Odinsland. Ragnarök

3. April 1939

Das Unterseeboot lag wie ein stählerner Riesenfisch vor dem natürlichen Hafen der Eisinsel. Das Wasser war so klar, daß man seinen Rumpf zur Gänze sehen konnte, und Indiana erkannte, daß es ein sehr großes Boot war. Keiner der kleinen, schnellen Jäger, von denen jeder bereits jetzt — zu Recht — annahm, daß sie im Falle eines ausbrechenden Krieges zu einer der gefürchtetsten Waffen der deutschen Marine werden würden, sondern ein großes, fast plump aussehendes Schiff, das über ein enormes Transportvolumen verfügen mußte.

Trotzdem schauderte Indiana bei der Vorstellung, welch unerträgliche Enge an Bord des U-Boots geherrscht haben mochte, als es Erichs vierzig Soldaten samt ihrer Ausrüstung hierher transportiert hatte. Und allein bei dem Gedanken, an Bord dieses schwimmenden Stahlsarges zu gehen und darin vielleicht Tage, wenn nicht Wochen eingesperrt zu sein, wurde ihm fast schlecht vor Angst.

Gleichzeitig konnte er den Moment kaum noch abwarten. Er wollte weg hier, nichts als weg, fort von diesem Eisberg, fort von den Toten, die in ihm eingeschlossen waren, und vor allem: fort von diesem entsetzlichen Schiff, das wie ein schwarzes Ungeheuer aus einer anderen Welt in seinem Herzen lauerte. Nicht einmal das Maschinengewehr am Bug des U-Boots, dessen Lauf der Bewegung des kleinen Ruderboots beharrlich folgte, flößte ihm so viel Angst ein wie der bloße Gedanke an das Nagelfahr.

Langsam näherten sie sich dem Unterseeboot. Von Ludolf, der breitbeinig und sehr unsicher im Bug des kleinen Schiffchens stand, schwenkte in Ermangelung einer Fahne ein weißes Taschentuch; offensichtlich vertraute er doch nicht so ganz auf die Wirkung seiner grauen Wehrmachtsuniform, wie er Indiana und den anderen noch vor ein paar Minuten an Land hatte einreden wollen.

Auch Indiana und Browning wurden immer nervöser. Browning gefiel verständlicherweise der Gedanke überhaupt nicht, sich auf Gedeih und Verderb einem deutschen Wehrmachtsoffizier auszuliefern, während Indianas Nervosität völlig andere Gründe hatte. Gründe, die er selbst nicht ganz verstand. Eigentlich gab es nichts mehr, wovor er noch Angst haben mußte: Erich war tot, und mit dem ersten Licht des neuen Tages war auch die unerklärliche Raserei völlig von den Männern abgefallen. Aus den Berserkern waren wieder ganz normale Männer geworden; Männer, in deren Gesichtern deutlich das namenlose Grauen abzulesen war, mit dem sie die Erinnerung an die vergangene Nacht erfüllte.

Von Ludolf und die kleine Gruppe um Indiana nicht mitgerechnet, hatten knapp zwanzig Männer das Gemetzel überlebt. Und so, wie sie im Moment zusammengedrängt und verängstigt am Ufer der schwimmenden Eisinsel standen, schien es kaum noch einen Unterschied zwischen ihnen zu geben. Es war gleich, ob Amerikaner oder Deutscher: Jeder einzelne dieser Männer hatte gespürt, daß er einer Macht ausgeliefert gewesen war, die keine Unterschiede machte und an der absolut nichts Menschliches war.

Und wäre Erich nicht völlig wahnsinnig gewesen, davon war Indiana überzeugt, dann hätte selbst er eingesehen, daß die Magie der alten Götter keine Kraft war, die man sich nach Belieben zunutze machen konnte. Eine zweite Nacht auf dieser Insel würde keiner von ihnen überleben.

Sie näherten sich dem Unterseeboot, und Browning, der im Heck des Schiffs saß, drosselte den Motor. Das kleine Boot verlor an Fahrt, stieß mit einem dumpfen Geräusch gegen den Rumpf des U-Boots und schrammte ein paar Meter weit daran entlang, ehe von oben ein Tau herabgeworfen wurde, das Indiana ergriff. Ein zweites Tau folgte, und dann flog eine Strickleiter zu ihnen herab. Indiana knotete den Strick an einer Planke des Bootes fest, ehe er als letzter auf das Deck des U-Boots hinaufstieg.

«Es bleibt dabei«, sagte von Ludolf leise.»Sie sagen kein Wort. Überlassen Sie mir das Reden.«

Brownings Gesichtsausdruck verdüsterte sich noch weiter, während Indiana nur nickte. Sein Verstand war hundertprozentig von der Aufrichtigkeit von Ludolfs überzeugt, sein Gefühl nicht. Aber so, wie es im Moment aussah, hatten sie gar keine andere Wahl, als dem Major zu vertrauen.

Ein hochgewachsener Mann in einer dunkelblauen Uniform mit dem Rangabzeichen eines Kapitänleutnants kam ihnen entgegen, musterte Indiana und Browning kühl und sehr flüchtig und wandte sich dann an von Ludolf. Die Art, in der er die Hand zum HitlerGruß hob, machte deutlich, daß er dieser Ehrenbezeichnung nicht besonders viel Wertschätzung entgegenbrachte und sie nur als Pflichtübung betrachtete.

«Heil Hitler, Herr Major!«sagte er. Nach einer neuerlichen Pause und einem weiteren fragenden Blick auf Indiana und Browning fügte er hinzu:»Wo ist Obersturmbannführer Erich?«

«Tot«, antwortete von Ludolf.

Der Kapitänleutnant runzelte die Stirn. Er sah nicht besonders betroffen aus, nur überrascht.»Was ist geschehen?«

«Ich mußte ihn erschießen«, antwortete von Ludolf. Er machte eine rasche, befehlende Geste und nahm den Kapitänleutnant bei der Schulter, um ihn einige Schritte weit wegzuführen. Dann begann er leise und in Deutsch auf ihn einzureden.

Indiana verstand nicht, was die beiden Männer sprachen. Er beherrschte zwar einige Brocken dieser Sprache, aber von Ludolf redete sehr leise und offensichtlich sehr erregt, und der Kapitänleutnant antwortete ebenso. Aber die Blicke, die die beiden Männer abwechselnd Indiana und Browning oder der Insel zuwarfen, waren vielsagend genug.

Es dauerte gute fünf Minuten, bis von Ludolf sich schließlich umdrehte und zurückkam, während der Kapitän des U-Boots mit schnellen Schritten zum Turm ging und die schmale Leiter hinaufeilte.»Nun«, begann Browning,»was hat er gesagt?«

«Das, was ich Ihnen schon vorher gesagt habe, Dr. Browning«, antwortete von Ludolf.»Kapitänleutnant Bresser wird Sie und Ihre Begleiter als Schiffbrüchige an Bord nehmen und in den nächsten erreichbaren amerikanischen Hafen bringen, beziehungsweise an Bord des nächsten amerikanischen Schiffs, das unseren Kurs kreuzt.«

Browning blickte ihn ungläubig an.»Einfach so?«vergewisserte er sich.

«Einfach so«, bestätigte von Ludolf.»So, wie es die internationalen Seefahrtsregeln vorsehen. Was haben Sie erwartet?«

Browning druckste einen Moment herum. Er wirkte jetzt beinahe verlegen.»Nun, nach den Ereignissen der letzten Tage…«

«Bitte schließen Sie nicht vom Verhalten eines einzelnen Mannes auf das der ganzen deutschen Wehrmacht«, sagte von Ludolf kalt.»Erich war wahnsinnig und ein Verbrecher. Hätte ich ihn nicht erschossen, dann wäre er in Deutschland vor ein Kriegsgericht gestellt und hingerichtet worden. Mein Wort darauf. Und was diesen Berg angeht, so nehme ich doch an, daß es in unserem beiderseitigen Interesse ist, wenn wir so tun, als habe es dieses Schiff niemals gegeben.«

Browning sagte nichts darauf. Aber der Blick, mit dem er erst von Ludolf und dann Indiana musterte, war beredt genug.

«Sie haben recht«, sagte Indiana rasch, damit Browning nicht irgend etwas Unbedachtes sagte oder tat und so im letzten Moment womöglich noch alles verdarb. Sowohl Browning als auch der deutsche Major blickten ihn fragend an.

«Der Berg schmilzt«, fuhr Indiana erklärend fort.»Ich bin sicher, daß er in wenigen Wochen nicht mehr existieren wird — und damit auch das Schiff. Es wird sinken oder davongetrieben werden.«

Browning runzelte zweifelnd die Stirn, und auf von Ludolfs Gesicht war überhaupt keine Reaktion abzulesen. Aber sie ahnten wohl beide, daß Indiana recht hatte.

Schließlich räusperte sich Browning gekünstelt und wechselte das Thema.»Dann lassen Sie uns die Männer an Bord holen. Gibt es eine Möglichkeit, das Schiff näher an den Berg heranzubringen?«

Von Ludolf schüttelte den Kopf.»Zu gefährlich«, antwortete er.»Wir werden das Boot nehmen müssen. Das dauert zwar eine Weile, aber Bresser hat das U-Boot ohnehin schon viel zu nahe an den Berg heranmanövriert. «Er machte eine Kopfbewegung zum Strand zurück.»Ich werde zwei Matrosen mit dem Boot zurückschicken, damit sie die Männer holen.«

«Das übernehme ich schon«, rief Indiana. Er sprach vielleicht eine Spur zu hastig, und weckte so von Ludolfs Mißtrauen, denn der deutsche Major sah ihn eine Sekunde lang durchdringend an. Aber falls er erriet, warum Indiana wirklich noch einmal zurück auf die Insel wollte, dann behielt er es jedenfalls für sich.

«Gut«, sagte er nur.»Aber bitte, beeilen Sie sich. Ich möchte keine Minute länger hierbleiben als unbedingt nötig.«

«Sicher«, bestätigte Indiana. Er zögerte, räusperte sich umständlich und suchte einen Moment nach Worten.

Von Ludolf legte den Kopf schräg und sah ihn fragend an.»Ja?«

Indiana zögerte noch immer. Es fiel ihm schwer weiterzusprechen, und als er es tat, war es eine der ganz wenigen Gelegenheiten, bei denen seine Stimme verlegen und stockend klang.

«Major von Ludolf, wir… wir alle sind Ihnen sehr dankbar«, begann er.»Ich… nun, ich weiß nicht, wie ich anfangen soll, aber — «

«Nur zu«, sagte von Ludolf mit einem flüchtigen, aber echten Lächeln.

«Nun, strenggenommen haben Sie gegen die Interessen Ihres Heimatlandes gehandelt«, meinte Indiana unsicher.»Ich meine, es könnte sein, daß Sie… Ärger bekommen.«

«Das ist möglich — aber nicht sehr wahrscheinlich«, entgegnete von Ludolf.»Worauf wollen Sie hinaus, Doktor Jones?«

«Sie können bei uns bleiben«, sagte Indiana.»Ich meine… ich kann Ihnen anbieten, mit uns von Bord zu gehen. Niemand muß es erfahren, bis wir den Hafen erreichen, verstehen Sie? Aber ich bin sicher, daß die Vereinigten Staaten von Amerika Ihnen politisches Asyl gewähren werden, wenn Sie darum ersuchen.«

Im allerersten Moment sah es so aus, als habe er von Ludolf mit diesen Worten beleidigt. Aber dann lächelte der Wehrmachtsoffizier.

«Das ist sehr großzügig von Ihnen, Doktor Jones«, lächelte er.»Aber ich glaube nicht, daß es nötig sein wird. Trotzdem — vielen Dank für das Angebot.«

Indiana sah ihn noch einen Moment unschlüssig an, dann wandte er sich um, kletterte ins Boot zurück und startete den Außenbordmotor, nachdem er das Haltetau gelöst hatte. In einem weiten Bogen entfernte er sich von dem deutschen U-Boot, nahm wieder Kurs auf Odinsland und lenkte das kleine Schiffchen zielsicher auf den Strand hinauf.

Ein paar Soldaten eilten ihm entgegen und halfen ihm, trockenen Fußes an Land zu kommen. Fast alle Überlebenden der vergangenen Nacht hatten sich auf dem schmalen Eisrand versammelt. Indiana entdeckte Morton und Bates zwischen den Soldaten, und nach kurzem Suchen auch Quinns hünenhafte Gestalt.

Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine steifgefrorenen Lippen, als er den Eskimo sah. Quinn trug noch immer den dicken Bärenfellmantel und den gehörnten Wikingerhelm. Und an seiner Seite baumelte sogar noch das Schwert, mit dem er sich bewaffnet hatte. Wahrscheinlich hatte er vor, die Dinge als Andenken mitzunehmen.

Um so besser, dachte Indiana. Es würde ihm sicher nicht allzu schwerfallen, sie Quinn für die heimatliche Universität und ihr Museum abzuschwatzen.

Dann fiel ihm etwas auf, und er vergaß schlagartig Quinns Verkleidung.

Wo war Mabel!

Er wandte sich an Morton, der jedoch nur mit den Schultern zuckte. Aber Bates antwortete:»Sie ist noch oben. Sie sagte, sie habe etwas vergessen.«

Indiana unterdrückte einen Fluch. Er hatte eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was Mabel dort oben vergessen hatte. Diese verdammte Närrin!

Ohne ein weiteres Wort eilte er an Bates und den anderen vorbei und stieg den schmalen Grat zum Eisplateau hinauf, so schnell er konnte. Als er es erreicht hatte, erklang unter ihm wieder das Dröhnen des Außenbordmotors; das Boot brachte die erste Abteilung der Männer zum U-Boot hinaus. Viel Zeit blieb ihm nicht mehr.

Indiana sah sich um. Vor ihm lag das Wrack der Dragon und das, was von ihrem Lager übriggeblieben war. Zwischen den Baracken rührte sich nichts. Von Mabel war keine Spur zu sehen.

Indiana schluckte einen weiteren Fluch hinunter und lief los, so schnell er es auf dem schlüpfrigen Untergrund wagen konnte. Trotzdem brauchte er fast fünf Minuten, um den gewaltigen Krater in der Mitte des Eisplateaus zu erreichen — und er war noch mehr als hundert Meter von seinem Rand entfernt, als er begriff, daß seine Befürchtungen nur zu begründet waren.

Die Winde des improvisierten Aufzugs bewegte sich quietschend, und daneben stand eine schmale, in einen übergroßen braunen Fellmantel gehüllte Gestalt, die scheinbar alle Mühe hatte, ganz allein die große Kurbel zu bedienen.

«Mabel!«brüllte Indiana.»Hör sofort auf!«

Mabel sah auf, erkannte ihn — und verdoppelte ihre Anstrengungen. Indiana sah, wie der Aufzugkorb über den Rand des Schachts glitt und aufsetzte. Mabel ließ die Kurbel los, lief um die Winde herum und mühte sich mit einem gewaltigen Kasten ab, den sie in den Drahtkorb zu schleifen versuchte.

Sie hätte es wahrscheinlich nicht einmal geschafft, wenn Indiana sie nicht vorher erreicht hätte. Der Kasten mußte sehr schwer sein. Wenn er das enthielt, was Indiana glaubte, dann war es schon ein kleines Wunder, daß es ihr überhaupt gelungen war, ihn bis hierher zu schaffen.

«Verdammt noch mal, bist du wahnsinnig geworden?!«Indiana packte sie grob an den Schultern und riß sie herum.

Mabel versuchte sich loszureißen. Ihr Blick flammte vor Zorn.»Laß mich!«schrie sie.»Ich muß dieses Ding vernichten. So etwas darf nie wieder passieren!«

Indiana blickte sie nur kopfschüttelnd an, ließ sich auf ein Knie sinken und klappte den Deckel der Kiste auf. Sie war vollgestopft mit Sprengstoff: Dynamit, Handgranaten, Haft- und Tretminen — offensichtlich hatte sie wahllos alles, was irgendwie explosiv aussah, zusammengerafft und in diese Kiste gestopft. Daß sie sich dabei nicht versehentlich selbst in die Luft gesprengt hatte, war eigentlich ein Wunder. Indiana schüttelte noch einmal den Kopf und sah sie vorwurfsvoll an.

«Toll«, sagte er spöttisch.»Und was hattest du damit vor? Es auf das Schiff fallenzulassen?«

Mabel preßte trotzig die Lippen zusammen.»Mir wäre schon irgend etwas eingefallen«, sagte sie.

«Ja«, murmelte Indiana.»Zum Beispiel, dich selbst mit in die Luft zu jagen. «Er seufzte tief, griff in die Jackentasche und zog den kleinen Sprengsatz heraus. Bates hatte ihm in der vergangenen Nacht die Funktionsweise genau erklärt. Aber seine Hände zitterten trotzdem leicht, als er den Zeitzünder auf sechzig Minuten einstellte und das Gerät mit spitzen Fingern in die Kiste legte. Sehr behutsam klappte er den Deckel wieder zu, ließ die Schlösser einschnappen und stand auf.

Mabels Augen wurden groß. Dann verdunkelten sie sich vor Zorn.»Du hattest also — «

«— dasselbe vor wie du. Ja«, bestätigte Indiana gelassen.»Aber ich hatte vor, es zu überleben.«

Mabel wirkte betroffen, aber sie sagte nichts, sondern blickte nur abwechselnd ihn und die Kiste an.

«Also gut«, sagte Indiana.»Bringen wir es hinter uns. Den größten Teil der Arbeit hast du mir ja schon abgenommen.«

Selbst zu zweit schafften sie es kaum, die Munitionskiste in den Drahtkorb zu heben. Indiana fragte sich erneut, wie, um alles in der Welt, Mabel es fertiggebracht hatte, das gut zwei Zentner wiegende Ding hierher zu schleifen.

Nervös sah er auf die Uhr, als es ihnen endlich gelungen war. Fünf ihrer kostbaren sechzig Minuten waren bereits um.

«Bist du sicher, daß du das tun willst?«fragte Mabel leise, als sie nebeneinander an die Kurbel traten, um den Korb in die Tiefe zu lassen.

«Du wolltest es doch auch.«

Mabel schüttelte den Kopf.»Das war etwas anderes. Du bist Archäologe, für dich ist das da«, sie deutete in den Krater hinab,»mehr als nur ein altes Schiff.«

«Ja«, sagte Indiana leise und sehr ernst.»Und deshalb weiß ich vielleicht auch besser als du, wie gefährlich es ist. Es gibt Dinge, die Menschen niemals erfahren sollten.«

Entschlossen griff er nach der Kurbel und drehte daran. Und nach einem Augenblick packte auch Mabel zu. Der Korb glitt über den Schacht und begann sich langsam in die Tiefe zu bewegen.

Sie arbeiteten stumm und sehr schnell, und Indiana wich Mabels Blick aus. Er hatte ihr nicht ganz die Wahrheit gesagt. Er bezweifelte, daß der Sprengstoff dem Nagelfahr wirklichen Schaden zufügen konnte. Im Grunde war er sogar sicher, daß alle Waffen der Welt diesem Schiff nichts anhaben konnten. Aber die Explosion würde gewaltig genug sein, um den Eisschacht zusammenbrechen zu lassen, so daß es unter etlichen hundert Tonnen Eis begraben liegen würde. Genau so, wie es tausend Jahre da gelegen hatte. Vielleicht würden noch einmal tausend Jahre vergehen, ehe es wieder gefunden würde. Und vielleicht waren die Menschen dann ein wenig klüger als sie…

Plötzlich stockte die Winde. Indiana zog erstaunt die Brauen zusammen. Die gewaltige Seilrolle vor ihnen war noch nicht einmal zu zwei Dritteln abgewickelt, der Korb konnte das Schiff also noch gar nicht erreicht haben.»Was ist denn jetzt los?«murmelte er.

«Vielleicht hat er sich irgendwo verhakt?«sagte Mabel.»Warte, ich gehe nachschauen.«

Indiana wollte sie zurückhalten, aber sie wandte sich rasch um und machte einen Schritt auf den Kraterrand zu.

Etwas zischte. Ein zuerst gelbes, dann weißes und schließlich unerträglich grelles weißblaues Licht flackerte aus dem Loch im Eis herauf, und dann zerriß der Donner einer ungeheueren Explosion die Stille. Indiana spürte, wie sich der gesamte Berg unter ihren Füßen um einen halben Meter hob und mit einem fürchterlichen Ruck zurücksackte. Dann brachen Flammen aus dem Krater, gefolgt von einer brüllenden Druckwelle, die Mabel und ihn von den Füßen riß und sie meterweit durch die Luft schleuderte, ehe sie wieder auf das Eis krachten.

Indiana schrie vor Schmerz, als eine Woge kochendheißer Luft über ihn hinwegfauchte und ihn wie eine glühende Riesenhand gegen das Eis preßte. Um ihn herum regneten Trümmer und Flammen nieder, und es kam einem Wunder gleich, daß er die nächsten Sekunden überhaupt überlebte. Der Boden zitterte und bebte ununterbrochen, und er hörte ein tiefes, unheimliches Grollen und Knirschen, als die verborgenen Hohlräume in Odinsland zusammenzubrechen begannen. Er spürte, wie sich der ganze riesige Eisberg in einer täuschend langsamen Bewegung auf die Seite zu legen begann.

Dann… zerriß etwas unter ihnen.

Indiana konnte ganz deutlich fühlen, wie der Boden des Eisschachts brach und das Meerwasser in den Tunnel strömte. Und er sah förmlich vor sich, wie das Nagelfahr aus dem Eis gerissen und angehoben wurde und wie ein zu kleiner Korken im Flaschenhals auf dem Rücken einer schaumigen Woge nach oben schoß.

Der Feuerregen und das Krachen der Explosionen hörten auf, aber es dauerte fast fünf Minuten, bis sich das Zittern des Bodens so weit beruhigt hatte, daß er es wagte, sich auf Hände und Knie zu erheben und zu Mabel hinüberzukriechen.

Bis auf ein paar Schrammen und Kratzer war sie unverletzt wie er, aber benommen. Einige Augenblicke blickte sie ihn nur verwirrt an, dann versuchte sie, sich hochzustemmen. Es gelang ihr erst beim zweiten Anlauf, und auch nur, weil Indiana ihr dabei half.»Was… ist passiert?«fragte sie verwirrt.

Indiana deutete auf den Krater.»Die Ladung ist zu früh hochgegangen«, antwortete er. Und das ist noch nicht alles, fügte er in Gedanken hinzu.

«Ist es… zerstört?«fragte Mabel.

Statt zu antworten, drehte sich Indiana um und näherte sich vorsichtig dem Loch im Eis.

Das Nagelfahr war nicht zerstört. Nicht einmal das Segel war beschädigt. Und es war so, wie Indiana vermutet hatte: Der Boden des Eisschachts war geborsten, und das silbern glänzende Rund hatte sich mit kochendem, sprudelndem Wasser gefüllt, das wie rasend strudelte. Das Nagelfahr hüpfte auf dieser wirbelnden Wasserfläche auf und ab, jetzt höchstens noch hundertfünfzig oder zweihundert Fuß unter ihnen. Und das Wasser stieg noch immer.

Was eigentlich unmöglich war. Es sei denn…

Indianas Kopf ruckte herum, und dann sah er etwas, was seine Augen in Entsetzen weitete: den Turm des deutschen Unterseeboots!

«Großer Gott«, flüsterte er.»Er… er sinkt!«

Mabel sah ihn verwirrt an.»Was meinst du?«

«Er sinkt!«wiederholte Indiana.»Der Berg! Odinsland… versinkt im Meer!«

«Aber das ist unmöglich«, widersprach Mabel erregt.»Eisberge sinken nicht!«

«Aber dieser hier tut es!«brüllte Indiana.»Frag mich nicht, wie. Aber dieser ganze verdammte Eisklotz versinkt im Meer!«

Und es war ganz genau so, wie er sagte: Die Oberfläche Odinslands befand sich jetzt bereits so tief, daß sie nicht nur den Turm des Unterseeboots, sondern bereits auch sein Heck sehen konnten.

«Um Gottes willen!«schrie Indiana.»Weg hier! Nichts wie weg!«

Er fuhr herum, packte Mabels Hand und spurtete los, wobei er sie einfach mit sich zerrte. Einen Moment lang versuchte sie ganz instinktiv, sich loszureißen, aber dann sah auch sie ein, daß sie um ihr Leben laufen mußten, und beschleunigte ihre Schritte.

Es war ein Rennen, das sie nicht gewinnen konnten. Der Berg zitterte und bebte jetzt unablässig unter ihren Füßen, und einmal stürzte ein Teil des Bodens von der Größe eines Fußballfelds unmittelbar neben ihnen in sich zusammen und riß sie um ein Haar mit sich in die Tiefe. Von der Stelle im Meer aus, an der sich der Eisstrand befunden hatte, wehten verzweifelte Schreie zu ihnen herauf.

Indiana sah sich im Laufen um, und was er sah, das ließ ihn noch einmal einen Schreckensruf ausstoßen: Odinsland war mittlerweile fast völlig gesunken. Was einmal eine hohe schwimmende Burg aus Eis gewesen war, das war jetzt nur noch eine zerrissene Scholle, die wie durch ein kleines Wunder noch nicht in mehrere Stücke zerbrochen war und allerhöchstens noch fünf oder sechs Fuß weit aus dem Meer ragte. Der Rumpf des Nagelfahr war deutlich über dem Kraterrand in seiner Mitte zu sehen. Das rotweiß gestreifte Segel blähte sich, obwohl nicht der mindeste Wind wehte, und der Bug des Götterschiffs drehte sich ganz langsam herum.

«Erich!«murmelte er.

Indiana ahnte die Bewegung mehr, als daß er sie wirklich sah, und warf sich blitzartig zur Seite, wobei er Mabel mit sich von den Füßen riß.

Ein weißgoldener Blitz sengte eine rauchende Spur aus Hitze und Licht in die Luft, genau dort, wo Mabel und er sich befunden hätten, wären sie weitergelaufen, und explodierte zwei- oder dreihundert Meter entfernt im Meer. Ein ungeheurer Donnerschlag erklang, und eine turmhohe Dampfwolke schoß aus der Meeresoberfläche empor. Indiana schloß geblendet die Augen, rollte sich herum und preßte sich schützend gegen Mabel.

«Was ist das?«schrie sie voller Angst.

«Erich!«brüllte Indiana über das donnernde Tosen, das noch immer anhielt, hinweg.»Ich weiß nicht, wie er es macht, aber es ist Erich!«

«Aber das ist unmöglich! Er ist tot!«

Ein zweiter, scheinbar noch grellerer Blitz zerriß die Luft nur wenige Meter über ihnen, und diesmal stöhnte Indiana vor Schmerz, als eine kochendheiße Hitzewelle seinen Rücken versengte.

«Sag ihm das!«brüllte er.»Vielleicht hat er es noch nicht gemerkt!«

Geblendet hob er den Kopf und suchte verzweifelt nach einer Deckung, einem Versteck, in das sie sich vor den tödlichen Lichtblitzen verkriechen konnten. Das Eis, auf dem sie lagen, zitterte und bebte noch immer, aber das dumpfe Poltern und Krachen aus dem Inneren des Bergs hatte ein wenig nachgelassen, und Odinsland sank auch nicht weiter. Seine Oberfläche ragte jetzt allerhöchstens noch einen Fuß hoch über das Meer hinaus, und überall begannen sich die neu entstandenen Risse und Spalten im Eis mit Wasser zu füllen. Statt des dumpfen Krachens zusammenbrechender Hohlräume hörte Indiana jetzt ein beständiges Knistern und Knirschen, und plötzlich ging ein letzter, sehr heftiger Ruck durch den Boden.

Dann zerbrach der ganze gigantische Eisberg in zwei Teile.

Gehetzt blickte Indiana um sich. Das deutsche Unterseeboot befand sich eine knappe halbe Meile hinter ihnen, bei den mörderischen Wassertemperaturen mindestens zehnmal zu weit, um auch nur daran zu denken, dorthin zu schwimmen. Ganz davon abgesehen, daß da immer noch Erich war, der es irgendwie geschafft haben mußte, zu überleben und sich die entsetzliche Magie der alten Götter zunutze zu machen.

Er drehte sich wieder herum und sah zum Nagelfahr zurück. Das Schiff hatte seinen wilden Tanz auf dem Wasser beendet und den Drachenbug auf den neu entstandenen Kanal auf dem Eis ausgerichtet, und das Segel blähte sich stärker. Wie von Geisterhand bewegt, tauchten die riesigen Ruder ins Wasser. Langsam, zitternd, als müsse es nach einem Jahrtausend des Schlafes erst allmählich die Kontrolle über seinen Körper wiederfinden, setzte sich das Nagelfahr in Bewegung. Indianas Blick hing wie gebannt an der winzigen, in eine zerfetzte rotweiße Jacke gekleideten Gestalt hinter dem Bug. Es war Erich. Er konnte es nicht sein, denn Mabel und Indiana und fast zwei Dutzend Leute hatten mit eigenen Augen gesehen, wie er gestorben war, aber er war es! Hoch aufgerichtet stand er da, blutüberströmt das Gesicht und zu einer Grimasse des Wahnsinns verzerrt. In seiner Hand glitzerte etwas Großes, Goldenes, und plötzlich kam Indiana ein fürchterlicher Gedanke. Wenn dieses Schiff wirklich Odins Schiff war, dann war das, was er an Bord gefunden hatte, vielleicht -

Nein, die Vorstellung war einfach zu entsetzlich.

«Welche Vorstellung?«fragte Mabel.

Indiana fuhr erschrocken zusammen und begriff erst jetzt, daß er zumindest den letzten Gedanken laut ausgesprochen hatte. Er schwieg einen Moment. Als er dann sprach, klang seine Stimme belegt und brüchig wie die eines alten Mannes.»Die Vorstellung, daß das, was er in der Hand hält, Thors Hammer ist«, sagte er.

Mabel wurde kreidebleich.»Das… das… das ist nicht dein Ernst«, stammelte sie.

«Thors Hammer, der Blitze schleudert«, sagte Indiana tonlos. Sein Blick hing an dem goldenen Funkeln in Erichs rechter Hand. Obwohl das Schiff schnell näherkam, konnte er nicht genau erkennen, was es war. Aber der furchtbare Verdacht war mittlerweile fast zur Gewißheit geworden.

«Wenn das stimmt, dann ist das die fürchterlichste Waffe, die es jemals auf dieser Welt gegeben hat«, flüsterte Mabel entsetzt.

«Ja«, antwortete Indiana.»Und sie ist in der Hand eines Wahnsinnigen.«

Seine Gedanken rasten. Er mußte etwas tun, irgend etwas, und wenn es sein eigenes Leben kostete. Es spielte keine Rolle mehr. Erich an Bord des Nagelfahr, mit Thors Hammer bewaffnet — das war eine Gefahr, gegen die selbst Hitler mit all seinen zahllosen Panzern und Flugzeugen verblaßte. Er mußte diesen Wahnsinnigen aufhalten, ganz gleich, wie.

Seine Hand glitt zu der Peitsche, die er zusammengerollt am Gürtel trug, und schloß sich um den Griff, während er den Kurs abzuschätzen versuchte, den das Nagelfahr nahm. Das Schiff bewegte sich jetzt nicht mehr ganz so schnell wie zu Anfang, aber die Ruder hatten einen Takt gefunden, der es gleichmäßig durch das Wasser gleiten ließ. Ihm blieb eine Minute, sich etwas einfallen zu lassen, aller-höchstens eineinhalb. Eine verflucht kurze Zeit, um die Welt zu retten.

«Versteck dich irgendwo«, sagte er, während er die Peitsche vom Gürtel löste und aufrollte.»Lauf weg. Versuche, irgendwo unterzukriechen.«

«Was hast du vor?«fragte Mabel mißtrauisch.

Indiana deutete mit einer grimmigen Kopfbewegung auf das Nagelfahr. Seine enorme Größe machte es schwer, seine wirkliche Geschwindigkeit zu schätzen, aber es war bereits nahe, sehr nahe.»Ich werde versuchen, ihm das Ding aus der Hand zu schlagen«, murmelte er.

Mabels Augen wurden groß. Sie hatte selbst erlebt, wie meisterhaft Indiana Jones mit dieser Peitsche umzugehen verstand — aber das hier war etwas anderes. Das war kein normaler Gegner, vielleicht nicht einmal mehr ein Mensch. Sie beide hatten gesehen, wie er von vier Kugeln getroffen zusammengebrochen war, aber sie beide hatten auch gehört, was Kapitän Morton über van Hesling erzählt hatte. Und sie beide hatten die fürchterlichen Szenen nicht vergessen, deren Zeugen sie in der vergangenen Nacht im Lager geworden waren. Und an Bord des Nagelfahr… Nein, Indiana war nicht einmal sicher, ob er Erich überhaupt noch verletzen konnte.

«Und wenn du es nicht schaffst?«fragte Mabel.

Indiana schwieg dazu.

Das Schiff kam langsam näher. Wenn es seinen Kurs nicht änderte, dann würde es unmittelbar an Indiana und Mabel vorübergleiten; und Erich mußte sie längst entdeckt haben. Wenn er darauf verzichtete, seine fürchterliche Waffe noch einmal einzusetzen und sie auf der Stelle umzubringen, dann wahrscheinlich nur deshalb, weil er sich absolut sicher fühlte. Und wahrscheinlich sogar zu Recht, dachte Indiana.

Und sofort wurde sein Verdacht zur Gewißheit.

Ein dumpfes Dröhnen wehte über das Meer zu ihnen, und als er herumfuhr, sah er, wie das Maschinengewehr im Bug des deutschen Unterseeboots grelle Flammenzungen spuckte. Die Salve riß Splitter aus dem Eis, jagte eine Reihe meterhoher Schaumexplosionen durch das Wasser und traf das Nagelfahr mit absoluter Präzision.

Nicht eine der Kugeln kam Erich auch nur nahe. Die Geschosse prallten funkensprühend von einem unsichtbaren Hindernis ab, wie von einer Wand aus Glas, die sich zwischen dem Schiff und ihnen erhob!

Ein hämisches, durch und durch böses Grinsen verzerrte Erichs Gesicht. Langsam, in einer ganz bewußt auf Dramatik bedachten Geste, hob er die Arme; und jetzt sah Indiana, daß es tatsächlich eine Art riesiger, ganz aus Gold gefertigter Hammer war, den er in beiden Händen hielt. Blitzartig drehte er sich um und schloß in Erwartung des Kommenden die Augen. Trotzdem war das Licht so grell, daß es schmerzhaft durch seine geschlossenen Lider drang und ihn aufstöhnen ließ.

Der Blitz aus Thors Hammer fuhr nur wenige Meter neben dem deutschen Unterseeboot ins Meer und ließ das Wasser explodieren. Das ganze U-Boot erbebte wie unter einem Faustschlag, legte sich auf die Seite und richtete sich mühsam wieder auf. Zwei Männer, die gerade mit letzter Kraft auf das Deck hinaufgekrochen waren, wurden von der Springflut aus Schaum und kochendem Dampf, der es überschüttete, sofort wieder ins Meer gefegt, und das Maschinengewehr hörte auf zu feuern.

Indiana hob die Peitsche, aber Mabel fiel ihm mit einer blitzschnellen Bewegung in den Arm.»Nicht!«rief sie.

Indiana wollte sie abschütteln, aber Mabel hielt seine Hand fest.

«Das hat keinen Sinn«, sagte sie.»Er wird dich umbringen.«

«Hast du eine bessere Idee?«fragte Indiana.

Mabel nickte.»Wenn es mir gelingt, an Bord zu kommen, kann ich ihn vielleicht überwältigen«, meinte sie.

Indiana warf einen Blick zum Nagelfahr hinüber, ehe er antwortete. Noch dreißig Sekunden, bis das Schiff da war, schätzte er.»Hast du schon vergessen, was dem Soldaten passiert ist, der an Bord ging?«fragte er.

Mabel schüttelte hastig den Kopf.»Nein«, antwortete sie.»Aber ich kann es. Ich bin sicher, daß ich es schaffe.«

«Und wieso?«

«Nun, weil ich genau das nicht bin, was Erich so sicher geglaubt hat«, erwiderte Mabel mit einem flüchtigen Lächeln.»Ich kann dieses Schiff betreten.«

«Du?«

«Meine Eltern waren Deutsche, weißt du? Sie sind vor zwanzig Jahren in die Staaten gekommen, lange, ehe dieser ganze Wahnsinn in Deutschland begann. Aber als Hitler an die Macht kam, da hat sich mein Vater den Spaß gemacht, unseren Stammbaum zu überprüfen. Ein arischeres Blut als meines wirst du wahrscheinlich kaum finden. Unsere Familie muß in direkter Linie von den Äsen abstammen.«

Der letzte Satz hatte ein Scherz sein sollen, aber er ließ Indiana zusammenzucken.»Und der Name?«fragte er.

«Rosenfeld — ein deutscher Name«, antwortete sie achselzuckend.»Es ist nicht meine Schuld, wenn dieser Idiot ihn für einen jüdischen hielt.«

Indiana zögerte noch immer. Mabels Worte klangen überzeugend, aber es war trotzdem Wahnsinn. Sie hatte keine Chance gegen diesen Verrückten, und selbst wenn…

«Ich will dich nicht auch noch verlieren«, sagte er leise.

Mabel lächelte. Noch eine letzte Sekunde stand sie einfach da und blickte ihn an. Dann streckte sie plötzlich die Arme aus, zog seinen Kopf zu sich herab und küßte ihn, ehe sie mit weit ausgreifenden Schritten auf das Schiff zurannte.

Die Gestalt am Bug des Nagelfahr fuhr herum. Thors Hammer hob sich, als Erich die Bewegung bemerkte.

«Erich!«brüllte Indiana.

Erich zögerte. Sein Blick irrte unentschlossen zwischen Indiana Jones und Mabel hin und her, dann grinste er plötzlich, senkte den Hammer wieder und drehte sich zu Indiana herum. Offensichtlich fühlte er sich absolut sicher.»Was wollen Sie, Dr. Jones?«schrie er.

Indiana hob die Peitsche; eine fast lächerliche Geste angesichts der fürchterlichen Waffe, die in den Händen des Wahnsinnigen lag. Aber sie wirkte. Erich lachte schrill und konzentrierte sich nun ganz auf ihn.

«Kommen Sie von diesem verdammten Ding herunter, und kämpfen Sie wie ein Mann«, schrie Indiana.»Oder haben Sie Angst vor mir?«

Erichs Lachen wurde noch schriller. Er schwenkte Thors Hammer in der rechten Hand, ließ spielerisch zwei, drei der grellgoldenen Blitze in den Himmel und das Meer zucken und schien sich köstlich über Indianas Drohung zu amüsieren. Dann erlosch sein Lächeln schlagartig. Er beugte sich vor, hielt sich mit der linken Hand an der Reling fest und streckte die andere mit der Götterwaffe drohend in Indianas Richtung aus.

«Strapazieren Sie meine Geduld nicht noch mehr, Dr. Jones«, sagte er.»Ich hatte eigentlich vor, Sie am Leben zu lassen, damit Sie Zeuge dessen werden, was ich tue.«

Mabel hatte das Schiff erreicht. Zwischen ihr und dem hoch aufragenden Rumpf des Nagelfahr klaffte eine gut eineinhalb Meter breite Lücke im Eis. Indiana sah, wie sie ein paar Meter Anlauf nahm.

«Was werden Sie tun?«schrie er, um Erichs Aufmerksamkeit ganz auf sich zu ziehen.»Die Welt ins Chaos stürzen?«

«Ihr die Ordnung bringen, die sie braucht«, antwortete Erich zornig.»Ich weiß, daß Sie uns verachten, Dr. Jones. Ich weiß, daß die ganze Welt glaubt, wir seien größenwahnsinnig. Aber das stimmt nicht. Ich werde allen beweisen, wer die wahren Herren sind. Und daß auf dieser Welt kein Platz für Verräter ist.«

Sein Hammer stieß einen gleißenden Blitz aus, der diesmal genau auf das Unterseeboot zielte. Die Bewegung war zu hastig, um direkt zu treffen, der Blitz streifte den Turmaufbau; aber Indiana sah, wie schon diese flüchtige Berührung ausreichte, um die Panzerplatten des Rumpfes dunkelrot aufglühen zu lassen. Zwei- oder dreihundert Meter hinter dem U-Boot stieg eine kochende Dampfsäule aus dem Meer, und Erich lachte abermals schrill.

Mabel sprang, und Indiana ließ seine Peitsche knallen, im gleichen Moment, in dem sie mit einem dumpfen Geräusch gegen die bemalten Rundschilde an die Reling des Nagelfahr prallte und sich daran festklammerte.

«Sie sind ja verrückt«, schrie Indiana.»Sie wissen ja gar nicht, was Sie da tun, Erich. Kommen Sie zu sich! Die Kräfte, die Sie da entfesseln, werden uns alle vernichten.«

Mabel kletterte mit zusammengebissenen Zähnen an Bord des Schiffs. Erich hatte sie bisher nicht einmal bemerkt. Geduckt und nur auf Zehenspitzen laufend, um kein überflüssiges Geräusch zu verursachen, rannte sie auf ihn zu.

«Übertreiben Sie es nicht, Dr. Jones«, rief Erich zornig. Das Schiff und Indiana befanden sich jetzt fast auf gleicher Höhe, und Erich war ihm so nahe, daß er ihn vielleicht mit seiner Peitsche hätte treffen können.

Er schlug nach ihm. Er wußte vorher, wie sinnlos es war, und auch Erich machte sich nicht einmal die Mühe, den Arm zu heben oder dem Hieb ausweichen zu wollen, sondern warf mit einem wilden Lachen den Kopf in den Nacken, als die Peitschenschnur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht an einem unsichtbaren Hindernis abprallte.

«Geben Sie auf, Dr. Jones!«schrie er grinsend.»Sehen Sie endlich ein, daß ich unverwundbar bin. Nichts und niemand kann mich jetzt mehr aufhalten. Nichts!«

Und im gleichen Moment sprang Mabel ihn an.

Er schien die Bewegung im allerletzten Augenblick zu spüren, denn er versuchte herumzufahren, aber er war nicht schnell genug. Mabel sprang mit weit ausgebreiteten Armen gegen ihn, riß ihn durch die pure Wucht ihres Ansturms von den Füßen und klammerte sich an ihn. Der Hammer entglitt Erichs Hand, flog in hohem Bogen davon und prallte vom geschnitzten Drachenkopf des Nagelfahr ab. Sich in der Luft überschlagend trudelte er über Bord, fiel klatschend ins Wasser und versank in der Tiefe. Einen Augenblick lang leuchtete sein goldener Schein noch zu Indiana empor, dann erlosch er.

Erich schrie wie von Sinnen, schleuderte Mabel von sich und sprang auf. Mit einer einzigen Bewegung war er an der Reling und beugte sich vor. Sein Blick irrte über das Wasser, und auf seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck namenlosen Entsetzens breit.

«Nein!«schrie er. »Nein! Nein! Nein!« Immer und immer wieder dieses eine Wort.

«Mabel!«brüllte Indiana.»Spring!«

Mabel hatte sich erhoben und versuchte ebenfalls die Reling zu erreichen. Erich fuhr herum. Sein Gesicht, ohnehin schon verzerrt, wurde vollends zur Grimasse, und ein tiefes, fast tierisches Knurren drang aus seiner Kehle. Mit einem gellenden Schrei warf er sich vor, packte Mabel am Nacken und bei den Hüften und riß sie einfach in die Höhe.

Wenigstens versuchte er es.

Es gelang ihm nicht. Entweder seine Berserkerkräfte versagten — oder auch Mabel verfügte mit einem Mal über die gleiche unheimliche Stärke, denn sie entwich seinem Griff mit fast spielerischer Leichtigkeit, drehte sich um und versetzte ihm einen Stoß, der ihn rücklings taumeln und hart gegen einen der Schilde fallen ließ. Erich sank mit einem Schmerzenslaut auf die Knie, sprang sofort wieder in die Höhe und machte einen einzigen unsicheren Schritt, ehe er wieder stehenblieb und Dr. Rosenfeld verblüfft anstarrte.

Und auch Indiana vergaß für einen Moment seine Furcht, die entsetzliche Situation, in der er sich befand, ja sogar die fürchterliche Gefahr, die dieses Schiff und der Wahnsinnige darstellten. Mit einer Mischung aus Entsetzen und Unverständnis blickte er Mabel an.

Etwas… umgab sie. Ein goldenes, scheinbar aus dem Nichts kommendes Licht, ein magischer Schein, wie der Glanz, der Thors Hammer eingehüllt hatte, aber weicher, sanfter. Millionen und Abermillionen winziger goldglänzender Lichtpartikel schwebten mit einem Mal um ihren Körper, bildeten einen wabernden Umhang aus Milliarden von winzigen Lichtkäfern, der sich eng um ihre Gestalt schmiegte. Und auch ihr Geist veränderte sich. Für einen Moment erschien auch auf ihren Zügen ein Ausdruck maßloser Verblüffung. Dann aber las Indiana plötzlich etwas wie… Wissen in ihren Augen. Ein unendlich tiefes, unendlich altes Wissen. Alle Angst und aller Schmerz in Mabel Rosenfelds Blick erloschen und machten einer tiefen, übermenschlichen Ruhe Platz. Und schließlich erschien ein fast glückliches Lächeln auf ihren Zügen.

Erich schrie auf wie unter Schmerzen, riß die Arme in die Höhe und versuchte sich auf sie zu stürzen. Mabel machte eine fast lässige Bewegung mit der linken Hand, und ein goldener Blitz traf Erichs Gestalt, hüllte sie ein und schleuderte ihn zu Boden. Er schrie auf, riß die Hände schützend vor das Gesicht und rollte drei-, vier-, fünfmal hintereinander über das schwarze Deck des Nagelfahr, bevor er wimmernd liegenblieb.

«Mabel!«flüsterte Indiana.

Obwohl er sehr leise gesprochen hatte, wandte sie den Blick und sah ihn an. Und wieder zitterte Indiana beim Anblick ihrer Augen und des unendlich tiefen Wissens, das darin schlummerte. Es war nicht mehr länger das Wissen eines Menschen.

«Komm zurück!«rief er.»Spring!«

Mabel schüttelte den Kopf. Sie lächelte.»Ich kann nicht zurück«, sagte sie.»Und ich will es auch nicht.«

Das Schiff war jetzt fast an ihm vorübergeglitten, und Indiana begann zu laufen, um mit dem Nagelfahr Schritt zu halten.»Komm zurück!«schrie er noch einmal.»Spring! Ich fange dich auf.«

Wieder schüttelte Mabel den Kopf. Und wieder erschien dieses sonderbar glückliche Lächeln auf ihren Zügen.»Ich muß an Bord bleiben«, sagte sie.»Und es ist gut so.«

«Aber warum?«schrie Indiana.

Er glaubte, die Antwort zu wissen. Aber sie war so schrecklich, daß er sich für einen Moment weigerte, sie zu akzeptieren.

«Weil dieses Schiff seiner Bestimmung gehorchen muß«, sagte Mabel ruhig.»Odin selbst hat es geschickt, um die letzten Wikinger abzuholen, und es kann nicht eher zurück nach Walhall, bis es seine Aufgabe erfüllt hat. Ich muß an Bord bleiben. Und ich will es.«

Indiana rannte schneller. Er hatte den Rand des Eisplateaus fast erreicht. Noch fünfzehn, zwanzig Schritte, und das Nagelfahr hatte das offene Meer erreicht.

Das riesige Segel blähte sich, die Ruder schlugen schneller ins Wasser, und das Schiff nahm mehr und mehr Fahrt auf, so daß Indiana zurückfiel. Er schrie immer wieder Mabels Namen, und er wußte, daß sie ihn hörte, aber sie antwortete jetzt nicht mehr, sondern stand einfach da, blickte einen Moment lang die wimmernde Gestalt zu ihren Füßen an und wandte sich dann noch einmal zu Indiana um. Sie hob die Hand, winkte ihm zum Abschied zu und ging dann zum Bug des Schiffs. So blieb sie stehen, hoch aufgerichtet und die linke Hand auf den riesigen Drachenkopf des Nagelfahr gelegt, bis das Schiff die offene See erreichte und langsam auf einen nördlichen Kurs schwenkte; in die gleiche Richtung, in die sich Odinsland in den vergangenen eineinhalb Tagen bewegt hatte.

Indiana blieb reglos am Ufer der zerbrochenen Eisinsel stehen. Das Schiff passierte das Unterseeboot und wurde schneller. Die Ruder tauchten emsiger ins Wasser, und das Segel blähte sich noch heftiger, obwohl auch jetzt noch Windstille herrschte.

Und er versuchte vergeblich, Schmerz zu empfinden. Trauer, ja, und ein wenig Enttäuschung über den Verlust, den er erlitten hatte, denn obwohl keiner von ihnen es ausgesprochen hatte, war doch mehr als Freundschaft zwischen ihnen gewesen. Vielleicht, dachte er, hätte Mabel die erste Frau werden können, die in seinem Leben wirklich eine Rolle spielte.

Und trotzdem empfand er keine Verbitterung. Sie hatte getan, was sie tun mußte, und vielleicht waren sie alle, einschließlich ihm, Browning, Bates, ja sogar dieses wahnsinnigen Deutschen, der jetzt bei Mabel war und sich vor einer höheren Gerechtigkeit für sein Tun würde verantworten müssen, zu einem einzigen Zweck hierher geschickt worden: damit sie an Bord ging.

Das Schiff der Götter hatte seine Bestimmung erfüllt.

Und einen ganz kurzen Moment, bevor das Nagelfahr in der Ferne zu einem winzigen Punkt schmolz und schließlich ganz verschwand, glaubte er, einen gewaltigen schimmernden Regenbogen zu sehen, der sich aus der Oberfläche des Meeres erhob und direkt bis in den Himmel hinaufführte.

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