte!«beschwor er sie.»Hört auf, euch zu streiten. Wir reden später über alles. Im Moment haben wir wirklich andere Sorgen. «Er deutete auf das Wrack der Dragon.»Vielleicht gibt es dort noch Überlebende.«

«Keine Überlebenden«, sagte Quinn.

Indiana sah den Eskimo eine Sekunde lang verwirrt an, ehe ihm wieder einfiel, daß Quinn das Wrack durchsucht hatte.»Bist du sicher?«fragte er.

Quinn nickte.»Niemand. «In seiner Stimme war ein unbestimmter Schmerz, den vielleicht nur Indiana zu deuten verstand. Mitfühlend blickte er seinen Freund an, dann die beiden Hunde, die sich wie schutzsuchend an ihren Herrn drängten und längst aufgehört hatten zu knurren.

Er war plötzlich sicher, daß Quinn das Wrack nicht durchsucht hatte, um nach menschlichen Überlebenden zu sehen.

Niedergeschlagen blickte er zu den zertrümmerten Überresten des Luftschiffs hinüber. Sie hatten trotz allem noch Glück gehabt. Es war das vordere Drittel der Dragon, das auf das Eis von Odinsland herabgestürzt war; der Teil des Schiffs, in dem sich ihre Polarausrüstungen und der Großteil der Lebensmittel befanden. Und — wenn sie sehr, sehr viel Glück hatten — vielleicht auch das Funkgerät, von dem Lestrade gesprochen hatte.

«Gut«, seufzte Indiana schweren Herzens.»Bates, Mabel und Dr. Browning bleiben hier und passen auf Major von Ludolf auf. Und schickt ein paar Männer zur anderen Seite der Insel hinüber, um nach diesem U-Boot Ausschau zu halten. Ich habe keine besondere Lust, plötzlich einem halben Dutzend schießwütiger deutscher Soldaten gegenüberzustehen.«

Er warf Quinn einen auffordernden Blick zu.»Ist der Frachtraum auch runtergekommen?«

Quinn nickte.»Das meiste ist zerstört«, sagte er.»Aber ich glaube, ein Teil hat es überstanden.«

«Dann sollten wir versuchen, zu retten, was zu retten ist«, erwiderte Indiana Jones und ging los.

Bis zum Abend hatten sie aus den Trümmern des Schiffs geborgen, was noch zu bergen war. Wie sich herausstellte, hatten sie tatsächlich Glück im Unglück gehabt: Der allergrößte Teil ihrer Ausrüstung war vernichtet oder auf Nimmerwiedersehen mit den übrigen zwei Dritteln der Dragon im Meer versunken, aber sie fanden eine Anzahl Zelte und genügend warme Kleidung, um sich wenigstens notdürftig vor der Kälte zu schützen. Browning hatte vorgeschlagen, ihr Lager im Wrack der Dragon aufzuschlagen, — die gewaltige Hülle des Luftschiffs war zwar zerfetzt und über und über von Einschußlöchern übersät, bot aber trotzdem noch hinreichend Schutz gegen den eisigen Wind, der über die Oberfläche des Berges fegte. Aber sowohl Indiana als auch Quinn waren dagegen gewesen. Der Orkan war zwar nicht wiederaufgelebt, aber sie wußten beide, wie tückisch selbst ein normaler Sturm in diesem Teil der Welt sein konnte. Eine einzige kräftige Windbö, und das gesamte Luftschiffwrack — samt allen, die sich darin aufhielten — konnte davongeweht und ins Meer geschleudert werden. Also hatten sie die restliche Ausrüstung aus dem Schiff getragen und sich eine gute Dreiviertelmeile von den Überresten der Dragon entfernt. Und als sich der Abend herabsenkte und sie ihr Lager aufgeschlagen, warme Kleidung und Lebensmittel verteilt und eine erste etwas gründlichere Bestandsaufnahme gemacht hatten, wurde Indiana erst das ganze schreckliche Ausmaß der Katastrophe bewußt. Von den sechzig Elitesoldaten, die zu Lestrades Truppe gehört hatten, lebten noch neunzehn. Bates, Morton und Browning waren nur leicht verletzt, aber von Ludolf hatte es übel erwischt; selbst ohne die Verletzungen, die ihm die Soldaten zugefügt hatten. Sie hatten Baldursons Leichnam im Wrack des Schiffes gefunden, aber von Erikson fehlte jede Spur. Wahrscheinlich war er wie alle anderen in dem abstürzenden Teil der Dragon gewesen. Und das Schlimmste von allem war: Sie hatten trotz intensivster Suche nicht einmal die Spur eines Funkgerätes gefunden. Wo die mit Schaumgummi ausgeschlagene Holzkiste mit dem tragbaren Sender gestanden hatte, gähnte ein gewaltiges Loch in der Außenwand des Laderaums.

Indiana gab sich allerdings Mühe, sich seine Niedergeschlagenheit nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, als er kurz nach Dunkelwerden in das kleine Zelt kroch, das er sich mit Mabel, Browning, Bates, Morton und von Ludolf teilte. Aber der Ausdruck auf den Gesichtern der anderen sagte ihm deutlich, daß sie ebenfalls wußten, wie aussichtslos ihre Lage war.

Sie aßen schweigend: kaltes, geschmackloses Konservenfleisch, denn nicht ein einziger Gaskocher hatte den Absturz überstanden, und sie wagten nicht, ein Feuer anzuzünden. Es gab genügend Holz im Wrack der Dragon, und Indiana hatte einen Teil der Männer während der letzten eineinhalb Stunden dazu abgestellt, es in Sicherheit zu bringen. Aber ein Feuer bedeutete Licht, und keiner von ihnen hatte das deutsche Unterseeboot vergessen, das mit Sicherheit noch irgendwo in der Nähe der Insel lauerte. Nach dem Essen verteilte Bates die letzten Zigaretten, die er in seiner Dose hatte. Morton, Browning und von Ludolf griffen dankbar zu, während Mabel und Indiana ablehnten. Aber Indiana griff in die Tasche und gab dem deutschen Major Feuer.

Von Ludolf nickte dankbar und nahm einen tiefen, gierigen Zug.

«Danke«, sagte er. Er sah Indiana eine Sekunde lang an.»Und auch noch einmal Dank dafür, daß Sie mir das Leben gerettet haben.«

«Das war ein reines Versehen«, antwortete Indiana spitz.»Außerdem — bedanken Sie sich nicht zu früh. Vielleicht habe ich Ihnen damit nicht einmal einen Gefallen getan.«

«Sie haben eine wunderbare Art, Optimismus zu verbreiten, Doktor Jones«, sagte Browning feindselig.

«Wieso auch nicht?«meinte Indiana sarkastisch.»Unsere Lage ist doch wirklich hervorragend. Wir haben Lebensmittel für zwei, vielleicht sogar drei Tage, keine Möglichkeit, Hilfe herbeizurufen, und praktisch keine Chance, daß irgend jemand unser Verschwinden bemerkt. Und selbst wenn, wüßten sie nicht, wo sie nach uns suchen sollen. Lestrade hat ja während der letzten Tage Funkstille befohlen. Und wenn mich nicht alles täuscht«, fügte er nach einer Sekunde hinzu,»dann treibt diese verdammte Eisscholle weiter nach Norden, und damit noch weiter weg von irgendwelchen Schiffahrtslinien.«

«Wissen Sie, wo sich das Unterseeboot im Moment aufhält?«fragte von Ludolf plötzlich.

Nicht nur Browning sah ihn irritiert und alarmiert zugleich an.»Wieso?«hakte er nach.

«Weil das vielleicht die Rettung wäre«, sagte von Ludolf.

«Das ist nicht Ihr Ernst«, rief Mabel verstört.»Sie glauben, dasselbe Schiff, das uns abgeschossen hat, könnte uns — «

«Bitte verzeihen Sie, Dr. Rosenfeld«, unterbrach sie von Ludolf.»Aber das ist etwas völlig anderes. Ich weiß nicht, warum das U-Boot das Feuer auf die Dragon eröffnet hat. Ich bin sicher, sein Kommandant hatte entsprechende Befehle. Aber selbst wenn es so war, liegt die Situation jetzt etwas anders. Ein feindliches Luftfahrzeug abzuschießen ist eine Sache. Schiffbrüchige zurückzulassen eine ganz andere. Ein deutscher U-Boot-Kommandant tut so etwas nicht.«

«Ein feindliches Luftschiff?«fragte Browning lauernd.

Von Ludolf maß ihn mit einem fast verächtlichen Blick.

«Bitte, Dr. Browning, halten Sie mich nicht für einen Narren. Ich weiß sehr gut, warum die Dragon wirklich hier war.«

«Woher?«zischte Browning.

«Ich habe das eine oder andere aufgeschnappt im Laufe der Tage«, antwortete von Ludolf.»Und ich war auch mit im Wrack, vergessen Sie das nicht. Dort drüben liegen genügend Waffen, um einen Krieg anzufangen. Jedenfalls entschieden zu viele, als daß es sich hier nur um eine wissenschaftliche Expedition handeln könnte.«

«Worum dann?«schnappte Browning. Ein lauernder Ausdruck machte sich auf seinem Gesicht breit.

Auch in von Ludolfs Augen blitzte es auf.»Ich habe bisher weder an Ihrer Intelligenz gezweifelt, noch Sie wie einen Trottel behandelt, Dr. Browning«, sagte er kalt.»Also bitte, tun Sie mir den Gefallen, es umgekehrt auch nicht zu tun.«

Browning beherrschte sich mühsam. Indiana sah, wie sich seine Hände zu Fäusten ballten und wieder öffneten. Die vergangenen Stunden, so hart sie gewesen waren, hatten nichts an der gereizten Stimmung geändert, die hier überall herrschte. Auch er selbst war nicht ganz frei davon. Die Feindseligkeit, die er von Ludolf gegenüber die ganze Zeit über verspürt hatte, drohte allmählich zu echtem Haß anzuwachsen, den er nur noch mühsam beherrschte; und das eigentlich auch nur noch, weil er sich mit aller Macht immer wieder selbst vorhielt, daß es überhaupt keinen Grund für dieses Gefühl gäbe.

«Vielleicht wissen Sie doch mehr, als Sie zugeben«, sagte Browning nach einer Weile.

«Hört auf!«

Morton hatte sich vorgebeugt. Sein Gesicht war kreideweiß, und vielleicht war es das einzige, auf dem nicht Zorn und mühsam unterdrückter Haß, sondern pures Entsetzen geschrieben stand.»Hört auf«, rief er noch einmal.

«Was ist los mit Ihnen«, fragte Mabel besorgt.

Morton sah mit einem Ruck auf. Seine Augen weiteten sich noch mehr.»Spürt ihr es denn nicht?«fragte er.»Es… es greift nach uns allen. Es geht schon wieder los!«

Niemand antwortete, aber Indiana wußte nur zu gut, daß Morton recht hatte. Es war jetzt keine Ahnung mehr, es war die absolute Gewißheit, daß irgend etwas auf diesem Berg auf ihre Gedanken einwirkte.

Er stand auf, schlug den Kragen seiner Pelzjacke hoch und deutete auf den Zeltausgang.»Ich sehe nur kurz nach den Wachen«, sagte er.»Hat jemand Lust, mich zu begleiten?«

Browning und Bates schüttelten den Kopf, aber nach einer Sekunde erhob sich Mabel wortlos und folgte ihm aus dem Zelt.

Ein eisiger Wind schlug ihnen in die Gesichter, als sie sich aufrichteten. Die schwarzen Sturmwolken hatten sich längst verzogen, aber die Temperaturen lagen trotzdem weit unter dem Gefrierpunkt, und der Wind war so stark, daß sie aufpassen mußten, wohin sie traten, um nicht aus dem Gleichgewicht zu geraten. Indiana drehte sich fröstelnd einmal um seine Achse und sah sich in dem winzigen, improvisierten Lager um. Sie hatten insgesamt fünf Zelte aus dem Wrack des Luftschiffs retten können. In vier davon waren die Soldaten und sie selbst untergebracht, das fünfte hatten sie Quinn und seinen beiden Hunden zugewiesen. Die Tiere waren im Lauf des Tages immer nervöser geworden, so daß Quinn selbst vorgeschlagen hatte, sie von den Männern zu trennen. Und natürlich hatte er darauf bestanden, bei ihnen zu bleiben. Indiana war nicht sehr glücklich über diese Entscheidung. Er kannte die Tiere lange genug, um zu wissen, daß sie sich nicht normal verhielten. Und wenn sie den gleichen grundlosen Haß auf alles, was sich bewegte und lebte, verspürten wie die Menschen hier, dann war sogar Quinn vielleicht nicht mehr sicher in ihrer Nähe.

«Paß auf, wo du hintrittst«, sagte er, während er sich langsam nach Norden wandte und losging. Mabel antwortete nicht, aber sie trat etwas näher an ihn heran, so daß ihre Schulter die seine berührte, als sie sich auf den nördlichen Rand des Eisplateaus zubewegten.

Unter dem sternenübersäten Nachthimmel hoben sich die Gestalten der beiden Männer, die am Rand der gewaltigen Eisfläche standen und das Meer beobachteten, als scharf umrissene schwarze Schatten ab. Einer von ihnen drehte sich um und riß erschrocken seine Waffe hoch, als er ihre Schritte hörte, entspannte sich aber wieder, als Indiana die Hand hob und seinen Namen rief. Sie hatten die Männer dort aufgestellt, um das Meer und den kleinen Eisstrand zu beobachten, an dem vor einem halben Jahr die Beiboote der POSEIDON angelegt hatten. Es war die einzige Stelle, an der überhaupt jemand an Land gehen konnte. Falls das U-Boot zurückkam und etwa Soldaten absetzte, dann hier. Das war auch der Grund, warum sie ihr Lager nicht dort unten aufgeschlagen hatten. Zwar wären sie dort vor dem eisigen Wind geschützt gewesen, aber sie hätten prächtige Zielscheiben für das Maschinengewehr des Unterseeboots abgegeben. Und Indiana und Browning waren nicht halb so überzeugt von der Ehrenhaftigkeit eines deutschen U-Boot-Kommandanten, wie von Ludolf es war.

Mittlerweile standen sie schweigend da und blickten auf das Meer hinab. Obwohl die Nacht sehr dunkel war und nicht einmal der Mond am Himmel stand, reichte der Blick sehr weit. Weit genug jedenfalls, um Indiana schmerzhaft die Unendlichkeit des Ozeans vor Augen zu führen, eine schier endlose Wüste aus Wasser, in die sie unaufhaltsam weiter hineintrieben. Der Eisberg mußte in den Griff einer unterseeischen Strömung geraten sein, denn er bewegte sich jetzt immer schneller nach Norden. Indiana schätzte, daß sie allein bis zum nächsten Morgen sicherlich dreißig, wenn nicht vierzig Meilen zurückgelegt haben mußten, wenn er seine Geschwindigkeit beibehielt. Selbst wenn jemand kam, um sie zu suchen, dachte er niedergeschlagen, würden sie einfach nicht mehr da sein, wo man sie vermutete…

Schließlich wandten sie sich wieder um und gingen zum Lager zurück, aber jetzt sehr viel langsamer als auf dem Hinweg, trotz des Windes und der beißenden Kälte.

«Glaubst du, daß wir eine Chance haben?«fragte Mabel plötzlich.

«Ich weiß es nicht, «gestand Indiana nach einer Weile.»Ich wollte, ich könnte mir einreden, wir hätten sie. Aber die Wahrheit ist, ich weiß es nicht.«

Das war eben nicht die Wahrheit. Im Grunde wußte er sehr genau, daß sie keine Chance mehr hatten. Selbst wenn das deutsche U-Boot nicht zurückkam und sie erwischte, dann würden Kälte und Wind sie töten. Ihre Lebensmittel reichten für allerhöchstens drei Tage, und auch, wenn sie das Risiko eingingen, ein Feuer zu entzünden, um sich zu wärmen, könnten sie auf diese Weise im Höchstfall noch zwei, drei weitere Tage herausschinden. Und dann? Sie befanden sich in einem Teil des Meeres, der so gut wie niemals von Schiffen befahren wurde.

Mabel blieb plötzlich stehen, drehte sich zu ihm herum und schlang die Arme um seine Brust, und Indiana erwiderte die Umarmung. Eine ganze Weile standen sie einfach da, hielten sich aneinander fest und schwiegen. Dann löste sich Mabel wieder aus seiner Umarmung und schüttelte den Kopf.»Es muß eine Möglichkeit geben zu überleben«, sagte sie. Ihre Stimme klang eher trotzig als überzeugt, aber Indiana widersprach nicht.

«Van Hesling hat es auch geschafft«, fuhr sie fort.»Er muß monatelang auf diesem Eisberg gewesen sein.«

«Das war etwas anderes«, erwiderte Indiana.»Er war allein. Und er hatte wahrscheinlich genügend Lebensmittel. Und außerdem niemanden, der ihm nach dem Leben getrachtet hat.«

Mabel wischte seine Worte mit einer ärgerlichen Bewegung beiseite.»Vielleicht ist das Schiff die Antwort«, meinte sie.»Er muß an Bord gewesen sein. Er hatte die Kleidung und diese Waffen bei sich.«

«Selbst wenn«, antwortete Indiana traurig,»dann hilft uns das nichts. Wenn Morton die Wahrheit gesagt hat, dann liegt das Ding eine halbe Meile unter uns.«

«Es gibt einen Weg dort hinunter«, widersprach Mabel überzeugt.»Und wir werden ihn finden.«

Sie wollte weitersprechen, aber in diesem Moment drang ein schrilles, wütendes Bellen an ihr Ohr und eine Sekunde später der Schmerzensschrei eines Menschen. Quinn!

«Verdammt!«rief Indiana.»Da stimmt was nicht!«

Sie rannten los. In dem kleinen Zeltlager entstanden Unruhe und Bewegung, ehe sie es erreichten. Männer stürmten aus den Zelten, und das Bellen und Heulen des Hundes wurde immer schriller. Zwei, drei Soldaten näherten sich Quinns Zelt und machten sich am Eingang zu schaffen, aber Indiana erreichte es, ehe sie die Schnüre gelöst hatten, und stieß sie grob beiseite.

Mit einem Ruck riß er die Zeltplane zur Seite und sprang geduckt ins Innere des Zeltes.

Was er sah, ließ ihn für eine Sekunde erstarren. Quinn lag auf dem Rücken, hatte die Knie schützend an den Leib gezogen und wehrte sich mit verzweifelter Kraft gegen die beiden Huskys, die wie tollwütig über ihn hergefallen waren. Sein Mantel hing in Fetzen, sein Gesicht war voller Blut, und der Verband an seiner linken Hand, den Mabel erst vor wenigen Stunden angelegt hatte, färbte sich schon wieder dunkelrot. Mit der anderen Hand schlug er verzweifelt nach einem der Huskys, der immer wieder versuchte, nach seiner Kehle zu schnappen, verfehlte ihn aber, denn das Tier wich seinen Hieben geschickt aus. Der andere Hund hatte sich in seinen linken Stiefel verbissen und zerrte mit einem wütenden Knurren daran.

Indiana war mit einem Satz bei Quinn, versetzte dem Hund, der es auf seine Kehle abgesehen hatte, einen Fußtritt in die Flanke, der ihn davonfliegen ließ, und zog sein Messer.

«Indiana! Nein!«

Indiana ignorierte Quinns Schrei, warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf den Hund und rammte ihm die Klinge mit aller Kraft in die Brust. Das Tier stieß ein schrilles Jaulen aus, bäumte sich auf und starb auf der Stelle.

Vielleicht war Indiana selbst von allen am meisten schockiert. Er… hatte das nicht gewollt. Er hatte Quinn helfen wollen, und er hatte auch Angst vor dem riesigen Hund gehabt, aber er hatte nie vorgehabt, ihn umzubringen. Es war, als hätte irgend etwas nach seiner Hand gegriffen und sie geführt.

Entsetzt richtete er sich auf, starrte das blutige Messer in seiner Hand an und dann Quinn, der mitten in der Bewegung erstarrt war und ihn aus aufgerissenen Augen anblickte. Dann registrierte er eine Bewegung aus den Augenwinkeln und wollte herumfahren. Aber seine Bewegung wäre nicht schnell genug gewesen. Der zweite Hus-ky stieß sich mit unglaublicher Kraft ab und flog wie ein lebendes Geschoß auf ihn zu, die Zähne gebleckt und auf seine empfindliche Kehle zielend.

Ein Schuß krachte. Die Kugel sauste nur eine Handbreit an Indiana vorbei und zerschmetterte den Schädel des Hundes. Das Tier wurde mitten im Sprung herumgerissen, überschlug sich in der Luft und stürzte direkt neben Quinn zu Boden.

Indiana wandte sich um. Im Zelteingang war ein Soldat erschienen. In seinen Händen lag ein Gewehr. Er starrte den Soldaten eine Sekunde lang an, dann drehte er sich um und ließ sich langsam neben dem Eskimo in die Hocke sinken. Er wollte die Hand ausstrecken, um seinen verletzten Freund zu berühren, aber als er dem Blick seiner Augen begegnete, führte er die Bewegung nicht zu Ende.

Quinn sagte kein Wort.

«Es tut mir leid, Quinn«, flüsterte Indiana. Seine Stimme zitterte, und plötzlich spürte er einen harten, bitteren Kloß im Hals.»Das… das habe ich nicht gewollt.«

Quinn schwieg noch immer.

«He, Quinn«, stammelte Indiana.»Das — «

Quinn hob die Hand und machte eine Geste, und Indiana verstummte mitten im Wort. Der Eskimo stand auf. Sein Gesicht war wie Stein, als er auf die beiden toten Huskys hinabblickte. Nicht das geringste Gefühl war darauf abzulesen. Aber als Mabel nach seinem verletzten Arm sehen wollte, stieß er sie grob von sich, wandte sich mit einem Ruck um und lief aus dem Zelt.

Indiana widerstand der Versuchung, ihm nachzulaufen. Er spürte, daß sein Freund jetzt allein sein wollte.

«Du brauchst dir nichts vorzuwerfen«, sagte Mabel, als er sich niedergeschlagen zu ihr herumdrehte.»Du hattest gar keine andere Wahl. Die Hunde hätten ihn umgebracht. Oder dich.«

Natürlich war das die Wahrheit, aber sie half erbärmlich wenig. Er hatte sehr viel mehr getan, als den Hund zu töten. Indiana wußte mit grausamer Sicherheit, daß er mit dem Messer, das er noch immer in der Hand hielt, nicht nur den Husky umgebracht hatte, sondern auch die Freundschaft ausgelöscht, die zwischen Quinn und ihm bestanden hatte.

«Alles in Ordnung mit Ihnen?«fragte der Soldat, der den zweiten Husky erschossen hatte, als Indiana an ihm vorbei aus dem Zelt ging. Indiana blieb einen Moment stehen und funkelte ihn fast haßerfüllt an. Plötzlich wollte er nichts mehr, als seine Fäuste in das Gesicht des Mannes schlagen, so lange, bis er sich nicht mehr bewegte, bis das Leben in seinen Augen erlosch und -

Was geschah nur mit ihm! Er versuchte, sich mit aller Macht zu beherrschen, aber sein Wille reichte nicht mehr.»Gehen Sie mir aus dem Weg!«zischte er gepreßt.

Die Sorge im Blick des Soldaten machte Zorn Platz.»Vielleicht hätte ich besser abwarten sollen, bis das Vieh Ihnen an der Kehle saß!«antwortete er wütend.»Oder diesen Wilden gleich mit erschießen.«

Indiana schluckte die beißende Antwort hinunter, die ihm auf der Zunge lag und drehte sich mit einem Ruck um, um sich mit ein paar Schritten zu entfernen. Wenn er oder der Soldat auch nur noch ein einziges Wort sagten, dann würde er sich nicht mehr zurückhalten können und sich auf ihn stürzen, das wußte er.

Vom anderen Ende des Lagers näherten sich Browning und Bates.»Was ist passiert?«fragte Browning aufgeregt.»Ich habe Schüsse gehört.«

«Nichts«, erwiderte Indiana und wandte sich brüsk ab.

Browning sah ihn verstört an und wollte ihn zurückhalten, aber Mabel trat mit einem Schritt zwischen sie und schüttelte den Kopf.»Lassen Sie ihn in Ruhe, Dr. Browning«, sagte sie.

«Es ist schon gut, Mabel«, murmelte Indiana. Zu Browning gewandt, fügte er hinzu:»Die Hunde haben Quinn angegriffen. Ich habe einen von ihnen getötet.«

«Und?«fragte Browning irritiert.

«Begreifen Sie denn nicht?«rief Indiana aufgebracht.»Diesmal war es nur ein Hund, aber das nächste Mal ist es vielleicht einer der Männer. Ich… ich kann mich kaum noch beherrschen.«

«Und es geht allen so, Doktor«, fügte Mabel hinzu.

Brownings Blick wanderte irritiert ein paarmal zwischen Indiana und Mabel hin und her. Er versuchte zu lachen, aber es gelang ihm nicht wirklich.»Das ist doch Unsinn«, sagte er hilflos.

«Das ist es nicht«, widersprach Mabel.»Und Sie wissen es genauso gut wie ich. Irgend etwas geschieht mit uns. Sehen Sie sich die Männer doch an. Heute nachmittag hätten sie fast Major von Ludolf umgebracht, und wenn Quinn nicht dazwischengegangen wäre, dann hätten sie sich auf Sie, Mr. Bates und Indiana gestürzt. Und es wird immer schlimmer.«

«Es ist dieser verdammte Eisberg«, sagte Bates. Browning funkelte ihn zornig an.»Fangen Sie nicht mit dem gleichen Unsinn an wie Morton!«befahl er barsch.

«Es ist kein Unsinn«, widersprach Indiana.»Wir hätten auf Morton hören sollen, solange noch Zeit war. Irgend etwas Unheimliches geschieht hier, Doktor. Und es wird mit jeder Minute schlimmer.«

Er war beinahe selbst überrascht, als Browning nicht widersprach, sondern Mabel und ihn nur betroffen ansah.»Und was schlagen Sie vor?«fragte er.

«Ich weiß es nicht«, gestand Indiana.»Aber wir müssen hier weg. Ganz egal, wie.«

Browning lachte humorlos.»Eine tolle Idee«, sagte er bissig.»Warum fangen Sie nicht an, sich ein Floß zu bauen?«

«Vielleicht wäre das immer noch besser, als hierzubleiben, bis wir anfangen, uns gegenseitig umzubringen«, antwortete Indiana ernsthaft.

«Denken Sie an van Hesling«, warf Mabel ein.»Sie wissen, in welchem Zustand Morton ihn gefunden hat.«

«Selbst wenn ich Ihnen glauben würde«, antwortete Browning unwillig,»was sollen wir tun? Es kann Wochen dauern, bis Hilfe eintrifft. Wenn überhaupt.«

«Das deutsche U-Boot«, sagte Indiana.

Browning starrte ihn an.»Das ist nicht Ihr Ernst!«

«Und ob!«antwortete Indiana.»Sobald es Tag wird, besorge ich mir ein weißes Tuch und bastle eine Fahne daraus. Ich bin sicher, sie sind noch irgendwo hier in der Gegend und beobachten uns. Sie werden kaum auf Männer schießen, die sich ergeben.«

«Ich glaube, Sie haben zu lange mit von Ludolf gesprochen«, knurrte Browning.

«Es ist mir völlig egal, was Sie von Major von Ludolf halten«, erwiderte Indiana.»Aber in einem Punkt hat er recht: Wenn sie verhindern können, daß wir auf diesem Berg bleiben, erreichen sie ihr Ziel auch, wenn sie uns als Gefangene an Bord nehmen.«

«Ich wußte gar nicht, daß Sie ein Feigling sind, Dr. Jones!«schnappte Browning.

Indiana holte tief Luft, aber er kam nicht dazu, Browning die scharfe Antwort zu geben, die ihm auf der Zunge lag, denn plötzlich hob Bates die Hand und legte den Kopf schräg.»Hört doch!«flüsterte er.

Auch Indiana und die anderen lauschten gebannt, und nach einem Augenblick hörten sie es: In das unablässige Heulen und Wimmern des Windes hatte sich ein anderer Ton gemischt, ein tiefes, gleichmäßiges Brummen, das allmählich näher kam. Und es war kein natürlicher Laut.

«Ein Flugzeug!«rief Mabel aufgeregt.»Das ist ein Flugzeug!«

Ihre Blicke suchten den Himmel ab, aber natürlich sahen sie nichts. Die Nacht war sternenklar, aber selbst wenn das Flugzeug seine Positionslampen eingeschaltet hätte, wäre es vor dem flimmernden Hintergrund der Milchstraße kaum sichtbar gewesen. Und der stetige heulende Wind machte es unmöglich, die genaue Richtung zu bestimmen, aus der das Geräusch kam.

«Ein Flugzeug!«sagte Mabel noch einmal.»Wir sind gerettet!«

Bates blickte sie kurz und zweifelnd an und begann dann wieder, den Himmel mit Blicken abzusuchen; auch Indiana war nicht ganz so überzeugt davon, daß dieses Geräusch wirklich die Rettung bedeutete.

Und er sollte recht behalten.

Das Geräusch schwoll beständig an und wurde lauter, und schließlich konnten sie ausmachen, daß es nicht ein, sondern mindestens drei Flugzeuge waren, die sich Odinsland näherten. Doch irgend etwas an diesem Geräusch störte Indiana. Er hatte diesen Klang schon einmal gehört, und das war in ganz und gar keinem erfreulichen Zusammenhang gewesen.

«Das sind… deutsche!«sagte Bates plötzlich.

«Woher wollen Sie das wissen?«fragte Mabel.

Bates machte eine entschiedene Handbewegung.»Das sind Flieger… und ich kenne den Klang. Das sind Messer Schmidt ME 109, mindestens drei Stück. Wahrscheinlich sogar vier.«

Brownings Augen weiteten sich, und auch Indiana fuhr leicht zusammen und blickte den Marineflieger erschrocken an.

«Stukas?«vergewisserte er sich. Die ME 109 war eines der ge-fürchtetsten Flugzeuge der deutschen Luftwaffe. Klein, schnell und ungeheuer wendig, gab es praktisch keine Möglichkeit der Abwehr gegen sie, und umgekehrt gab es so gut wie kein Ziel, das sie nicht angreifen und vernichten konnten. Und es waren sicher keine Flugzeuge, die man zu einer Rettungsaktion eingesetzt hätte!

«Aber das ist doch — «

Der Rest von Mabels Worten ging in einem dumpfen Krachen unter, das vom Meer herüberwehte, gefolgt von einem heulenden, rasend schnell anschwellenden Laut — und einer grell orangeweißen Explosion, die die Kante des Eisplateaus im Norden zerriß und die Nacht für Augenblicke in lodernden Feuerschein tauchte. Wie in einer blitzartigen Vision sah Indiana die Schatten der beiden Soldaten, die dort Wache gestanden hatten, vor der Druckwelle zurücktaumeln und stürzen, dann fuhr er herum, warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf Mabel und begrub sie schützend unter sich.

Der Donner der Explosion war noch nicht ganz verklungen, als ein neues, noch schrecklicheres Geräusch erscholl: Aus dem Motorengeräusch der Stukas wurde ein schrilles, an den Nerven zerrendes Wimmern und Heulen, das immer lauter und lauter und lauter wurde, und plötzlich fegten zwei, drei, schließlich vier gewaltige schwarze Schatten dicht über die Oberfläche von Odinsland hinweg. Kaum eine Sekunde später zerriß eine Folge neuerlicher ungeheurer Explosionen die Nacht.

Grell weißer Feuerschein vertrieb die Dunkelheit. In das Dröhnen und Bersten der explodierenden Bomben mischten sich das fürchterliche Splittern von Eis und die Schreie von Männern. Ein Geysir aus Wasser, kochendheißem Dampf und Trümmern stieg in die Höhe, wenige Sekunden später regneten Eissplitter und brennende Stoffet-zen auf Indiana und die anderen herab. Eine glühende Druckwelle fegte über sie hinweg, und Indiana preßte sich instinktiv noch dichter an Mabel, um sie mit seinem eigenen Körper vor den Trümmerstücken und der Hitze zu schützen. Plötzlich war die Nacht voller Schreie und hastender Gestalten, voller Flammen und einem unablässigen Bersten und Krachen, das aus der Tiefe des Eisbergs zu dringen schien. Indiana wartete, bis das Schlimmste vorüber war, dann erhob er sich unsicher auf die Knie und blickte zum Lager zurück.

Besser gesagt: zu dem, was davon übriggeblieben war. Die Bomben, die die Stukas abgeworfen hatten, hatten mit entsetzlicher Präzision getroffen. Das Wrack der Dragon stand in hellen Flammen, zwei der sechs Zelte brannten, und ein drittes war vollkommen verschwunden. Wo es gestanden hatte, gähnte ein gut zehn Meter weiter und halb so tiefer Krater in der Oberfläche der Eisinsel. Überall lagen brennende Trümmerstücke herum, aus dem Eis stieg Dampf auf, und Indiana bemerkte allein auf den ersten Blick ein gutes halbes Dutzend reglose Gestalten, die zwischen den zerstörten Zelten lagen.

«Sie kommen zurück!«

Bates’ Hand deutete heftig gestikulierend in die Richtung, in die die Sturzkampfbomber verschwunden waren. Indiana konnte die Flugzeuge auch jetzt nicht sehen, aber das schrille Heulen, das ihren Angriff begleitet hatte, wurde bereits wieder lauter. Dann waren sie da, noch ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte.

Diesmal verzichteten die Piloten darauf, Bomben zu werfen. Vermutlich hatten sie es auch das erste Mal nur getan, weil die Oberfläche der Eisinsel in völliger Dunkelheit dalag und das Wrack der Dra-gon der einzige Orientierungspunkt gewesen war. Aber die Hülle des Luftschiffs brannte nun lichterloh und verbreitete gleißendes gelbes und orangerotes Licht, so daß die übriggebliebenen Zelte und die überlebenden Männer hervorragende Zielscheiben boten.

Indiana warf sich zum zweitenmal über Mabel, als zwei der vier Maschinen plötzlich herabstießen und das Feuer aus ihren Maschinengewehren eröffneten. Vier schnurgerade Reihen meterhoher Explosionen aus Dampf und Eissplittern rasten in irrsinnigem Tempo auf das Lager zu, zerfetzten eines der letzten Zelte und verfehlten Indiana und die anderen um weniger als zehn Meter. Zwei Jäger rasten wie riesige schwarze Todesvögel über sie hinweg und stiegen wieder auf, um zu einem neuerlichen Angriff anzusetzen, während die beiden anderen Flugzeuge das Lager unter Beschuß nahmen. Schreie und Gewehrfeuer mischten sich in das Rattern der MG-Salven. Zwei oder drei von Lestrades Elitesoldaten fielen getroffen zu Boden, während die anderen in heller Panik in alle Richtungen davonrann-ten. Fast gleichzeitig wehte vom Meer her der dumpfe Knall eines weiteren Kanonenschusses zu ihnen herauf, und eine halbe Sekunde später schoß eine zweite, noch höhere Feuersäule aus der Kante des Eisplateaus unmittelbar über dem Strand. Dann waren auch die beiden anderen Flugzeuge verschwunden, und für eine Sekunde senkte sich eine fast unheimliche Stille über das Lager; eine Stille, in der selbst das Prasseln der Flammen und das Stöhnen der Verwundeten sonderbar unwirklich klangen.

Indiana sprang mit einem Ruck auf die Füße und riß Mabel hoch.»Wir müssen hier weg!«schrie er.»Sie kommen wieder!«

«Wohin?«

Indianas Gedanken jagten fieberhaft. Es gab hier oben absolut nichts, wo sie sich verstecken konnten. Der einzige Weg von diesem Plateau hinunter führte über den Spalt im Eis, den Morton herauf geklettert war — und vor diesem lauerte das deutsche Unterseeboot, dessen Kanoniere wahrscheinlich nur auf ein Ziel warteten, auf das sie ihre Kanonen richten konnten… Zur Mitte des Plateaus, auf den gewaltigen Krater, den sie von Bord der Dragon aus gesichtet hatten!

Er wartete Mabels Antwort gar nicht erst ab, sondern rannte los, wobei er sie einfach hinter sich herzerrte. Bates schrie ihm etwas nach, was er nicht verstand. Er mußte all seine Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, überhaupt auf den Füßen zu bleiben. Während der vergangenen Stunden hatte er sich an die bedrohliche Neigung des Bodens gewöhnt, aber da hatte er auch nicht um sein Leben rennen müssen. Ein einziger Fehltritt, und ihre Flucht würde zu einer rasenden Rutschpartie in den Tod werden.

Die Jäger griffen ein drittes Mal an, ehe sie den Eiskrater erreichten, aber sie waren jetzt weit genug vom Lager und dem Wrack des Luftschiffs entfernt, um nicht mehr in unmittelbarer Gefahr zu sein. Indiana warf im Laufen einen Blick über die Schulter zurück und erkannte, daß es auch zwischen den brennenden Zelten jetzt ununterbrochen aufblitzte. Offensichtlich hatten Lestrades Soldaten endlich ihre Schrecksekunde überwunden und schossen zurück — wenn dieser Widerstand auch eher symbolischen Charakter hatte. Mit einer Maschinenpistole einen angreifenden Sturzkampfbomber erwischen zu wollen war schlichtweg ein Ding der Unmöglichkeit. Trotzdem wünschte er, auch eine Waffe bei sich zu haben. Und sei es nur, um sich nicht ganz so hilflos zu fühlen.

Wie aus dem Nichts tauchte plötzlich eine Gestalt vor ihnen auf. Indiana lief noch ein paar Schritte weiter, ehe er die weiße Felljacke und die Maschinenpistole in den Händen des Mannes sah und begriff, wen er vor sich hatte. Instinktiv warf er sich zur Seite, riß Mabel mit sich und rollte an sie geklammert über das Eis, als der deutsche Soldat seine Waffe hob und abdrückte. Die Salve verfehlte sie um mehrere Meter, und Indiana gab ihm keine Gelegenheit, noch einmal zu zielen. Er sprang auf, warf sich mit weit ausgebreiteten Armen auf den Mann und warf ihn zu Boden. Der Soldat stieß ein überraschtes Keuchen aus und versuchte, die Knie an den Körper zu ziehen, um Indiana von sich zu stoßen, aber dieser ließ ihm keine Chance. Seine Faust traf die Schläfe des Mannes, und aus dem wütenden Knurren des Soldaten wurde ein halblautes Seufzen, als er das Bewußtsein verlor.

Indiana sprang auf und fuhr herum.»Mabel! Wo bist du?«

Er entdeckte sie nur wenige Meter neben sich. Sie wirkte benommen, stemmte sich aber aus eigener Kraft auf die Füße hoch und versuchte einen taumelnden Schritt. Hinter ihr erschienen eine zweite und eine dritte weißgekleidete Gestalt aus der Nacht.

«Mabel! Hinter dir!« brüllte Indiana.

Mabel drehte erschrocken den Kopf, erkannte die beiden als deutsche Soldaten und stieß einen spitzen Schrei aus, besaß aber trotzdem genug Geistesgegenwart, um sofort loszurennen. Einer der beiden hob seine Waffe, aber er schoß nicht, sondern setzte sofort zur Verfolgung an, und auch Indiana rannte los.

Er erreichte Mabel eine halbe Sekunde vor den beiden Deutschen. Einer der Soldaten hob wieder seine Maschinenpistole, und Indiana warf sich instinktiv zwischen ihn und Mabel, prallte dabei mit der Schulter gegen sie und sah, wie sie einen ungeschickten, torkelnden Schritt zur Seite machte -

— und plötzlich verschwunden war.

Unter ihren Füßen war kein Eis mehr, sondern nur noch ein bodenloses schwarzes Loch. Ein gellender Schrei erklang und einen Augenblick später ein dumpfer Aufprall. Auch Indiana schrie erschrocken auf, beugte sich vor und rang ein paar Sekunden lang mit verzweifelt rudernden Armen um sein Gleichgewicht, als er erkannte, daß das Eis vor ihm wie abgeschnitten endete. Tief unter ihm brach sich das Sternenlicht glitzernd auf Wasser. Im letzten Moment fand Indiana sein Gleichgewicht wieder. Aber nur kurz. Dann waren die beiden Deutschen neben ihm, und einer von ihnen rammte ihm den Lauf seiner MP mit solcher Wucht in den Rücken, daß Indiana vor Schmerz aufschrie und erneut nach vorne kippte.

Diesmal schaffte er es nicht mehr, den Sturz abzufangen. Hilflos schwankte er vorwärts, drehte sich noch in der Bewegung herum und griff verzweifelt nach oben. Seine Hände bekamen etwas Hartes zu fassen und klammerten sich daran. Es war der Stiefel des Soldaten, der ihn in den Abgrund gestoßen hatte. Der Mann keuchte vor Schrecken, ließ seine Waffe fallen und begann nun selbst mit den Armen zu rudern, um sein Gleichgewicht wiederzufinden, aber Indianas Gewicht war zu groß: Er stürzte, warf verzweifelt den Oberkörper herum und griff nun seinerseits nach den Beinen seines Kameraden, der kaum einen halben Meter neben ihm stand. Dieser versuchte im letzten Moment auszuweichen, aber auch seine Reaktion kam zu spät. Er fiel, krallte sich verzweifelt in das Eis und brüllte vor Angst, als das gemeinsame Gewicht Indianas und seines Kameraden auch ihn in die Tiefe zu zerren drohte.

Indianas Stiefelspitzen fuhren scharrend über das Eis. Verzweifelt suchte er irgendwo nach Halt. Er stürzte nicht mehr, sondern glitt jetzt an der Wand hinab, aber es konnte nur noch Sekunden dauern, bis einer der beiden Deutschen oder beide endgültig ihren Halt verloren und sie alle drei in den Tod stürzten.

Plötzlich fühlte er unter seinen Füßen Widerstand. Indiana spannte alle Muskeln an, um nicht durch den Ruck von der Wand fortgeschleudert zu werden, klammerte sich mit noch größerer Kraft an die Stiefel des Soldaten, der seinerseits die Beine seines Kameraden umklammerte, der wiederum sich mit beiden Händen an der Kante des Kraters festkrallte — und das Wunder geschah. Sie stürzten nicht, sondern hingen ein oder zwei Sekunden lang reglos in dieser fast schon grotesken Stellung da, ehe Indiana es wagte, den Kopf zu wenden und in die Tiefe zu blicken.

Vielleicht war das keine besonders gute Idee gewesen. Unter ihm war nichts. Im wahrsten Sinne des Wortes. Nichts, außer einem bodenlosen Schacht und einem kaum halbmeterbreiten Sims, auf dem seine Füße Halt gefunden hatten. So wie die Mabel Rosenfelds, die nur ein Stück neben ihm lag. Sie hatte sich mit beiden Händen in die Wand gekrallt und lag in so unnatürlich verkrümmter Haltung da, daß Indiana im ersten Moment Angst hatte, sie könnte tot sein. Dann hob sie den Blick und sah ihn an, und er begriff, daß es nur Angst war, die sie lähmte.

Über dem Kraterrand erschienen jetzt weitere Gestalten, allesamt in die weißen Kapuzenjacken der deutschen Sturmtruppen gekleidet. Einige Sekunden lang starrten sie nur reglos zu ihm, Mabel und den beiden deutschen Soldaten herab, dann hob einer der Männer seine Waffe und legte auf Indiana an.

Ein scharfer Befehl erscholl, und der Soldat ließ hastig sein Gewehr sinken und trat zurück. Eine weitere in Weiß gekleidete Gestalt erschien zwischen den Männern, starrte Indiana reglos an und begann dann Befehle in Deutsch zu erteilen. Einen Augenblick später griffen kräftige Hände nach den Armen des Mannes, der sich an den Kraterrand klammerte, und begannen daran zu ziehen. Indiana stöhnte vor Schmerz, als auch der zweite Mann, der sich an den Beinen des ersten festhielt, in die Höhe gezerrt und die Dehnung in seinen eigenen Schultergelenken schier unerträglich wurde. Trotzdem ließ er nicht los. Es wäre sein sicherer Tod gewesen, und auch der Mabels. Er wußte, daß er sich nur noch wenige Augenblicke würde halten können.

«Klammer dich an mir fest!«schrie er.»Versuch dich an meinen Beinen festzuhalten!«

Mabel blickte ihn an und schien nicht einmal zu verstehen, was er meinte. Indiana wiederholte seine Worte, und endlich löste sie vorsichtig eine Hand von ihrem Halt, streckte sie nach seinem Fuß aus und klammerte sich daran.

«Die andere Hand!«schrie Indiana.»Halt dich fest!«

Mabel gehorchte, und während die beiden Soldaten über ihm langsam wieder in die Höhe gezogen wurden, klammerte sie sich mit aller Kraft an seine Beine und versuchte, selbst auf dem schmalen Sims festen Halt zu finden.

Der Soldat am oberen Ende der bizarren Kette begann zu schreien, als plötzlich das Gewicht von drei Menschen an seinen Gliedern zerrte. Aber weder der Mann über Indiana noch Indiana selbst ließen los, so daß sie langsam wieder nach oben glitten. Ein Seil fiel neben ihm in den Schacht herab, eine halbe Sekunde später ein zweites auf der anderen Seite, dann kletterten zwei Männer in weißen Schneeanzügen zu ihm und Mabel herunter.

Indiana hätte sich niemals träumen lassen, daß er irgendwann einmal froh sein würde, einen deutschen Soldaten zu sehen; aber er war es. Mit zusammengebissenen Zähnen wartete er ab, bis einer der Männer an ihm vorbeigestiegen und neben Mabel angelangt war, um die Arme nach ihr auszustrecken, dann griff er selbst dankbar nach der ausgestreckten Hand des zweiten Soldaten. In seinen Armen war nicht mehr das mindeste bißchen Gefühl. Er versuchte, sich an dem Mann festzuhalten, aber es ging nicht. Hätte der Soldat nicht mit erstaunlicher Kraft zugegriffen und ihn einfach festgehalten, dann wäre er in diesem Moment wahrscheinlich doch noch abgestürzt. Schwäche und Müdigkeit überfluteten ihn wie eine betäubende Woge, als sie endlich wieder oben auf dem Eis waren. Mit einem hilflosen keuchenden Laut sank er auf die Knie, blieb einen Augenblick zitternd so hocken und fiel schließlich ganz nach vorne. Rings um ihn herum drehte sich alles. Seine Arme fühlten sich an, als wären sie aus den Schultern gerissen und verkehrt herum wieder eingesetzt worden, und für einen Moment wurde ihm übel vor Schwäche. Das erste, was er wieder sah, als sein Blick sich klärte, waren ein Paar auf Hochglanz polierte schwarze Schaftstiefel, die direkt vor ihm emporragten.

Indiana blinzelte, drehte sich mühsam auf den Rücken — und riß erstaunt die Augen auf, als er in das Gesicht blickte, das dem Besitzer der Schaftstiefel gehörte.

«Erikson!«

Erikson lächelte dünn.»Das ist nicht ganz richtig, Doktor Jones«, sagte er.»Ich glaube, wir haben es nicht mehr nötig, Theater zu spielen. Mein Name ist Erich, Obersturmbannführer Klaus Erich, um genau zu sein.«

Das Wrack der Dragon brannte noch immer, als sie ins Lager zurückkehrten. Das Feuer warf zuckende Schatten über das Eis, und die ungewohnte Wärme tat nach den dreißig oder vierzig Minusgraden, die bisher hier geherrscht hatten, beinahe weh. Nur ein einziges Zelt hatte den Tieffliegerangriff überstanden. Der Rest war zerfetzt, einfach verschwunden oder zu Asche zerfallen. Mabel sagte kein Wort, während sie neben ihm durch das verwüstete Lager ging, aber der Ausdruck von Schrecken auf ihrem Gesicht wurde immer tiefer.

Ihr Ziel war das einzige zurückgebliebene Zelt. Erikson — Erich — schlug mit dem Lauf seiner Maschinenpistole die Plane zurück und machte eine spöttische einladende Geste. Mabel bedachte ihn mit einem eisigen Blick und duckte sich in das Zelt hinein, eine Sekunde später folgte ihr Indiana.

Drinnen brannte eine kleine Gasflamme, in deren Schein Indiana Dr. Browning, Morton und Bates sowie Major von Ludolf erkannte. Mit Ausnahme von Ludolfs schienen alle mit dem Schrecken davongekommen zu sein, wenn sich auch Bates’ rechte Gesichtshälfte allmählich zu verfärben begann und anschwoll. Offensichtlich hatten nicht alle Männer im Lager widerstandslos aufgegeben.

Von Ludolf hockte mit schmerzverzerrtem Gesicht da und starrte ins Leere. Um seinen rechten Oberschenkel spannte sich ein breiter, sehr lieblos angelegter Verband, auf dem ein häßlicher dunkler Fleck prangte. Seltsamerweise erfüllte ihn die Vorstellung, daß ausgerechnet von Ludolf von einem seiner eigenen Männer verletzt worden war, weder mit Zufriedenheit noch mit Schadenfreude.

Sie setzten sich, nachdem auch Erich und drei seiner Soldaten, die die Versammlung mit griffbereit über den Knien liegenden Maschinenpistolen bewachten, ihnen gefolgt waren. Im Zelt herrschte jetzt eine drückende Enge.

«Damit kommen Sie nicht durch «sagte Browning zornig, an Erich gewandt.

«Womit, mein lieber Doktor?«erkundigte sich der Obersturmbannführer freundlich. Brownings Brauen zogen sich, noch weiter zusammen. Wütend hob er die Hände, und Indiana bemerkte erst jetzt, daß seine Gelenke mit dünnen, tief in die Haut schneidenden Lederriemen gebunden waren, wie die aller anderen, mit Ausnahme von Ludolfs.

«Mit… mit diesen Morden!«antwortete er.»Das war ein kriegerischer Akt, Erich! Das wird Konsequenzen haben. Sie werden sich persönlich für den Tod jedes einzelnen meiner Männer verantworten müssen!«

«Ihrer Männer?«wiederholte Erich nachdenklich.»Also geben Sie zu, daß Sie Mitglied dieser Verschwörung hier sind.«

«Verschwörung!?«krächzte Browning.

Erich nickte.»Natürlich. Oder wie würden Sie es nennen, wenn ein Staat mitten im Frieden eine schwer bewaffnete Einheit losschickt, um die Forschungsstation eines anderen Landes zu überfallen.«

«Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden!«knurrte Browning.

Erich setzte zu einer scharfen Antwort an, aber Indiana fiel ihm ins Wort:»Hören Sie doch auf. Dieses kindische Theater hilft keinem von uns weiter.«

Die Worte galten eher Browning, aber es war Erich, der darauf antwortete.»Wenigstens sind Sie vernünftig, Dr. Jones«, sagte er.»Daran habe ich auch niemals gezweifelt. Sie wußten wirklich nicht, welchem Zweck diese Expedition diente, nicht wahr? So wenig wie Dr. Rosenfeld, nehme ich an.«

Indiana antwortete nicht, und Browning sagte abermals:»Damit kommen Sie nicht durch. Das war Mord.«

Erich zuckte gelassen mit den Schultern.»Möglicherweise«, gestand er.»Aber ich glaube nicht, daß das noch eine Rolle spielt.«

Es dauerte noch eine Weile, bis auch Browning begriff. Er wurde bleich.»Sie wollen uns… ermorden?«fragte er fassungslos.

«Das ist ein häßliches Wort, Dr. Browning«, antwortete Erich lächelnd.»Ich würde den Begriff exekutieren vorziehen.«

«Das können Sie nicht tun!«

Überrascht sah Indiana auf. Es war von Ludolf gewesen, der die Worte gesprochen hatte. Aus weit aufgerissenen Augen starrte er Erich an.

«Das verbiete ich«, sagte er.»Die meisten Männer hier sind verletzt. Und die, die noch leben, sind Kriegsgefangene. Ich lasse nicht zu, daß Sie sie einfach ermorden!«

«Die Männer hier«, erwiderte Erich kalt,»sind nichts anderes als gemeine Piraten. Fragen Sie doch Dr. Browning, wozu die Dragon wirklich unterwegs war.«

Er deutete mit einer herrischen Geste auf den Regierungsbeauftragten und fuhr fort:»Das Schiff war bis unters Dach mit Waffen vollgestopft. Und diese sogenannten Besatzungsmitglieder waren nichts anderes als eine Eliteeinheit der US-Navy, die in der Nähe unserer Basis abgesetzt werden sollte, falls der erste Angriff fehlgeschlagen wäre.«

Von Ludolf blickte Browning irritiert an.»Stimmt das?«fragte er leise.

Browning wich seinem Blick aus, aber Erich fuhr fort:»Natürlich stimmt es! Sind Sie so dumm, oder wollen Sie es nur nicht einsehen? Diese Männer hier sind Verbrecher. Sie bekommen nur, was sie verdienen!«

«Trotzdem wäre es Mord!«beharrte von Ludolf.»Ich lasse nicht zu, daß so etwas im Namen der Deutschen Wehrmacht geschieht!«

Erich machte sich nicht einmal die Mühe, darauf zu antworten. Aber der Blick, mit dem er den Major maß, verriet Indiana, daß es ihm nicht unbedingt darauf ankam, einen Mann mehr oder weniger erschießen zu lassen.

Nach einer Weile wandte Erich sich wieder an Indiana.»Ich nehme an, Dr. Jones, daß ich es mir ersparen kann, Ihnen den Vorschlag zu machen, zu unserer Seite überzuwechseln? Wir können Männer wie Sie gebrauchen.«

«Sie haben recht«, antwortete Indiana.»Sie können sich die Frage wirklich sparen. «Aber dann fügte er hinzu:»Lassen Sie wenigstens Dr. Rosenfeld laufen. Sie hat wirklich nichts mit all dem zu tun.«

Erich drehte den Kopf und maß Mabel mit einem langen abschätzenden Blick. Ein dünnes, durch und durch böses Lächeln erschien auf seinen Lippen.»Dr. Rosenfeld«, meinte er nachdenklich.»Ein interessanter Name. Sagen Sie, Doktor, haben Sie irgendwelche jüdischen Vorfahren, oder woher stammt dieser Name?«

Mabels Gesicht schien zu Eis zu erstarren. Aber sie sagte kein Wort, sondern starrte Erich nur so durchdringend an, daß es nach einer Weile der deutsche Offizier war, der den Blick senkte.

«Was haben Sie jetzt mit uns vor?«fragte Browning.

Erich zuckte mit den Achseln.»Im Augenblick nichts«, antwortete er.»Im Gegenteil, ich gebe Ihnen mein Wort, daß Ihnen im Moment nichts geschehen wird. Solange Sie vernünftig sind, heißt das.«

«Und was verstehen Sie unter vernünftig?«fragte Mabel herausfordernd.

«Das liegt ganz bei Ihnen, Frau Doktor«, antwortete Erich freundlich.

«Wir werden eine Weile gemeinsam hier ausharren müssen, wie es aussieht. In zwei Tagen kommt ein Schiff, das uns abholt. Sie haben die Wahl, ob Sie die beiden Tage als Gefangene in diesem Zelt verbringen oder mit uns zusammenarbeiten möchten. Sollten Sie sich dazu entschließen«, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu,»könnte ich vielleicht sogar vergessen, daß Sie Jüdin sind.«

«Sie Schwein!«sagte Mabel ruhig.

Erichs Gesichtszüge entgleisten. Für einen Moment wurde sein Gesicht zu einer Fratze aus purem Haß, aber er fand seine Selbstbeherrschung fast ebenso schnell wieder, wie er sie verloren hatte.»Ganz wie Sie wollen«, meinte er.

Er stand auf, dann wandte er sich wieder an Indiana.»Ich gebe Ihnen bis morgen Zeit, über meinen Vorschlag nachzudenken, Dr. Jones«, sagte er.»Und vielleicht versuchen Sie, auch auf Ihre reizende Freundin einzuwirken. Wissen Sie, Stolz ist etwas Schönes. Aber der Tod ist etwas sehr Häßliches. Und er ist so endgültig.«

«Sie werden alle sterben«, sagte Morton in diesem Moment.

Es waren die ersten Worte, die er überhaupt sprach, seit sie zurückgekommen waren. Und nicht nur Indiana wandte überrascht den Blick; auch Erich starrte den Kapitän mit einer Mischung aus Zorn und Überraschung an und legte den Kopf schräg.

«Ich fürchte, Sie verdrehen da ein bißchen die Tatsachen«, sagte er.»Im Augenblick sind Sie unsere Gefangenen.«

«Sie werden alle sterben«, wiederholte Morton.»Und wir auch. Niemand kommt lebend von hier weg. Ich weiß es.«

«Halten Sie doch endlich den Mund«, erwiderte Browning müde, aber zu Indianas Überraschung war es Erich, der den Regierungsbeauftragten mit einer barschen Geste unterbrach.

«Lassen Sie ihn reden, Dr. Browning«, sagte er.»Vielleicht hat er ja gar nicht so unrecht.«

«Dieser Ort ist verflucht!«behauptete Morton. Browning warf ihm einen wütenden Blick zu, aber Erich lächelte plötzlich auf sonderbar wissende Art.»In gewissem Sinne stimmt das sogar«, sagte er.

«Was soll das heißen?«fragte Indiana.

Erichs Lächeln wurde noch ein wenig breiter.»Vielleicht beantworte ich diese Frage morgen früh«, sagte er.»Vielleicht auch nicht. Das hängt ganz von Ihren Antworten auf meine Fragen ab. «Er stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort das Zelt, und nach kurzem Zögern folgten ihm auch die drei Soldaten — allerdings nicht, ohne Indiana und Mabel vorher auf die gleiche Art an Hand- und Fußgelenken zu fesseln wie die anderen.

Загрузка...