XV Mut im rechten Augenblick

Bolitho versuchte, sich in der auf und ab tanzenden Pinasse zu erheben, und griff als Halt nach Stockdales Schulter. Trotz der nächtlichen Kühle und der Spritzer, die bei dem Seegang unaufhörlich über das Setzbord schlugen, war ihm heiß wie im Fieber. Je näher das Boot der kaum sichtbaren Insel kam, desto schwieriger wurde es. Und dabei hatten die Männer geglaubt, der erste Teil ihrer Fahrt, als sie vom Mutterschiff abgesetzt hatten und mit Einsatz aller Kräfte dem Ufer entgegengepullt waren, wäre der schlimmere Teil gewesen. Jetzt wußten sie es besser, nicht zuletzt der Dritte Offizier.

Anfangs nur gelegentlich, dann immer häufiger, rauschten sie an gischtübersprühten, gezackten Felsspitzen oder Korallenbänken vorbei, wobei es oft den Anschein hatte, als ob diese und nicht das Boot sich bewegten.

Keuchend und fluchend mühten sich die Ruderer, gleichen Schlag zu halten, aber das wurde immer wieder unmöglich gemacht, wenn einer von ihnen seinen Riemen aus der Rundsei ziehen mußte, um zu verhindern, daß das Blatt an einer Felsspitze zersplitterte.

Das ständige Herumgeschleudertwerden machte das Nachdenken schwierig; Bolitho mußte sich sehr anstrengen, um sich Dumaresqs Anweisungen und Gullivers düstere Voraussagen für ihre letzte Wegstrecke in Erinnerung zu rufen. Kein Wunder, daß Garrick sich hier sicher fühlte. Kein größeres Schiff konnte es wagen, sich durch diesen Irrgarten von Korallen- und Felsblöcken der Insel zu nähern. Für die Pinasse war es schon schwierig genug. Bolitho wagte gar nicht, an die vierunddreißig Fuß[13] lange Barkasse der Destiny zu denken, die ihnen irgendwo achteraus folgte. In dem Boot befanden sich Colpoys und seine Scharfschützen, ferner eine zusätzliche Ladung Schießpulver. Wie mochte es jetzt Pallisers großer Gruppe gehen, die an der Südwestseite der Insel abgesetzt worden war? Und was machten Bolithos eigene Männer an Bord? Dumaresq war nun knapp an Leuten. Wenn er angegriffen wurde, mußte er ausweichen. Der Gedanke, Dumaresq auf der Flucht zu wissen, war so absurd, daß er Bolitho irgendwie Kraft gab.

«Wahrschau! Direkt voraus!«Das war Bootsmannsmaat Ellis Pearse im Bug. Er war ein erfahrener Seemann und hatte den letzten Teil ihres Weges immer wieder mit Bleigewicht und Leine gelotet. Jetzt betätigte er sich auch als Ausguck, weil immer neue Felsen aus der Finsternis vor ihnen auftauchten.

Der Lärm, den sie im Boot machten, schien so groß zu sein, daß man sie vom Ufer aus hören mußte. Doch Bolitho wußte aus Erfahrung, daß das Getöse der Brandung das Geklapper der Riemen und ihre verzweifelten Anstrengungen, sich mit Bootshaken und Fäusten einen Weg durch die mörderischen Felsen zu erkämpfen, übertönte. Bei Mondlicht, und wenn es noch so schwach gewesen wäre, hätte es anders ausgesehen. Seltsamerweise hob sich für einen aufmerksamen Wächter an Land ein kleines Boot besser ab als ein vollgetakeltes Schiff. Das hatte schon mancher Schmuggler an der Küste von Corn-wall zu seinem Leidwesen erfahren.

Pearse rief heiser:»Land voraus!»

Bolitho hob eine Hand zum Zeichen, daß er verstanden hatte, und fiel fast der Länge nach hin.

Noch sah es so aus, als wolle der mahlende Strom zwischen den Felsen niemals enden. Doch dann sah auch er es: die schwache Andeutung von Land, das sich über der wehenden Gischt erhob. Und es kam schnell näher.

Er grub die Finger in Stockdales Schulter. Sie fühlte sich unter dem durchnäßten Hemd an wie Eichenholz.

«Vorsicht jetzt, Stockdale! Etwas mehr nach Steuerbord!»

Josh Little, der Stückmeistersmaat, knurrte:»Zwei Mann fertigmachen zum Außenbordsgehen!»

Bolitho sah zwei Matrosen über dem schäumenden Wasser hocken und hoffte, daß er die Tiefe nicht falsch eingeschätzt hatte.

Irgendwo hinter sich hörte er ein Knirschen und dann das heftige Schlagen von Riemen, die sich mühten, die Barkasse wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Sie hatte wohl den letzten großen Felsbrocken gestreift, dachte Bolitho.

Little lachte in sich hinein.»Ich wette, da haben die Ochsen vor Angst gezittert. «Dann stieß er den ihm am nächsten hockenden Mann an.»Los!»

Der Matrose glitt nackt, wie er auf die Welt gekommen war, über das Rundselbord, hing einen Augenblick strampelnd und Wasser spuckend daran und keuchte dann:»Sandiger Grund!»

«Auf Riemen!«Stockdale legte hart Ruder.»Streich Steuerbord, Ruder an Backbord!»

Es gelang ihnen, die Pinasse zu drehen und mit Hilfe der beiden ins Wasser gesprungenen Männer mit dem Heck voran auf den Strand zu setzen.

Stockdale hatte das Ruder ausgehakt und hob es so mühelos ins Boot wie jemand, der einen Stock von der Straße aufsammelt. Eine Welle hob die Pinasse noch einmal an und setzte sie geräuschvoll höher auf den Sand.

«Ausladen!»

Bolitho kämpfte sich gegen die zurückflutenden Wellen, die ihm die Beine wegziehen wollten, den Strand hinauf. Hinter ihm stolperten Männer, die ihre Waffen an Land trugen, während andere ins tiefere Wasser wateten, um die Barkasse auf einen sicheren Streifen Sand zu lenken.

Der erste Matrose, der abgeteilt worden war, ins Wasser zu gehen, zog mühsam Hose und Hemd wieder über den nassen Körper, aber Little sagte:»Später, Kamerad! Jetzt enter erst mal selber auf!»

Jemand lachte, als der triefende Matrose vorbeihüpfte, und wieder einmal staunte Bolitho, daß die Männer auch in dieser Lage noch Sinn für Humor hatten.

«Hier kommt die Barkasse!»

Little stöhnte:»Himmel und Hölle, die sehen aus wie ein Haufen verdammter Kirchendiener!«Er gab seinem Bauch einen Schwung nach oben, stampfte wieder hinunter in die Brandung und ließ seine

Stimme wie einen Peitschenhieb auf das Durcheinander von Männern und Riemen niedersausen.

Midshipman Cowdroy kletterte bereits mit einigen Männern einen steilen Abhang an der linken Seite des Strandes hinauf. Jury war beim Boot geblieben und überwachte das Ausladen der letzten Waffen, des Pulvers und der Kanonenkugeln sowie ihres knappen Proviants; von Hand zu Hand wurden sie bis zu einem geschützten Platz den Hügel hinaufgereicht.

Leutnant Colpoys kam durch den Sand gestapft und rief verzweifelt:»Mein Gott, Richard, gibt es denn keine einfachere Art, eine Schlacht zu schlagen?«Er hielt an und beobachtete seine Seesoldaten, die vorbeischlurften und dabei ihre langen Musketen über die Köpfe hielten, um sie vor Gischt und Sandkörnern zu schützen.»Zehn ausgesuchte Scharfschützen«, bemerkte er mehr zu sich selber,»und verdammt überflüssig, wenn Sie mich fragen.»

Bolitho blickte den Hügel hinauf. Es war knapp zu erkennen, wo sich sein Gipfel vom Himmel abhob. Sie mußten ohne Verzug hinüber und in ein Versteck kommen. Knapp vier Stunden hatten sie dafür noch.

«Los!«Er wandte sich um und winkte den beiden Booten zu.»Sie können zurückfahren. Viel Glück.»

Er hatte sich bemüht, seine Stimme zu dämpfen, aber trotzdem hielten die nächststehenden Leute an, um noch einen Blick zurück auf die Boote zu werfen. In ein oder zwei Stunden würden diese Boote wieder sicher auf ihren Klampen an Bord stehen, ihre Besatzungen konnten sich ausruhen und die Spannung und Gefahr vergessen, in der sie sich befunden hatten.

Wie schnell sie sich entfernten, dachte Bolitho. Ohne das Gewicht von Passagieren und Waffen verschwanden sie binnen kurzem in der Dunkelheit und waren nur noch einen Augenblick an den Spritzern zu erkennen, die ihre Riemenblätter aufwarfen.

Colpoys sagte leise:»Weg sind sie. «Er musterte sein Seeoffiziershemd und die flauschige Kniehose.»Dieses Räuberzivil werde ich nie verwinden. «Doch dann grinste er plötzlich.»Andererseits, wenn der Oberst mich bei unserer nächsten Begegnung so sieht, wird er wenigstens mal Notiz von mir nehmen. Meinen Sie nicht auch?»

Midshipman Cowdroy kam den Abhang hinuntergeschliddert.»Soll ich Späher vorschicken, Sir?»

Colpoys sah ihn kühl an.»Ich schicke zwei meiner Leute. «Er gab einen knappen Befehl, und schon verschmolzen zwei Seesoldaten wie Geister mit der Finsternis.

Bolitho sagte:»Diese Aufgabe paßt besser zu Ihnen, John. «Er wischte sich die Stirn mit dem Hemdsärmel.»Sagen Sie's mir, wenn ich etwas falsch mache.»

Colpoys zuckte die Schultern.»Ich ziehe meine Aufgabe auch der Ihrigen vor. «Er klopfte Bolitho auf den Arm.»Aber wir stehen oder fallen zusammen. «Er schaute sich nach seinem Burschen um.»Laden Sie meine Pistolen und halten Sie sich in meiner Nähe, Thomas.»

Bolitho schaute nach Jury aus, aber der stand bereits neben ihm.»Fertig?»

Jury nickte entschlossen.»Aye, Sir, fertig.»

Bolitho zögerte noch und blickte hinunter auf den schmalen Sandstreifen, auf dem sie gelandet waren. Die Brandung schäumte wie eh und je zwischen den Riffen, und die Spuren der Bootskiele im Sand waren bereits fortgespült. Kaum zu glauben, daß dies die gleiche kleine Insel war. Vier Meilen lang und knapp zwei Meilen von Nord nach Süd breit. Jetzt sah sie aus wie Festland, aber bei Tage würde man ihre engen Grenzen merken.

Colpoys verstand sein Metier. Bulkley hatte erwähnt, daß der adrette Seesoldat früher in einem Linienregiment gedient hatte, und das zeigte sich jetzt. Er wählte seine Wachtposten gut aus, schickte seine besten Späher vorweg und überließ den weniger leichtfüßigen Matrosen den Transport von Proviant, Pulver und Eisenkugeln. Insgesamt waren sie dreißig Mann, und Palliser hatte etwa die gleiche Zahl. Dumaresq würde dankbar sein, daß er wenigstens die Bootsbesatzungen zurückbekam, dachte Bolitho.

Und doch: Trotz der sicheren Art, wie Colpoys die Männer in kleine Gruppen einteilte und sonstige Anordnungen traf, hatte Bolitho der Tatsache ins Auge zu sehen, daß er die Verantwortung trug. Als die Männer zu beiden Seiten ausschwärmten, über lose Steine stolperten oder im Sand ausrutschten, war er zufrieden, daß er die Sorge um ihre Sicherheit zunächst Colpoys scharfäugigen Spähern überlassen konnte.

Bolitho zwang sich, eine plötzliche Unruhe zu unterdrücken. Es war genau wie damals, als er seine erste selbstständige Wache angetreten hatte, als das Schiff durch die finstere Nacht brauste und er der einzige war, der durch einen Befehl oder einen Schrei um Hilfe etwas daran hätte ändern können.

Er hörte schwere Schritte neben sich und sah Stockdale vorbeigehen, sein breites Entermesser über der Schulter. Es fiel Bolitho leicht, sich vorzustellen, wie Stockdale ihn damals zum Boot getragen hatte. Ohne diesen seltsamen Mann mit der rauhen Stimme wäre er jetzt tot gewesen. Es war beruhigend, ihn wieder neben sich zu haben.

Colpoys sagte:»Nicht mehr weit«, und spuckte Sandkörner aus.»Wenn dieser Narr Gulliver sich geirrt hat, spalte ich ihn wie ein Schwein in zwei Hälften. «Er lachte leise.»Aber wenn er wirklich unrecht hatte, wird mir dieses Vergnügen kaum noch gegönnt sein.»

Ein Mann rutschte in der Dunkelheit aus und fiel hin, wobei sein Entermesser und die Kartätschenkugel, die er trug, heftig klapperten. Einen Augenblick erstarrten sie, bis ein Seesoldat rief:»Alles ruhig,

Sir.»

Bolitho hörte ein lautes Klatschen und wußte, daß Cowdroy den unaufmerksamen Seemann mit der flachen Seite seines Säbels geschlagen hatte. Falls Cowdroy den Leuten im Gefecht je den Rücken wandte, würde er seine Beförderung zum Leutnant kaum erleben, so unbeliebt war er.

Bolitho schickte Jury voraus; als dieser keuchend und außer Atem zurückkam, meldete er:»Wir sind da, Sir. «Er machte eine Handbewegung zur Kuppe des Hügels.»Ich konnte die See hören.»

Colpoys schickte seinen Burschen aus, die Späher anzuhalten.»Soweit ging's gut. Wir müssen jetzt in der Mitte der Insel sein. Wenn es hell genug ist, werde ich unsere genaue Position bestimmen.»

Seesoldaten und Matrosen, die beide den scharfen Marsch über unebenen Boden nicht gewohnt waren, hockten sich zusammen unter eine überhängende Felsnase. Es war dort kühl und roch faulig, als seien Höhlen in der Nähe.

In wenigen Stunden mußte es hier sein wie in einem Ofen.

«Stellen Sie Posten auf. Dann wollen wir Lebensmittel und Wasser ausgeben. Es kann lange dauern, bis wir dazu wieder Gelegenheit haben. «Bolitho schnallte seinen Säbel ab und lehnte sich mit dem

Rücken an den nackten Fels. Er dachte an seine Kletterpartie mit dem Kommandanten, bei der er vom Großmast aus diese kahle, bedrohliche Insel zum erstenmal gesehen hatte. Nun war er hier.

Jury beugte sich über ihn.»Ich weiß nicht recht, wo ich die Posten auf dem Steilhang aufstellen soll, Sir.»

Bolitho schaffte es irgendwie, auf die Füße zu kommen.

«Kommen Sie, ich zeige es Ihnen. Das nächste Mal wissen Sie's dann.»

Colpoys, der gerade eine Feldflasche mit warmem Wein an die Lippen hielt, setzte sie ab und beobachtete, wie sie in der Dunkelheit verschwanden. Der Dritte Offizier hatte sich seit Plymouth sehr herausgemacht, dachte er. Er mochte noch sehr jung sein, aber er handelte mit der Autorität eines Veteranen.

Bolitho wischte den Staub von seinem Fernrohr und versuchte, seinen bäuchlings ausgestreckten Körper in eine einigermaßen bequeme Lage zu bringen. Es war noch früher Morgen, aber der Sand und die Felsen waren schon heiß, und seine Haut juckte so, daß er gern sein Hemd heruntergerissen und sich überall gekratzt hätte. Colpoys rutschte heran und hielt ihm eine Handvoll trockenes Gras hin.»Beschatten Sie die Linse damit. Es braucht nur ein Sonnenstrahl reflektiert zu werden, und schon wird Alarm geschlagen.»

Bolitho nickte nur, um Stimme und Atem zu schonen. Er hob das Fernglas sehr vorsichtig und schwenkte es langsam von der einen Seite zur anderen. Es gab mehrere kleine Kuppen wie die, hinter der sie sich vor dem Feind und der Sonne versteckt hatten, aber alle wurden überragt von dem kahlen Hügel. Er verbarg die offene See, die direkt dahinter liegen mußte, aber an seiner rechten Seite sah Bolitho das Ende der Lagune und einige der sechs dort ankernden Schiffe. Alles Schoner, soweit er erkennen konnte, und alle wie festgenagelt im blendenden Sonnenlicht. Nur ein kleines Beiboot zeichnete Muster auf die glitzernde Wasserfläche. Dahinter und sie umfassend lief der gebogene Arm aus Fels und Korallen nach links weiter, doch die schmale Fahrrinne zur offenen See war ebenfalls durch den Hügel verdeckt.

Bolitho schwenkte das Glas abermals und konzentrierte sich auf das Land am entfernten Ende der Lagune. Nichts bewegte sich, und doch mußten Palliser und seine Leute dort, wo sie gelandet waren, im Versteck liegen, mit der See im Rücken. Er schätzte, daß die San Augustin, wenn sie noch schwamm, auf der anderen Seite des Hügels unterhalb der Batterie lag, von der sie bezwungen worden war.

Colpoys hatte sein Teleskop auf das Westende der Insel gerichtet.»Da, Richard — Hütten. Eine ganze Reihe.»

Bolitho stellte sein Fernglas darauf ein und setzte es kurz ab, um sich den Schweiß aus den Augen zu wischen. Die Hütten waren klein, roh gebaut und besaßen keine Fenster. Wahrscheinlich dienten sie nur als Lager für Waffen und Beutegut, dachte er. Das Glas beschlug, und als es wieder klar war, sah er eine kleine Gestalt auf der Spitze einer niedrigen Kuppe erscheinen: ein Mann in weißem Hemd, der seine Arme reckte und anscheinend gähnte. Erwanderte gemütlich zum Abhang, und was Bolitho für eine Muskete gehalten hatte, erwies sich als langes Fernrohr. Dies zog er ohne Hast auseinander und begann damit die See abzusuchen, von links nach rechts und vom Ufer bis zur harten blauen Linie des Horizonts. Mehrmals kehrte sein prüfender Blick auf einen Punkt zurück, der für Bolitho durch den Hügel ve r-deckt war. Aber er nahm an, daß der Ausguck die Destiny gesichtet hatte, die — scheinbar wartend wie bisher — vor der Insel kreuzte. Der Gedanke an das Schiff erfüllte sein Herz mit Sehnsucht und Verlassenheit.

Colpoys sagte leise:»Das ist der Platz, wo die Kanone stehen muß. Unsere Kanone«, setzte er betont hinzu.

Bolitho versuchte es noch einmal, doch im zunehmenden Dunst schienen die Kuppen vor seinen Augen abwechselnd zu ve rschmelzen und sich dann wieder zu trennen. Aber der Seesoldat hatte recht. Direkt hinter dem einsamen Ausguck erhob sich ein mit Segeltuch zugedeckter Höcker. Die einzelne Kanone, die den Spanier durch ihre schlechte Schießleistung über den entscheidenden Punkt hinausgelockt hatte, war wahrscheinlich darunter versteckt.

Colpoys flüsterte:»Die haben sie sicher dort aufgestellt, um die unten ankernden Prisenschiffe zu decken.»

Sie sahen einander an, denn auf einmal war ihnen die Bedeutung ihrer Aufgabe klargeworden. Die Kanone mußte genommen werden, bevor Palliser es wagen konnte, aus seinem Versteck zu kommen. Wenn er vorher entdeckt wurde, konnte ihn die geschickt postierte Kanone an seinem Platz festnageln und in Ruhe abschlachten. Wie um diesen Gedanken zu unterstreichen, kamen einige Leute über die Seite des Hügels und marschierten auf die Hütten zu.

Colpoys sagte:»Großer Gott, schauen Sie sich das an! Es müssen mindestens hundert Mann sein!»

Und es waren bestimmt keine Gefangenen. Sie gingen zu zweien oder zu dreien und wirbelten Staub auf wie eine ganze Armee. Auf der Lagune zeigten sich einige Boote, und an ihrem Ufer waren weitere Leute mit langen Stangen und Taurollen zu sehen. Es hatte den Anschein, als richteten sie einen Behelfskran auf, um Lasten in die Boote hinunterzulassen.

Dumaresq hatte recht gehabt, wieder einmal: Garricks Männer bereiteten alles zum Verlassen der Insel vor.

Bolitho sah Colpoys an.»Nehmen wir mal an, wir hätten uns geirrt, was die San Augustin betrifft. Aber daß wir sie nicht sehen, heißt noch nicht, daß sie unbenutzbar ist.»

Colpoys schaute immer zu den Männern bei den Hütten hinüber.»Ich stimme Ihnen zu. Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden. «Er drehte den Kopf, als Jury atemlos den Hang hochkam.»Bleiben Sie in Deckung!»

Jury bekam einen roten Kopf und warf sich neben Bolitho zu Boden.»Mr. Cowdroy möchte wissen, ob er noch Wasser ausgeben darf, Sir. «Sein Blick wanderte über Bolitho hinweg zu dem geschäftigen Treiben am Ufer.

«Noch nicht. Sagen Sie ihm, er soll die Leute gut versteckt halten. Wenn sich einer sehen oder hören läßt, sind wir alle erledigt. «Er machte eine Kopfbewegung zur Lagune hin.»Danach kommen Sie zurück. Haben Sie Lust auf einen kleinen Spaziergang?«Er sah, daß die Augen des Jungen sich weiteten und gleich wieder zusammenzogen.»Ja, Sir.»

Als Jury außer Sicht war, fragte Colpoys:»Warum Jury? Er ist doch noch ein Junge!»

Bolitho hob sein Glas wieder ans Auge.»Morgen im ersten Tageslicht wird die Destiny einen Scheinangriff auf die Einfahrt machen. Das ist schon Wagnis genug. Aber wenn sie außer von der Batterie auf dem Hügel auch noch von der Artillerie der San Augustin aufs Korn genommen wird, könnte sie schwer beschädigt, ja zum Wrack geschossen werden. Wir müssen also wissen, was uns bevorsteht. «Er machte eine Kopfbewegung zum anderen Ende der Lagune.»Der Erste Offizier hat seine Befehle. Er wird in dem Augenblick angreifen, in dem die Verteidiger der Insel durch die Destiny abgelenkt sind. «Er begegnete dem beunruhigten Blick des Seesoldaten und hoffte, daß er überzeugender wirkte, als ihm zumute war.»Und wir müssen Palliser helfen. Wenn ich die Lage nüchtern betrachte, komme ich zu dem Schluß, daß Sie bei dieser Unternehmung der wichtigere von uns beiden sind. Darum werde ich gehen und Mr. Jury als Melder mitnehmen. «Er sah zur Seite.»Wenn ich heute falle…»

Colpoys drückte seinen Arm.»Sie — fallen? Dann werden wir Ihnen so schnell folgen, daß Petrus Mühe bei der Einlaßkontrolle hat.»

Gemeinsam schätzten sie die Entfernung zum niedrigen Nachbarhügel. Jemand hatte ein Stück des Segeltuchs hochgerollt, und darunter war jetzt deutlich ein Rad zu erkennen, das Rad einer Landkanone.

Colpoys sagte bitter:»Französisches Fabrikat, darauf halte ich jede Wette.»

Jury kam zurück und wartete, daß Bolitho ihn ansprach. Bolitho löste seinen Säbelgurt und gab ihn dem Seesoldaten. Dann sagte er zu Jury:»Lassen Sie alles hier, außer Ihrem Dolch. «Er versuchte ein Lächeln.»Wir wandern wie Landstreicher mit leichtem Gepäck.»

Colpoys schüttelte den Kopf.»Sie werden auffallen wie weiße Meilensteine!«Er hielt ihnen seine Feldflasche hin.»Begießen Sie sich damit, und wälzen Sie sich anschließend im Staub. Das nützt, wenn auch nicht viel.»

Schließlich waren sie — schmutzig und zerknittert — fertig zum Gehen.

Colpoys sagte:»Vergessen Sie nicht: kein Pardon! Es ist besser zu sterben, als von diesen Barbaren gefangen zu werden.»

Einen steilen Abhang hinab und dann in eine enge Schlucht. Bolitho hatte den Eindruck, daß jeder fallende Stein so viel Lärm machte wie ein Felsrutsch. Und doch war es hier seltsam friedlich. Wie Colpoys schon festgestellt hatte, gab es keine Vogelexkremente, woraus zu schließen war, daß Vögel nur selten in diese öde Gegend kamen. Nichts hätte ihren heimlichen Vormarsch eher verraten als der kreischende Protest von aus ihren Nestern aufgescheuchten Seevögeln.

Die Sonne stieg höher, und die Felsen glühten vor Hitze. Sie zogen sich die Hemden aus und wickelten sie wie Turbane um ihre Köpfe; da jeder seine blanke Waffe in der Faust trug, sahen sie mindestens so sehr nach Piraten aus wie die Männer, auf die sie Jagd machten. Jury packte Bolithos Arm.»Da oben! Ein Posten!«Bolitho riß Jury mit sich zu Boden. Er fühlte, wie die Spannung des Kadetten nacktem Entsetzen wich, denn der» Posten «war einer von Don Carlos' Offizieren. Seine Leiche war an einen in der Sonne stehenden Pfahl genagelt, und seine einst schmucke Uniform war blutdurchtränkt.

Jury flüsterte:»Seine Augen! Sie haben ihm die Augen ausgestochen!»

Bolitho schluckte krampfhaft.»Kommen Sie, wir haben noch ein langes Stück vor uns.»

Schließlich erreichten sie einen Haufen loser Steinblöcke, von denen einige frische Bruchkanten und auch Schwärzungen aufwiesen. Bolitho schloß daraus, daß sie von der einleitenden Breitseite der San Augustin weiter oben ausgebrochen worden und heruntergerollt waren.

Er warf sich zwischen zwei Blöcke, fühlte ihre Hitze auf seiner Haut brennen und gleichzeitig ein schmerzendes Pochen in der Narbe überm Auge, als er sich tiefer in einen Spalt preßte, wo man ihn nicht sehen konnte. Jury quetschte sich daneben, und Bolithos Schweiß tropfte auf ihn, als er langsam den Kopf hob und auf die Lagune hinunterschaute.

Er hatte erwartet, daß der eroberte Spanier auf Grund lag oder von den siegreichen Piraten abgetakelt und ausgeplündert wurde, doch was er sah, war ein Bild bester Effektivität und Disziplin. Die San Augustin lag sauber vor Anker, auf ihrem Oberdeck und auf den Masten und Rahen wimmelte es von Menschen. Sie hämmerten, sägten, spleißten und schoren neues Tauwerk ein. Es war das gleiche Bild wie aufjedem Kriegsschiff der Welt.

Die vordere Bramstenge, die in dem kurzen Gefecht weggeschossen worden war, war bereits durch eine fachmännisch aufgeriggte Reservestenge ersetzt. Aus der Art, wie die Leute arbeiteten, entnahm Bo-litho, daß sie zur ursprünglichen Besatzung gehörten. Hier und da standen Gestalten an Deck, die sich nicht an der rastlosen Arbeit beteiligten. Sie hockten hinter leichten Schwenkgeschützen oder hielten schußbereite Musketen. Bolitho mußte an die gemarterte, augenlose Leiche auf dem Abhang denken und spürte einen Kloß im Hals. Kein Wunder, daß die Spanier für die Sieger arbeiteten. Man hatte ihnen eine schreckliche Lehre erteilt und sicher noch Schrecklicheres vor Augen geführt, um jeden Gedanken an Widerstand zu brechen, bevor er aufkam.

Boote legten am verankerten Schiff an, Heißtakel wurden zu ihnen hinuntergelassen und mit großen Netzen, die mit allerlei Kisten und Kästen gefüllt waren, wieder geheißt, über das Schanzkleid geschwenkt und an Deck abgesetzt.

Ein Boot pullte, von den übrigen getrennt, langsam um das Heck der San Augustin herum. Ein kleiner Mann mit sorgfältig ge stutztem Bart, der sich sehr gerade hielt, stand im Heck und zeigte mit einem schwarzen Stock mal hierhin, mal dorthin. Sogar auf die Entfernung wirkte der Mann selbstbewußt und so arrogant wie jemand, der sich durch Untaten Macht und Respekt errungen hatte. Es mußte Sir Piers Garrick sein.

Jetzt beugte er sich über das Dollbord des Bootes und zeigte mit seinem Stock wieder auf irgend etwas. Bolitho folgte der Richtung und sah, daß der Schiffsboden zum Teil aus dem Wasser ragte. Garrick ordnete sicherlich an, daß Teile der Ladung oder Munition umgestaut wurden, um seiner neuen Prise besseren Trimm und damit bessere Segeleigenschaften zu geben.

Jury flüsterte:»Was tun sie, Sir?»

«Die San Augustin macht klar zum Auslaufen. «Er rollte sich trotz der spitzen Steine auf den Rücken, um nachzudenken.»Die Destiny kann es nicht mit allen gleichzeitig aufnehmen. Wir müssen sofort handeln.»

Er sah Entschlossenheit auf Jurys Gesicht. Dieser hatte offenbar das gleiche gedacht, mit einer vertrauensvollen Siegesgewißheit, die auch Bolitho einmal gekannt hatte.

Er sagte:»Sehen Sie? Da legen weitere Boote an der San Augustin an, mit Garricks Schatz. Um ihn allein geht es. Deshalb die eigene Flottille. Und nun hat er auch noch ein Vierundvierzig-Kanonen-Schiff, mit dem er machen kann, was er will. Kapitän Dumaresq hatte recht: Nichts kann ihn mehr aufhalten. «Er lächelte matt.»Außer der Destiny.»

Bolitho sah es vor sich, als wäre es schon geschehen: die Destiny dicht unter Land, um eine Ablenkung zugunsten Pallisers zu inszenieren, während die gekaperte San Augustin dalag wie ein zum Sprung bereiter Tiger. In diesen begrenzten Gewässern würde die Destiny keine Chance haben.

«Wir müssen zurück.»

Bolitho kroch zwischen den Felsblöcken davon, während er sich innerlich noch gegen das sträubte, was getan werden mußte.

Colpoys konnte seine Erleichterung kaum verbergen, als sie den Abhang zu ihm hochkletterten. Er berichtete:»Sie haben die ganze Zeit geschuftet und die Hütten ausgeräumt. Mit Sklaven, lauter armen Teufeln. Ich sah mehr als einen, der mit einer Kette niedergeschlagen wurde.»

Danach schwieg Colpoys, bis Bolitho mit seinem Bericht fertig war. Schließlich sagte er:»Ich weiß, was Sie denken. Weil dies eine verdammt nutzlose und verrottete Insel ist, für die sich niemand interessiert und von der verflucht wenige Menschen bisher überhaupt gehört haben, fühlen Sie sich betrogen und sind nicht bereit, Menschenleben — Ihr eigenes eingeschlossen — dafür aufs Spiel zu setzen. Aber die großen Seeschlachten unter wehenden Fahnen sind eben selten. Dies wird einmal als Scharmützel, als >Zwischenfall<, bezeichnet werden. Wichtig ist allein, was wir davon halten. «Er legte sich zurück und betrachtete Bolitho ruhig.»Ich sage daher: zum Teufel mit aller übertriebenen Vorsicht. Wir werden uns zu ihrer Kanone aufmachen, ohne auf die morgige Dämmerung zu warten. Sie haben keine weitere Kanone, welche die Lagune bestreicht. Alle anderen sind auf dem Hügel mit einer anderen Zielrichtung eingegraben. Es wird Stunden dauern, sie herumzuschwenken. «Er grinste.»In der Zeit kann eine ganze Schlacht gewonnen oder verloren werden.»

Bolitho nahm wieder das Fernrohr. Seine Hände bebten, als er es auf die Hügelkuppe mit der teilweise verdeckten Kanone richtete. Es war sogar noch derselbe Ausguck wie vorhin.

Jury sagte heiser vor Erregung:»Sie haben die Arbeit eingestellt.»

«Kein Wunder. «Colpoys beschattete seine Augen.»Schauen Sie mal etwas weiter hinaus, junger Freund. Ist das nicht Anlaß genug?»

Langsam kam die Destiny in Sicht. Ihre Mars- und Bramsegel hoben sich sehr hell von dem tiefblauen Himmel ab.

Bolitho hing gebannt an dem Bild, meinte, die Schiffsgeräusche zu hören, die vertrauten Düfte zu riechen, die Geborgenheit des Bordlebens zu spüren. Er kam sich vor wie ein Mann, der in der Wüste vor Durst umkommt und dem ein Krug Wein als Fata Morgana vorschwebt. Oder wie jemand, der auf dem Weg zum Galgen stehenbleibt, um einem Sperling zuzuhören. Beide wissen, daß es für sie morgen keinen Wein mehr geben wird und auch nicht mehr den Laut der Vögel.

Er sagte entschlossen:»Auf denn! Ich sage es den anderen. Wenn wir nur eine Möglichkeit hätten, Palliser zu unterrichten!»

Colpoys rutschte den Abhang hinunter, dabei blickte er Bolitho an. Seine Augen wirkten gelb im Sonnenlicht.

«Er wird's schon merken, Richard. Die ganze verdammte Insel wird's merken.»

Colpoys wischte sich Gesicht und Nacken mit dem Taschentuch. Es war Nachmittag, und die glühende Hitze, die von den Felsen abgestrahlt wurde, war eine Qual.

Aber das Warten hatte sich gelohnt. Um die Hütten herum hatte alle Tätigkeit aufgehört. Von mehreren Feuern trieb Rauch zu den versteckten Matrosen und Seesoldaten herüber und bescherte ihnen den Duft von geröstetem Fleisch als zusätzliche Tortur.

Colpoys sagte:»Nach dem werden sie sich ausruhen. «Er warf einen Blick auf seinen Korporal.»Geben Sie die Essensrationen und Wasser aus, Dyer. «Für Bolitho setzte er leise hinzu:»Ich schätze, daß die Kanone noch eine Kabellänge entfernt ist. «Er kniff die Augen zusammen, als er den Abhang und den steilen Aufstieg zur nächsten Kuppe abschätzte.»Wenn wir loslaufen, gibt es kein Halten mehr. Ich denke, es werden einige Leute bei der Kanone sein, wahrscheinlich in einer unterirdischen Munitionskammer. «Er nahm einen Becher Wasser von seinem Burschen und trank ihn langsam aus.»Nun?»

Bolitho senkte das Fernrohr und legte die Stirn auf die Arme.»Wir müssen es wagen.»

Er versuchte, nicht lange darüber nachzudenken. Zweihundert Yards über offenes Gelände, und was dann?

Entschlossen sagte er:»Little und seine Mannschaft kümmern sich um die Kanone. Wir greifen die Kuppe von beiden Seiten an. Mr. Cowdroy übernimmt die zweite Gruppe. «Er sah Colpoys eine Grimasse ziehen und fügte hinzu:»Er ist der ältere von beiden und hat Erfahrung.»

Colpoys nickte.»Ich postiere meine Scharfschützen dort, wo sie am wirkungsvollsten sind. Wenn Sie die Kuppe genommen haben, helfe ich Ihnen bei ihrer Verteidigung. «Er streckte die Hand aus.»Und wenn Sie keinen Erfolg haben, führe ich den kürzesten Bajonettangriff in der Geschichte der Seesoldaten.»

Und dann war es auf einmal soweit. Die anfängliche Ungewißheit und Aufregung waren wie weggewischt, die Männer sammelten sich in den Gruppen, zu denen sie eingeteilt waren, mit ernsten, aber entschlossenen Gesichtern, unter ihnen auch Josh Little mit seiner Geschützbedienung, die mit dem notwendigen Gerät und zusätzlich mit Pulver und einigen Kanonenkugeln bepackt war.

Midshipman Cowdroy hatte schon den Säbel gezogen und überprüfte seine Pistole. Sein verdrießliches Gesicht wirkte noch finsterer als sonst. Bootsmannsmaat Ellis Pearse trug seine Privatwaffe, ein furchterregendes, doppelseitig geschliffenes Entermesser, das er sich von einem Schmied hatte anfertigen lassen. Die Seesoldaten hatten sich zwischen den Felsbrocken verteilt und ihre langen Musketen auf das offene Gelände vor sich und die flache Hügelkuppe dahinter gerichtet.

Bolitho stand auf und musterte die Männer seiner eigenen Gruppe. Dutchy Vorbink war dabei, Olsson, der verrückte Schwede, Bill Bun-ce, ein ehemaliger Wilderer, Kennedy, ein Mann, der dem Gefängnis nur durch seine Meldung zur Marine entgangen war, und einige andere, die Bolitho inzwischen gut kannte.

Stockdale schnaufte:»Ich komme mit Ihnen, Sir.»

Ihre Blicke trafen sich.

«Diesmal nicht. Sie gehen mit Little. Diese Kanone muß erobert werden, Stockdale. Ohne sie könnten wir ebensogut gleich hier sterben. «Er berührte Stockdales kräftigen Arm.»Glauben Sie mir: heute hängt alles von Ihnen ab.»

Er wandte sich ab, da er die Enttäuschung des riesigen Mannes nicht mit ansehen konnte. Zu Jury sagte er:»Sie können bei Leutnant Col-poys bleiben.»

«Ist das ein Befehl, Sir?»

Bolitho sah, wie sich das Kinn des Jungen trotzig hob. Was würden sie wohl mit ihm machen? Er antwortete:»Nein.»

Ein Mann flüsterte:»Der Ausguck ist hinuntergeklettert, ich sehe ihn nicht mehr.»

Little kicherte.»Wohl auf einen Schluck verschwunden?»

Bolitho schritt schon über den Abhang, sein gezogener Säbel blitzte im Sonnenlicht, als er auf die gegenüberliegende Kuppe zeigte.

«Los denn! Auf sie, Jungs!»

Ohne auf Lärm oder Deckung zu achten, stürmten sie den Abhang hinunter, wirbelten Staub und Steine auf und hielten den Blick fest auf den Nachbarhügel gerichtet. Sie erreichten die Talsohle und rannten keuchend über das freie Gelände, blind gegen alles außer der verborgenen Kanone.

Irgendwo, eine Million Meilen weg, schrie jemand, und ein Schuß pfiff den Hügel herab. Stimmen schwollen an und verklangen wieder. Sie kamen von den Männern an der Lagune, die zu ihren Waffen eilten, weil sie annahmen, sie würden von See aus angegriffen.

Drei Köpfe erschienen plötzlich auf dem Hügelkamm, als der erste von Bolithos Männern gerade seinen Fuß erreicht hatte. Colpoys Musketen schienen ziemlich wirkungslos zu knallen, aber zwei der Männer verschwanden immerhin, und der dritte machte einen Satz, bevor er den Hang hinunter mitten zwischen die britischen Matrosen rollte.

«Weiter!«Bolitho schwang seinen Säbel.»Schneller!»

Von der einen Seite schoß eine Muskete, ein Seeman fiel, umfaßte mit beiden Händen seinen Schenkel und blieb dann stöhnend liegen, während seine Kameraden weiterstürmten.

Bolitho kam es vor, als ob seine Lunge heißen Sand eingeatmet hätte, während er über eine roh aus Steinen aufgetürmte Brustwehr sprang. Weitere Schüsse fielen, und er begriff, daß noch einige seiner Leute getroffen waren.

Er sah Metall schimmern, neben einem Rad der Kanone unter ihrer Persenning, und schrie:»Achtung!»

Aus der Deckung unter der Leinwand schoß jemand ein Stutzrohr[14] auf die vorstürmenden Seeleute ab. Einen von ihnen warf es auf den Rücken, sein Gesicht und der größte Teil des Schädels waren wegge-schoßen. Drei weitere Männer lagen zuckend in ihrem Blut.

Mit einem Gebrüll wie ein wütendes Raubtier warf sich Pearse von der anderen Seite des Geschützstandes auf die Persenning und schlug sie mit seiner doppelseitig geschliffenen Klinge in Stücke. Eine Gestalt rannte, die Hände über dem Kopf, aus der Deckung und schrie:»Pardon! Pardon!»

Pearse holte aus und schrie:»Pardon, du Lump? Nein — das!«Die breite Klinge traf den Mann quer im Nacken, so daß sein Kopf nach vorn auf die Brust kippte.

Midshipman Cowdroys Gruppe erschien von der anderen Seite der Kuppe, und als Pearse seine Leute in die Stellung schickte, um den blutigen Sieg zu vollenden, machten sich Little und Stockdale an der Kanone zu schaffen, während andere nachschauten, ob noch Glut in der nahen Feuerstelle war.

Die Seeleute führten sich auf wie Verrückte. Sie unterbrachen ihr Jubelgeschrei nur, um ihre verwundeten Gefährten in Deckung zu ziehen, lärmten dann aber um so lauter, als Pearse mit einer großen Kanne Wein aus der Geschützstellung auftauchte.

Bolitho rief:»Zu den Musketen! Die Seesoldaten kommen, gebt ihnen Deckung!«Wieder einmal warfen sich seine Leute zu Boden und richteten ihre Waffen auf die Lagune. Colpoys und seine zehn Scharfschützen, die trotz ihrer schlecht sitzenden geborgten Kleidung irgendwie flott aussahen, eilten schußbereit den Abhang herauf; aber es schien, als sei der Angriff so blitzschnell und wild gewesen, daß die ganze Insel wie gelähmt war.

Colpoys erschien und wartete, bis seine Männer in Stellung gegangen waren. Dann sagte er:»Es scheint, daß wir nur fünf Mann verloren haben. Sehr befriedigend. «Er wandte sich verächtlich ab, als einige blutüberströmte Leiber aus der Geschützstellung hochgereicht und über die Brustwehr den Abhang hinuntergeworfen wurden.»Tiere!»

Little kletterte aus der Grube und wischte sich die Hände an seinem Bauch ab.»Reichlich Kugeln, Sir, aber nicht genug Pulver. Gut, daß wir eigenes mitgebracht haben.»

Bolitho war von ihrem Taumel angesteckt, aber er wußte, daß er klaren Kopf behalten mußte. Jeden Augenblick war der Gegenangriff auf ihre Stellung zu erwarten. Aber sie hatten sich prächtig gehalten; besser, als man erwarten durfte. Er sagte:»Geben Sie Wein aus.»

Colpoys setzte scharf hinzu:»Aber behaltet klaren Kopf und ein scharfes Auge, Leute. Die Kanone wird bald feuern müssen. «Er warf Bolitho einen Blick zu.»Habe ich recht?«Bolitho stieg Rauch in die Nase: seine Leute hatten Feuer angefacht. Sie waren im rechten Augenblick ungeheuer mutig gewesen, einige Minuten lang wie von einer tollkühnen Raserei besessen. Er nahm eine Becher Wein von Jury an und trank. Es war ein Augenblick gewesen, den er bis zu seinem Tode nicht vergessen würde.

Sogar der Wein, warm und trübe, wie er war, schmeckte ihm fast wie Bordeaux.»Da kommen sie, Sir! Da kommen die Lumpen!«Bolitho warf den Becher beiseite und hob seinen Säbel auf.»Alle Mann — Achtung!»

Er warf einen Blick nach hinten, ob Little und seine Leute zurechtkamen. Die Kanone hatte sich noch nicht bewegt. Wenn sie die gewünschte Panik hervorrufen sollte, mußte sie recht bald feuern.

Auf einmal horte er vielstimmiges Geschrei, und als er an die Brustwehr trat, sah er eine Menge Männer den Hügel heraufstürmen. Die Sonne spiegelte sich in ihren Säbeln und Entermessern, und die Luft hallte wider vom Peitschenknall zahlreicher Musketen- und Pistolenschüsse.

Bolitho schaute zu Colpoys hinüber.»Seid ihr bereit, Seesoldaten?«»Feuer!»

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