Irgendwo über dem Atlantik

29. März 1939

Es dauerte zwei Tage, bis sich die Aufregung an Bord wieder so weit gelegt hatte, daß zumindest etwas Ähnliches wie ein normales Leben einkehrte. Falls das Leben auf einem Luftschiff, das sich in zehntausend Fuß Höhe dem Pol näherte, in irgendeiner Form normal sein konnte, hieß das. Indiana Jones hatte seine Zweifel, was von Ludolfs und Lobens Schuld an dem Attentat anging, nicht für sich behalten, sondern sie erst Browning und dann Lestrade gegenüber geäußert. Aber natürlich war er bei beiden auf taube Ohren gestoßen; wenn auch zumindest Browning nicht ganz so felsenfest von der Schuld der Wehrmachtsoffiziere überzeugt zu sein schien wie Lestrade. Aber er hatte Indiana unverblümt erklärt, daß er zwar der Kommandant der Expedition nach Odinsland, Lestrade aber der Kapitän dieses Schiffes sei und selbst er sich nach seinen Anordnungen zu richten hätte, bis sie den schwimmenden Eisberg erreicht hatten. Im übrigen hatte er Indiana versprochen, dafür zu sorgen, daß die beiden Deutschen mit aller ihnen zustehenden Sorgfalt behandelt würden und sich auch später in einem fairen Prozeß verteidigen durften.

Nicht, daß das Indiana wirklich beruhigte — er mochte die beiden Deutschen so wenig wie Browning oder Lestrade —, aber er verfügte auch über einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Insgeheim nahm er sich vor, ein Auge auf sie und vor allem Lestrade zu werfen, solange sie sich an Bord dieses Schiffes befanden.

Den größten Teil der folgenden beiden Tage verbrachte er wie üblich bei Quinn und den Hunden und die restliche Zeit mit mehr oder weniger vergeblichen Versuchen, Doktor Rosenfeld zu trösten, die sich schwere Vorwürfe machte. Allerdings nutzten all seine und auch Mortons Beteuerungen, daß sie absolut keine Schuld an dem Tod ihres Schützlings träfe, überhaupt nichts. Sie war von Anfang an gegen diese Reise gewesen, und sie hatte die Verantwortung für van Hesling gehabt, der trotz seines Alters und seiner Stärke hilflos wie ein Kind gewesen war. Und keine Macht der Welt vermochte sie davon zu überzeugen, daß sie nicht einmal eine Mitschuld an seinem Tod traf — an dem es im übrigen keinen Zweifel mehr gab. Am Morgen nach dem mißglückten Mordanschlag auf Morton hatten Lestra-des Männer die Dragon noch einmal und noch gründlicher als während der Nacht von einem Ende zum anderen durchsucht. Nichts, was größer als eine Maus war, hätte ihnen entkommen können. Aber van Hesling war einfach nicht mehr da.

Und die Männer hatten noch etwas getan: Einen halben Tag lang hatte das Schiff von Hämmern und Sägen widergehallt, und als Indiana danach wieder nach oben ging, um Quinn zu besuchen, da hatte er eine gut drei Meter hohe Wand aus Sperrholz vorgefunden, die den Weg ins Innere des Luftschiffs verwehrte. So viel zu seiner Hoffnung, daß Lestrade ihm die Antwort geglaubt hatte, die er ihm auf die Frage gegeben hatte, was er dort oben denn überhaupt suchte.

Es war am Abend des vierten Tages ihrer Reise, die sie jetzt immer weiter nach Nordosten führte. Indiana saß mit Bates und Morton im Aufenthaltsraum, als plötzlich die Tür aufflog und Quinn hereinkam. Er sagte wie üblich kein Wort, aber Indiana kannte den riesigen Eskimo gut genug, um sofort zu spüren, daß irgend etwas mit ihm nicht stimmte.

Er entschuldigte sich mit einem flüchtigen Lächeln bei Bates und dem Kapitän und eilte zu Quinn hinüber.»Was ist passiert?«

Quinn drehte sich wortlos um und trat wieder durch die Tür. Indiana folgte ihm, aber Quinn ging auch jetzt weiter, und als er versuchte, ihn am Arm festzuhalten, streifte er seine Hand einfach ab und deutete wortlos auf die Treppe nach oben.

Erst als sie den Laderaum mit den Huskys und der Polarausrüstung erreicht hatten, brach der Eskimo das Schweigen. Mit grimmigem Gesichtsausdruck bückte er sich, hob etwas vom Boden auf und reichte es Indiana.»Schau«, sagte er.

Indiana nahm verwirrt den Gegenstand entgegen, den der Eskimo ihm hinhielt. Es war ein Stück Pergamentpapier, in das jemand eine Anzahl Knochen und Fleischreste eingewickelt hatte.»Und?«fragte er.»Das ist Hundefutter, oder?«

«Jemand hat es vergiftet!«sagte Quinn.

«Vergiftet!« Indiana blickte den Eskimo zweifelnd an.»Bist du sicher?«

Quinn nickte grimmig.»Die Hunde fressen es nicht«, meinte er.»Und man kann es riechen.«

Indiana hob das Paket mit dem Fleisch ans Gesicht und schnupperte vorsichtig daran. Für ihn roch es, wie ausgelöste Knochen und Fleischabfälle nun einmal riechen. Nicht gerade angenehm, aber auch nicht nach Gift. Trotzdem zweifelte er nicht an Quinns Worten. Der Eskimo hatte schon mehr als einmal bewiesen, daß er über Sinne verfügte, die weit schärfer als die Indianas und der meisten anderen Menschen waren. Er begriff nur nicht, warum jemand die Hunde vergiften sollte.

«Vielleicht… war es ein Versehen?«meinte er unsicher.

Quinn lachte böse.»Kein Versehen!«sagte er überzeugt.»Ich bin rausgegangen, nur ein paar Minuten, und als ich wiederkam, lag das Fleisch da. Jemand hat gewartet, bis ich weg war, und es dann gebracht.«

«Ich begreife das nicht«, murmelte Indiana wahrheitsgemäß.»Wer sollte so etwas tun?«

«Jemand, der nicht will, daß wir ankommen«, vermutete Quinn. Er ballte die Fäuste.»Wenn ich den Kerl erwische, verfüttere ich ihn an die Hunde.«

Indiana lachte, aber sehr leise und nicht sehr echt. Quinns Worte waren keine leeren Drohungen, das wußte er. Der Eskimo liebte seine Hunde, als wären sie seine Kinder. Wenn jemand versuchte, ihnen ein Leid anzutun, dann spielte er mit seinem Leben.

«Ich werde von jetzt an hierbleiben«, sagte Quinn.»Sag den anderen, daß außer dir niemand hier rein darf. Ich dulde nicht, daß sich jemand den Hunden nähert.«

Indiana wußte, wie sinnlos es war, dem Eskimo widersprechen zu wollen. Vorsichtig wickelte er das Paket wieder zu, klemmte es sich unter den Arm und ging zur Tür.»Ich werde Lestrade erzählen, was hier passiert ist«, sagte er.»Und ich sorge persönlich dafür, daß hier niemand mehr raufkommt.«

Er ging zurück ins Passagierabteil der Dragon, lief im Sturmschritt an Morton und Bates vorbei, die ihm verwunderte Blicke zuwarfen, und riß die Tür zum Steuerhaus auf.

Auf der obersten Stufe der Wendeltreppe, die zu Lestrades Refugi-um hinabführte, blieb er stehen. Der Kapitän war nicht im Steuerhaus. Er hörte seine Stimme aus einer Tür, an der er soeben vorübergestürmt war. Indiana drehte sich um, streckte die Hand nach der Klinke aus — und zögerte.

Lestrades Stimme klang schrill und sehr erregt. Er schien kurz davor zu stehen, einfach loszuschreien. Und das war etwas, was Indiana an dem so selbstsicheren und zumindest nach außen hin beherrschten Colonel überhaupt nicht kannte. Neugierig trat er näher und legte das Ohr an die dünne Sperrholztür.

«…und noch eine einzige solche Verfehlung, Mister Pieters«, hörte er Lestrades Stimme durch die Tür,»und Sie können den Rest der Reise in einer Arrestzelle verbringen. Habe ich mich eindeutig ausgedrückt?«

«Ja, Sir«, antwortete eine kleinlaute Stimme.»Aber ich habe den Kapitän dieses Dampfers doch nur nach dem Wetterbericht gefragt. Ich dachte, das wäre in Ihrem Sinne.«

«Sie sind nicht hier, um zu denken, Matrose!«schrie Lestrade.»Sondern einzig und allein, um Ihre Arbeit zu tun und Befehle auszuführen. Ich habe absolute Funkstille befohlen, und wenn ich absolute Funkstille sage, dann meine ich absolute Funkstille!«

Indiana hatte genug gehört. Entschlossen öffnete er die Tür und betrat die Kabine.

Wie er nach den mitgehörten Worten bereits vermutet hatte, handelte es sich um die Funkkabine der Dragon; einen winzigen, scheinbar bis zum Bersten mit technischen und Funkapparaturen vollgestopften Raum, der gerade noch Platz für ein winziges Tischchen und einen Stuhl bot, auf dem ein im Moment ziemlich demoralisiert aussehender Funker hockte und mit angstvollen Blicken zu Lestrade aufsah, der mit hochrotem Gesicht vor ihm stand und die Fäuste geballt hatte, als könne er sich nur noch mit Mühe beherrschen, sich nicht auf ihn zu stürzen. Als Indiana eintrat, wirbelte Lestrade mit einer zornigen Bewegung herum, sein Blick verdunkelte sich noch mehr, als er Indiana erkannte.

«Was suchen Sie hier?«blaffte er.»Dieser Teil des Schiffes ist für Passagiere gesperrt.«

«Das ist mir neu«, antwortete Indiana ruhig.»Und außerdem wußte ich bis jetzt gar nicht, daß ich zu den Passagieren gerechnet werde.«

Lestrade setzte zu einer wütenden Antwort an, besann sich dann aber im letzten Moment eines Besseren.»Dann wissen Sie es jetzt«, zischte er mühsam beherrscht.»Also — was wollen Sie hier?«

Indiana hielt das Paket mit dem vergifteten Fleisch in die Höhe.»Das hat jemand den Hunden gegeben«, sagte er.

Lestrade faltete das Papier auseinander, warf einen flüchtigen Blick auf den Inhalt des Pakets und zuckte mit den Schultern.»Und?«fragte er.»Das ist Fleisch. Hunde fressen doch Fleisch, oder?«

«Sicherlich«, antwortete Indiana.»Nur nicht so gerne, wenn es vergiftet ist.«

«Vergiftet?«Lestrade blickte ihn ungläubig an.»Wer sagt das?«

«Quinn«, erwiderte Indiana.

«Woher will er das wissen?«fragte Lestrade.»Ist einer der Hunde gestorben?«

«Nein. Die Tiere waren gottlob klug genug, nichts von dem Zeug zu fressen.«

Lestrade runzelte die Stirn, sah das Fleischpaket ein zweites Mal und diesmal sehr viel aufmerksamer an und zuckte schließlich abermals mit den Schultern.»Aber wer sollte denn die Hunde vergiften wollen?«fragte er.

«Das weiß ich so wenig wie Sie«, antwortete Indiana unfreundlich.»Das einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, wer es nicht war.«

«Und wer?«fragte Lestrade lauernd.

«Ihre beiden Gefangenen«, sagte Indiana.»Major von Ludolf und Major Loben.«

Lestrades Augen wurden schmal.»Was wollen Sie damit sagen?«

Indiana wickelte das Paket wieder ein und lächelte.»Eigentlich nichts«, erwiderte er.»Aber ich denke, wenn Sie ein bißchen darüber nachdenken, kommen Sie von selbst drauf.«

Er verließ die Funkkabine. Lestrade folgte ihm, schloß die Tür hinter sich und warf einen raschen Blick nach links und rechts, als wolle er sich davon überzeugen, daß sie auch wirklich allein auf dem kurzen Gang waren.

«Sind Sie sicher, daß das Fleisch vergiftet ist?«flüsterte er.

Indiana nickte überzeugt.»Hundertprozentig. Wenn Quinn sagt, es ist vergiftet, dann ist es vergiftet.«

«Quinn! Was weiß dieser Wilde schon?«

Indiana schluckte die ärgerliche Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag, und hielt Lestrade das Paket hin.»Wenn Sie so davon überzeugt sind, daß Quinn sich irrt, warum bringen Sie das Zeug dann nicht in die Küche und lassen es für sich braten?«zischte er böse.

«Aber wer sollte ein Interesse daran haben, die Tiere umzubringen?«fragte Lestrade. Er wirkte gleichzeitig wütend und hilflos.

Indiana zuckte mit den Schultern.»Vermutlich derselbe, der van Hesling getötet und versucht hat, auch Kapitän Morton umzubringen«, sagte er.

«Aber die beiden Offiziere sind eingesperrt«, protestierte Lestrade.»Meine beiden besten Männer bewachen sie rund um die Uhr.«

«Eben«, sagte Indiana.»Und selbst Sie sollten begreifen, was das bedeutet.«

«Sie meinen… es gibt noch einen Verräter an Bord?«

«Entweder das«, erwiderte Indiana,»oder Sie haben den falschen geschnappt, Colonel.«

Ein paar Sekunden lang weidete er sich an Lestrades betroffenem Gesichtsausdruck, dann drückte er ihm mit einem freundlichen Lächeln das Fleischpaket in die Hand, drehte sich um und ging wieder in den Aufenthaltsraum zurück.

Er wollte zu Quinn und den Hunden zurückgehen, aber als er an dem Tisch vorbeikam, an dem Bates mit den beiden Dänen und Doktor Rosenfeld saß, blickte die junge Neurologin auf und sah ihm ins Gesicht.»Ärger?«

Indiana blieb stehen. Ihm war bisher nicht klar gewesen, daß man ihm seine Gemütsverfassung so deutlich ansah. Aber das kurze Gespräch mit Lestrade hatte ihn wütender gemacht, als er zuzugeben bereit war. Er schüttelte den Kopf und sagte:»Ja.«

Doktor Rosenfeld lächelte flüchtig und deutete auf den freien Platz neben sich.»Warum setzen Sie sich nicht zu uns und erzählen?«fragte sie.

«Ich will Sie nicht auch noch mit meinen Problemen belästigen«, erwiderte Indiana, setzte sich aber trotzdem.

Doktor Rosenfeld seufzte.»Sie belästigen uns nicht, Doktor Jones«, sagte sie.»Jede Abwechslung ist besser als gar keine. Wenn dieser Flug noch länger dauert, dann sterbe ich vor Langeweile.«

«Was war los?«fragte Bates. Auch die beiden Dänen sahen ihn neugierig an, schwiegen aber wie meistens. Indiana machte eine wegwerfende Handbewegung.»Das Übliche. Ich habe versucht, vernünftig mit Lestrade zu reden. Aber das war vergebene Liebesmüh.«

«Vernünftig?«Doktor Rosenfeld runzelte übertrieben die Stirn.»Ich fürchte, mein lieber Doktor Jones, die Worte vernünftig und Lestrade schließen sich gegenseitig aus.«

Bates lachte leise, und auch über Eriksons Gesicht huschte ein flüchtiges Lächeln, während Baldurson stur an ihnen vorbei aus dem Fenster sah.

«Also?«fragte Bates noch einmal.»Was gab es?«

«Jemand hat versucht, Quinns Hunde umzubringen.«

Bates’ Augen weiteten sich ungläubig, und auch Doktor Rosenfeld sah ihn eher verwirrt als erschrocken an.»Die Hunde?«vergewisserte sich Erikson.

«Jemand hat ihnen vergiftetes Fleisch gebracht«, bestätigte Indiana.»Aber die Tiere waren klug genug, es nicht anzurühren.«

«Aber das ist doch völlig sinnlos«, rief Doktor Rosenfeld.»Die Hunde haben niemandem etwas getan!«

Indiana seufzte tief.»Ich weiß«, sagte er.»Aber es sieht so aus, als hätte irgendwer etwas dagegen, daß wir das Ziel unserer Reise erreichen.«

«Und deshalb vergiftet er die Hunde?« fragte Doktor Rosenfeld zweifelnd.»Das verstehe ich nicht.«

«Ich auch nicht«, gestand Indiana.»Wenn dieser Eisberg auch nur halbwegs so aussieht, wie Morton ihn uns beschrieben hat — und er auf den Fotos zu sehen ist —, werden wir das Schlittengespann sowieso nicht brauchen.«

«Vielleicht doch«, meinte Erikson.

Alle Blicke wandten sich dem Dänen zu.»Wieso?«wollte Bates wissen.

Erikson sah sie der Reihe nach an, beugte sich unter den Tisch und zog eine Aktentasche hervor, die mit Karten, Büchern und engbeschriebenen Blättern vollgestopft war. Er zog das Foto von Odinsland hervor, das er von Browning bekommen hatte, und dazu eine vielfach gefaltete, offensichtlich schon sehr alte Karte, die die Nordküste Grönlands und das angrenzende Meer zeigte. Indiana beugte sich ein wenig vor und sah, daß mit roter Tinte eine Anzahl gestrichelter Linien und kleiner schraffierter Kreise auf das Meer gemalt waren. Darüber befanden sich Worte in einer winzigen, gestochen scharfen Handschrift, die jedoch in einer Sprache abgefaßt waren, die er nicht zu lesen imstande war. Wahrscheinlich Dänisch.

«Sehen Sie«, begann Erikson,»ich bin kein Meteorologe, aber ich verstehe ein wenig von der Seefahrt, wie die meisten Dänen. «Er lächelte flüchtig. Sein Zeigefinger deutete auf einen der schraffierten Kreise und fuhr die gestrichelte Linie entlang, die ihn mit einem anderen verband.»Das hier ist die exakte Position, wo die POSEIDON auf Odinsland stieß«, sagte er.»Und das ist der Kurs, den der Berg genommen haben muß, wenn er der Strömung gefolgt ist, die in diesem Seegebiet herrscht. Aber es gab eine Anzahl schwerer Stürme während des vergangenen halben Jahres. Niemand weiß genau, wo sich der Berg befindet. Aber es ist immerhin möglich, daß er sich wieder Grönland genähert hat. Es ist sogar möglich, daß er irgendwo gegen die Küste geprallt ist.«

«Wieder?«fragte Indiana. Erikson nickte.

«Sie sind ein aufmerksamer Zuhörer, Doktor Jones«, sagte er anerkennend.»Ja, ich sagte: wieder. Und das war kein Versehen.«

«Sie meinen, er war schon einmal dort?«fragte Doktor Rosenfeld.

«Doktor Baldurson und ich sind sogar sicher, daß es sich bei diesem Eisberg um ein Stück des grönländischen Festlandeises handelt«, antwortete Erikson.

Erikson faltete seine Karte wieder zusammen und zog statt dessen eine Anzahl großformatiger, offenbar schon sehr alter SchwarzweißFotos aus der Aktentasche, die allesamt nichts anderes als Eisberge zeigten — genauer gesagt: eine gewaltige, schier endlose Eismasse, gegen deren Fuß das Meer brandete. Die winzige weiße Linie, an der die Brecher zu Schaum zerstoben, machte die gewaltige Größe dieser eisigen Küste deutlich.

«Ist das Grönland?«fragte Indiana.

Erikson nickte mit einem leichten Lächeln.»Ich sehe schon, Sie wissen genauso viel über Grönland wie die meisten — oder so wenig«, sagte er.»Diese Fotos zeigen tatsächlich die Nordküste Grönlands. Sie besteht zu einem großen Teil aus nichts anderem als Eis, das sich zum Teil meilenweit ins Meer vorschiebt. Und oft brechen Teile dieser Küste ab und werden fortgetrieben.«

«Sie meinen, wie in der Arktis?«

«So groß ist der Unterschied nicht«, sagte Erikson nickend.»Die arktischen Gletscher kalben häufiger, wenn Sie das mit Ihrer Frage meinten, aber im Prinzip ist es dasselbe, ja.«

«Und jetzt vermuten Sie, daß Odinsland ein Teil der grönländischen Küste gewesen ist — vor tausend oder zweitausend Jahren«, sagte Doktor Rosenfeld.

«Eher vor fünf oder sechs Jahren«, berichtigte sie Erikson.

«Und was führt Sie zu dieser Vermutung?«

Erikson lehnte sich zurück und legte die Hände flach nebeneinander auf den Tisch.»Logisches Überlegen«, sagte er.»Und auch ein wenig Erfahrung in solchen Dingen. Sehen Sie, Doktor Jones, Eisberge dieser Größe treiben nicht Jahrzehnte- oder jahrhundertelang auf den Weltmeeren herum. Sie werden nach Süden abgetrieben und schmelzen, oder sie prallen irgendwo gegen die Küste oder eine andere Eismasse und zerschellen. Dieser Berg kann noch nicht sehr lange unterwegs sein. Und es gibt nur zwei Orte, woher er stammen kann. Aus der Arktis oder aus Grönland.«

«Was spricht gegen die Arktis?«fragte Bates.»Immerhin ist dieses Schiff uralt.«

«Wenn es existiert«, fügte Erikson hinzu.

Bates wollte widersprechen, aber der dänische Wissenschaftler hob rasch die Hand und fuhr fort:»Mein Kollege und ich haben lange darüber diskutiert, Mister Bates. Wir sind nach wie vor skeptisch. Andererseits — wir sind nun einmal hier, und in ein paar Tagen werden wir sehen, ob die Fotos echt oder geschickte Fälschungen sind; es wäre also ziemlich sinnlos, wenn wir uns jetzt noch streiten wollten. Aber einmal unterstellt, das Schiff ist echt — dann spricht eine große Wahrscheinlichkeit dafür, daß es aus dem grönländischen Eis stammt, nicht aus dem der Arktis.«

«Waren die Wikinger denn in Grönland?«fragte Bates.

«Die waren so ziemlich überall«, antwortete Indiana an Eriksons Stelle.»Bisher ist es nur eine Theorie, aber es spricht sogar einiges dafür, daß sie Amerika ungefähr fünfhundert Jahre vor Kolumbus entdeckt haben.«

Bates sah ihn sehr zweifelnd an, aber Doktor Erikson sprang seinem amerikanischen Kollegen mit einem zustimmenden Nicken bei.»Das ist richtig«, sagte er.»Wie Doktor Jones bereits sagte: Es ist nur eine Theorie. Aber sehr vieles spricht dafür, und ich gehöre auch zu denen, die an diese Theorie glauben. Die Wikingerkolonie auf Grönland hingegen ist alles andere als eine Theorie. Ihre Existenz ist wissenschaftlich einwandfrei erwiesen.«

«Die Wikinger haben Grönland kolonialisiert?«vergewisserte sich Bates, immer noch zweifelnd.

«Kolonialisiert ist nicht unbedingt das richtige Wort«, sagte Erik-son.»Grönland ist ein hartes Land. Vielleicht das härteste, in dem sich Menschen jemals niedergelassen haben. Selbst heute ist das Leben dort nur unter enormem technischem und materiellem Aufwand möglich. Im Mittelalter, als die Männer auf ihren Reisen auf diesen neuen Kontinent stießen und dort Fuß zu fassen versuchten, muß es ungleich schlimmer gewesen sein. Trotzdem haben sie mehrere Städte gegründet und die Südküste mindestens ein Jahrhundert lang bewohnt.«

«Und dann?«fragte Doktor Rosenfeld.

Diesmal antwortete Erikson nicht sofort. Er sah die junge Nervenärztin nachdenklich an, zuckte schließlich mit den Schultern und blickte aus dem Fenster auf das still daliegende Meer hinab.»Niemand weiß, was geschehen ist. Und wahrscheinlich wird es auch niemand mehr herausfinden, nach all der Zeit«, antwortete er.»Aber Tatsache ist, daß sie eines Frühjahrs einfach verschwunden waren. Alle.«

«Verschwunden? Sie meinen gestorben. Erfroren oder verhungert oder an einer Seuche zugrunde gegangen«, sagte Doktor Rosenfeld.

Erikson schüttelte den Kopf.»Nein. Einfach verschwunden. Wir wissen nicht sehr viel aus dieser Zeit, Doktor Rosenfeld. Nur wenig wurde aufgeschrieben. Die meisten Dinge wurden damals mündlich überliefert, wie Sie wissen. Aber in diesem Punkt stimmen alle Überlieferungen überein: Es war damals nicht möglich, im Winter an die grönländische Küste zu gelangen. Die Drachenschiffe der Wikinger waren zwar großartige Konstruktionen für ihre Zeit, aber einem Nordmeersturm hätten sie kaum standgehalten. Während der Wintermonate waren die Kolonien auf sich selbst gestellt und die Häfen sowieso meistens zugefroren. Aber in jedem Frühjahr kamen Schiffe aus der Heimat. In diesem Frühjahr nun fanden sie die Städte verlassen vor. Die Häuser waren unversehrt. Nichts fehlte. Selbst die Schiffe lagen unberührt im Hafen, zum Teil noch voll beladen. Aber von den Einwohnern fehlte jede Spur. Und es gab keine Anzeichen eines Kampfes. Niemand hat je erfahren, wohin sie verschwunden sind.«

«Aber es gibt eine Legende«, fügte Indiana Jones hinzu.

Er war nicht sicher — aber für einen winzigen Moment glaubte er so etwas wie Schrecken in Eriksons Augen aufblitzen zu sehen. Dann hatte sich der Däne wieder in der Gewalt.

Er nickte zögernd.»Sicherlich gibt es die. Ein Ereignis wie dieses muß die Phantasie der Menschen ungemein angeregt haben, zumal in einer Zeit, in der man noch viel stärker an die Macht der Götter und Dämonen geglaubt hat, als wir es heute tun.«

«Was ist das für eine Legende?«wollte Doktor Rosenfeld wissen.

Erikson lächelte.»Nichts als eine Geschichte«, sagte er.»Es heißt, Odin selbst sei mit seinem Drachenschiff gekommen, um die Bewohner der Neuen Welt heim zu den Göttern zu holen.«

Aus einem Grund, den Indiana selbst nicht begriff, erfüllten ihn diese Worte mit einem Schaudern. Und er war nicht der einzige, dem es so erging. Auch Doktor Rosenfeld blickte den Dänen eindeutig betroffen an, und selbst auf Bates’ Gesicht erschien ein verwirrter, unsicherer Ausdruck.

«Es ist nur ein Märchen«, beruhigte Erikson sie.»Aber wer weiß — möglicherweise finden wir ja die Antwort auf die Frage, was damals wirklich passiert ist, auf diesem Schiff. Falls es existiert.«

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