«Feuer einstellen!»
Bolitho übergab seine Pistole einem Verwundeten zum Nachladen. Es kam ihm vor, als ob jede Faser seines Körpers unkontrollierbar zitterte, und er konnte es kaum glauben, daß der erste Angriff zurückgeschlagen war. Einige Gegner, welche die Spitze des Hügels fast erreicht hatten, lagen da, wo sie gefallen waren; andere versuchten noch, sich unter Schmerzen nach unten in Sicherheit zu bringen.
Colpoys kam zu ihm herüber, sein Hemd klebte ihm wie eine zweite Haut am Körper.»Großer Gott!«Er wischte sich den Schweiß aus den Augen.»Da hört die Gemütlichkeit auf!»
Drei weitere Matrosen hatte es erwischt, aber sie lebten noch. Pearse war schon dabei, sie mit überzähligen Musketen und Pulverhörnern zu versorgen, damit sie bei einem neuen Angriff Schnellfeuer geben konnten. Und danach.? Bolitho musterte seine keuchend beieinandersitzenden Leute. Die Luft war schwer von ätzendem Pulverqualm und dem süßlichen Geruch nach Blut.
Little rief:»Noch fünf Minuten, Sir!»
Der Angriff war so heftig gewesen, daß Bolitho Leute von der Geschützbedienung hatte zu Hilfe holen müssen, um die schreiend anstürmenden Feinde zurückzuschlagen. Jetzt warfen Little und Stock-dale mit ausgesuchten Männern ihr ganzes Gewicht auf die hölzernen Spaken, um die Kanone so weit herumzudrehen, daß sie auf den Ankerplatz gerichtet war.
Bolitho hob das Teleskop und studierte die sechs bewegungslos daliegenden Schiffe. Das eine, ein Toppsegelschoner, sah sehr ähnlich aus wie der, mit dem die Heloise Bekanntschaft gemacht hatte. Keines traf Anstalten zum Ankerlichten. Er schloß daraus, daß ihre Kapitäne damit rechneten, die Hügelbatterie würde die unverschämten Eindringlinge zerschmettern, bevor sie weiteres Unheil anrichten konnten.
Er nahm einen Becher Wein von Pearse entgegen, ohne zu sehen, was er tat. Wo, zum Teufel, blieb Palliser? Er mußte doch bemerkt haben, was sie vorhatten. Verzweiflung wollte Bolitho packen. Angenommen, der Erste Offizier glaubte, das Geschützfeuer und der ganze Höllenlärm bedeuteten, daß Bolithos Gruppe entdeckt und systematisch vernichtet worden war? Er rief sich Dumaresqs eigene Worte in Erinnerung, bevor sie das Schiff verlassen hatten:»Dann kann ich Ihnen nicht helfen. «Es war anzunehmen, daß Palliser den gleichen Standpunkt vertrat.
Bolitho wandte sich um und versuchte, seine plötzliche Verzagtheit zu verbergen, während er fragte:»Wie lange noch, Little?«Es fiel ihm ein, daß der Stückmeistersmaat ihm das gerade zugerufen hatte und daß Colpoys und Cowdroy ihn besorgt beobachteten.
Little richtete sich auf.»Fertig!«Er bückte sich wieder und schielte am langen schwarzen Geschützrohr entlang.»Jetzt das Pulver, Jungs! Rammt die Ladung ein!«Er kroch wie eine riesige Spinne um das Bodenstück der Kanone, man sah nur noch Arme und Beine von ihm.
«Dies muß behutsam und genau erledigt werden!»
Bolitho leckte sich die Lippen. Er sah zwei Seeleute mit einer Trage zur Feuerstelle gehen, wo ein anderer mit einer Zange in den Fäusten darauf wartete, ihnen die glühend heiße Kugel zu übe rgeben. Was dann kam, hing stets vom guten Timing und vom Glück ab. Die Kugel mußte in die Rohrmündung eingeführt und fest auf den doppelten Ladepropfen über dem Pulver gestoßen werden. Wenn die Kanone losging, bevor der Mann mit dem Ansetzer fertig war, wurde er von der Kugel zerfetzt. Andererseits konnte es passieren, daß das Geschützrohr platzte. Kein Wunder, daß Schiffsführer sich fürchteten, an Bord glühende Kugeln zu verwenden. Stockdale nickte beifällig.
Colpoys sagte plötzlich:»Ich sehe Leute drüben auf dem Hügel. Sie nehmen uns gleich unter Feuer. «Ein Mann rief:»Sie sammeln sich zu einem neuen Angriff!«Bolitho lief an die Brustwehr und ließ sich auf ein Knie nieder. Er konnte kleine Gestalten sehen, die sich zwischen den Felsbrocken bewegten, und andere, die Stellungen am Abhang bezogen. Das war kein ungeordneter Pöbelhaufen. Garrick hatte seine Leute wie eine Privatarmee gedrillt.»Legt an!»
Die Musketenläufe wurden gehoben und flimmerten im blendenden Sonnenlicht, als jeder Mann sich ein Ziel zwischen den Felsbrocken suchte. Die erste Salve rollte über die Brustwehr, aber Bolitho wußte, daß weitere Angreifer sich unter dem Schutz des eigenen Deckungsfeuers zur anderen Seite des Abhangs vorarbeiteten.
Er warf einen kurzen Blick auf Little, der die Hände wie zum Segen ausgebreitet hielt.»Jetzt die Kugel!»
Bolitho riß den Blick von ihm los und feuerte seine Pistole auf drei Männer ab, die fast den Gipfel erreicht hatten. Andere schwärmten seitlich aus und boten ein schlechtes Ziel. Die Luft vibrierte von markerschütterndem Geschrei und von Flüchen, viele davon in Englisch.
Zwei Gestalten sprangen über die Brustwehr und warfen sich auf einen Matrosen, der sich verzweifelt bemühte, seine Muskete neu zu laden. Bolitho sah, wie sich sein Mund zu einem lautlosen Schrei öffnete, als der eine Angreifer ihn mit seinem Säbel aufspießte und sein Gefährte ihn mit einem schrecklichen Schlag für immer zum Schweigen brachte.
Bolitho machte einen Ausfall, schlug eine Klinge beiseite und hieb den Fechtarm des Mannes mit einer schnellen Bewegung nieder, bevor der wußte, was ihm geschah. Er spürte es im Handgelenk, wie sein Säbel Fleisch und Knochen durchschnitt, vergaß aber den schreienden Mann, als er mit einer Wildheit, die er bisher nicht gekannt hatte, auf dessen Gefährten eindrang.
Ihre Klingen schlugen zusammen, aber Bolitho stand auf losem Gestein und konnte das Gleichgewicht kaum halten.
Der ohrenbetäubende Knall von Littles Kanone ließ den anderen Mann stolpern, und als er die Folgen begriff, stieg plötzliches Entsetzen in seine Augen. Bolitho stieß zu und war schneller über die Brustwehr zurückgesprungen, als der entseelte Körper seines Gegners zu Boden sinken konnte. Little schrie:»Seht euch das an!»
Bolitho sah eine in sich zusammenfallende, mit Dampf gemischte Wassersäule an der Stelle, wo die Kugel zwischen zwei Schiffen eingeschlagen hatte. Kein Treffer, aber die Wirkung würde zweifellos Panik auslösen.
«Auswischen, Jungs!«Little hüpfte vor Begeisterung auf dem Rand des Geschützstandes, während die Männer mit der Trage zur Feuerstelle rannten, um eine neue Kugel zu holen.»Mehr Pulver hinein!»
Colpoys kam über den blutbespritzten Felsgrund heran und meldete:»Wir haben drei weitere Männer verloren. Auch einer von meinen Scharfschützen ist dabei. «Er wischte sich die Stirn mit dem Arm, wobei ihm der goldverzierte Säbel vom Handgelenk baumelte. Bolitho sah, daß die gebogene Klinge fast schwarz war von geronnenem Blut.
Noch einem Angriff wie dem letzten konnten sie nicht standhalten. Obwohl der Abhang und der Rand der Brustwehr mit Leichen bedeckt war, wußte Bolitho, daß da unten noch viele Leute warteten, die sich zu einem neuen Angriff sammeln konnten. Und sie hatten mehr Angst vor Garrick als vor der Handvoll zerlumpter Seeleute, die sie oben erwarteten.
«Jetzt!«Little senkte die Lunte zum Zündloch, und die Kanone rollte abermals mit einem gleichzeitigen Donnerschlag zurück. Bolitho sah blitzartig, wie die Kugel stieg und dann im Bogen auf die unbeweglichen Schiffe herabfiel. Er bemerkte eine kleine Rauchwolke und daß sich etwas Kompaktes von dem nächstliegenden Schoner löste und durch die Luft segelte, bevor es seitlich ins Wasser platschte.
«Treffer! Ein Treffer!«Die Männer der Geschützbedienung sprangen schweißtriefend und mit geschwärzten Gesichtern wie Verrückte um ihre Kanone herum.
Stockdale nutzte schon seine Kräfte, um die Mündung mit einer Handspake ein kleines Stück zu verschieben.
«Er brennt!«Pearse hielt die Hände als Sonnenschutz über die Augen.»Gott strafe sie! Sie versuchen, das Feuer zu löschen.»
Aber Bolitho beobachtete den Schoner am fernen Ende der Lagune. Er hatte von allen Schiffen den sichersten Ankerplatz; noch während er ihn beobachtete, sah er, wie sein Klüver gesetzt wurde und ein Mann dabei war, die Ankertrosse zu kappen.
Bolitho streckte den Arm aus, da er nicht wagte, den Blick von dem Schoner abzuwenden, und rief:»Ein Glas! Schnell!»
Jury eilte herbei und legte ihm ein Fernglas in die Hand.
Dann trat er etwas zurück und beobachtete ihn gebannt.
Bolitho spürte den Luftzug einer Musketenkugel, die dicht an seinem Kopf vorbeistrich, zuckte aber nicht mit der Wimper. Er durfte das kleine Bild nicht aus den Augen verlieren, selbst wenn er sich dabei der Gefahr aussetzte, erschossen zu werden.
Was er sah, war für andere auf diese Entfernung kaum zu erkennen; doch für ihn sprach es eine deutliche Sprache, weil er die Akteure kannte: Pallisers lange Gestalt, den Säbel in der Hand. Slade und ein paar Matrosen an der Pinne und Rhodes, der mit den übrigen Leuten Fallen und Schoten bediente, als der Schoner sich von seinem Ankerplatz löste und zunächst schwerfällig vor den Wind drehte. Dabei spritzte an seiner Bordwand Wasser hoch, und einen Augenblick glaubte Bolitho, Palliser würde beschossen. Doch dann erkannte er, daß seine Leute die Schiffsbesatzung einfach über Bord warfen, statt kostbare Zeit mit ihrer Bewachung zu verschwenden.
Colpoys rief aufgeregt:»Sie müssen zum Schiff hinausgeschwommen sein! Ein schlauer Fuchs, dieser Palliser! Hat unseren Angriff als Ablenkung genutzt.»
Bolitho nickte. Seine Ohren dröhnten vom ständigen Krachen des
Musketenfeuers und dem gelegentlichen Bellen der Schwenkgeschütze. Statt die Mitte der Lagune anzusteuern, hielt Palliser direkt auf den Schoner zu, der von Littles glühender Kugel getroffen worden war.
Als er dem brennenden Schiff näherkam, sah Bolitho Mündungsfeuer und schloß daraus, daß Palliser auf die Männer zielen ließ, die sich bemühten, das Feuer unter Kontrolle zu bekommen. Immer stärkere Rauchwolken stiegen vom Rumpf des Getroffenen auf und trieben aufs Ufer und die verlassenen Hütten zu.
Bolitho rief:»Little! Zielwechsel auf den nächsten Schoner!»
Minuten später donnerte die glühende Kugel durch die dünne Bordwand eines weiteren Schoners und löste mehrere Explosionen im Schiffsinnern aus, worauf ein Mast von oben kam und der Großteil der Takelage in Brand geriet.
Als sie sahen, daß zwei ihrer Schiffe lichterloh brannten, bedurfte es für die übrigen Besatzungen keiner Überlegung mehr, die Ankertrossen zu kappen, um der Feuerhölle zu entrinnen. Pallisers Schoner war nun unter Kontrolle, seine großen Segel blähten sich und ragten über den dicken Qualm wie die Flügel eines Racheengels.
Bolitho sagte plötzlich: «Zeit, daß wir aufbrechen. «Er wußte nicht, woher ihm der Gedanke kam. Er spürte es einfach.
Colpoys schwang seinen Säbel.»Hebt die Verwundeten auf! Korporal, legen Sie einen Zünder an das Pulvermagazin!»
Littles Lunte senkte sich wieder zum Zündloch, und eine weitere Feuerkugel sauste über das Wasser und traf das Schiff, das schon in Flammen stand. Man sah Leute über Bord springen und im Wasser strampeln wie sterbende Fische, bis die große Rauchwolke sie erreichte und vor allen Blicken verbarg.
Pearse warf sich einen verwundeten Seesoldaten über die Schulter, behielt aber sein großes Entermesser in der anderen Hand.
Er sagte:»Der Wind hält sich, Sir. Der Qualm wird der verdammten Batterie die Sicht nehmen.»
Keuchend wie Tiere kletterten Matrosen und Seesoldaten den Abhang hinunter, wobei sie sich bemühten, die Bodenwelle zwischen sich und der Hügelbatterie zu halten.
Colpoys wies aufs Wasser:»Das ist am nächsten!«Plötzlich brach er in die Knie und preßte die Hände an die Brust.»O Gott, jetzt hat's mich erwischt!»
Bolitho befahl zwei Seesoldaten, ihn vorsichtig aufzuheben. Trotz des Krachens der Musketen und des Prasselns der Flammen, die hinter der Rauchwolke ein Schiff verzehrten, arbeiteten seine Gedanken fieberhaft. Er hörte auch Geschrei von Besatzungsmitgliedern der Schoner, die an Land gewesen waren, als der Angriff begann, und nun zum Hügel rannten in der Hoffnung, daß sie im Bereich der Batterie Schutz finden konnten.
Bolitho hielt erst an, als seine Füße fast im Wasser standen. Er konnte kaum atmen, und seine Augen tränten so stark, daß er nicht übers Ufer hinaussehen konnte.
Sie hatten das scheinbar Unmögliche geschafft, aber während Palli-ser ihren Angriff zur Ablenkung genutzt hatte, gab es für ihn selbst jetzt kein Weiterkommen mehr.
Er kniete hin, um seine Pistole neu zu laden, und seine Hände zitterten, als er sie für einen letzten Schuß spannte.
Jury war bei ihm, auch Stockdale. Aber sonst war es wohl nur noch die Hälfte der Truppe, die den Hügel erstürmt und die Kanone erobert hatte.
Bolitho sah Stockdales Augen aufleuchten, als das Magazin explodierte und dabei die Kanone herausriß, die mit einer Lawine von Leichen und zerborstenen Felsen den Abhang hinunterrollte.
Fähnrich Cowdroy wies plötzlich mit seinem Säbel in den Qualm.»Ein Boot! Schauen Sie!»
Pearse ließ den verletzten Seesoldaten zu Boden gleiten und watete ins Wasser, wobei er sein schreckliches Entermesser über dem Kopf schwang.
«Wir nehmen es ihnen ab, Jungs!»
Bolitho spürte ihre verzweifelte Entschlossenheit wie eine lebenspendende Kraft. Seeleute waren sich in einem Punkt alle gleich: Man gebe ihnen ein Boot, auch noch so klein, und sie waren ihrer Sache sicher.
Little zog sein Entermesser heraus und fletschte die Zähne.»Schlagt sie nieder, bevor sie uns entwischen!»
Jury lehnte sich an Bolitho, der einen Augenblick annahm, er sei von einer Kugel getroffen, doch der Junge deutete nur ungläubig in den Qualm und auf das schattenhaft hervorkommende Boot.
Bolitho nickte nur, denn er konnte es selbst nicht fassen.
Er sah Rhodes im Bug des Langbootes stehen und dahinter die karierten Hemden der Matrosen von der Destiny an den Riemen.
«Nun aber lebhaft!«Rhodes reichte herunter und faßte Bolitho am Handgelenk.»Noch ganz?«Er sah den verwundeten Colpoys und rief:»Faßt mal mit an!»
Das Boot war binnen kurzem so voll mit zum Teil verwundeten Menschen, daß es nur noch knapp fünf Zoll Freibord hatte, als es wie trunken rückwärts rudernd im Qualm untertauchte.
Hustend und fluchend erklärte Rhodes:»Wir wußten, daß ihr versuchen würdet, uns zu erreichen. Einzige Chance. Mein Gott, habt ihr ein Tohuwabohu angerichtet, ihr Halunken!»
Ein brennender Schoner trieb querab vorbei. Bolitho spürte die Hitze wie Höllenfeuer im Gesicht. Explosionen dröhnten durch den Rauch, und er nahm an, daß ein weiteres Pulvermagazin in die Luft flog oder daß die Batterie auf dem Hügel blindlings über die Lagune feuerte.
«Was jetzt?»
Rhodes stand auf und gestikulierte heftig zum Bootssteurer.»Hart Steuerbord!»
Bolitho sah die Zwillingsmasten eines Schoners direkt über sich, und schon griffen die Männer nach den Leinen, die ihnen aus dem Qualm wie Schlangen entgegenflogen.
Stöhnend und manchmal vor Schmerzen schreiend, wurden die Verwundeten die Bordwand hinaufgezogen oder — geschoben, und als sie das Boot mit einem Kameraden darin, der noch angesichts der sicheren Rettung gestorben war, treiben ließen, hörte Bolitho Pallisers vertraute Stimme.
Bolitho tastete sich durch den Rauch zu Palliser und Slade an der Pinne.
Palliser rief:»Mann, Sie sehen aus wie ein entsprungener Sträfling!«Er schenkte ihm ein kurzes Lächeln, und Bolitho erkannte darin ebenso Erschöpfung wie Erleichterung.
Rhodes kniete neben dem Offizier der Seesoldaten.»Er wird überleben, wenn wir ihn bald zum alten Bulkley schaffen.»
Palliser hob eine Hand, und das Ruder wurde leicht gelegt. Ein anderer Schoner stand unter vollen Segeln genau querab von ihnen und hielt von den brennenden Wracks weg auf die Einfahrt zu.
Er sagte:»Bis sie entdeckt haben, daß wir eines ihrer Schiffe geschnappt haben, sind wir klar von ihnen.»
Er wandte sich abrupt um, als die gewaltigen Masten der San Augustin plötzlich über dem Rauch emporstiegen. Sie lag noch vor Anker, und sicherlich stand jeder Mann an Bord bereit, die treibenden Branderschiffe fernzuhalten und jeden überspringenden Funken zu erstik-ken.
Palliser setzte hinzu:»Was danach kommt, ist zum Glück nicht mehr mein Problem.»
Eine Kugel platschte neben dem Backbordbug ins Wasser. Bolitho schloß daraus, daß Garricks Kanoniere endlich erkannt hatten, was vor sich ging. Doch als der Qualm dünner wurde und Teile der Insel bleich, aber klar im Sonnenlicht hervortraten, waren sie schon hinter dem kritischen Punkt.
Pearse flüsterte:»Schau, Bob, da ist sie!«Er hob den Kopf eines verwundeten Matrosen so an, daß er die hart angebraßten Marssegel der Destiny sehen konnte, die von Dumaresq so nahe an die Riffe herangeführt worden war, wie er es wagen konnte. Dann sagte Bootsmannsmaat Pearse, der wie ein Teufel gekämpft hatte und auf Befehl seines Kommandanten den Rücken manches Delinquenten mit der neunschwänzigen Meerkatze blutig geschlagen hatte, leise zu Palliser:»Der arme Bob ist tot, Sir. «Er schloß die Augen des jungen Matrosen mit seinen teerigen Händen und setzte hinzu:»Noch ein paar Minuten, und er wäre gerettet worden.»
Bolitho beobachtete, wie die Fregatte Segel wegnahm und viele Leute auf ihren Laufbrücken hin und her rannten, als beide Schiffe einander näherkamen. Die Galionsfigur der Destiny hob, unverändert nackt und bleich, den Siegeskranz wie zum Hohn der rauchgeschwärzten Insel entgegen.
Bolitho dachte an den toten Seemann namens Bob und an den einsamen Leichnam, der im Langboot zurückgelassen worden war. Er dachte auch an Stockdales Sorge, daß er abkommandiert werden könnte, als er gebraucht wurde. Und er dachte an Colpoys, an den Korporal mit dem Spitznamen >Dipper<, an Jury und Cowdroy und an die vielen, die sie tot hatten zurücklassen müssen.
«Vorsegel bergen!«Palliser beobachtete die langsame Annäherung der Destiny mit grimmiger Genugtuung.»Es gab Augenblicke, in denen ich dachte, ich würde diese Lady nie wiedersehen.»
Josh Little trat an Pearses Seite und brummte:»Darauf genehmigen wir uns einen Schluck, wenn wir wieder an Bord sind, eh?»
Pearse schaute noch immer auf den Toten nieder.»Aye, Josh. Und einen auf ihn.»
Rhodes sagte:»Der >Herr und Meisten wird auf seinem Willen bestehen: Kampf bis zur Entscheidung. «Er duckte sich, als eine Wurfleine neben ihm landete.»Ich für meine Person wünschte, die Chancen wären ausgeglichener. «Er blickte hinüber auf den großen Mantel aus Rauch, der den abgeflachten Hügel einhüllte, als wolle er ihn wegtragen.»Sie waren großartig, Dick. Wirklich.»
Sie sahen einander so prüfend an wie zwei Fremde. Dann sagte Bo-litho:»Ich fürchtete, ihr würdet euch zurückhalten in der Annahme, daß wir gefangen wurden.»
Rhodes winkte einem Mann auf der Laufbrücke der Destiny zu.»Oh, habe ich das noch nicht erzählt? Wir wußten, wo Sie waren und was Sie machten, alles.»
Bolitho starrte ihn ungläubig an.»Wieso?»
«Erinnern Sie sich an Ihren Toppsgasten Murray, den Deserteur? Er war Garricks Ausguck. Er sah Sie und den jungen Jury, wie Sie aus der Deckung kamen. «Rhodes packte den Arm seines Freundes.»Es ist die Wahrheit. Er liegt jetzt unter Deck, mit einem Splitter im Bein. Hat eine tolle Geschichte zu erzählen. Glück für Sie und den jungen Jury, nicht wahr?»
Bolitho schüttelte den Kopf und schaute, gegen das Schanzkleid des Schoners gelehnt, der Annäherung der beiden Schiffe in der langen Dünung zu.
Der Tod war ihnen so nahe gewesen, und er hatte nichts davon bemerkt. Murray mußte mit dem ersten verfügbaren Schiff Rio verlassen haben, und das hatte ihn zu Garricks Insel gebracht. Er hätte Alarm schlagen oder sie beide niederschießen können, dann wäre er von Garricks Leuten als Held gefeiert worden. Statt dessen hatte ihn irgend etwas, das sie eins t verbunden hatte, zurückgehalten und ihm klargemacht, wohin er gehörte.
Dumaresqs Stimme dröhnte durch ein Megaphon zu ihnen:»Etwas
Bewegung da drüben! Ich sitze gleich auf Grund, wenn ihr nicht an Bord kommt!»
Rhodes grinste.»Endlich wieder zu Hause!»
Kapitän Dumaresq stand, die Hände auf dem Rücken, an den Heckfenstern seiner Kajüte und lauschte Pallisers Bericht über die regelrechte Schlacht und ihre Flucht aus der Lagune.
Er gab Macmillan ein Zeichen, seinen arg mitgenommenen und todmüden Offizieren noch ein Glas einzuschenken, und sagte dann:»Ich hatte ein Landungskorps ausgesetzt, um Garrick ein wenig am Bart zu zupfen. Ich hatte nicht erwartet, daß Sie gleich eine ganze Invasion auf eigene Faust unternehmen würden!«Er lächelte dabei, sah dadurch aber erst recht traurig und übermüdet aus.»Ich werde morgen bei Sonnenaufgang zu Ihnen und Ihren Leuten sprechen. Ohne Ihre Tat wäre die Destiny auf so starken Widerstand gestoßen, daß ich bezweifle, ob ich sie heil wieder herausbekommen hätte. Die Dinge stehen noch immer schlecht, meine Herren, aber zumindest wissen wir jetzt, woran wir sind.»
Palliser fragte:»Haben Sie immer noch die Absicht, den Schoner nach Antigua zu schicken, Sir?»
Dumaresq sah ihn nachdenklich an.»Ihren Schoner, meinen Sie?«Er ging zu den Fenstern und starrte in das Spiegelbild der untergehenden Sonne auf dem Wasser. Es war wie rotes Gold.»Ja. Tut mir leid, daß ich Ihnen abermals eine Prise wegnehmen muß.»
Bolitho beobachtete sie, alle Sinne trotz der Anspannung und der bitteren Erinnerungen dieses Tages hellwach. Er erkannte, daß es zwischen dem Kommandanten und seinem Ersten Offizier ein Band gab, das unzerreißbar war.
Dumaresq fügte hinzu:»Wenn die San Augustin nur wenig beschädigt ist, müssen wir sie schnellstens besiegen. Sobald Garricks Ausguckposten melden, daß der Schoner uns verläßt, wird er wissen, daß die Zeit gegen ihn arbeitet. Daß ich Hilfe herbeirufe. «Er nickte grimmig.»Morgen wird er herauskommen, ganz sicher.»
Palliser blieb hartnäckig.»Er wird dabei von den restlichen Schonern unterstützt werden. Zwei könnten das Feuer überstanden haben.»
«Ich weiß. Aber besser so, als daraufwarten, bis Garrick uns mit einem völlig überholten Kriegsschiff entgegentritt. Auch ich hätte gern bessere Bedingungen, aber nur wenige Kommandanten haben das Glück, sich ihre Bedingungen selbst aussuchen zu können.»
Bolitho dachte an die Männer, die auf den Schoner geschickt worden waren. Mit ganz wenigen Ausnahmen waren sie alle verwundet, aber dennoch so stolz und herausfordernd gewe sen, daß sie beim Ablegen mit Hochrufen von der Destiny verabschiedet worden waren.
Aus Gründen, die nur er selber kannte, hatte Dumaresq dem Steuermannsmaaten Yeames das Kommando über die Prise gegeben. Das mußte ein harter Schlag für Slade gewesen sein.
Bolitho war sehr bewegt, als Yeames vorm Ablegen des letzten Bootes an ihn herangetreten war. Er hatte den Steuermannsmaaten immer gemocht, aber nie über ihn nachgedacht.
Yeames streckte ihm die Hand hin.»Sie werden morgen siegen, Sir, ich zweifle nicht daran. Aber es könnte sein, daß wir einander nicht wieder begegnen. Wenn es aber doch der Fall sein sollte, möchte ich, daß Sie sich an mich erinnern. Ich wäre froh, unter Ihnen dienen zu dürfen, wenn Sie einmal ein eigenes Schiff bekommen.»
Er war gegangen und hatte Bolitho verwirrt und ein wenig stolz zurückgelassen.
Dumaresqs sonore Stimme unterbrach seine Gedanken.»Wir werden morgen bei Anbruch der Dämmerung das Schiff klar zum Gefecht machen. Ich werde mit den Männern sprechen, bevor wir auf den Feind stoßen, aber Ihnen möchte ich schon jetzt meinen besonderen Dank sagen.»
Macmillan drückte sich an der Lamellentür herum, bis das Auge des Kommandanten auf ihn fiel.
«Mr. Timbrell läßt gehorsamst fragen, Sir, ob Sie das Schiff abdunkeln wollen?»
Dumaresq schüttelte langsam den Kopf.»Diesmal nicht. Ich möchte, daß Garrick uns sieht. Seine große Schwäche ist — abgesehen von seiner Habgier — sein Jähzorn. Ich habe vor, ihn noch zorniger zu machen, bevor es tagt.»
Macmillan öffnete die Tür, und die Offiziere und Fähnriche zogen sich dankbar zurück. Nur Palliser blieb; Bolitho nahm an, daß er die technischen Einzelheiten lieber allein und ohne Störung mit dem Kommandanten besprechen wollte.
Als die Tür sich schloß, wandte Dumaresq sich seinem Ersten Offizier zu und wies auf einen Sessel.»Es gibt noch etwas, habe ich recht?»
Palliser setzte sich und streckte die langen Beine aus. Einen Augenblick rieb er sich die Augen mit den Handknöcheln, ehe er sagte:»Sie hatten recht, was Egmont betrifft, Sir. Selbst als Sie ihn auf ein Schiff mit Kurs Basseterre gesetzt hatten, versuchte er noch, Garrick zu warnen oder mit ihm in Verbindung zu treten. Wie das geschah, werden wir wohl nie erfahren. Er wechselte offenbar auf ein kleines, schnelleres Schiff über und nahm nördlichen Kurs durch die Inselgruppe, um vor uns da zu sein. Doch wie es auch war, seine Warnung an Garrick war verschwendet.»
Er faßte in seine Tasche und zog einen goldenen Halsschmuck mit dem doppelköpfigen Vogel und den rubinschimmernden Schwanzfedern heraus.
«Garrick hat beide Egmonts ermorden lassen. Diesen Schmuck habe ich einem unserer Gefangenen abgenommen. Der Matrose, von dem ich Ihnen berichtete, erzählte mir den Rest.»
Dumaresq nahm das schwere Schmuckstück in die Hand und betrachtete es traurig.
«Murray hat es gesehen?»
Palliser nickte.»Er ist verwundet worden. Ich habe ihn auf den Schoner geschickt, bevor er mit Mr. Bolitho sprechen konnte.»
Dumaresq trat wieder an die Heckfenster und sah zu, wie der Schoner abdrehte und ihnen das Heck zeigte. Seine Segel schimmerten so golden wie der Halsschmuck in seiner Hand.
«Das war sehr überlegt gehandelt. Für das, was er gesagt und getan hat, wird Murray in England aus der Marine entlassen werden.
Ich bezweifle, daß sein Weg sich jemals wieder mit dem Bolithos kreuzen wird.»
«Dann wollen Sie ihm also nichts davon sagen, Sir? Ihn nicht wissen lassen, daß Aurora Egmont tot ist?»
Dumaresq beobachtete die Schatten, die den Rumpf des davonse-gelnden Schoners bereits verhüllten.
«Von mir wird er nichts erfahren. Morgen müssen wir kämpfen, und da muß jeder Offizier und jeder Mann alles geben, was er hat. Richard Bolitho hat bewiesen, daß er ein guter Offizier ist. Wenn er den morgigen Tag überlebt, wird er ein noch besserer sein. «Dumaresq klappte ein Fenster auf und warf den Schmuck ohne Zögern ins Kielwasser der Destiny. »Ich lasse ihm seinen Traum. Es ist das mindeste, was ich für ihn tun kann.»
In der Messe saß Bolitho in einem Sessel und ließ die Arme hängen, während die Spannung in ihm wie feiner Sand in einem Stundenglas verrann. Rhodes saß ihm gegenüber und starrte in ein leeres Weinglas, ohne etwas zu erkennen.
Immer wieder stand ein neuer Morgen mit seinen Anforderungen vor ihnen. Es war wie der Horizont: sie erreichten ihn nie.
Bulkley trat ein und ließ sich schwerfällig zwischen ihnen nieder.»Ich habe mich gerade mit unserem starrköpfigen Seesoldaten abgegeben.»
Bolitho nickte trübsinnig. Colpoys hatte darauf bestanden, bei seinen Leuten auf der Fregatte zu bleiben. Gut versorgt und so bandagiert, daß er nur einen Arm bewegen konnte, hatte er kaum Kraft genug, sich auf den Beinen zu halten.
Palliser trat ein und warf seinen Hut auf eine Kanone. Kurz schaute er sie an und sah dabei wahrscheinlich den Raum schon so vor sich, wie er morgen früh aussehen würde: ohne Möbel, die leichten Wände herausgenommen, die kleinen persönlichen Dinge vor Rauch und Feuer in Sicherheit gebracht.
Dann sagte er scharf:»Es ist Ihre Wache, scheint mir, Mr. Rhodes. Der Master sollte nicht alles allein machen müssen, wie Sie wissen.»
Rhodes erhob sich mühsam und grinste.»Aye, aye, Sir. «Wie ein Schlafwandler wankte er aus der Messe.
Bolitho hatte nichts davon gehört. Er dachte an Aurora. Er benutzte die Erinnerung an sie wie ein Schild, mit dem er die Bilder und Ereignisse dieses Tages von seinem Innern fernhielt.
Dann stand er abrupt auf und entschuldigte sich bei den anderen, als er sich in die private Sphäre seiner Kammer zurückzog. Er wollte nicht, daß sie seine Niedergeschlagenheit bemerkten. Denn als er sich bemüht hatte, im Geiste Auroras Gesicht zu sehen, war nur ein verschwommenes Trugbild erschienen. Nicht mehr.
Bulkley schob eine Flasche über den Tisch.»War's schlimm?»
Palliser überlegte.»Es wird noch schlimmer. «Aber eigentlich dachte er an den juwelenbesetzten Halsschmuck, der jetzt achteraus auf dem Meeresgrund lag: eine private Beisetzung.
Der Arzt stieß nach:»Ich freue mich über Murray. Das ist ein kleiner Lichtblick in all dem Elend. Gut zu wissen, daß er frei von Schuld ist.»
Palliser schaute weg.»Ich mache jetzt meine Runde und lege mich dann ein paar Stunden aufs Ohr.»
Bulkley seufzte.»Ich auch. Ich wollte aber darum bitten, daß ich Spillane, den provisorischen Schreiber, ausgeliehen bekomme. Auch ich bin knapp an Leuten.»
Palliser hielt an der Tür inne und sah Bulkley mit leerem Blick an.»Da müssen Sie sich aber beeilen. Morgen früh wird er vielleicht schon hängen, um Garricks Zorn weiter anzuheizen. Er war nämlich sein Spion. Murray hat gesehen, wie Spillane den Leichnam des alten Lockyer durchsuchte, als er an Bord gebracht wurde. «Die Müdigkeit verwischte Pallisers Worte.»Spillane versuchte, Murray mit Jurys Uhr zu kompromittieren und einen Keil zwischen Vor- und Achterdeck zu treiben. So etwas hat es schon öfter gegeben. «Mit plötzlich aufsteigender Bitterkeit setzte er hinzu:»Spillane ist genauso ein Mörder wie Garrick.»
Ohne ein weiteres Wort marschierte er aus der Messe; als Bulkley sich umwandte, sah er, daß Pallisers Hut noch immer auf der Kanone lag.
Was morgen auch geschah, nichts würde je wieder so sein wie bisher, dachte der Arzt, und diese Einsicht machte ihn sehr traurig.
Als die Dunkelheit schließlich den Horizont verwischte und der flache Hügel über der Insel Fougeaux verschwunden war, spiegelten sich die Lichter der Destiny immer noch wie wachsame Augen im Wasser.