XIII An sicherem Ort

Sir Jason Fitzpatrick, der Stellvertretende Gouverneur von St. Christopher, sah aus wie ein Mann, der das Leben bis zum Übermaß noß. Er war etwa vierzig, ungewöhnlich dick, und sein Gesicht, das der Sonne über viele Jahre Trotz geboten hatte, leuchtete ziegelrot.

Als Bolitho seinem Kommandanten durch eine wunderschön gekachelte Eingangshalle in einen Raum mit niedrigerer Decke folgte, sah er viele Zeugen von Fitzpatricks Lieblingsbeschäftigung: überall standen Tabletts mit Flaschen und schön geschliffenen Gläsern, damit der Stellvertretende Gouverneur seinen Durst stets ohne Verzug stillen konnte.

Fitzpatrick sagte:»Nehmen Sie Platz, meine Herren. Wir wollen erst einmal meinen Rotwein kosten. Er müßte jetzt richtig sein, obwohl man in diesem schrecklichen Klima nie weiß.»

Er hatte eine kehlige Stimme und unglaublich kleine Augen, die zwischen Falten fast verschwanden.

Bolitho fielen diese winzigen Augen mehr auf als alles andere. Sie bewegten sich so flink, als wären sie unabhängig von dem schweren Fleisch, das sie umgab. Dumaresq hatte ihm unterwegs erzählt, daß Fitzpatrick ein reicher Plantagenbesitzer war, der auch auf der Nachbarinsel Nevis Güter besaß.»Bitte, Master!»

Bolitho wandte sich um und spürte, daß sich sein Magen zusammenzog: Ein großer Neger in roter Jacke und weißer, weiter Hose hielt ihm ein Tablett hin. Bolitho sah weder das Tablett noch die Gläser, sondern in seiner Phantasie nur das andere schwarze Gesicht, hörte wieder den schrecklichen Triumphschrei, als das Entermesser zuschlug. Endlich nahm er ein Glas und nickte dem Diener zu, während sein Puls sich wieder beruhigte.

Dumersq sagte:»Kraft der mir übertragenen Vollmacht habe ich die Untersuchung ohne Verzug zu führen, Sir Jason. Ich habe die erforderlichen Zeugenerklärungen und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mir mitteilten, wo Garrick sich aufhält.»

Fitzpatrick spielte mit dem Stiel des Glases, während seine Blicke durch den Raum huschten.»Aha, Kapitän, Sie sind also in großer Eile. Aber sehen Sie, der

Gouverneur ist abwesend. Er wurde vor ein paar Monaten vom Fieber gepackt und kehrte auf einem Handelsschiff nach England zurück. Jetzt mag er schon auf dem Rückweg sein. Unsere Nachrichtenverbindung ist sehr schlecht. Wir haben angesichts der überall herumstreunenden Piraten große Mühe, unsere Post rechtzeitig zu bekommen. Anständige Schiffer bangen bei jeder Fahrt um ihr Leben. Es ist ein Jammer, Ihre Lordschaften sollten sich endlich einmal darum kümmern.»

Dumaresq blieb unbeeindruckt.»Ich hatte gehofft, daß ein Flaggoffizier hier wäre.»

«Wie ich schon sagte, Kapitän, der Gouverneur ist abwesend. Andernfalls.»

«Andernfalls würde hier kein verdammter Spanier vor Anker liegen, da bin ich ganz sicher.»

Fitzpatrick zwang sich zu einem Lächeln.»Wir sind nicht im Krieg mit Spanien. Die San Augustin kam in friedlicher Absicht. Sie wird befehligt von Capitän de Navio Don Carlos Quintana: ein älterer und sehr angesehener Offizier, ebenfalls mit Vollmachten von seiner Regierung. «Er lehnte sich offenbar zufrieden zurück.»Außerdem: Welche Beweise haben Sie wirklich? Die Erklärung eines Mannes, der starb, bevor er vor Gericht gebracht werden konnte; ferner die beschworene Aussage eines Rene gaten, der so darauf bedacht ist, seine Haut zu retten, daß er alles beschwören würde.»

Dumaresq bemühte sich, seine Verbitterung zu unterdrücken, als er antwortete:»Mein Schreiber hatte weitere schriftliche Beweise bei sich, als er auf Madeira ermordet wurde.»

«Darüber bin ich wirklich sehr betrübt, Kapitän. Aber es wäre kriminell, einen Mann von der Bedeutung Sir Piers Garricks ohne eindeutige Beweise derart zu verunglimpfen. «Fitzpatrick lächelte selbstgefällig.»Darf ich vorschlagen, daß wir auf Anweisung aus London warten? Wir können Ihren Bericht mit dem nächsten Schiff expedieren, das — wahrscheinlich von Barbados aus — nach Hause segelt. Sie könnten dort warten und sofort handeln, wenn die Anweisung eintrifft. In der Zwischenzeit werden auch der Gouverneur und das Geschwader zurückgekehrt sein, so daß Sie dann höhere Instanzen hätten, die Ihre Maßnahmen autorisieren könnten.»

Dumaresq erwiderte ärgerlich:»Das kann Monate dauern. Bis dahin ist der Vogel ausgeflogen.»

«Entschuldigen Sie meinen Mangel an Begeisterung. Wie ich schon Don Carlos gesagt habe, geschah das alles vor dreißg Jahren. Woher auf einmal dieses Interesse?»

«Garrick war ein Schurke und Verräter. Sie klagen über Piraten, die diese Gewässer verunsichern, Städte plündern und Schiffe reicher Handelsherren kapern. Aber haben Sie sich noch nie gefragt, woher die Piraten ihre Schiffe bekommen? Schiffe wie die Heloise, die funkelnagelneu aus einer britischen Werft kam und von einer Besatzung überführt wurde, die nur für diese eine Fahrt angeheuert worden war.

Also?»

Bolitho hörte fasziniert zu. Er hatte erwartet, daß Fitzpatrick aufspringen und den Kommandeur der Garnison rufen lassen würde, um dann gemeinsam mit Dumaresq zu überlegen, wie sie Garrick aufspüren und verhaften konnten.

Aber Fitzpatrick spreizte entschuldigend die roten Hände.»Es liegt nicht in meiner Macht, Gegenmaßnahmen zu befehlen, Kapitän. Ich habe nur vorübergehende Kommandogewalt und würde wenig Dank ernten, wenn ich die Lunte ans Pulverpaß legte. Sie müssen selbstverständlich tun, wozu Sie sich in der Lage fühlen. Sie sagten, Sie hätten hier einen Flaggoffizier erwartet. Sicherlich, damit er Ihnen die Last der Verantwortung von den Schultern nimmt?«Als Dumaresq schwieg, fuhr er leise fort:»Darum verachten Sie mich nicht, wenn auch ich nicht ohne Rückendeckung handeln möchte.»

Bolitho wunderte sich. Die Admiralität in London, eine ganze Reihe höherer Offiziere der Flotte, sogar die Regierung König Georgs hatten sich darum bemüht, die Destiny hierherzuschicken. Dumaresq hatte von dem Augenblick an, als er den Auftrag erhalten hatte, ohne Ruhepause dafür gearbeitet und viele Stunden in der Einsamkeit seiner Kajüte über die Schlußfolgerungen aus der dürftigen Beweiskette nachgegrübelt. Und jetzt sollte er, da keine höhere Autorität der Marine da war, sich gedulden und warten, bis weitere Befehle von irgendwoher einliefen — oder alles auf seine eigene Kappe nehmen. Mit seinen achtundzwanzig Jahren war Dumaresq der dienstälteste Seeoffizier in St.Christopher. Bolitho konnte sich nicht vorstellen, wie er weitermachen sollte, ohne seine Karriere zu gefährden.

Dumaresq sagte matt:»Erzählen Sie mir, was Sie von Garrick wissen.»

«Im Grunde nichts. Es stimmt, daß er an der Schiffahrt interessiert ist und mehrere kleine Schiffe im Lauf der letzten Monate erhielt. Er ist sehr reich. Soviel ich weiß, beabsichtigt er, den Handel mit den Franzosen in Martinique auszudehnen.»

Dumaresq stand auf.»Ich muß zurück an Bord. «Er sah Bolitho nicht an.»Ich würde es dankbar begrüßen, wenn Sie meinen Dritten Offizier, der verwundet wurde — und zwar, wie es jetzt scheint, völlig umsonst — bei sich aufnehmen würden.»

Fitzpatrick erhob mühsam seine Fleischmassen.»Darüber würde ich mich glücklich schätzen. «Er versuchte, seine Erleichterung zu verbergen. Also wollte Dumaresq offenbar den leichteren Weg einschlagen.

Der Kommandant brachte Bolithos unausgesprochenen Protest zum Schweigen.»Ich schicke ein paar Leute zu Ihrer Bedienung. «Er nickte dem Stellvertretenden Gouverneur zu.»Ich komme zurück, wenn ich mit dem Kommandanten der San Augustin gesprochen habe.»

Im Dunkeln, außerhalb des Gebäudes, gab Dumaresq seinen wahren Gefühlen Ausdruck:»Dieser verdammte Hund steckt selber bis zum Hals mit drin! Und denkt, ich bleibe hier wie ein braver Junge vor Anker liegen. Gott strafe sein pockennarbiges Gesicht, bevor er in die

Hölle fährt!»

«Muß ich wirklich bleiben, Sir?»

«Einstweilen. Ich werde ein paar kräftige Leute abstellen, scheinbar als Ihre Burschen. Ich traue diesem Fitzpatrick nicht. Er ist ortsansässiger Grundbesitzer und wahrscheinlich gut Freund mit allen Schmugglern und Sklavenhändlern der Karibik. Wollte mir den Unschuldsengel vorspielen! Bei Gott, er weiß bestimmt, wie viele neue Schiffe hier versammelt sind, um Garricks Befehle zu erwarten.»

Bolitho fragte:»Ist Garrick denn immer noch ein Pirat, Sir?»

Dumaresq grinste in der Dunkelheit.»Schlimmeres. Ich glaube, daß er bei den Waffenlieferungen in die amerikanischen Kolonien mitmischt — Waffen, die dort gegen uns eingesetzt werden.»

«Von den Rebellen, Sir?»

«Ja, und noch von anderen, wenn es nach diesem verdammten Renegaten ginge. Glauben Sie, daß die Franzosen ruhen werden? Wir haben sie immerhin aus Kanada und aus ihren karibischen Besitzungen hinausgeworfen. Glauben Sie, daß sie die Worte >vergeben und vergessen< an die Spitze ihrer politischen Vorhaben setzen?»

Bolitho hatte oft von Unruhen in den amerikanischen Kolonien nach dem Siebenjährigen Krieg gehört. Es hatte mehrere ernste Zwischenfälle gegeben, aber die Möglichkeit eines offenen Aufstands war selbst von der einflußreichsten Zeitung als Übertreibung beurteilt worden.

«In all diesen Jahren hat Garrick ungestört gewirkt und Pläne geschmiedet und dabei die gestohlene Beute zu seinem Vorteil verwendet. Er sieht sich selber als Führer in einem kommenden Aufstand, und diejenigen, die jetzt an der Spitze sind und das nicht wahrhaben wollen, belügen sich nur selber. Ich habe viel Zeit gehabt, über Garrick und das grausame Unrecht nachzudenken, das ihn reich und mächtig machte — und meinen Vater zu einem verarmten Krüppel.»

Bolitho beobachtete, wie die Gig, von der zunächst nur die weißen Ruderblätter zu sehen waren, in der Dunkelheit näher kam. Dumaresq hatte sich also entschieden. Das hätte er sich denken können nach allem, was er von dem Mann gesehen und erlebt hatte.

Dumaresq sagte plötzlich:»Auch Egmont und seine Frau werden in Kürze ausgeschifft werden. Sie stehen offiziell unter Fitzpatricks Schutz, aber stellen Sie zu Ihrer eigenen Beruhigung einen Posten auf. Ich möchte Fitzpatrick begreiflich machen, daß er in die Angelegenheit direkt verwickelt ist, wenn es zu irgendeiner Verräterei kommen sollte.»

«Sie glauben, daß Egmont noch in Gefahr ist, Sir?»

Dumaresq machte eine Handbewegung zu der kleinen Residenz.»Hier ist er an sicherem Ort. Ich möchte aber nicht, daß er wieder davonrennt. Es gibt zu viele Leute, die ihn lieber tot wüßten. Sobald ich mit Garrick abgerechnet habe, kann er tun und lassen, was ihm gefällt. Je eher, desto besser.»

«Ich verstehe, Sir.»

Duaresq gab seinem Bootssteurer ein Zeichen und kicherte dann.»Das bezweifle ich. Aber halten Sie Augen und Ohren offen. Ich nehme an, daß die Dinge sehr bald in Fluß kommen werden.»

Bolitho sah zu, wie Dumaresq in die Gig kletterte, und lenkte seine Schritte dann zurück zur Residenz.

Machte sich Dumaresq überhaupt Sorgen, was aus Egmont und seiner Frau wurde? Oder benutzte er sie nur als Lockvögel für seine

Falle?

Abseits der Residenz gab es zwei oder drei kleine Bungalows, die normalerweise höheren Beamten oder Offizieren, die zur Inspektion herkamen, zur Verfügung standen.

Bolitho nahm an, daß solche Besucher selten waren; wenn sie kamen, brachten sie sicher alles zu ihrer Bequemlichkeit Erforderliche selbst mit. Das Haus, das ihm zugewiesen worden war, bestand praktisch nur aus einem Raum. Die Moskitofenster waren voller Löcher, die eine nie ermüdende Armee von Insekten gebohrt hatte. Palmenwedel streiften Dach und Wände, und er vermutete, daß bei einem heftigen Gewitter das Wasser wie durch ein Sieb eindringen würde.

Er hatte sich vorsichtig auf das große, handgeschnitzte Bett gesetzt und putzte eine Lampe. Insekten schwirrten herbei und flogen gegen das heiße Glas. Ihm taten die weniger begünstigten Menschen auf der Insel leid, wenn selbst der Gouverneur vom Fieber gepackt werden konnte.

Vor der nur lose schließenden Tür knarrten die Bodenbretter, und Stockdale schaute herein. Er war mit sechs weiteren Männern an Land gekommen, um ein» wachsames Auge auf Wind und Wetter «zu haben, wie er es ausdrückte.

Mit seiner keuchenden Stimme meldete er:»Alles eingeteilt, Sir. Wir gehen abwechselnd Wache. Josh Little übernimmt die erste. «Er lehnte sich gegen den Türrahmen, und Bolitho hörte, wie das Holz protestierend knarrte.»Ich habe zwei Leute an dem anderen Haus postiert. Es ist ganz ruhig dort.»

Bolitho dachte daran, wie Aurora ihn angesehen hatte, als sie und ihr Mann von Bedienten des Gouverneurs eilig in den Nachbarbungalow geleitet wurden. Sie schien beunruhigt, verängstigt durch den plötzlichen Wechsel der Ereignisse. Es hatte geheißen, Egmont besäße Freunde in Basseterre, aber man hatte ihm nicht erlaubt, sich zu ihnen zu begeben; statt dessen war er immer noch ihr Gast. Oder besser: ihr Gefangener.

Bolitho sagte:»Gehen Sie schlafen. «Er berührte seine Narbe und zog eine Grimasse.»Mir ist, als wäre das erst heute geschehen.»

Stockdale grinste.»Saubere Arbeit, Sir. Ein Glück, daß wir den alten Knochensäger hatten.»

Er trollte sich nach draußen, und Bolitho hörte ihn leise vor sich hin pfeifen, als er einen Platz fand, an dem er sich ausstrecken konnte. Seeleute vermochten überall zu schlafen.

Bolitho legte sich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und starrte in die Schatten jenseits der nur schwach brennenden Flamme.

Es war alles vergebens gewesen. Garrick hatte die Insel bestimmt schon verlassen. Er mußte besser unterrichtet gewesen sein, als Duma-resq vermutete. Nun konnte er sich ins Fäustchen lachen, wenn er an die britische Fregatte und ihre spanische Begleiterin dachte, die da unschlüssig vor Anker lagen, während er.

Bolitho fuhr mit einem Ruck hoch und griff nach seiner Pistole, als die Planken vor der Tür wieder knarrten. Er beobachtete, wie sich der Türgriff senkte, und fühlte sein Herz gegen die Rippen schlagen, als er die Entfernung schätzte und überlegte, ob er schnell genug auf die Füße kommen konnte, um sich zu verteidigen.

Die Tür öffnete sich einige Zentimeter, und er sah ihre schmale Hand am Rand.

In Sekunden war er aus dem Bett. Als er die Tür ganz aufzog, hörte er sie flüstern:»Bitte, mach das Licht aus!»

Einen verwirrenden Augenblick lang hielten sie einander hinter der wieder geschlossenen Tür umschlungen. Außer Auroras heftigen Atemzügen gab es keinen Laut. Bolitho wagte nichts zu sagen, aus Angst, damit den unglaublichen Traum zu vertreiben.

Sie flüsterte:»Ich mußte kommen. Es war schon schlimm genug auf dem Schiff. Aber zu wissen, daß du hier bist, während…«Mit leuchtenden Augen schaute sie zu ihm auf.»Verachte mich nicht, weil ich schwach geworden bin.»

Bolitho hielt sie fest an sich gedrückt, fühlte ihren Körper durch das lange dünne Gewand und wußte, daß sie verloren waren. Mochte die Welt jetzt in Stücke fallen — nichts konnte ihnen diesen Augenblick nehmen.

Wie Aurora an den Posten vorbeigekommen war, schien ihm unbegreiflich, aber es kümmerte ihn nicht. Doch dann fiel ihm Stockdale ein. Daran hätte er gleich denken sollen.

Seine Hände zitterten heftig, als er sie an den Schultern hielt und ihr Haar, ihr Gesicht, ihren Hals küßte.

«Ich helfe dir. «Sie löste sich etwas von ihm und ließ ihr Gewand zu Boden fallen.»Nimm mich in deine Arme.»

In der Dunkelheit zwischen den beiden kleinen Bungalows lehnte Stockdale sein Entermesser gegen einen Baum und setzte sich daneben. Er beobachtete, wie das Mondlicht die Schwelle der Tür beleuchtete, die er vor einer Stunde sich hatte öffnen und wieder schließen gesehen, und dachte an die beiden, die jetzt beisammen waren. Für den Leutnant war es wahrscheinlich das erstemal, dachte Stockdale wohlwollend. Er hätte keine bessere Lehrerin finden können, das war gewiß.

Lange vor Anbruch der Morgendämmerung schlüpfte Aurora leise aus dem Bett und zog sich an. Einen Augenblick noch schaute sie auf die blasse, in tiefem Schlaf liegende Gestalt nieder und strich dabei über ihre Brust, wie er es getan hatte. Dann bückte sie sich und küßte ihn leicht auf den Mund. Seine Lippen schmeckten salzig, vielleicht von ihren Tränen. Ohne noch einmal zurückzublicken, verließ sie den Raum und lief an Stockdale vorbei, ohne ihn zu sehen.

Bolitho trat langsam aus der Tür und auf den sonnengehärteten Weg hinunter. Es kam ihm vor, als schritte er über dünnes Glas. Obwohl er seine Uniform trug, fühlte ersieh immer noch nackt, glaubte nach wie vor, ihre Umarmung zu spüren, ihr atemberaubendes Verlangen, das ihn völlig erschöpft hatte.

Im frühen Sonnenlicht erkannte er einen der Wachposten, der ihn, auf seine Muskete gestützt, neugierig betrachtete.

Wenn er nur wach gewesen wäre, als sie ihn verließ! Dann hätten sie sich nie mehr getrennt. Stockdale kam auf ihn zu und meldete:»Keine Vorkommnisse,

Sir.»

Befriedigt registrierte er Bolithos Unsicherheit. Der Leutnant war verändert: verwirrt, aber wohlauf. Noch etwas durcheinander, aber mit der Zeit würde er die neue Kraft spüren, die sie ihm geschenkt hatte.

Bolitho nickte.»Lassen Sie die Leute antreten!«Er hob den Arm, um seinen Hut aufzusetzen, erinnerte sich aber noch rechtzeitig an die Wunde, die bei der leisesten Berührung pochte und brannte. Aurora hatte ihn sogar das vergessen lassen.

Stockdale bückte sich und hob ein kleines Stück Papier auf, das aus dem Hut gefallen war. Er übergab es mit ausdruckslosem Gesicht.»Ich kann nicht lesen, Sir.»

Bolitho entfaltete den Zettel und las mit verschwimmendem Blick ihre wenigen Worte:»Liebster, ich konnte nicht warten. Denke manchmal an mich und daran, wie schön es war.»

Darunter hatte sie geschrieben:»Der Ort, den dein Kommandant sucht, ist die Insel Fougeaux.»

Sie hatte nicht mit Namen unterzeichnet, aber er konnte beinahe ihre Stimme hören.

«Fühlen Sie sich nicht wohl, Sir?»

«Doch.»

Noch einmal las er die kurze Botschaft. Aurora mußte sie schon mitgebracht und vorher gewußt haben, daß sie sich ihm hingeben würde. Und daß es damit enden würde.

Er hörte Schritte auf dem Sand knirschen und sah Palliser den Weg heraufkommen, hinter sich Midshipman Merrett, dem es schwerfiel, mit dem langen Leutnant Schritt zu halten.

Palliser sagte barsch zu Bolitho:»Alles erledigt. «Er wartete mit lauerndem Blick.

Bolitho fragte:»Mit Egmont und seiner Frau? Was ist geschehen?»

«Ach, wußten Sie das noch nicht? Sie sind gerade an Bord gegangen. Wir haben ihr Gepäck in der Nacht auf eines der kleinen, hier ankernden Schiffe geschafft. Ich hatte angenommen, Sie wären besser informiert.»

Bolitho zögerte. Dann faltete er den Zettel, riß den unteren Teil mit dem Namen der Insel vorsichtig ab und reichte ihn Palliser.

Palliser las und sagte:»Das kann stimmen.»

Er übergab den gefalteten Zettel an Merrett.»Zurück damit zum Schiff, Kleiner, und bringen Sie dies mit ergebenstem Gruß dem Kommandanten. Wenn Sie's verlieren, prophezeie ich Ihnen einen qualvollen Tod.»

Der Junge eilte davon, während Palliser fortfuhr:»Der Kommandant hat mal wieder recht gehabt. «Er lächelte über Bolithos ernstes Gesicht.»Kommen Sie, wir gehen zusammen zurück.»

«Sie sagten, die Egmonts hätten sich bereits eingeschifft, Sir?«Er wollte es noch nicht wahrhaben.»Wohin?»

«Habe ich vergessen. Ist es wichtig?»

Bolitho nahm gleichen Schritt mit ihm auf. Aurora hatte ihm die Information als Dank zukommen lassen, vielleicht weil er ihr das Leben gerettet hatte, vielleicht um ihrer Liebe willen. Dumaresq hatte sie also beide für seine Zwecke benutzt. Bolitho fühlte, wie Zorn darüber in ihm hochstieg. Einen» sicheren Ort «hatte er den Platz genannt. Aber es war eher ein Ort der Täuschung gewesen.

Als Bolitho das Schiff erreichte, fand er die Besatzung klar zum Ankermanöver und die Segel schon so weit losgemacht, daß sie kurzfristig gesetzt werden konnten. Wie befohlen meldete er sich in der Kajüte, wo Dumaresq und Gulliver Seekarten studierten. Dumaresq bat den Master, draußen zu warten, und sagte dann barsch:»Damit ich Sie nicht wegen Insubordination bestrafen muß, lassen Sie mich als ersten sprechen. Unsere Mission in diesen Gewässern ist für eine so leichte Fregatte wie die Destiny ein Wagnis. Ich habe das immer geahnt, aber dank dieser kleinen Information weiß ich jetzt, wo Garrick sein Hauptquartier hat, sein Lager für Waffen und sonstige ungesetzliche Handelswaren, und auch, wo die Schiffe liegen, mit denen er das alles verteilt. Das war sehr wichtig.»

Bolitho hielt seinem Blick stand.»Man hätte es mir sagen sollen,

Sir.»

«Sie haben es aber genossen, oder?«Dumaresqs Ton wurde weicher.»Ich weiß, wie es ist, wenn man sich in einen Traum verrennt. Mehr konnte es nicht sein. Sie sind Offizier des Königs und mögen sich sogar zu einem guten Offizier entwickeln, wenn mit der Zeit etwas Verstand hinzukommt.»

Bolitho schaute über Dumaresq hinweg auf die draußen vor Anker liegenden Schiffe; er überlegte, auf welchem Aurora sein mochte.

Er fragte:»Ist das alles, Sir?»

«Ja. Übernehmen Sie wieder Ihre Division. Ich will Anker lichten, sobald dieser Federfuchser Kopien meines Berichts für die örtlichen Autoritäten und für London fertiggestellt hat. «In Gedanken war er schon wieder bei den hundert anderen Dingen, die er noch erledigen mußte.

Bolitho stolperte aus der Kajüte in die Messe. Es war ihm zu schmerzlich, sich vorzustellen, wie diese Kajüte noch vor kurzem ausgesehen hatte: mit ihren Kleidern, die ordentlich zum Trocknen aufgehängt waren, mit der jungen Zofe, die sich immer in der Nähe hielt für den Fall, daß sie gebraucht wurde. Vielleicht war die Methode, die Dumaresq anwandte, richtig, aber mußte er so brutal und gefühllos sein?

Rhodes und Colpoys erhoben sich, umihnzu begrüßen, und sie schüttelten einander feierlich die Hände.

Bolitho berührte das Stückchen Papier in seiner Tasche und fühlte sich stärker. Was Dumaresq und die anderen auch denken mochten, sie konnten nicht wissen, wie schön es wirklich gewesen war.

Bulkley trat in die Messe, sah Bolitho und wollte ihn gerade fragen, welche Fortschritte seine Wunde machte; doch Rhodes schüttelte leicht den Kopf, und so rief der Arzt nur nach Poad und bat um eine Tasse Kaffee.

Bolitho würde darüber hinwegkommen. Aber es mochte einige Zeit dauern.»Anker ist los, Sir!»

Dumaresq trat an die Reling und schaute hinüber zum Spanier, während die Destiny mit von der frischen Brise geblähten Segeln der offenen See zustrebte.

Er sagte:»Das wird den Don ärgern. Seine halbe Besatzung ist an Land, um Vorräte zu ergänzen, also kann er uns erst in einigen Stunden folgen. «Er warf den Kopf zurück und lachte.»Hol dich der Teufel, Garrick! Genieße noch dein bißchen Freiheit!»

Bolitho beobachtete, wie seine Leute das Broßbramsegel setzten und einander derbe Scherzworte zuriefen, als wären auch sie von Dumaresqs Erregung angesteckt. Aussicht auf Tod, Prisengeld, ein neues Land — alles war für sie Anlaß zur Fröhlichkeit.

Palliser rief vom Achterdeck:»Bringen Sie die Leute auf Trab, Mr. Bolitho, die haben heute ja Blei in den Knoche n.»

Bolitho wandte sich nach achtern und hatte schon eine ärgerliche Antwort auf der Zunge. Aber dann zuckte er die Schultern. Palliser wollte ihm auf die einzige Art helfen, die er beherrschte.

Nachdem sie die gefährlichen Untiefen von Bluff Point umfahren hatten, setzte die Destiny weitere Segel und nahm Kurs nach Westen. Später, als Bolitho die Nachmittagswache übernahm, studierte er die Karte und Gullivers sorgfältig eingetragene Berechnungen.

Fougeaux Island war sehr klein und gehörte zu einer weitverstreuten

Inselgruppe, gut 150 Meilen westnordwestlich von St. Christopher. Es war nacheinander von Frankreich, Spanien und England beansprucht worden, selbst die Holländer hatten sich eine Zeitlang dafür interessiert.

Jetzt war es keinem Land Untertan, denn allem Anschein nach gab es da nichts zu holen. Es fehlte an Bäumen für Bau- und Brennholz, und es mangelte laut Seehandbuch sogar an Trinkwasser. Ein kahles, feindliches Stück Land mit einer sichelförmigen Lagune als einzigem Vorzug. Sie konnte Schutz bei Sturm bieten, aber kaum mehr. Doch, wie Dumaresq bemerkt hatte, was verlangte Garrick auch sonst?

Bolitho beobachtete den Kommandanten, der so ruhelos an Deck auf und ab ging, als hielte er es in seinen Räumen nicht mehr aus, seit das Ziel so nahe lag. Gegenwind erschwerte ihr Vorwärtskommen und zwang das Schiff zu langen Kreuzschlägen, bei denen sie der Insel nur wenig näher kamen.

Aber die Aussicht, zumindest einen Teil des verlorenen Goldes zu finden, ließ sie die knochenbrechende Arbeit bei den dauernden Wendemanövern, das Durchholen der Brassen und das immer wieder neue Trimmen der Segel vergessen.

Wenn die Insel nun leer war oder gar nicht die richtige? Bolitho glaubte es nicht. Aurora mußte gewußt haben, daß nur Garricks Gefangennahme sie und ihren Mann vor seiner Rache schützen konnte. Und auch, daß Dumaresq sie ohne diese Information nie freigelassen hätte.

Am nächsten Tag dümpelte die Destiny mit schlappen Segeln bewegungslos in einer Flaute.

Weit weg an Steuerbord sah man den vagen Umriß einer Insel, aber sonst hatten sie den Ozean allein für sich. Es war so heiß, daß die Füße an den Decksnähten klebenblieben und die Kanonenrohre sich anfühlten, als hätten sie eine Schlacht hinter sich.

Gulliver sagte:»Bei einem nördlicheren Kurs hätten wir mehr Glück mit dem Wind gehabt, Sir.»

«Das weiß ich selbst, verdammt noch mal. «Dumaresq wandte sich ihm erbost zu.»Aber wir wären vielleicht auf ein Korallenriff gelaufen. Wollten Sie das riskieren? Wir sind eine Fregatte und kein flaches Fischerboot.»

Den ganzen Tag über und auch noch den halben nächsten rollte das

Schiff unbehaglich in der schwachen Dünung. Ein Haifisch glitt vorsichtig um ihr Heck, und einige Matrosen versuchten ihr Glück mit einem großen Angelhaken.

Dumaresq schien das Deck überhaupt nicht mehr verlassen zu wollen. Als er an Bolitho während dessen Wache vorbeiging, sah er, daß sein Hemd schweißgetränkt war; auf seiner Stirn hatte sich eine Blase gebildet, die er aber nicht zu bemerken schien.

Als die Nachmittagswache zur Hälfte um war, tastete der Wind sich wieder über die glitzernde Wasserfläche an sie heran, aber mit ihm kam eine Überraschung.

«Schiff, Sir! An Backbord achteraus!»

Dumaresq und Palliser beobachteten, wie die bräunliche Segelpyramide über den Horizont stieg. Das große rote Kreuz auf der Breit-fock hob sich deutlich ab und beseitigte alle Zweifel.

Palliser rief erbittert:»Der Don, Gott strafe ihn!»

Dumaresq ließ mit versteinertem Blick das Glas sinken.»Fitzpa-trick! Er muß es ihnen verraten haben. Sie sind auf Blut aus. «Er sah seinen Ersten Offizier an.»Wenn Don Carlos Quintana sich jetzt einmischt, wird es aber sein eigenes Blut kosten!»

«An die Brassen und Schoten!»

Die Destiny erbebte und legte sich kräftig vor die auffrischende Brise. Mit neuerwachter Kraft warf sie Wolken von Gischt an ihrer weißen Galionsfigur hoch.

Dumaresq sagte:»Lassen Sie die Leute an den Geschützen exerzieren, Mr. Palliser. «Er starrte achteraus auf das andere Schiff. Es schien schon viel näher gekommen zu sein.

«Und setzen Sie bitte unsere Flagge. Ich will nicht, daß uns der verdammte Spanier in die Quere kommt.»

Rhodes dämpfte seine Stimme.»Und das meint er ernst, Richard. Dies ist sein großer Augenblick. Er wird lieber sterben, als ihn zu teilen.»

Einige Leute auf dem Achterdeck sahen einander an und machten ängstliche Bemerkungen. Die eingefleischte Verachtung, mit der sie jede andere Marine außer der eigenen beurteilten, war nach dem langen Aufenthalt in Basseterre etwas erschüttert. Die San Augustin besaß mindestens vierundvierzig Kanonen, die Destiny dagegen nur achtundzwanzig.

Dumaresq schimpfte:»Bringen Sie diese Tölpel auf Trab, Mr. Palli-ser! Unser Schiff entwickelt sich langsam zu einem Saustall!»

Einer von Bolithos Geschützführern flüsterte:»Ich dachte, wir wären nur hinter einem Piraten her?»

Stockdale zeigte grinsend die Zähne.»Feind ist Feind, Tom. Seit wann macht die Flagge einen Unterschied?»

Bolitho biß sich auf die Lippen. Was jetzt kam, war ein Musterbeispiel für die schwere Verantwortung eines Kommandanten. Wenn Dumaresq nichts unternahm, konnte er wegen Unfähigkeit oder Feigheit vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Wenn er mit dem Spanier ins Gefecht kam, konnte man ihn beschuldigen, einen Krieg provoziert zu haben.

Er sagte:»Macht euch bereit, Leute. Löst die Zurrings. «Stockdale hatte recht: Ihre einzige Sorge sollte es sein, zu gewinnen.

Bevor die Sonne am nächsten Morgen über den Horizont gestiegen war, wurden die Leute zum Frühstück und dann zum Deckwaschen geschickt.

Der Wind war leicht, aber stetig und hatte über Nacht auf Südwest gedreht.

Dumaresq war ebenso früh an Deck wie alle. Bolitho bemerkte die Ungeduld, mit der er immer wieder über das Achterdeck wanderte, einen Blick auf den Kompaß oder die Schiefertafel mit den Eintragungen des Steuermanns warf. Wahrscheinlich nahm er nichts davon wahr; aus der Art, wie Palliser und Gulliver ihm freie Bahn ließen, entnahm Bolitho, daß sie ihre Erfahrungen mit dieser Stimmung ihres Kommandanten hatten.

Zusammen mit Rhodes beobachtete Bolitho, wie der Oberbootsmann seine Arbeitsgruppen einteilte. Die Tatsache, daß ein weit überlegenes Kriegsschiff ihnen achteraus folgte und daß eine wenig bekannte Insel vor ihnen lag, änderte nichts an Mr. Timbrells Routine.

Pallisers rauhe Stimme schreckte Bolitho auf.»Lassen Sie die Rahen durch Ketten sichern, Mr. Timbrell!»

Einige Matrosen schauten zu den Rahen auf. Palliser gab keine weiteren Erklärungen, was für die dienstälteren Leute auch nicht erforderlich war. Die Ketten würden jede Rahe fester mit dem Mast verbinden als das Tauwerk, das sie normalerweise hielt, in einem Gefecht aber leicht zerschossen werden konnte. Außerdem mußten Netze über das

Oberdeck gespannt werden. Ketten und Netze waren der einzige Schutz vor herunterfallenden Spieren und Takelageteilen.

Vielleicht trafen sie auf dem Spanier jetzt genau die gleichen Vorbereitungen, obwohl nichts darauf hinzudeuten schien. Bisher hatte es lediglich den Anschein, als sei die San Augustin, seit sie zu ihnen aufgeschlossen hatte, gewillt, ihnen zu folgen und die Entwicklung zu beobachten.

Rhodes drehte sich abrupt um und eilte auf den ihm zugewiesenen Platz, wobei er leise hervorstieß:»Der >Herr und Meister

Als Bolitho sich umwandte, stand er seinem Kommandanten gegenüber. Es war ungewöhnlich, ihm so weit weg von Achterdeck und Hütte zu begegnen, und die Seeleute, die in der Nähe arbeiteten, schienen sich vorsichtig zurückzuziehen, als wären sie durch Duma-resqs Gegenwart eingeschüchtert.

Bolitho grüßte durch eine Handbewegung zum Hut und wartete. Dumaresqs Augen wanderten langsam und ohne Ausdruck über sein Gesicht.

Dann sagte er:»Kommen Sie mit. Aber holen Sie sich vorher ein Fernglas. «Er warf dem Bootssteurer seinen Hut zu und ergänzte:»Eine kleine Kletterpartie gibt klaren Kopf.»

Bolitho sah mit Überraschung, wie Dumaresq sich nach außen in die Wanten schwang. Seine untersetzte Gestalt hing ungelenk in den Webeleinen, als er zu der turmhohen Mastspitze aufsah.

Bolitho haßte Höhen. Von allen Motiven, die ihn getrieben hatten, sich um eine baldige Beförderung zum Offizier zu bemühen, war dies eines der wichtigsten gewesen: nicht mehr mit den anderen in den Mast zu müssen, wo Wind und Kälte den Griff um die vereisten Webeleinen lösen oder den Mann von der Rah in die See unten schleudern konnten.

Vielleicht wollte Dumaresq ihn herausfordern, und sei es nur, um die eigene Spannung zu lösen.

«Kommen Sie, Mr. Bolitho! Sie sind heute an einem Wendepunkt Ihrer Karriere.»

Bolitho folgte ihm die zitternden Wanten hinauf, Hand über Hand, Fuß über Fuß. Er befahl sich, nicht nach unten zu schauen, obwohl er sich nur zu gut vorstellen konnte, wie das helle Deck der Destiny unter ihnen krängte, als sich das Schiff in eine weitere Woge wühlte.

Dumaresq mißachtete das Soldatenloch und kletterte außen an den Püttingswanten hoch, wobei sein mißgestalteter Rücken fast parallel zur Wasserfläche hing. Dann ging es über die Marssaling, ohne auf einige verschreckte Seesoldaten zu achten, die an einer der hier oben postierten Drehbassen exerzierten, und weiter hinauf zur Bramsaling.

Dumaresqs Vertrauen verlieh Bolitho den Willen, schneller als je zuvor zu klettern. Er achtete kaum auf die Höhe und schaute bereits noch weiter hinauf, als Dumaresq anhielt und — ein Bein frei im Raum pendelnd — bemerkte:»Man bekommt das richtige Gefühl fürs Schiff nur von hier oben.»

Bolitho hielt sich mit beiden Händen fest und blickte zu seinem Kommandanten hoch, wobei ihm die Augen im starken Sonnenlicht tränten. Dumaresq sprach mit so viel Überzeugung und mit einer Wärme, die fast an Liebe erinnerte.

«Fühlen Sie es?«Dumaresq packte ein Stag und zog fest daran.»Straff und fest, gleicher Zug auf allen Teilen. Wie es sein muß. Wie jedes Schiff sein sollte, wenn es ordentlich gepflegt wird. «Erschaute in Bolithos ihm zugewandtes Gesicht.»Kopf wieder in Ordnung?»

Bolitho nickte. In dem Durcheinander seiner Gefühle, vor Empörung und Kummer hatte er die Wunde ganz vergessen.

«Gut, dann kommen Sie.»

Sie erreichten die Bramsaling, wo der Ausguck für seine Vorgesetzten Platz machte.

«Ah!«Dumaresq nahm sein Teleskop und richtete es, nachdem er die Linse mit seinem Halstuch abgewischt hatte, nach Steuerbord voraus.

Bolitho folgte seinem Beispiel und fühlte plötzlich, wie es ihm trotz der Sonne und des Windes eiskalt über den Rücken lief.

So etwas hatte er noch nie gesehen. Die Insel schien nur aus Korallen oder Felsen zu bestehen und wirkte fast anstößig nackt — wie etwas, das nicht mehr lebte. In der Mitte gab es eine Erhöhung, die aussah wie ein Berg, dem man die Spitze abgeschnitten hatte. Im Dunst war nichts genauer zu erkennen, es konnte also auch eine gigantische Festung sein.

Er versuchte, den Anblick mit den spärlichen Eintragungen in der Seekarte zu vergleichen, und schloß aus der Peilung, daß die geschützte Lagune direkt unter dem Hügel liegen mußte.

Dumaresq sagte heiser:»Da sind sie.»

Bolitho versuchte es noch einmal. Die Insel schien verlassen, wie durch eine Naturkatastrophe niedergewalzt.

Doch dann entdeckte er etwas, das dunkler als die Umgebung aussah, aber kurz darauf wieder im Dunst verschwand: ein Mast, vielleicht auch mehrere Masten. Die zugehörigen Schiffsrümpfe waren allerdings hinter dem schützenden Wall aus Korallen verborgen.

Er warf Dumaresq einen schnellen Blick zu und fragte sich, wie er das wohl beurteilte.

«Steinchen für ein Puzzlespiel. «Dumaresq hob die Stimme nur wenig über das Summen in Takelage und Leinwand.»Das sind Garricks Schiffe, seine kleine Armada. Keine Schlachtlinie, Mr. Bolitho, kein Flaggschiff mit dem stolzen Kommandozeichen eines Admirals, aber genauso tödlich.»

Bolitho schaute abermals durchs Fernglas. Kein Wunder, daß Garrick sich sicher fühlte. Er hatte von ihrer Ankunft in Rio erfahren und davor schon von der in Madeira. Und nun hatte er die Oberhand. Er konnte seine Schiffe entweder bei Nacht hinausschicken oder wie ein Einsiedlerkrebs in seinem Gehäuse liegenbleiben und abwarten.

Dumaresq schien mit sich selbst zu sprechen.»Die Dons interessiert allein der verlorengegangene Goldschatz. Garrick kann ungestraft davonkommen, was sie betrifft. Quintana glaubt, daß er diese sorgfältig ausgewählten Schiffe und alles, was von dem Gold noch übrig ist, ohne einen Schuß vereinnahmen kann.»

Bolitho fragte:»Vielleicht weiß Garrick weniger, als wir annehmen, Sir, und versucht nur zu bluffen?»

Dumaresq sah ihn eigenartig an.»Das glaube ich nicht. Jetzt zählen keine Bluffs mehr. Ich habe in Basseterre versucht, dem Spanier Garricks Absichten zu erklären. Aber er wollte nicht hören. Garrick hat den Franzosen geholfen, und in einem künftigen Krieg wird Spanien einen Verbündeten wie Frankreich brauchen. Seien Sie sicher, daß Don Carlos Quintana auch das im Auge haben wird.»

«Sir!«Der Ausguck unter ihnen rief besorgt:»Die Dons setzen mehr Segel!»

Dumaresq sagte:»Es wird Zeit, daß wir absteigen. «Er warf noch einen Blick auf jeden einzelnen Mast drüben und schaute dann nach unten.

Bolitho stellte fest, daß er es ihm nachzumachen vermochte, ohne zu zittern. Er sah die von oben stark verkürzt wirkenden Gestalten der Offiziere und Midshipmen auf dem Achterdeck und die wechselnden Gruppen, die sich um die doppelte Reihe der schwarzen Kanonen scharten.

In diesen Augenblicken bestand eine stillschweigende Übereinstimmung zwischen Bolitho und diesem ungewöhnlichen, ganz seiner Aufgabe verschworenen Mann. Es war sein Schiff, jedes Teil davon, jedes Stück Holz, jeder Zentimeter Tauwerk. Schließlich sagte Duma-resq:»Der Spanier will vielleicht vor mir in die Lagune eindringen. Das wäre eine gefährliche Dummheit, denn die Einfahrt ist eng und das Fahrwasser unbekannt. Da er keine Hoffnung auf den Überraschungseffekt hat, wird es auf die Glaubwürdigkeit seiner Friedfertigkeit ankommen; wenn das fehlschlägt, auf eine Demonstration seiner Stärke.»

Überraschend geschwind kletterte Dumaresq hinunter, und als Bo-litho schließlich das Achterdeck erreichte, sprach der Kommandant schon mit Palliser und dem Master. Bolitho hörte Palliser sagen:»Der Don hält aufs Land zu, Sir.»

Dumaresq hantierte mit seinem Fernrohr.»Und auf die Gefahr. Signalisieren Sie ihm, er soll abdrehen.»

Bolitho blickte in die Gesichter ringsum, die er inzwischen so gut kannte. In wenigen Augenblicken konnte alles entschieden sein, denn Dumaresq hatte keine Wahl.

Palliser rief:»Er beachtet unsere Warnung nicht, Sir.»

«Gut so. Schlagen Sie >Alle Mann< und >Klar Schiff zum Gefecht< an!«Dumaresq verschränkte die Hände hinter dem Rücken.»Mal sehen, wie ihm das gefällt.»

Rhodes packte Bolitho am Arm.»Er muß wahnsinnig sein! Er kann doch nicht mit Garrick und den Dons kämpfen!»

Die Trommelbuben in Seesoldatenuniform begannen mit ihren dumpfen Schlägen. Der Augenblick der Ungewißheit war vorüber.

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