PHASE 3

KOELN-BONN AIRPORT

Eric Lavallier lehnte sich zurück und sah die Frau und den Mann auf der anderen Seite des Schreibtischs unter halb geschlossenen Lidern an.

Mit jedem Wort entströmte ihren Mündern der Dunst nächtlicher Exzesse. Kirsten Wagner – oder hieß sie Katharina? – erweckte auf ihrem Stuhl den Eindruck eines aus dem Nest gefallenen Vogels. Offenbar litt sie unter Kopfweh. Ihre Augen waren verquollen, ihr Gesichtsausdruck zerquält. Sie schien jeden Satz dreimal im Mund herumzudrehen und dann unter größten Schwierigkeiten auszuspucken. Demgegenüber artikulierte sich der Mann, der ihm als Dr. Liam O’Connor vorgestellt worden war, überraschend klar und deutlich. Er hatte es abgelehnt, Platz zu nehmen, sondern ging beständig im Raum auf und ab. Sein Erscheinungsbild war gepflegt und kultiviert. Lavallier, der selbst kein großes Interesse an modischen Dingen hatte, registrierte sehr wohl den perfekten Sitz des silbergrauen Anzugs, der wahrscheinlich furchtbar teuer gewesen war. Ebenfalls wusste er, dass dieser O’Connor Romane schrieb und sich grenzübergreifender Popularität erfreute. Er fiel demnach unter die Kategorie Künstler und genoss das Privileg, nach Alkohol riechen und sich danebenbenehmen zu dürfen, ohne sofort der sozialen Ächtung anheim zu fallen.

Ob man ihm glauben konnte, war eine andere Geschichte.

Mechanisch, während er lauschte, fügte Lavallier seine Besucher in Kategorien. Der Mann trank regelmäßig, konstatierte er, die Frau war es nicht gewohnt. Man musste kein Fachmann sein, um das zu erkennen. Es reichte, lange genug den Job zu machen.

Er gestattete sich einen Anflug von Verärgerung.

Kaum etwas hatte er mehr befürchtet, als dass heute jemand in sein Büro spazieren und ihm eine solche Geschichte auftischen würde. Nicht, dass er sie jemand anderem erzählt wissen wollte. Ihm war klar, dass niemand damit zu Winrich Granitzka lief, der als leitender Polizeidirektor Kölns in diesen Tagen über zwölftausend Beamte gebot und die Hauptverantwortung für den reibungslosen Ablauf des Doppelgipfels trug. Lavallier hielt die operative Leitung des Geschehens auf dem Airport in Händen. Es war schon gut und richtig, dass sie zu ihm kamen.

Es war nur nicht gut, dass sie überhaupt kamen.

Genauer gesagt war es eine Anmaßung des Schicksals. Der Schutzpatron der Polizei hatte ihn nicht mehr lieb. Er fragte sich, ob ihn eine göttliche Dienststelle strafen wollte für den kurzen Anflug von Selbstsicherheit, der ihn beim Frühstück überkommen hatte. Na und? War es denn so unanständig, sich zu freuen, dass die Landungen der EU-Delegierten Anfang Juni ohne Zwischenfälle über die Bühne gegangen waren? So viele! In so kurzer Zeit. Sie waren in ihren zweistrahligen Jets hereingesegelt wie die Brieftauben, Viktor Klima, Antonio Guterres, Tony Blair, elf Maschinen am Stück. Elf adrenalingesättigte Momente. Elfmal hoffen, dass nicht irgendein Verrückter doch noch etwas tat, womit niemand gerechnet hatte, obwohl das BKA schlichtweg mit allem rechnete, sogar mit dem Einsatz von Giftgasen und Marschflugkörpern. Zwar waren die Teilnehmer des EU-Gipfels nur unter Sicherheitsstufe zwei gefallen – Anschlag nicht auszuschließen – und einige nicht mal das. Aber die

Klassifizierung erwies sich als Makulatur. Welche Sicherheitsstufe hatte für Olof Palme gegolten? Für Anwar el Sadat? Was hätte vermuten lassen, dass jemand mit dem Messer auf Oskar Lafontaine losgehen oder Wolfgang Schäuble in den Rücken schießen würde?

Wer immer in den letzten Tagen seinem Flieger entstiegen und über den flaggengesäumten roten Teppich gegangen war – oder daran vorbei wie der griechische Premier Simitis –, musste den Eindruck eines freundlichen, nahezu gelassenen Willkommens gewonnen haben, ohne sich ernsthafte Gedanken um sein Leben machen zu müssen. Geschenkt, dass Lavalliers Leute im Vorfeld Stunden und Tage mit den ausländischen Delegationen zusammengehockt und Sonderwünsche berücksichtigt hatten, um schließlich einen mit Scharfschützen gespickten Flughafen in die diplomatische Feuertaufe für den Supergipfel zu entlassen. Fast schon routiniert hatten sie wenige Tage später die Außenminister begrüßt, ohne auch nur den Bruchteil einer Sekunde in ihrer Wachsamkeit nachzulassen. Im Dutzend verlor die Starparade schnell an Glanz. Angesichts des stinknormalen Habitus, den manch politische Prominenz – auf Fleisch und Blut reduziert – an den Tag legte, fühlte man sich im entscheidenden Moment ohnehin eher an den Besuch der alten Tante erinnert. Madeleine Albright, wie üblich unbeeindruckt von jeglichem Pomp, hatte ausgesehen, wie sie immer aussah. Beschäftigt. Sie war in gewohnter Unbeholfenheit die wenigen Stufen heruntergegangen, und Lavallier hatte sich gefragt, ob jemand ihres Kalibers jemals Furcht empfand bei der Landung auf einem fremden Airport, beim Ausrollen der Maschine, beim Abschreiten der Ehrenformation. Der Landeanflug und der kurze Weg vom Flieger zur Limousine waren die kritischsten Momente. Der Alptraum eines jeden Scharfschützen. Der potentielle Tod eines jeden Prominenten.

Hatte Albright Angst?

Nein, hat sie nicht, hatte ihm Major Tom erzählt, wie sie Major

Thomas Nader, den Assistant Air Attache und Sicherheitsbeauftragten des USDAO scherzhaft nannten. USDAO war die Abkürzung für »United States Defense Attache Office«. In diesen Tagen pendelte Nader zwischen der amerikanischen Botschaft und dem Airport ständig hin und her. Er war damit betraut, die Landung des Präsidenten vorzuplanen und den Wunschzettel der Amerikaner in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt und den Repräsentanten des Flughafens bis ins kleinste Detail und möglichst ohne Kompromisse durchzusetzen. Wenn jemand die Befindlichkeit der US- Regierungsvertreter kannte, dann war er es.

Würde Albright jedes Mal Furcht empfinden, hatte Nader gesagt, könnte sie den Job nicht machen. So einfach. Die Amerikaner waren da ziemlich prosaisch. Außenministerin zu sein und in Deutschland einem Flieger zu entsteigen ist etwa so, als ob du, Lavallier, zu deiner Dienststelle fährst und das Auto nimmst. Erstens bist du Polizist und damit höheren Risiken ausgesetzt als die Kassiererin im Supermarkt. Zweitens ist die Gefahr, im Autoverkehr sein Leben zu verlieren, immens höher als in einem Flugzeug. Über nichts davon denkst du nach, weil du sonst verrückt würdest und dein Haus nicht mehr verlassen dürftest. Der Würstchenverkäufer lebt in seiner Welt nicht weniger gefährlich als ein Löwenbändiger in seiner. Die menschliche Seele verfügt über ausgezeichnete Schutzmechanismen. Amerikanische GIs in Vietnam, die durch eine feindliche Dschungelhölle voller Heckenschützen gestolpert waren, hatten sich im Moment der Strapazen weit ernstere Gedanken um die Blasen an ihren Füßen gemacht als darum, im nächsten Moment von einem Projektil zerrissen zu werden. Madeleine Albright begab sich nicht als ältere Frau oder Bürgerin der Vereinigten Staaten in risikoreiche Situationen, sondern ausschließlich in ihrer Funktion als Außenministerin Amerikas. Sie dachte so, handelte so, empfand so. Ihre Angst vor einem Anschlag war nicht größer als die Angst des Imkers, gestochen zu werden, sie tendierte gegen null. Angst hatten nur die, die für ihre Sicherheit sorgen mussten.

Es entsprach amerikanischer Denkart, die Dinge so zu sehen. Schon darum mochte Lavallier die Zusammenarbeit mit dem Secret Service, weil sie auf reinem Pragmatismus gründete. Außerdem waren die Amerikaner nett, zumindest die am Flughafen – aus der Stadt hörte man eher, der Secret Service raube dem BKA den letzten Nerv. Aber das war nicht sein Problem. Lavallier liebte die Hemdsärmeligkeit der US-Agenten. Er liebte auch die Russen, die das Sicherheitsbedürfnis ihres Präsidenten etwas gemächlicher zur Kenntnis nahmen und noch netter waren als die Amerikaner. Bis zu dieser Stunde, da der alkoholisierte Schriftsteller und die völlig verkaterte Frau hier aufgetaucht waren, hatte er überhaupt alles an diesem Gipfel geliebt. Es schien eine Geschichte persönlicher Erfolge zu werden.

Oder persönlicher Probleme. Neuerdings.

Am liebsten hätte er sie rausgeworfen. Gar nichts geht hier schief, wollte er sagen. In Köln nicht und am Airport schon gar nicht. Ihr habt kein Recht, mir die Zeit zu stehlen. Die einzige wirkliche Schrecksekunde zwischen dem zweiten und fünften Juni hatten wir dem Kühler eines Opel Kadett zu verdanken, der ausgerechnet vor dem Ramada-Renaissance in die Luft flog, als die Staats- und Regierungschefs dort tagten. Es hat einen Knall gegeben, womit wir statistisch, was das Aufkommen von Zwischenfällen angeht, aus dem Schneider sind. Eure Geschichte kann nicht stimmen. Legt euch wieder ins Bett und schlaft euren Rausch aus.

Stattdessen hörte er aufmerksam zu, während seine Rechte den Stummel eines Bleistifts im Rhythmus seiner Herzschläge auf die Schreibtischplatte stieß. Schließlich sagte keiner mehr etwas. O’Connor schaute aus dem Fenster. Wagner versuchte ihn anzusehen, hatte aber deutliche Probleme, etwas anderes anzustarren als ihre Füße.

Lavallier räusperte sich.

»Schön. Ich fasse zusammen, nur um zu sehen, ob ich alles richtig verstanden habe. Der Flughafentechniker Ryan O’Dea heißt in Wirklichkeit Patrick Clohessy und ist – oder war – Aktivist der Irisch Republikanischen Armee. Franz Maria Kuhn wiederum ist verschwunden und möglicherweise entführt worden, weil Sie einen Hilferuf von ihm erhalten haben. Sie selbst haben zweieinhalb Stunden später mit ihm telefoniert, und er klang komisch. Außerdem leuchtete Ihnen nicht ein, was die plötzliche Verschickung nach Düsseldorf und Essen sollte. Darüber hinaus haben Sie Clohessy letzte Nacht aufsuchen wollen, was Sie aber nicht taten.«

»Falsch«, sagte O’Connor. »Er war nicht da.«

»Ich darf meinerseits korrigieren«, gab Lavallier zurück. »Sie gelangten zu dem Eindruck, er sei nicht da. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick.«

Er griff zum Hörer und wählte die Nummer der Flughafensicherheit.

»Ryan O’Dea«, sagte er. »Techniker Fassadenbau und Elektrik. Ihr müsstet ihn schnell mal herschaffen, möglichst mit Turbo. Außerdem hätte ich gern ein Treffen mit dem Leiter Sicherheit und dem technischen Leiter. Sagen wir um 10.15 Uhr. Wir treffen uns in der Verwaltung, dritter Stock, kleines Konfi.« Er überlegte eine Sekunde. »Noch was. Ich hätte gern O‘Deas direkten Vorgesetzten mit am Tisch. Egal, was er gerade zu tun hat.«

Danach berief er noch den Stellvertretenden Personalchef zu dem Treffen ein. Niemand versuchte, mit ihm darüber zu diskutieren. Lavallier wusste, dass jeder von ihnen außerordentlich beschäftigt war. Sie wiederum wussten, dass Lavallier eine solche Konferenz nicht ohne Grund anordnete. Kurz überlegte er, den kaufmännischen und den technischen Direktor zu informieren. Dann entschied er sich dagegen. Es war verfrüht. Er musste jedem Hinweis nachgehen, aber von einer Krise zu sprechen, hätte im Augenblick zu viel Staub aufgewirbelt, und die Geschäftsleitung über Probleme in Kenntnis zu setzen, trug die Krise in sich.

Unterdessen war O’Connor zu der Frau getreten. Sie lehnte ihren Kopf gegen ihn und schloss die Augen. Alles in allem sah sie aus, als falle sie in der nächsten Minute vom Stuhl und in Tiefschlaf, in der einen oder anderen Reihenfolge.

»Frau Wagner.«

Sie öffnete die Augen einige Millimeter weit.

»Haben Sie heute Morgen mit der Rezeption gesprochen?«, fragte Lavallier. »Vielleicht hat ihn da letzte Nacht jemand gesehen.«

Wagner schüttelte stumm den Kopf.

»Was heißt das nun? Gesehen oder nicht gesehen?«

»Die haben keine Ahnung.«

»Waren Sie mal in seinem Zimmer?«

Wagner straffte sich.

»Ja. Vorhin«, sagte sie mit etwas festerer Stimme. »Das Bett ist unberührt.«

»Das muss nichts heißen«, meinte Lavallier. »Er kann früh aufgestanden sein. Die Zimmermädchen können es gemacht haben.«

»Haben sie aber nicht. Er war nicht in diesem Zimmer! Die ganze Nacht nicht. Und auf dem Handy ist er auch nicht zu erreichen. Er ist ganz einfach verschwunden.«

»Läuft seine Mailbox?«

»Ich habe zweimal draufgesprochen«, sagte Wagner hilflos. »Was hätte ich sonst tun können? Gestern Nacht hat er noch gesagt, er sei den ganzen Tag über erreichbar.«

»Und sein Wagen?«

»Was ist mit seinem Wagen?«

»Haben Sie nachgesehen, ob er noch da ist?«

»Monsieur Lavallier…« O‘Connor lächelte entschuldigend. »Ich darf Sie doch Monsieur nennen?«

»Hauptkommissar tut’s auch.«

»Verzeihung. Wir laufen seit etwa einer Stunde auf Beinen herum, die weniger als eine halbe Nacht gelegen haben und außerdem zwei dicke Köpfe tragen müssen. Ich bin versucht zu sagen, wir stehen unter Schock. Selbstverständlich haben wir an der Rezeption nachgefragt, in sein Zimmer gesehen und dann beschlossen, unserem Besuch bei Ihnen Vorrang vor der Inspektion des Parkhauses einzuräumen. Ich bin etwas verblüfft. Mir war nicht bekannt, dass man hierzulande erst Kriminologie studieren muss, bevor man auf ein Revier geht und einen Verdacht äußert.«

»Mir auch nicht«, sagte Lavallier kühl. »Wissen Sie übrigens, wo der Wagen steht? Auch ohne Studium.«

»In der Tiefgarage des Maritim«, sagte Wagner schnell, bevor O’Connor etwas erwidern konnte.

»Wagentyp?«

»Ente. Ich meine, ein…«

»Schon okay.« Lavallier lächelte sie freundlich an. »Das Kennzeichen haben Sie nicht zufällig in Griffweite?«

»Es ist die schäbigste Ente auf Gottes weiter Erde«, sagte O’Connor. »So ziemlich jedes Glaubensbekenntnis der Achtundsechziger lässt ahnen, dass der Wagen unter all den Aufklebern grün ist, und zwar die richtig grüne Version von Grün, wenn Sie verstehen, was ich meine. So, dass es wehtut beim Hingucken. Ich schätze, das Kennzeichen verrät Ihnen das Hotel.«

Lavallier verzog die Mundwinkel.

Er wählte die Nummer des PPK, des Polizeipräsidiums Köln, und ließ sich mit Hauptkommissar Peter Bär verbinden. Lavalliers Domäne war der Flughafen. Dieser Fall würde, wie es aussah, außerdem die Kölner Kripo beschäftigen. Er bat Bär, im Maritim nach dem Wagen zu forschen und den Barmann von letzter Nacht aus dem Bett zu holen. Dann schlug er ihm vor, mit seinem Team raus zum Flughafen zu kommen, um die Ermittlungen dort weiterzuführen. Sie hatten hier ebenso Zugriff auf die Datenbänke wie im Hauptquartier, und es würde die Zusammenarbeit erleichtern.

Er hatte kaum aufgelegt, als der Anruf von der Sicherheit kam. Lavallier hörte eine Minute schweigend zu und richtete seinen Blick dann auf O’Connor.

»Ich hoffe, der Schock hindert Sie nicht daran, sich später ein paar Bilder anzusehen. Mehr haben wir leider nicht aufzubieten. Ryan O’Dea ist heute Morgen nicht erschienen.«

O’Connor starrte ihn an.

»Er ist auch telefonisch nicht erreichbar«, fügte Lavallier hinzu.

»Das kann doch alles nicht wahr sein«, flüsterte Wagner.

Lavallier lehnte sich zurück.

»Ist es aber.« Er machte eine Pause. »Also gut, damit Sie im Bilde sind, ich werde Europol und notfalls Interpol mit einbeziehen. Von Ihnen brauche ich alle verfügbaren Informationen über Clohessy, sodann über Kuhn. Natürlich auch Ihre Personalien. Noch was. Ich muss Sie bitten, uns fürs Erste zur Verfügung zu stehen. Das kann heißen, für die nächsten Stunden oder Tage.«

Wagner sah unglücklich drein.

»Es tut mir leid«, fügte er hinzu.

O’Connor blinzelte. Erstmals erkannte Lavallier, dass der Ire hinter seiner kontrollierten Fassade bemüht war, die Allgewalt über seine Sinne nicht zu verlieren. Dann sagte er:

»Wie ernst nehmen Sie die Sache eigentlich, wenn ich fragen darf?«

»Ernst.«

»Mhm.«

»Wir würden sie sogar ernst nehmen, wenn es keinen Kölner Gipfel gäbe. Genügt Ihnen das?«

O’Connor wirkte unentschlossen. Dann zog er einen Stuhl heran und nahm Lavallier gegenüber Platz.

»Ich kenne Paddy Clohessy«, sagte er eindringlich. »Ich meine, wir hatten seit dem Trinity keinen Kontakt mehr miteinander, aber Menschen ändern sich nicht. Was sich ändert, ist nur die Art, wie andere sie sehen. Missverstehen Sie es nicht als Einmischung oder Arroganz, aber mir scheinen mehr unbekannte Größen in dem Spiel zu sein als Paddy.«

»Was meinen Sie damit?«

»Ich meine, dass es nicht seiner Art entspricht, eine größere Sache im Alleingang durchzuziehen.« O’Connor zuckte die Achseln. »Paddy ist immer in irgendwelchen teils lächerlichen Idealen aufgegangen. Er braucht eine Idee, an die er sich hängen kann, vor allem aber jemanden, der diese Idee vertritt.«

»An welche größere Sache hatten Sie denn gedacht?«

O’Connor hob die Brauen, als sei das eine äußerst dumme Frage. »Ein Attentat natürlich. Was denn wohl sonst? Ein Anschlag auf diesen Flughafen oder jemanden, der hier landen wird. Ist das so schwer zu kapieren?«

Lavallier betrachtete ihn nachdenklich. Er wählte ein weiteres Mal Bärs Nummer und bat ihn, jemanden zu O’Deas Wohnung zu schicken mit der Option, sich nötigenfalls gewaltsam Eintritt zu verschaffen. Dann legte er die Fingerspitzen aufeinander und atmete tief durch.

»Mr. O’Connor – ich darf Sie doch Mister nennen? –, ich muss Ihnen vielleicht etwas über die Problematik der Innentäter erzählen.« Er sah, dass ein Zucken über O‘Connors Züge ging. »Flughäfen sind Hochsicherheitszonen, unabhängig davon, ob in Köln Gipfel ist oder nicht. Wir tun alles Erdenkliche, um jeden Vorfall auszuschließen. Wir haben Szenarien entwickelt, die jenseits Ihrer Vorstellungskraft liegen. Alles, damit Jelzins einziges Problem bleibt, nicht aus dem Jet zu fallen. Aber auch, damit Leute wie Sie nicht befürchten müssen, vergast, erschossen, verbrannt oder in die Luft gesprengt zu werden – hab ich was vergessen?«

»Ertränkt.«

»Ich schätze, das machen wir ganz gut«, fuhr Lavallier ungerührt fort. »Nur eines bereitet uns wirklich Kopfschmerzen. Dass jemand Geld nehmen könnte. Verstehen Sie? Bestechung. Oder plötzlich einen Rappel kriegt. Dass irgendeiner der über tausend Mitarbeiter dieses Flughafens einen Grund findet, zum Verräter zu werden. Der leiseste Verdacht auf Innentäter lässt bei uns die Alarmglocken schrillen. Gegenüber der Hauptlandebahn ist ein Wäldchen. Wir können gewährleisten, dass sich niemand unterm Zaun durchbuddelt und drei Wochen lang dort eingräbt, um heute Abend mit der Panzerfaust herauszuschießen. Aber wir können nicht in Köpfe gucken. Das ist unser Problem. Wir konnten nicht in Ryan O’Deas Kopf gucken, und in weniger als zehn Stunden landet hier der Präsident der Vereinigten Staaten.« Lavallier ließ die Worte einen Augenblick lang wirken und beugte sich angriffslustig vor. »Was also glauben Sie, tue ich hier? Woran denke ich gerade? Welche Befürchtungen könnte ich haben?«

O’Connor sah stirnrunzelnd zurück.

»Sie haben Recht, ich war unsachlich und beleidigend. Macht nichts. Schwamm drüber.«

Lavallier starrte ihn an.

»Sie–«

»Warten Sie.« Wagner rieb sich die Augen und legte einen Zettel vor ihn auf den Tisch. »Das ist die Nachricht. Ich habe sie abgeschrieben.«

Lavallier setzte erneut zum Reden an, besann sich eines Besseren und studierte den Text.

HILF – PADYS WONUN – DERJAK – DERIJAG? SCHIESST – HABEN PROBLEM – PIEZA DATSPIGLEN – OBJEKT V –

»Ich vermute, was sich wie Schreibfehler ausnimmt, ist exakt, was Kuhn eingegeben hat, richtig?«

Wagner nickte.

»Wir haben im Taxi versucht, einen Sinn hineinzubringen.« Ihr Finger wies nacheinander auf die Wörter. »Bis hierhin würde ich sagen, er war in Paddys Wohnung und ist dort in Gefahr geraten. Wahrscheinlich hat er vorher versucht, mich anzurufen.«

»Wo hatten Sie denn Ihr Handy?«

»Auf dem Rücksitz meines Wagens.«

»Und wo waren Sie, als er versuchte, Sie zu erreichen?«

Sie legte den Kopf schief und krauste die Nase. Zwischen ihren Brauen entstand eine kleine Falte. Die Frage schien sie an Komplexität zu überfordern.

»Wir haben die Dunkelheit studiert«, sagte sie langsam.

»Die Dunkelheit. Zweieinhalb Stunden lang?«

»Ja. Haben Sie das noch nie?«

»Doch. Es ist mein Beruf. Ihre Antwort zum Beispiel war sehr dunkel. Ich muss Sie schon bitten, konkreter zu werden.«

»Wir waren spazieren«, sagte O’Connor in einem Ton, als falle der Vorhang. »Im Volksgarten.«

»Nachts um drei.«

»Ja.«

Lavallier nickte. Er hatte das Gefühl, die Art des Spaziergangs zu kennen.

»Derjak.«, las er weiter. »Derijag schießt.«

»Ab da wird’s kryptisch.«

Er runzelte die Stirn. »Nicht unbedingt. Zumindest verrät uns der Umstand der zweifachen Schreibweise und des Fragezeichens, dass er jemanden belauscht hat.«

O’Connor schwieg. In seinen Augen blitzte so etwas wie Anerkennung auf. So lief das also mit ihm.

»Er war sich nicht sicher, wie er den Namen schreiben soll«, sagte Lavallier weiter. »Jemand schießt, und er klingt wie Derjak. Zumindest das Wahrscheinlichste. Mal sehen, was kommt dann? Haben Problem. – Haben Problem… Auch so eine Geschichte, die zwei Deutungen zulässt. Wer hat das Problem? Kuhn?«

»Er kann ebenso gut uns alle gemeint haben. Soll heißen, wir haben ein Problem. Er, Kika und ich. Sie meinetwegen auch. Alle in Köln. Die Menschheit, was weiß ich. Houston, wir haben ein Problem.«

Lavallier kratzte sich das Kinn.

»Es gibt noch eine Möglichkeit«, sagte er. »Die Leute, denen er zugehört hat, haben das Problem. – Was dann kommt, verstehe ich allerdings überhaupt nicht mehr.«

»Pieza Datspiglen?« O‘Connor stützte das Kinn in die Hände. »Leider konnte ich gewisse Hirnfunktionen heute Morgen noch nicht aktivieren. Irgendetwas sagt es mir.«

»Es sagt dir was?«, echote Wagner erstaunt.

»Ich bin nicht sicher.« O’Connor schüttelte den Kopf. »Einmal denke ich, es liegt klar vor mir. Dann wiederum ist es nur Kauderwelsch. Was halten Sie übrigens von dem letzten Wort? Es kommt mir ziemlich eindeutig vor.«

»Objektiv«, murmelte Lavallier.

Ein Zielobjektiv, dachte er. Derjak schießt, und er schießt mit einer Präzisionswaffe. Er schaut durch ein Zielobjektiv. Ein Spiegelobjektiv? Spiglen. Ein verspiegeltes Objektiv?

Einen Moment lang kam ihm der Verdacht, das Ganze sei eine Aktion seiner Kollegen, um ihn am Tag von Clintons Landung hochzunehmen. Möglich auch, dass seine beiden Gegenüber sich plötzlich als Paola und Kurt Felix entpuppten. Eine grauenvolle Vorstellung und gleichzeitig ein Gedanke zum Herbeisehnen. Er fixierte aus den Augenwinkeln Wagner, während er zugleich auf den Zettel starrte, aber sie wirkte zu derangiert für einen Scherz.

»Sie sind ganz sicher, dass Sie das an irgendwas erinnert?«, fragte er O’Connor.

Der Schriftsteller nickte.

»Gut.« Lavallier seufzte. »Ich hoffe, Ihnen ist klar, dass Sie damit gerade zur wichtigsten Person in diesem Raum geworden sind.«

»Was heißt ›gerade‹?«, fragte O’Connor in offensichtlichem Erstaunen.

Lavallier kaute auf seiner Unterlippe.

»Warten Sie einen Moment«, sagte er schließlich. »Ich bin gleich wieder da. Nicht weglaufen.«

Er ging hinaus in den Flur. Beamte des mobilen Personenschutzes kamen ihm entgegen, einige in voller Montur mit kugelsicherer Weste. Sie gehörten der Spezialabteilung Polizeisonderdienste an und hatten die Aufgabe, das Umfeld hochrangiger Politiker und deren Wagenkolonnen zu sichern. Weiter hinten stand eine Kommissarin im Gespräch mit einem Agenten des Secret Service. Das flache Gebäude der Hauptpolizeiwache des Flughafens war in diesen Tagen der reinste Bienenstock. Lavallier schaute im Vorbeigehen in die offen stehenden Räume, bis er ein leeres Büro fand, zog die Tür hinter sich zu und ließ sich auf den abgewetzten Ledersessel hinter dem Schreibtisch fallen.

Er wählte Bärs Handynummer.

»Du hast heute große Sehnsucht nach mir«, meldete sich Bär. »Kann das sein?«

»Wo bist du?«

»Unterwegs. Ich und zwei Mann. In einer Viertelstunde sind wir bei euch. Lass Kaffee kochen. Große Mengen!«

»Peter«, sagte Lavallier. »Wir müssen mal reden über die beiden Vögel in meinem Zimmer.«

»Die Fahndung läuft. Hexen kann ich auch nicht.«

»Ich weiß.«

»Na schön. Also, um Clohessy kümmert sich Europol. Wir stehen in Kontakt mit Dublin und haben einen Wagen in die Rolandstraße geschickt. Sie müssten sich gleich melden. An der Überprüfung O’Deas sitzen die Jungs im PPK. Zufrieden?«

»Nein. Aber egal. Gib noch eine Fahndung heraus.«

»Nach wem?«

»Wenn ich das wüsste. Vielleicht werdet ihr in den Dateien des BKA fündig, vielleicht bei der CIA, aber erzählt denen nicht, warum wir die Information brauchen. Sag ihnen, es hat andere Gründe.«

»CIA? Du lieber Himmel, was ist los?«

»Wir suchen einen Killer, schätze ich. Wenn er überhaupt existiert. Egal. Findet einfach heraus, ob irgendwo auf der Welt ein Attentäter oder Terrorist in den Akten auftaucht, dessen Vor- oder Nachname oder meinetwegen Deckname Derjak ist. Weiblich, männlich, keine Ahnung.«

»Einfach. Das sollen wir einfach herausfinden?«

Lavallier zuckte die Achseln.

»Ich hab nicht mehr für dich. Ich weiß nicht mal, ob er wirklich so heißt. Kann auch Derijak sein. Mit G oder K hinten.« Er zögerte. »Sag mal, dieser Dr. Liam O’Connor – hast du mal was von ihm gelesen? Seine Bücher liegen neuerdings überall herum.«

»Er ist eigentlich gar kein Schriftsteller«, sagte Bär. »In der Zeitung stand, er sei Physiker. Er wird als ziemlich sicherer Kandidat für den Nobelpreis gehandelt.«

Auch das noch.

»Macht er Zicken? Oder die Frau?«

»Nicht direkt«, brummte Lavallier. »Sie riechen, als hätten sie die Nacht in einer Schnapsfabrik verbracht. Die Frau kann kaum geradeaus gucken, und O’Connor ist entweder albern oder unverschämt.«

Er überlegte. »Alles an der Geschichte, die sie erzählen, klingt wie aus dem Kino. Nur dass O’Dea tatsächlich verschwunden ist. Im Augenblick habe ich keine andere Wahl, als sie ernst zu nehmen.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Bär. »In der Zeitung stand übrigens noch was.«

»Was?«

»O’Connor hat letztes Jahr einen physikalischen Kongress platzen lassen. Er hat behauptet, einen Anruf erhalten zu haben, wonach im Gebäude eine Bombe versteckt sei.«

»Warum denn das?«

»Er wollte einfach mal sehen, wie dreihundert Wissenschaftler einander über den Haufen rennen. Er schreibt auch merkwürdige Briefe an Politiker, in denen er sich als Multimilliardär ausgibt und behauptet, denen seine Reichtümer vermachen zu wollen, wenn sie in ihre nächste öffentliche Rede bestimmte Wörter einflechten.«

»Im Ernst? Du lieber Gott! Stand da auch, was für Wörter?«

»Einen hat er dazu bekommen, die Haushaltsdebatte mit – lass mich nachdenken – Latexmaske und Pantoffeltierchen zu bereichern. Er verarscht gern Leute.«

»Ja«, sagte Lavallier düster. »So kommt er mir vor.«

»Vielleicht verarscht er ja auch dich. Vielleicht hat O’Connor diesen O’Dea oder Clohessy umgebracht und Kuhn gleich mit. Jetzt erzählen sie dir irgendeinen Käse.«

»Unsinn.«

Bär lachte. Lavalliers Laune strebte dem Nullpunkt entgegen.

»D-E-R und dann irgendwas mit Jak«, sagte er. »Klingt in meinen Ohren irgendwie slawisch oder russisch. Vielleicht solltest du dein Augenmerk auf die Länder des Ostens lenken. Speziell die Serben haben in den letzten Wochen ein besonders liebevolles Verhältnis zu uns entwickelt. Oder besser gesagt, wir zu ihnen. Der nächste interessante Kandidat wäre dann die IRA. Ihr macht das schon.«

Er legte auf und ging zurück zu seinem Büro. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es wenige Minuten vor zehn war.

Was, wenn Bär Recht hat?

Der Tag hatte so wunderbar begonnen. Am Horizont seiner Hoffnungen hatte sich in strahlendem Glanz die Aussicht gezeigt, Bill Clinton die Hand zu schütteln. Nicht, dass Lavallier wirklich scharf darauf war. Aber Clinton die Hand zu schütteln, hieß, einen gut gelaunten Präsidenten vor sich zu haben, dem nichts fehlte. Das Leben zum Beispiel.

Jetzt war es anders.

Gut. Dann war es eben so.

Achselzuckend ging er hinein zu seinem ungeliebten Besuch.

WAGNER

»Lavallier! Was tut ein Techniker?«

O’Connor hatte die Frage abgeschossen, kaum dass Lavallier wieder den Raum betrat. Der Hauptkommissar ging zu seinem Schreibtisch.

»Das fragen Sie doch nicht ernsthaft«, sagte er.

»Wieso?«

»Ich hörte, Sie sind für den Nobelpreis nominiert worden.«

»Ich bin fürs Nachdenken nominiert worden, und nichts anderes tue ich in diesem Augenblick.«

Wagner unterdrückte ein Gähnen und hoffte, dass Liam endlich nüchtern wurde. Es war kaum zu überhören, dass er versuchte, den Polizisten an die Wand zu spielen. Mittlerweile war ihr klar, dass es nichts mit Lavallier zu tun hatte. Es war seine Natur, Ärger zu provozieren. Er konnte und wollte es nicht anders haben.

Warum bloß, fragte sie sich. Warum kann er nicht gut aussehend, charmant, intelligent und liebenswürdig sein?

»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, Dr. O’Connor?«, fragte Lavallier freundlich.

»Paddy ist Techniker des Flughafens, Monsieur… Ich bitte um Entschuldigung, Hauptkommissar. Monsieur le Commissaire! Oder er war es bis heute. Ich dachte gerade, man müsste doch herausbekommen, an welchen Einsätzen er beteiligt war.«

Lavallier sah auf seinen Schreibtisch und ordnete einen Packen loser Blätter.

»Es freut mich, dass Sie meine Arbeit machen«, sagte er. »Möchten Sie sich auch um die anderen Dinge kümmern, die ich heute noch zu tun habe? Um elf Uhr landet eine russische Materialmaschine, gegen halb fünf kommt eine Delegation der Kanadier hier an. Zwischendurch bereiten wir die Landung der amerikanischen Pressemaschine und der Air Force One vor. Ach ja, ein paar Japaner gibt es auch noch in Empfang zu nehmen. Sushi für die Nerven. Die Söhne Nippons sind lieb, aber furchtbar anstrengend. Was meinen Sie? Lust, meinen Job zu übernehmen?«

O’Connor brummte etwas in sich hinein. Lavallier sah auf.

»Hören Sie mal, O’Connor, wenn Sie wirklich helfen wollen, denken Sie über diese SMS nach.«

»Das tue ich die ganze Zeit.«

»Und? Immer noch überzeugt, sie sagt Ihnen was?«

O’Connor breitete die Hände aus.

»Es ist etwas so Naheliegendes, dass ich es offenbar übersehe. Kennen Sie die Geschichte von Poe, in der jemand einen Brief sucht? Das Ding steckt die ganze Zeit über in einem Postkartenhalter direkt vor seiner Nase, aber er zieht es vor, unterm Sofa nachzusehen und die Schrankwand abzuräumen.«

»Verstehe.« Der Anflug eines Grinsens huschte um Lavalliers Mundwinkel. Dann wurde er wieder ernst. Sein Blick wanderte zu

Wagner.

»Als Sie mit Kuhn telefonierten letzte Nacht, war er also komisch.«

Sie nickte.

»Was genau war komisch? Seine Art?«

»Es war nicht Kuhn, wie ich ihn kenne. Er wirkte bedrückt.«

»Bedrückt«, sagte Lavallier langsam. »War er nur komisch, oder hat er auch was Komisches gesagt?«

In Wagners Kopf wuchteten sich zwei lethargische Beamte aus ihren Stühlen und schlurften zu einem großen Tor. Unter Mühen stemmten sie es auf. Davor wartete Lavalliers Frage, um ins Großhirn zu gelangen.

Sie überlegte. Hatte Kuhn etwas Komisches gesagt?

Eine Ahnung dämmerte in ihr hoch.

Worüber hatte sie sich noch gewundert letzte Nacht? Über den Umstand seiner plötzlichen Verlagsreise? Auch. Aber da war noch mehr.

»Ich erinnere mich nicht genau«, sagte sie.

Lavallier nickte.

»Ich mache Ihnen beiden einen Vorschlag«, sagte er. »In wenigen Minuten findet drüben die außerplanmäßige Sitzung statt. Ich lasse Sie so lange allein. Sie können im Holiday Inn frühstücken, es ist nur wenige Schritte von hier hinter dem Verwaltungsgebäude. Ein paar Eier mit Speck täten Ihnen gut, wenn Sie mich fragen. Starker Kaffee. Vorher nimmt im Nebenzimmer eine freundliche Dame Ihre Personalien auf, da müssen Sie durch. Hinterlassen Sie mir die Nummer des Verlags, wir kriegen raus, ob die gestern wirklich mit Kuhn gesprochen haben. Entweder ich finde Sie beide später im Hotel oder wieder hier, okay? Lassen Sie sich Zeit. Denken Sie nach, während Sie frühstücken. Jedes Detail kann wichtig sein, auch wenn es Ihnen noch so unbedeutend vorkommt.« Er lächelte. »Den Spruch kennen

Sie mit Sicherheit schon aus dem Fernsehen.«

»Ein Bett wäre mir lieber«, stöhnte Wagner.

Dann fiel ihr ein, dass sie um halb fünf in der Redaktion des WDR erwartet wurde. Und anschließend bei RTL.

Auch das noch.

Andererseits, halb fünf war weit weg. Der WDR und RTL entglitten wieder in Vergessenheit.

»Eine Kleinigkeit noch«, sagte Lavallier im Hinausgehen. »Versuchen Sie Kuhn nicht weiter unter seiner Handynummer zu erreichen. Das machen wir ab jetzt. Alles klar?«

Wagner senkte zustimmend den Kopf.

O’Connor streichelte ihren Nacken. Er sagte ausnahmsweise nichts.

SPEDITION

Im Allgemeinen schnitten Entführer ihren Opfern die Ohren oder einen kleinen Finger ab und schickten sie den Angehörigen per Einschreiben zu. Das Entfernen von Körperteilen schien immer noch das probateste Mittel zu sein, Menschen von der Notwendigkeit größerer Geldausgaben zu überzeugen. Auf diese Weise waren Entführte wie Paul Getty jr. zwar freigekommen, aber gewissermaßen nicht ganz vollständig.

Als Kuhn sah, wie die Frau auf ihn zukam, mit der Linken einen Stuhl umklammert, fürchtete er mehr als den Tod die Möglichkeit, sie könne ihm mit einer blitzschnellen Bewegung irgendetwas abhacken, herunterschneiden oder ausstechen. Er presste sich gegen die Wand, vor der er seit Stunden saß, und versuchte, Abstand zu gewinnen. Die Lächerlichkeit des Vorhabens brachte ihm nichts ein als einen plötzlichen Schmerz im Handgelenk, als die Kette der Handschellen sich straffte und der stählerne Ring in sein Fleisch schnitt. Er stöhnte auf und schüttelte heftig den Kopf.

Sie blieb vor ihm stehen und sah auf ihn herunter.

»Besonders mutig scheinst du nicht zu sein«, sagte sie.

Kuhn zuckte zusammen. Wieder ein Indiz dafür, dass es dem Ende zuging. In der Nacht noch hatte sie ihn gesiezt und mit einer gewissen Höflichkeit behandelt. Zwar hatten sie und der Slawe ihm Löcher in den Bauch gefragt, ihn aber weder misshandelt noch angeschrien. Nach dem Telefonat mit Kika hatten sie ihm das Handy wieder abgenommen und es ausgeschaltet. Das war alles.

Schließlich hatte der Slawe die Halle verlassen, woraufhin die Frau in einem angrenzenden Raum verschwunden war. Kuhn schätzte, dass sie dort arbeitete oder ruhte. Für die Dauer der nächsten Stunden hatte er nichts von ihr gehört oder gesehen. Natürlich konnte es ebenso gut sein, dass sie ihn beobachtete. Im fahlen Schein der Neonleuchten hatte Kuhns Blick die Halle erwandert und dicht unter der Decke etwas von der Größe einer Kamera ausgemacht. Bei genauem Hinsehen mutete es eher wie ein kurzes Fernrohr oder Teleobjektiv mit einer transparenten Glasplatte an, die unmittelbar vor der Linse befestigt war. Er hatte keinerlei Vorstellung davon, wozu das Ding diente, und wollte es auch nicht wissen. Zutiefst deprimiert war er in sitzende Position gerutscht und hatte versucht, seine Angst mit Schlaf zu betäuben.

Zu mehr als einem nervösen Schlummer, durchsetzt von alptraumhaften Bildern, hatte es nicht gereicht. Danach fühlte er einen dumpfen Kopfschmerz und leichte Übelkeit. Er wusste, dass die Übelkeit von der Angst herrührte. Er wusste wie immer eine ganze Menge, nur nicht, wie man die Zeit zurückdrehen konnte bis zu der Stunde, da er an der Bar des Maritim gesessen und mit sich gerungen hatte, ob er zu Paddy Clohessy fahren oder doch lieber ins Bett gehen sollte.

Die Frau stellte den Stuhl verkehrt herum vor Kuhn hin.

Dann nahm sie darauf Platz, verschränkte die Arme über der Rückenlehne und musterte den Lektor. Erst jetzt fiel ihm auf, dass ihre dunklen Augen von eigenartiger Schönheit waren.

»Wie es aussieht, hat sich deine Lage nicht gerade verbessert«, sagte sie leise.

Kuhn bemerkte, dass sie etwas in der Hand hielt. Einen Moment lang schnürte sich ihm die Kehle zu, dann sah er, dass es keine Pistole und auch kein Folterwerkzeug war, sondern ein sehr kleines und flaches Handy.

Langsam ließ er die Luft entweichen.

»Ich habe Ihnen alles gesagt.« Es klang, als habe er monatelang kein Wort gesprochen. Die Frau sah ihn unverwandt an.

»Deine Freunde haben vor wenigen Minuten die Polizeiwache des Flughafens betreten«, sagte sie.

Die Nachricht, frohlockte Kuhn. Sie haben die SMS erhalten!

Oder waren sie nur wegen Paddy dort?

»Du magst denken, es wäre gut für dich, wenn sie die Polizei einschalten«, fuhr sie fort. »Gib dich keinen Illusionen hin. Das Gegenteil ist der Fall. – Aber ich denke, du kannst mir vielleicht verraten, was sie da tun.«

»Ich?« Seine Stimme klang zu schrill. Verdammter Narr! Sie musste annehmen, dass er ihr etwas verschwiegen hatte. »Wieso denn ich?«

»Gestern Nacht haben sie es noch vorgezogen, sich gemeinsam in die Büsche zu schlagen.«

Sie darf nichts von der SMS erfahren, dachte er. Sag ihr nichts davon! Sie würde dich augenblicklich töten.

»Also, was ist?«, forschte die Frau. »Gar keine Idee?«

»Sie wollten ohnehin zu Clohessy«, sagte Kuhn hastig. Ja, das war gut. Es stimmte sogar weitestgehend. »Entweder noch in der Nacht oder heute früh. Sie dachten, wenn sie ihn zu Hause nicht antreffen, dann wahrscheinlich am Flughafen.«

»Ja, aber warum suchen sie ihn bei der Polizei?«

»Vielleicht…« Kuhn stockte. Dann sagte er: »O‘Connor war der Ansicht, Paddy könne in etwas Größeres verwickelt sein. Er wollte im Grunde gestern schon zur Polizei. Andererseits wollte er Paddy eine Chance geben, weil sie alte Freunde sind.«

Die Frau stützte das Kinn in die Hände.

»O’Connor meint also tatsächlich, Paddys Anwesenheit am Flughafen könnte etwas mit dem Gipfel zu tun haben?«

Kuhn nickte. Dasselbe hatte sie ihn mindestens schon dreimal gefragt. Sie und der Slawe, immer abwechselnd.

Er fühlte, wie sich die Übelkeit breiig in seiner Kehle zusammenzog.

»Bitte…«

»Ja?«

»Lassen Sie mich leben. Ich werde alles tun, um Ihnen zu helfen, aber töten Sie mich nicht.« Erneut fühlte er, wie Tränen seine Augen füllten. Mühsam kämpfte er sie zurück, aber es gelang ihm nicht, das Zittern aus seiner Stimme herauszuhalten. »Ich… ich möchte nicht sterben, bitte. Ich habe Ihnen doch nichts getan.«

Die Frau hatte den Blick nach innen gerichtet.

Dann erhob sie sich und schüttelte langsam den Kopf.

»Wer sich unter die Oberfläche begibt, tut es auf eigene Gefahr. Das ist in der Liebe so und hier nicht anders. Falls es etwas gibt, das ich wissen sollte .«

Ohne ihn weiter anzusehen, ging sie durch die Halle davon.

LAVALLIER

Die Flughafenverwaltung beherbergte neben dem Personalwesen und der Leitung Technik auch die Geschäftsführung. Auf dem Weg zum Konferenzraum lief Lavallier Heinz Gombel über den Weg, dem kaufmännischen Direktor des Köln-Bonn Airport. Auch Gombels Alltag war geprägt vom Ausbau, der dem Flughafen zur Zeit eine eher wirre Verkehrssituation bescherte. Das gewaltige Vorhaben beschäftigte Heerscharen von Mitarbeitern, Technikern, Zulieferern und freien Spezialisten sowie das Marketing, dessen Sitz ebenfalls in der Verwaltung lag. Seit Anbeginn der Bauarbeiten im Vorjahr pendelte die Stimmung zwischen Euphorie und verhaltenem Optimismus. Mit hinein mischte sich neuerdings die Anspannung über den Gipfel, und Lavallier wünschte kurzzeitig, er könnte hinter der Fußleiste verschwinden, als er den Direktor erblickte. Er wollte ihn jetzt noch nicht informieren. Nicht, bevor er konkrete Ergebnisse vorzuweisen hatte.

»Na, Herr Lavallier.« Gombel kam auf ihn zu und gab ihm die Hand. »Was machen die Terroristen? Schon erste Anmeldungen?«

Er war ein freundlicher, jovialer Mann von korrektem Äußeren. Mit seinem Haarkranz und der Goldrandbrille hätte man ihn eher im Vorstand einer Bank vermutet. Lavallier lächelte und hoffte, dass man ihm nicht an der Nasenspitze ansah, wie alarmiert er war.

»Sie geben sich die Klinke in die Hand«, scherzte er zurück.

»Dann ist ja gut. Wohin gehen Sie?«

»Dritte Etage. Ich habe eine Sitzung mit der Technik und der SI einberufen«, sagte Lavallier.

Gombel, schon halb im Weitergehen, verharrte.

»Es ist doch nichts Ernstes? Wir können nichts Ernstes brauchen.«

»Im Augenblick brauche ich nur ein paar Informationen.«

»Hm. Na gut. Sie lassen mich wissen, wenn es Probleme gibt.«

»Wie immer.«

Gombel lächelte flüchtig und ging über den Lichthof in den gegenüberliegenden Gebäudetrakt. Lavallier sah ihm nach und hoffte, dass sich die Probleme bald erledigen würden. Irgendwie sah es nicht danach aus.

Er fuhr in den dritten Stock, betrat das Konferenzzimmer und nickte den Anwesenden kurz zu. Für dieses Zusammentreffen hatte er auf jegliche Formalitäten verzichtet. Es gab keine Agenda und, wie es aussah, auch keinen Kaffee. Pit Brauer, der Leiter der Abteilung Sicherheit, kurz SI, hatte sich bereits eingefunden, ein notorisch besorgter Mann mit gestutztem Vollbart und beginnender Glatze. Er wirkte nicht eben glücklich, aber das entsprach eher seinem gängigen Befinden als der besonderen Situation.

Für Lavallier war Brauer einer der wichtigsten Kontaktleute auf dem Gelände. Die Flughafensicherheit unterstand der Betreibergesellschaft und bildete somit neben der Polizei eine zweite Flanke in der Security. Nach Paragraph neunzehn des LVG waren die Flughafenbetreiber zu Eigensicherungsmaßnahmen verpflichtet, um die Gefahr eines Anschlags zu mindern. Seit einigen Jahren hatte die SI ihre Einsatzzentrale und sonstigen Räumlichkeiten im A-Bereich des alten Terminals und gebot dort über einen hoch technisierten Zauberkasten, der Kartensicherung, Kameratechnik und Funküberwachung mit einschloss. Fußstreifen und Einsatzfahrzeuge, die Tag und Nacht auf dem weit verzweigten Gelände patrouillierten, stellten sicher, dass sich niemand auf den Vorfeldern herumtrieb und dass jeder Mitarbeiter des Airports nur dort anzutreffen war, wo er auch hingehörte.

Ebenfalls im Raum war Heribert Fuchs, der Technische Leiter des Flughafens. Er war das komplette Gegenteil von Brauer, ein ewig gut gelaunter Praktiker von schlanker, durchtrainierter Statur. Seine Kohorten verteilten sich in den Kellern des Terminals und umfassten die vage Größenordnung von einigen hundert Mann nebst freien Technikern, die für Sonderaufgaben tageweise gebucht wurden.

Neben Fuchs saß ein weiterer Mann, den Lavallier nicht kannte. Er war untersetzt, hatte ein rotes Gesicht, kurzes, hellblondes Haar und einen Oberlippenbart. Lavallier schätzte ihn auf Anfang fünfzig.

»Ich darf Ihnen Martin Mahder vorstellen«, sagte Fuchs, nachdem sie kurze Begrüßungen ausgetauscht hatten.

»Freut mich.«

»Er ist Abteilungsleiter für Fassadenbau und Elektrik und O’Deas direkter Vorgesetzter.«

»Hallo«, sagte Mahder.

Lavallier zog einen der Stühle heran und nahm an der Kopfseite des Tisches Platz. Im selben Moment öffnete sich die Tür, und Fichtner, der Stellvertretende Personalchef, trat ein, klein, dick und fahrig, wie man ihn kannte, Schweiß auf der Stirn.

Sie waren vollzählig. Lavallier wartete, bis das allgemeine Begrüßungsgeplänkel verklungen war.

»Ich danke Ihnen, dass Sie alle so schnell Zeit gefunden haben.« Er sah sie der Reihe nach an. »Möglicherweise können wir die Sache in der nächsten Stunde schon ad acta legen, aber im Augenblick beschäftigen uns einige Hinweise, denen wir leider nachgehen müssen.«

»Was haben wir denn?«, witzelte Fuchs. »Außerirdische Signale?«

»Wir haben O’Dea«, sagte Fichtner. »Oder besser gesagt, wir haben ihn nicht mehr, wie man hört.«

»O’Dea?«

»Spannen Sie uns nicht auf die Folter, Eric«, sagte Brauer.

»Ich will versuchen, es kurz zu machen.« Lavallier erklärte in groben Zügen den Sachverhalt. Details ließ er aus. Nur so viel verriet er, dass sich Ryan O’Dea als doppelte Persönlichkeit herausgestellt hatte und seit gestern Abend verschwunden war und dass der Ire ferner im Verdacht stand, in einen Entführungsfall verwickelt zu sein. Auch die

SMS, die der ebenfalls verschwundene Lektor abgeschickt hatte, erwähnte Lavallier mit keinem Wort.

Dann sagte er, dass Konsequenzen für den Gipfel nicht auszuschließen seien.

Betretenes Schweigen.

»Es ist die augenblickliche Lage«, fügte Lavallier hinzu. »Ich kann natürlich keine Aussagen darüber treffen, ob O’Dea nicht doch wieder auftaucht. Für den Moment bleibt uns, sein Verschwinden zur Kenntnis zu nehmen und ihn zu suchen.« Er machte eine Pause. »Um ihn dann möglicherweise – nein, ganz sicher – zu verhaften.«

»Schöner Mist«, murmelte Brauer.

»Entführung.« Fuchs kratzte sich an der Stirn. »Muss das zwangsläufig was mit unseren Landungen zu tun haben?«

»Nein«, sagte Lavallier. »Aber es könnte.«

»Zum Kotzen«, schnaubte Brauer. »Wenn die Presse davon Wind bekommt, schreiben sie uns in Grund und Boden.«

»Wir müssen’s denen ja nicht sagen«, meinte Fichtner.

»Wieso? Wir sagen denen doch alles! Jeder Mist dringt an die Öffentlichkeit. Und was machen sie draus? Diskussionen übers Nachtflugverbot. Wir bauen den modernsten Flughafen Europas, aber sie stürzen sich lieber auf irgendeinen mümmelnden Rentner, dem unsere Baustelle nicht gefällt. Sie werden auch aus dieser Geschichte ein Tribunal machen.«

»Augenblick«, sagte Lavallier schnell. »Vorerst erzählen wir überhaupt niemandem was. Niemand hier im Raum tut das.«

»Klar.«

»Schon klar.«

»Wer soll O’Dea denn sein, wenn nicht er selbst?«, fragte Mahder. Er wirkte verwirrt.

Lavallier sah zu ihm herüber.

»Sagt Ihnen der Name Patrick Clohessy was?«

»Nein.«

»Wie es aussieht, ist das sein Name. Wir können es noch nicht mit Bestimmtheit sagen, aber O’Dea scheint er jedenfalls nicht zu heißen.«

Fichtner runzelte die Brauen. Er schlug eine mitgebrachte Kladde auf und blätterte darin herum.

»Sehen wir mal nach, wann der Kerl angefangen hat.«

»Das brauchen Sie nicht«, sagte Mahder. »Ich kann Ihnen sagen, wann das war. Er ist auf mein Betreiben hin eingestellt worden und hat seine Tätigkeit am 25. Januar dieses Jahres aufgenommen.«

»Ein halbes Jahr erst«, sinnierte Lavallier.

»Hier steht’s ja.« Fichtner stand auf und trat ans Fenster, die Akte in den Händen. »O’Dea, Ryan, geboren in Limerick, Irland. Techniker mit Schwerpunkt Elektrik und Nachrichtenwesen am Köln-Bonn Airport, zugeteilt Reparaturdienst Fassade und Einbau, dies und das, et cetera pp… Ausgebildeter Elektrotechniker, erster Job Shannon Airport. Warum stellen wir Iren ein? Haben wir in Deutschland keine guten Leute?«

»Sie haben ihn budgetiert und freigegeben«, sagte Mahder. »Von mir kam nur der Vorschlag.«

»Meinetwegen. Dann war er eine Zeit lang in England bei Rover, Halleninstandsetzung. Wechsel in die Schweiz, diverse Jobs in mittelständischen Unternehmen, zuletzt bei einer Technikerfirma in Bern. Danach selbständig in Hamburg. Tja.«

Fichtner drehte sich zu ihnen um, klappte die Akte zu und reichte sie Lavallier.

»Nur gute Zeugnisse. Seine Papiere sind in Ordnung. Aus Düsseldorf gab’s auch keine Ressentiments. Unspektakulärer Mensch, dieser O’Dea. Und der soll jemanden entführt haben?«

Lavallier schüttelte den Kopf.

»Vergessen Sie die Entführung. Wer hatte in letzter Zeit am meisten mit ihm zu tun?«

Mahder hob die Hand.

»Und?«, fragte Lavallier.

»Zuverlässig.« Der Abteilungsleiter sah hilfesuchend zu Fuchs hinüber, der seine Handflächen nach außen kehrte zum Zeichen, dass man ihn am besten gar nicht erst fragte. »Ich kann nicht viel über ihn sagen, er war ein bisschen verschlossen. Guter Mann. Nicht unsympathisch, aber wortkarg.«

»Freunde, Bekannte?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Kollegial?«

»Schon. Doch, durchaus.«

»Hat er mal über seine Vergangenheit gesprochen? Seine Heimat?«

Der Abteilungsleiter schüttelte den Kopf.

»Ich wollte Tipps von ihm. Kürzlich erst. Hab immer davon geträumt, nach Irland zu fahren, aber er fand keinen Geschmack an dem Thema. Als ich vom Norden anfing, ob man ohne Risiko hinkann und so, hab ich’s gleich wieder gelassen. Es gefiel ihm nicht. Er sprach nicht gern darüber.«

»Hatte er möglicherweise Angst, darüber zu reden?«, fragte Lavallier aufs Geratewohl.

Mahder überlegte.

»Ja«, sagte er langsam. »Vielleicht. Ich weiß nicht.«

Lavallier warf einen Blick auf die geschlossene Akte.

»Wer hat eigentlich in letzter Konsequenz darüber entschieden, dass O’Dea eingestellt wird? Waren Sie das?«, fragte er Fuchs.

»Ach, Lavallier, Sie wissen doch, wie das geht.« Fuchs zuckte die Achseln. »Wir haben einen Haufen Leute. Ich verwalte Budgets. Wenn Mahder oder jemand in seiner Position Bedarf anmeldet, gibt es eine Ausschreibung. Das gängige Procedere. Wir checken, was reinkommt, aber letzten Endes müssen die Abteilungsleiter damit glücklich werden. Mahder sagt, ich will O’Dea, also kriegt er O’Dea.«

»O’Dea ist aber nicht auf eine Anzeige hin erschienen«, sagte Fichtner nörgelig. »Er hat sich beworben.«

Lavallier runzelte die Stirn. »Das heißt, Sie haben die Ausschreibung umgangen?«

»In diesem Fall ja.«

»Ich dachte…«

»Es gibt Ausnahmen. Anfang des Jahres hatten wir ohnehin sehr starken Zulauf, also haben wir einige Leute eingestellt, ohne die Jobs gleich knüppeldick in die Zeitung zu setzen. Passiert in jedem größeren Unternehmen.«

»Mir schien er einfach der Richtige zu sein«, sagte Mahder entschuldigend. Die Sache war ihm offenkundig peinlich. »Ich konnte ja nicht ahnen…«

»Schon okay.« Lavallier hob beschwichtigend die Hände. »Ich will nur sichergehen. Das heißt also, die – nennen wir es mal – Ratifizierung Ihrer Entscheidung erfolgte im Hinblick auf budgetäre Vertretbarkeit und den Umstand, dass keine ernsthaften Bedenken vorlagen. Richtig?«

»Wenn Sie so wollen«, meinte Fichtner säuerlich.

»Und die SI? Irgendwelche Erfahrungen mit O’Dea?«

»Nicht, dass ich wüsste.« Brauer zwirbelte die Enden seines Schnurrbarts. »Er ist nicht aufgefallen, hat sich kein einziges Mal irgendwo rumgetrieben, wo er nicht hingehörte, gar nichts.«

Lavallier nickte. Jeder Bedienstete auf den Vorfeldern musste einen Personenausweis tragen, sichtbar oder zumindest in der Tasche. Bevor man einen solchen Ausweis erhielt, wurde ein gesondertes Überprüfungsverfahren eingeleitet. Selbst dann kam nicht jeder Techniker überall hin. Die Ausweise waren in Punktfelder aufgerastert. Jeder Punkt stand für eine räumliche Berechtigung. Man sah sofort, wer sich im unbefugten Bereich aufhielt, was O’Dea offenbar vermieden hatte. Lavallier wusste, dass die SI wie ein Schießhund aufpasste. Wenn Brauer es sagte, war O’Dea mit einiger Gewissheit brav in seinem Revier geblieben.

»Schön.« Er sah in die Runde. »Oder auch nicht. Wer kann mir eine genaue Einsatzplanung geben? Alle Einsätze, für die O’Dea eingeteilt war und die er auch ausgeführt hat?«

»Bekommen Sie«, sagte Mahder eilig. »Terminal 2, da war er, das kann ich Ihnen jetzt schon sagen. Terminal West außerdem, Luftpostleitstelle, die Hangars, vorwiegend Hangar eins. Ich kann Ihnen die Auflistung sofort zukommen lassen.«

»Danke. Ferner, mit wem hat O’Dea bevorzugt gearbeitet?«

»Die Konstellationen sind nicht fix. Das heißt…« Mahder runzelte die Stirn. »Warten Sie mal. Pecek. Der hat etwa zeitgleich mit ihm angefangen.«

»Pecek?«

»Josef Pecek. Fassadentechniker wie O’Dea. Sie hatten ein paar gemeinsame Einsätze.«

Lavallier notierte den Namen.

»Sagen Sie ihm, er soll herkommen. Ich will seine Akte, alles. Außerdem will ich wissen, mit wem O’Dea sonst noch gearbeitet hat und wer wann eingestellt wurde. Die SI täte gut daran, gemeinsam mit der Technik sämtliche Einsätze O’Deas vor Ort einer detaillierten Überprüfung zu unterziehen. Soll heißen, innerhalb der nächsten Stunde kennen wir jede Schraube und jeden Draht, den O’Dea im vergangenen halben Jahr angefasst und irgendwo eingebaut hat.« Lavallier erhob sich. »Gut, meine Herren. Ich habe Sie hiermit in Kenntnis gesetzt. Den Hinweis auf absolute Vertraulichkeit und so weiter kann ich mir sicherlich sparen.« Er schickte ein erwärmendes Lächeln in die Runde. »Wir wollen hoffen, dass die Abläufe des heutigen Tages durch die Geschichte keine Beeinträchtigung erfahren.«

Brauer sah ihn sorgenschwer an.

»Was schief gehen könnte, geht immer schief«, sagte er. »Haben Sie die Geschäftsleitung schon verständigt?«

»Noch nicht. Ich will die nächsten Ergebnisse abwarten.«

»Sehr vernünftig.«

»Wenn Sie den Flughafen evakuieren lassen, würde ich es gern als Erster erfahren«, frotzelte Fuchs. »Ich hasse es, im Stau zu stehen.«

Lavallier grinste.

Innerlich war ihm nicht danach zumute.

Als er gegen elf Uhr in das flache Gebäude der Polizeiwache zurückkehrte, waren O’Connor und Wagner noch nicht wieder eingetroffen. Lavallier hoffte, dass sie brav beim Frühstück hockten. Er war sich bei O’Connor nicht sicher, welche Überraschungen ein Mann bereithielt, der ein Kolloquium aus purem Übermut in eine Stampede verwandelt hatte und es schaffte, dass sich Politiker öffentlich zum Affen machten.

Unterdessen waren Bär und seine Leute eingetroffen, hatten zwei Büros mit Beschlag belegt und telefonierten um die Wette. Lavallier wartete, bis Bär aufgelegt hatte, und nahm ihm gegenüber Platz.

»Was Neues?«, fragte er.

Bär drückte eine bis zum Filter abgerauchte Zigarette in seinen Aschenbecher und lehnte sich zurück.

»Wir haben den Wagen gefunden.«

»Die Ente?«

»Rate mal, wo.«

Lavallier brauchte nicht lange zu überlegen.

»In der Rolandstraße.«

»Ordnungsgemäß abgestellt und abgeschlossen. Etwas mehr als hundert Meter von O’Deas Wohnung entfernt, so, dass Kuhn daran vorbeigefahren sein muss, bevor er parkte.«

»Und O’Dea?«

»Das Spurensicherungsteam ist in seiner Wohnung zugange, aber wir können jetzt schon sagen, dass O’Dea sich aus dem Staub gemacht hat.«

»Du meinst, er ist untergetaucht?«

Bär schlürfte seinen Kaffee. Er entzündete eine weitere Zigarette und hielt Lavallier die Schachtel hin.

»Immer noch nicht«, sagte Lavallier. »Seit zweiundvierzig Jahren nicht.«

»Richtig. Vergesse ich jedes Mal. Ja, es deutet einiges darauf hin. Die Wohnung wirkt, als sei er überhastet aufgebrochen, hätte aber noch Verschiedenes eingepackt. Aufgerissene Kleiderschränke, offene Schubladen, kaum persönliche Gegenstände. Schließt du irgendwas daraus?«

Lavallier brütete vor sich hin.

»O’Dea hat gestern Mittag erfahren, dass O’Connor ihn erkannt hat«, sagte er halb zu sich selbst. »Abends treffen sie sich dann, und in derselben Nacht macht O’Dea sich aus dem Staub. O’Connor hat er erzählt, er habe die Identität wechseln müssen, weil es Ärger mit der IRA gab.«

»Also weiß O’Connor im Augenblick am meisten.«

»Wie man’s nimmt. O’Connor hört sich gern reden. Ich schätze, er weiß auch nicht mehr als das, was Clohessy ihm erzählt hat.«

»Wenn die Geschichte stimmt«, meinte Bär, »muss die Sache nichts mit unserem Gipfel zu tun haben. Nehmen wir an, Clohessy war tatsächlich bei der IRA. Es gab Ärger, wie du sagst, dann ist es nur natürlich, dass er untertauchen muss. Wer bei den Irisch Republikanischen in Ungnade fällt, kann sein eigenes Grab schaufeln. Er lässt also was springen und verwandelt sich in Ryan O’Dea, einen Mann mit niet- und nagelfester Vita, der es schafft, eine Anstellung an einem deutschen Airport zu bekommen.«

»Warum tut er das?«

»Er will seinen Frieden«, schlug Bär vor.

»Einverstanden. Und weiter.«

»Weiter?« Bär blies die Wangen auf. »Na ja, plötzlich steht O’Connor vor ihm. Seine neue Identität ist geplatzt. Er bekommt Angst und setzt sich ab.«

Lavallier schwieg. Es klang nicht schlecht. Leider klang es auch nicht richtig gut.

»O’Dea und O’Connor sind Studienkollegen und waren befreundet«, sagte er nachdenklich. »Über die Jahre haben sie sich entfremdet, aber Ärger gab’s eigentlich keinen. Jetzt stell dir vor, du bist Clohessy. Dein Persönlichkeitswechsel ist geglückt, du hast die IRA ausgetrickst und dich in Köln etabliert. Eines Tages läuft dir dein alter Kumpel über den Weg und erkennt dich! – Ich meine, klar, du erschrickst, es missfällt dir, aber würdest du deswegen abhauen? Deine mühsam erworbene neue Haut abstreifen? Würde es nicht reichen, O’Connor reinen Wein einzuschenken und ihn zu bitten, um alter Freundschaft willen den Mund zu halten?«

»Was er ja auch getan hat.«

»Eben. Und darum gibt es keinen Grund, einfach so zu verschwinden.«

Bär überlegte.

»Doch«, sagte er. »Zwei sogar.«

Lavallier sah ihn fragend an.

»Erstens«, führte Bär aus, »kann Clohessy nicht wissen, wem O’Connor alles von seiner Entdeckung erzählt hat. Sein Stillschweigen ist also nur die Hälfte wert, selbst wenn er es hoch und heilig verspricht. Zweitens…«

»Ja?«

»…könnte Clohessy Angst vor O’Connor haben.«

»Warum sollte er das?«

Bär zuckte die Achseln.

»Vielleicht ist O’Connor nicht der liebe Onkel. Möglicherweise hatte Clohessy – oder O’Dea, keine Ahnung, wie wir ihn jetzt nennen sollen – berechtigten Grund zu der Annahme, O’Connor würde ihn verpfeifen.«

»Und Kuhn?«

»Ist der Zweite, der Clohessy auf die Spur kommt. Oder wird von O’Connor eingespannt, ebenso wie die Frau. Schau mal, Clohessy hatte doch Recht. O’Connor beschattet ihn, der Lektor treibt sich in seiner Wohnung rum. Also lässt er Kuhn verschwinden und verschwindet dann selbst.«

Lavallier ließ Bärs Theorie sacken. Es war verlockend, daran zu glauben. Sie nahm den Gipfel aus dem Schussfeld.

»O’Deas Wagen habt ihr nicht zufällig gefunden?«, fragte er.

Bär schüttelte den Kopf.

»Wir arbeiten dran. Aber wenn du mich fragst, werden wir ihn nicht finden. Nicht, wenn O’Dea die Flucht ergriffen hat.« Er machte eine Pause. »Womöglich befindet sich Kuhn ja in seiner Gesellschaft.«

Lavallier fuhr sich über die Augen. Was für ein Tag!

»Was schlägst du vor?«

»Fahndungsmeldung«, sagte Bär. »O’Deas Wagen. Er selbst und ein Mann, auf den die Beschreibung Kuhns zutrifft. Ausweitung nach Holland, Belgien, Schweiz und so weiter.«

»Gut. Wo du gerade dabei bist, überprüf einen gewissen Josef Pe- cek. Arbeitet hier als Techniker. Kollege von Clohessy.«

Bär griff mit der Linken nach seinen Zigaretten und mit der Rechten zum Telefon.

WAGNER

Als sie um Viertel nach elf die Augen öffnete, hatten ihre Kopfschmerzen nachgelassen. Dafür war ihre Zunge so trocken, dass sie Mühe hatte, sie vom Gaumen zu lösen.

»Guten Morgen«, sagte O’Connor irgendwo hinter ihr.

Sie strich sich das Haar aus der Stirn und zwinkerte. Vor ihr stand eine halb volle Tasse Kaffee.

»Wie lange habe ich geschlafen?«

»Nicht lange. Eine halbe Stunde. Wir haben Frühstück bestellt, und mittendrin bist du an meine Brust gesunken. Was ich grundsätzlich sehr begrüße.«

»Meine Güte«, stöhnte sie. »Die letzte Nacht. Wessen Idee war es bloß wieder, die verdammte Flasche mit nach oben zu nehmen?«

»Deine«, sagte O’Connor.

»Im Ernst?«

»Ich schätze, du hältst es für protokollarisch unabwendbar, in meiner Gesellschaft Alkohol zu trinken, und ich wollte dich nicht blamieren. Möchtest du einen frischen Kaffee?«

Wagner setzte sich auf und gähnte. Sie saßen im Speisesaal des Holiday Inn. Abgesehen von einem älteren Mann einige Tische weiter schienen sie die einzigen Gäste zu sein. Ein Kellner ging geräuschlos über den weichen Teppichboden. Er schenkte ihnen keine Beachtung.

Kuhn!

Wie hatte sie schlafen können? Es wäre besser gewesen, sie hätte nachgedacht!

»Vergiss den Kaffee«, sagte sie. »Wir müssen rüber aufs Revier.«

»Was willst du da? Lavallier wollte uns abholen, soweit ich mich erinnere. Denk lieber nach, was Kuhn Komisches gesagt hat.«

»Es… fällt mir nicht ein.« Natürlich war ihr nichts eingefallen. Sie hatte geschlafen. Ein fürchterlich schlechtes Gewissen machte sich in ihr breit. »Und dir? Ist dir was eingefallen?«

»Wegen der SMS?« O’Connor schüttelte den Kopf. »Der Tag wird kommen.«

»Falls wir überhaupt noch Zeit haben«, sagte sie mutlos.

Im selben Moment kam ihr ein Fetzen des Gesprächs mit Kuhn in den Sinn. Sie versuchte daran festzuhalten, weitere Erinnerungen herbeizurufen. Bruchstücke reihten sich aneinander. Plötzlich wusste sie, dass der Lektor gegen Ende des Telefonats etwas Merkwürdiges gesagt hatte. Etwas, das keinen rechten Sinn ergab.

O’Connor beobachtete sie von der Seite.

»Hast du–«

Sie schnitt ihm mit einer Handbewegung das Wort ab.

Da war es!

»Wir müssen rüber«, sagte sie und wandte ihm ihr Gesicht zu. »Ich erinnere mich wieder!«

»Und?«

Tränen stiegen ihr in die Augen. O’Connor sah, was los war, und schlang die Arme um sie. Wagner zitterte. Sie presste sich in ihn hinein und fragte sich, warum der wunderbaren Nacht nicht ein ebensolcher Morgen hatte folgen können.

»Liam.«

»Mhm.«

»Ich habe Angst.«

O’Connor drückte sie fester an sich.

»Das ist schon in Ordnung«, sagte er. »Wie sehr ich dich beneide.«

SPEDITION

»Du bist also entführt worden«, sagte die Frau etwas zu ruhig.

Kuhn starrte sie verständnislos an.

Sie schien in sich hineinzuhorchen.

Dann holte sie plötzlich aus und schlug ihn mit dem Handrücken ins Gesicht. Der Lektor heulte auf und zerrte an seinen Handschellen.

»Was hast du verschwiegen?«

»Ich habe nichts verschwiegen. Ich schwör’s!«

Ein zweiter Schlag traf hart sein Nasenbein. Blut schoss heraus. Er duckte sich und versuchte, sich auf die andere Seite des Rohres zu retten. Sie kam ihm nach.

»Ich denke, du willst leben! Du Idiot! Willst du leben?«

»Ja!«

»Warum haben dich O’Connor und Wagner als vermisst gemeldet?«

»Ich weiß es nicht. Wir wollten .«

Ihre Faust fuhr klein und spitz in seinen Bauch, und er klappte gurgelnd zusammen und fiel auf die Knie. Sein Magen wollte sich umstülpen, aber es war nichts darin, nur Säure, die unvermittelt seine Speiseröhre hochschoss. Er würgte und hustete, während seine Gedanken sich überschlugen.

Einen Moment lang war er versucht, ihr von der SMS zu erzählen.

Aber dann würde sie ihn töten. Was sollte sie noch mit ihm, wenn sie annehmen musste, dass das Märchen von der außerplanmäßigen Verlagsreise aufgeflogen war?

»Warum?«

Kuhn japste nach Luft. Nie zuvor war er so gedemütigt und erniedrigt worden. Mit einem Mal fühlte er, wie sich Wut zu seiner Angst gesellte, lodernder Hass auf diese kleine Drecksau, die sich anmaßte, über sein Leben bestimmen zu wollen. Er hob den Kopf und richtete den Blick auf sie.

»Wir wollten doch O’Connor anrufen«, sagte er heftig. »War das nicht Teil Ihres grandiosen Plans? Warum wundern Sie sich, dass die sich Sorgen machen, he? Ich habe Kika gesagt, sie könnte mich den ganzen Tag über erreichen, und dass ich mich melden würde, also hören Sie auf, es an mir auszulassen! Ich hätte mich längst melden sollen, dann wäre niemand auf die Idee gekommen, dass man mich entführt hat. Es ist Ihre Schuld, hören Sie, einzig Ihre!«

Er stockte. Entsetzt machte er sich klar, wie seine Worte auf sie wirken mussten. Beispiellose Furcht riss den Zorn mit sich hinfort. Sie würde ihn bestrafen. Sie würde es ihm heimzahlen, dass er so mit ihr gesprochen hatte.

»Es tut mir leid«, stammelte er. »Ich… ich wollte nicht…«

Die Frau betrachtete ihn. Sie machte keine Anstalten, ihn ein weiteres Mal zu schlagen.

»Ja, du hast Recht«, sagte sie erstaunlicherweise. »Ich hätte dich anrufen lassen sollen.«

Kuhn pumpte Luft in seine Lungen. Immer noch fühlte er sich kaum in der Lage, aufzustehen nach dem Schlag in die Magengrube.

»Ich kann jetzt anrufen«, keuchte er.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe umdisponiert. Sollen sie ruhig nach dir suchen. Es ändert nichts.«

»Aber es könnte wichtig sein, ich meine .«

»Sie werden einer anderen Fährte folgen, die wir gelegt haben. Im Zweifel passt du da als Entführungsopfer ganz gut rein.« Sie machte eine Pause. »Oder als Leiche.«

Kuhn schluckte schwer und rappelte sich hoch.

»Wie lange noch?«, fragte er matt.

Sie sah ihn an und zuckte die Achseln.

»Ich will dich nicht töten.«

So wie sie es sagte, hatte Kuhn keinen Zweifel daran, dass sie es ernst meinte. Er lehnte sich schwer atmend gegen die Wand und wischte mit der freien Hand das Blut von der Oberlippe.

»Wenn Sie getan haben, weswegen Sie hergekommen sind«, sagte er, »können Sie mich doch fortlassen, oder? Ich habe doch überhaupt nichts mit Ihren Angelegenheiten zu tun.«

»Dafür hast du deine Nase ziemlich tief reingesteckt, findest du nicht?«

»Was Sie tun, ist unrecht. Ich weiß nicht, was Sie vorhaben, aber Sie begehen ein Verbrechen. Ich habe meine Nase reingesteckt, weil wir dachten, Liam, Kika und ich, dass wir ein Verbrechen verhindern könnten. Glauben Sie nicht, dass wir damit im Interesse eines wesentlich größeren Teils der Menschheit handeln als Sie?«

»Ja«, sagte die Frau. »Das tut ihr wohl.«

Er war irritiert. Er hatte erwartet und befürchtet, dass sie wieder auf ihn losgehen würde, aber offenbar reagierte sie auf Opposition mit Ruhe und Gelassenheit. Eigentlich machte sie auf Kuhn nicht den Eindruck einer blindwütigen Fanatikerin. Sofern man mit ihr reden konnte, würde seine einzige Chance eben darin bestehen. Zu reden.

Allmählich, trotz der nagenden Angst, schöpfte er wieder ein bisschen Mut.

»Werden Sie mir sagen, was Sie vorhaben?«, fragte er.

Sie runzelte die Stirn. Dann lachte sie kurz auf.

»Warum interessiert dich das?«

»Wenn ich sterben muss, damit Ihr Vorhaben gelingt, habe ich ein verständliches Interesse daran, oder?«

Sie hielt den Blick auf ihn gerichtet, während ihre Lider schwerer zu werden schienen. Dann drehte sie sich wortlos um und ging davon.

»Ich weiß, was Sie vorhaben«, schrie Kuhn ihr hinterher.

Sie verharrte.

»So«, sagte sie, ohne sich umzudrehen.

»Es ist ein Verbrechen! Keine Heldentat. Wenn Sie das tun, sind Sie nicht besser als jeder Ihrer Feinde.«

Es war ein Versuch auf gut Glück. Aber er brachte ein Resultat, wenn auch nicht ganz das, was Kuhn sich erhofft hatte. Sie fuhr herum und kam mit raschen Schritten zu ihm zurück. Ihre Augen blitzten vor Zorn.

»Und was weißt du, wer meine Feinde sind?«

»Ich… ich weiß es nicht, aber–«

»Dann sprich nicht darüber.«

»Sie sind keine Italienerin. Sie sind Russin oder Serbin. Sie–«

»Und wenn?«

»Ihr habt verloren«, schrie Kuhn wieder. »Ihr habt verloren, könnt ihr das nicht begreifen? Ihr – habt – verloren!«

Jetzt war alles aus. Alles vorbei.

Sie starrte ihn an.

»Ja, das mag sein«, zischte sie. »Aber ihr habt nicht gewonnen. Ihr habt Milosevic nicht kleingekriegt, er ist immer noch da, und er wird euch weiterhin auf der Nase herumtanzen. Ihr habt nicht ihn und seine Truppen in die Steinzeit gebombt, sondern mein Volk und das Land, das ihr befreien wolltet. Eure Nato, euer Kanzler, der Präsident der Amerikaner, ihr denkt immerzu, die Frage nach dem Sieg sei eine Frage der technischen Überlegenheit. Die habt ihr weiß Gott demonstriert. Aber wie lange hat es gedauert, bis eure Technik den Diktator in die Knie gezwungen hat? Wer hatte alles zu leiden unter eurer Überlegenheit? Ihr redet von der Wiederherstellung von Werten und werft Bomben, aber wie viele serbische und albanische Werte habt ihr dabei vernichtet, wie viele Menschen sind dabei umgekommen?«

Ihr Atem schlug ihm entgegen. Kuhn drückte den Kopf in den Nacken und zog die Schultern hoch.

»Ihr habt euer elendes Gesicht wahren wollen«, fuhr sie fort. »Nur darum ging’s euch. Verlogene Hunde! Ihr hättet das Bombardement tausendmal stoppen können, aber es wäre nicht mit eurem Verständnis von einem Sieg einhergegangen. Man muss das ganze schöne Spielzeug schließlich ausprobieren. Ihr infantilen Narren, was glaubt ihr eigentlich, wer ihr seid? Dieser Schwachkopf Bill Gates, kennst du sein letztes Buch?«

Kuhn schüttelte den Kopf.

»Aber ich. Es heißt Business at the speed of light. Du solltest es lesen, wenn du noch dazu kommst. Er hat ein Computerprogramm entwickelt, es heißt Falcon View, und er schreibt mit kindlicher Begeisterung darüber, man könne damit zum Beispiel jugoslawische Brücken zerstören. Ihr denkt, die Welt ist ein Wargame! Wir alle haben verloren, das ist die Tragödie. Unser Diktator hat sich über die Menschenrechte hinweggesetzt, eurer in Amerika über die Demokratie, er hat die UNO umgangen und Russland gedemütigt, um Menschen im Namen von Menschenrechten zu bombardieren! Und ihr wollt gewonnen haben?«

»Wir haben Milosevic bombardiert«, versetzte Kuhn. »Wir–«

»Wer, wir? Die Deutschen? Warum die Deutschen? Weil die Nato gesagt hat, wenn wir mit Bomben drohen, dann wird auch bombardiert, wie stünden wir denn da? Oder weil ihr das ganze Gezeter satt hattet, wie man Hitler hätte stoppen können, wenn man ihm nur früher aufs Dach gestiegen wäre?«

»Na und?« Kuhn ballte die Fäuste. »Hätten wir lieber zusehen sollen, wie ihr ein paar hunderttausend Kosovaren abschlachtet? Und Russland, toll, sie haben einen Haufen Minderwertigkeitskomplexe mit ihrem alten Säufer an der Spitze, hätten wir sie deshalb auf den Knien bitten sollen, einem Massenmörder Einhalt zu gebieten? Gedemütigt, du lieber Gott, armer Osten, ihr tut mir ja alle so leid mit eurem Amselfeld und dem verlorenen Weltmachtstatus, zum Kotzen! Die Russen haben zugestimmt, Milosevic zu stoppen. Gerade die Russen sollten wissen, was das für Typen sind, die Massendeportationen und die Ausrottung ganzer Volksgruppen veranlassen, und wir in Deutschland wissen es am allerbesten. Darum haben wir zugeschlagen, darum war es richtig, es war richtig!«

Die Frau presste die Lippen aufeinander.

»Ja, ihr habt eure Probleme gelöst.«

Kuhn hing an seiner Kette und machte sich bewusst, was in diesen Minuten geschah. Ein Verschleppter, der möglicherweise nur noch kurze Zeit zu leben hatte, diskutierte mit seiner Entführerin über Krieg und Frieden.

Es war zum Heulen.

Aber vielleicht war es der einzige Weg.

»Ich… würde Sie gern mit einem Namen anreden«, sagte er. »Wenn ich… wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Nenn mich Jana.«

Du hättest das nicht tun sollen, dachte er im selben Augenblick. Je mehr sie dir verrät, desto geringer wird die Chance, dass sie dich leben lässt. Aber jetzt war es ohnehin zu spät.

»Für wen arbeiten Sie, Jana?«, fragte er. »Für Milosevic? Ist er derjenige, der diesen Wahnsinn will?«

»Das wäre einfach, was? Hübsch einfach. Aber die Welt ist nicht so einfach. Ich arbeite nur für einen einzigen Menschen.«

»Für wen?«

»Für eine Frau.«

Eine Frau?

»Und… wer…?«

Sie lächelte. Es war das erste Mal, dass Kuhn sie lächeln sah. Wie schade, dachte er, es ist ein Gesicht, das zum Lächeln geschaffen ist.

»Ich kenne sie noch nicht«, sagte sie beinahe heiter.

POLIZEIWACHE

»Sie kommen gerade richtig«, sagte Lavallier zu O’Connor. Er nahm eines der Fotos von seinem Schreibtisch und reichte es dem Physiker.

»Ist das der Mann, der Ihnen als Ryan O’Dea vorgestellt wurde?«

O’Connor starrte auf das Bild und gab es an Wagner weiter.

»Ja.«

»Die Bilder sind eben von Europol reingekommen«, sagte Lavallier. »Sie entstammen einer Akte, die ihren Weg aus Belfast nach Dublin fand. Vor Jahren schon. Der Mann, für den die Akte angelegt wurde, heißt Patrick Clohessy.«

»Na also«, sagte O’Connor mit zufriedenem Gesicht und setzte sich. Er kam Lavallier nicht vor wie jemand, der sich vor Sorge verzehrt. Eher, als leite er selbst die Ermittlungen und habe seinem Assistenten gerade eine Lehre fürs Leben erteilt.

Lavallier beschloss, es zu ignorieren. Er nahm den Packen Ausdrucke zur Hand, den die Kollegen aus Dublin vor wenigen Minuten an Bär geschickt hatten, und ließ seinen Blick darüberschweifen.

»Hier steht außerdem, Clohessy habe von 1990 bis Ende 1998 aktiv in den Reihen der IRA gekämpft und trage die Teilverantwortung für eine Reihe von Anschlägen mit Sach- und Personenschäden. Es liegen diverse Haftbefehle gegen ihn vor.« Er sah auf. »Durch seine Mitschuld sollen Menschen gestorben sein. Hätten Sie ihm das zugetraut, Mr. O’Connor?«

»Mord? Non, Monsieur le Commissaire.«

»Tja. Er hat offenbar genug gehabt von seinen rebellischen Freunden. Es gibt Hinweise darauf, dass er Mitte ‘98 seinen Austritt aus der IRA erklärt hat. Die waren nicht gerade begeistert. Der wissenschaftliche Flügel der Armee hat ihm offenbar eine Menge zu verdanken.«

»Paddy?«, sagte O’Connor. »Ja, er war brillant.«

»Was hat er getan, dass man einen Mörder und Terroristen als

brillant bezeichnen könnte?«, fragte Wagner.

Lavallier sah sie an. Er mochte sie für diese Frage.

»Zündungssysteme«, sagte er mit Blick auf die Ausdrucke. »Maßgeblich war er wohl an der Entwicklung einer Radarkanone beteiligt«

»Und das Brillante daran?«

»Die Umstände«, mischte sich O’Connor ein. »Du musst dir vorstellen, dass die Briten immer schon bestens ausgestattete Laboratorien, immense Budgets und ein Heer von Akademikern ins Feld führen konnten, während sich die Forschungsabteilung der IRA in irgendwelchen Kellern und Hinterzimmern herumdrückte. Dafür haben sie ganz schön raffinierte Schaltpläne ausgetüftelt. Die Engländer erfanden später ein System elektronischer Scanner, die Funkausstrahlungen aufspüren und stören können, Zehntelsekunden bevor der Bombenauslöser das Sprengsignal übermittelt. Aber die Radarkanone funktioniert anders. Sie können das Ding nicht orten. Man richtet es auf die Bombe, bevor man es einschaltet. Drückt dann einer aufs Knöpfchen, bleibt keine Zeit mehr, das Signal zu stören. Es ist sofort da.«

»Perfide«, sagte Wagner. »Abstoßend und abscheulich.«

»Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht«, sagte O’Connor. »Abscheulich ist immer nur, was man draus macht.«

Lavallier hatte ihm strinrunzelnd zugehört. Jetzt blätterte er weiter in den Ausdrucken. »Hier ist noch etwas, das er mitentwickelt haben soll. Lichtblitzzündung.«

»Simultane Blitze.« O’Connor nickte. »Ich weiß.«

»Das wissen Sie auch? Sie wissen ja allerhand.«

»Es ist mein Gebiet, wenn Sie gestatten. Ich arbeite mit Licht. Man benutzt ein Fotoblitzgerät, wie man es überall kaufen kann, zündet es in beträchtlicher Entfernung von der Bombe, aber nur, um einen weiteren Blitz anzuregen, der näher dran ist. Und so weiter, bis hin zur Bombe. Ein Blitz speist den nächsten. Zündung und Detonation erfolgen zeitgleich. Ganz einfach.«

Lavallier legte die Ausdrucke beiseite.

Lichtblitze! Bomben!

Es half alles nichts. Er musste die Geschäftsleitung verständigen. Seine Hand wanderte zum Telefon.

»Warten Sie«, sagte Wagner.

»Ja?«

»Mir ist etwas eingefallen. Eben im Hotel. Sie fragten, ob Kuhn komische Dinge gesagt hat.«

Lavalliers Hand verharrte über dem Hörer.

»Und?«

Sie zögerte. »Er sagte: Ich glaube, ich bin heute nicht so ganz bei mir. Musste zu viel überbrücken in der letzten Zeit.«

»Überbrücken? Was musste er denn überbrücken?«

»Keine Ahnung. Ich weiß es eben nicht. Die Formulierung wirkt irgendwie schief, schlecht gewählt. Es klingt, als wollte er sagen, ich musste zu viel aushalten, wegstecken, hatte zu viel um die Ohren. Jemand, der flüchtig zuhört, würde es vielleicht so verstehen. Aber überbrücken passt einfach nicht.«

»In welchem Jahr baute Moses seine Arche?«

»Was?«, fragte Lavallier verwirrt.

O’Connor breitete die Hände aus. »Ist doch ganz einfach. In welchem Jahr baute Moses seine Arche?«

Lavallier grinste dünn.

»Es war nicht Moses, Sie Schlaumeier.«

»Richtig. Aber die Frage ist so gestellt, dass man versucht ist, sich völlig auf das Jahr zu konzentrieren. Man überhört das Offensichtliche. Ich meine, wenn Kuhn nicht allein war, als er mit Kika sprach, wenn er nicht frei reden konnte, dann hat er versucht, ihr Hinweise zu geben. Er hat es so ausgedrückt, damit es klang wie: Hey, mir geht’s nicht gut, ich bin durcheinander, war ein bisschen viel in letzter Zeit.

Vielleicht ist ihm die Finte ja geglückt, und seinen Mithörern ist entgangen, was er wirklich sagen wollte.«

Lavallier sah von ihm zu Wagner und wieder zurück.

»Ich bin nicht ganz bei mir«, wiederholte er langsam. »Soll heißen, ich bin bei jemand anderem. Sie haben mich entführt.«

O’Connor nickte.

»Und was er in letzter Zeit überbrücken musste, kurz vor Kikas Anruf .«

»Ist eine Brücke.«

»Ja. Der Ausgangspunkt seiner Überlegungen war das Maritim. Er ist auf der anderen Rheinseite, schätze ich.«

Lavallier starrte den Physiker einen Moment lang an. Dann wählte er die Nummer der Geschäftsleitung.

»Und?«, fragte O’Connor.

»Was und?«

»Da Sie ja nun über einen Sack voller Informationen verfügen .«

»Ich muss Sie bitten, vorerst zu bleiben.«

O’Connor verzog das Gesicht.

»Können wir wenigstens irgendwas tun?«, fragte Wagner. »Dieses Herumhängen macht mich krank.«

»Sie können Hauptkommissar Bär das Gleiche erzählen, was Sie mir erzählt haben. Er sitzt zwei Räume weiter. Wir bearbeiten den Fall zusammen, und er will Sie sehen.«

»Ich kann nicht endlos zur Verfügung stehen«, sagte Wagner. »Ich muss um halb fünf in Köln sein.«

»Gehen Sie zu Bär«, sagte Lavallier ungerührt. »Finden Sie heraus, was es mit der SMS auf sich hat. Besichtigen Sie den Flughafen. Gehen Sie was essen oder trinken, ich weiß nicht. Wenn Sie unbedingt nach Köln müssen, auch gut, aber seien Sie erreichbar.«

»Das Zeitalter der Erreichbarkeit«, philosophierte O’Connor. »E-Mail. Mobiltelefone. Ich wusste, dass die Sklaverei nicht wirklich abgeschafft worden ist.«

VERWALTUNG. GESCHÄFTSLEITUNG

Das Erste, was auffiel, wenn man das Büro betrat, waren zwei große, übereinander hängende Bilder zur Linken. Sie zeigten dieselbe merkwürdige Szenerie, einmal bei Tag und einmal in der Nacht. Saurierhafte Flugzeuge in einer Umgebung, die irgendetwas zwischen Wald, Vorfeld und Zoo darzustellen schien. Menschen schritten zwischen Maschendrahtabsperrungen auf die gigantischen Jets zu, Tieren gleich, die man durch Gittertunnel in eine Manege trieb. Wer sich die Mühe machte zu fragen, wurde belehrt, dass es sich bei dem Werk keineswegs um Kunst handelte, sondern um das neue Terminal 2 nach der Vorstellung eines der Architekten, die Anfang der Neunziger an der Ausschreibung des Flughafens um den Neubau teilgenommen hatten. Der aeronautische Jurassic Park war als Erstes aus dem Rennen gewesen, hatte allerdings seinen Weg in die Geschäftsleitungsetage und in Heinz Gombels Büro gefunden, wo er mit der Zeit dann doch zu etwas Kunstartigem avanciert war.

Bei seinen seltenen Besuchen hatte Lavallier dem Doppelbild jedes Mal eine Minute seiner Aufmerksamkeit geschenkt. Er mochte die Vision eines begrünten Flughafens. Heute hatte er keinen Blick dafür. Unmittelbar nachdem die Informationen über Paddy Clohessy hereingeflattert waren und Kika Wagner ihre Erinnerung wieder gefunden hatte, hockte er in Gombels Besucherecke und informierte vier ernst bis besorgt dreinblickende Männer über den Stand der Dinge.

Wie vorhin hatte jeder von ihnen seiner Einladung umgehend

Folge geleistet. Neben Gombel saß der Technische Direktor Wolfgang Klapdor, der gleich um die Ecke residierte und sich seit Anbeginn der Bauzeit mit Behörden und Ämtern um Beglaubigungen und Genehmigungen für die Fertigstellung des neuen Terminals herumprügelte. Klapdors Markenzeichen waren Vollbart und Halbbrille am Band. Lavallier wartete ständig darauf, ihn aus einer Zigarettenspitze rauchen zu sehen, was den Eindruck eines distinguierten KaffeehausLiteraten komplettiert hätte.

Neben ihm lehnte Peter Stankowski in den schwarzen Lederpolstern, der Verkehrsleiter, ebenfalls bärtig und von Natur aus grimmig wirkend. Der vierte Mann im Raum hieß Dieter Knott. Er war der stellvertretende Verkehrsleiter. Beiden oblag die logistische Seite der Gipfel-Landungen, das VIP-Zelt, die Koordination der Presse und die protokollarische Seite. Sie standen in direkter Verbindung mit dem Auswärtigen Amt, wo man für die Geschichte, die Lavallier zu erzählen hatte, kaum mehr Begeisterung aufbringen würde als hier in diesem Büro.

Lavallier schloss seinen Bericht ab, legte die Fingerspitzen aufeinander und nickte bekräftigend.

»Das also sind die Neuigkeiten.«

Eine Atmosphäre des Unbehagens hatte sich ausgebreitet. Einen Moment lang sagte niemand etwas. Die Männer sahen auf ihre Füße oder in Lavalliers Augen, als erwarteten sie nach der Darlegung des Problems nun die Lösung.

»Unschön«, brummte Gombel. »Ich sagte doch, wir können nichts Ernstes gebrauchen.«

Klapdor räusperte sich.

»Was wissen wir über diesen O’Dea, was nicht in unseren Akten steht?«, fragte er.

Lavallier schüttelte den Kopf.

»Nichts.«

»Das ist nicht eben viel.«

»Ich schätze, Ryan O’Dea hat bis vor einem halben Jahr noch gar nicht existiert. Ich bin sogar sicher, dass er es bewusst vermieden hat, Freundschaften zu knüpfen. Beschäftigen müssen wir uns also mit Patrick Clohessy. Und das sieht gelinde gesagt nicht gut aus.«

»Sie sagten, er war bei der IRA .«

»Ja, richtig, bei der IRA«, unterbrach ihn Stankowski. »Na und? Machen wir nicht die Pferde scheu. Die IRA hat nie außerhalb der Britischen Inseln operiert.«

»Wie man’s nimmt«, wandte Knott vorsichtig ein.

»Wieso?«

»Den Semtex-H-Plastiksprengstoff, mit dem sie Ende der Achtziger so gern rumspielten, hat ihnen zum Beispiel Gaddafi geschickt, für spezielle Dienste.«

»Ach, Gaddafi! Das ist über zehn Jahre her.«

»Ich weiß, worauf Sie hinauswollen«, sagte Lavallier. »Wir haben heute Morgen schon die Frage erörtert, ob es die Landungen betrifft. Keine Ahnung, um ehrlich zu sein. Kommissar Bär hat so eine Theorie, wonach es sich um einen internen Clinch der Iren dreht.« Er zögerte. »Andererseits könnte man sich die Frage stellen, was ein IRA-Aktivist dort verloren hat, wo in Kürze Tony Blair landen wird.«

Verschiedentlich wurde scharf die Luft eingesogen.

»Das würden sie nicht wagen.« Knott schüttelte heftig den Kopf. »Nicht so kurz vor der Nordirland-Lösung.«

»Warum nicht?«, sagte Gombel. »Sie wollten auch Thatcher in die Luft sprengen, vierundachtzig in Brighton.«

»Das war eine andere Zeit.«

»Und Major ebenfalls.«

»Aber getan haben sie’s dann doch nicht.«

»Vielleicht ist ihnen aufgegangen, dass sie den Engländern damit eine zu große Freude bereitet hätten. Aber Sie haben Recht. Blair ist ihr Garant für den Frieden, oder nicht?« Gombel sah Lavallier an. »Warum sollten sie Blair umpusten, wo sich die Wogen gerade glätten?«

»Das sehen Sie zu idealistisch«, sagte Lavallier. »Ich bin kein Irlandexperte, aber wenn die IRA ihrer Entwaffnung zustimmt und die Iren sich mit den Engländern einigen, zerschlägt sich eine Riesenorganisation. Sinn Fein, der legale Flügel, ist zerrissen, die IRA gespalten. Der harte extremistische Kern wird weiterkämpfen. Die meisten von ihnen sind hoffnungslos kriminalisiert, was sollen sie tun, wenn sich der Streit mit den Engländern erledigt hat? Ich meine, was tut der KGB, und der war immerhin legal? Es ist schon mehrfach passiert, dass IRA-Extremisten gemordet haben, einfach um einen Friedensprozess zu stoppen, der sie arbeitslos machen würde. Nicht alle in Irland wollen diesen Frieden. Glauben Sie im Ernst, wenn es Blair hier und heute erwischt, hier in Köln, würde sich London noch eine Minute mit denen an den Tisch setzen?«

Klapdor zupfte am Band seiner Brille.

»Ich verstehe«, sagte er langsam. »Sie geben uns zu bedenken, dass wir im schlimmsten Fall die prominenten Flüge umleiten sollen.«

Es war raus.

Lavallier seufzte. Clinton, Jelzin, Blair und die übrigen Politiker des Gipfels auf andere Flughäfen umzuleiten, würde einem Alptraum gleichkommen. Aber ein Anschlag wäre noch viel schlimmer.

»In letzter Konsequenz wird das BKA diese Entscheidung zu treffen haben«, sagte er. »Oder die Amerikaner. Und das werden sie so lange nicht, bis ich eine entsprechende Empfehlung ausgesprochen habe.«

Stankowski schüttelte wütend den Kopf.

»Sehen Sie«, fuhr Lavallier fort, »ich hoffe auf weitere Ergebnisse. In den nächsten Stunden kann ich mehr dazu sagen und .«

»Solange Sie nichts anderes haben als diese Räuberpistole, sehe ich keine Veranlassung, das Programm zu ändern! Herrgott! Die Russen, die Serben, die Algerier, die Kurden, selbst der Irak, alle backen kleine Brötchen, und da kommen Sie mit der IRA!«

Lavallier verstand die Erbitterung des Verkehrsleiters. Er und Knott hatten monatelang jede Kleinigkeit mit den ausländischen Delegationen verhandelt, bis das Protokoll stand. Bestand er darauf, die Flüge umzuleiten, wäre das glanzvolle Willkommen dahin. Unendliche Mühe wäre umsonst gewesen. Ein paar Außenminister, ein paar Diplomaten, während die Häuptlinge Frankfurt oder Düsseldorf beehrten.

Die Vorstellung war schrecklich!

Eine Weile herrschte Schweigen.

»Gut, Lavallier«, sagte Gombel schließlich. Er versuchte sich an einem Lächeln. Es misslang. »Sie tun Ihr Bestes. Noch haben wir keinen Beweis für einen Anschlag auf das Leben der Staatsgäste, nicht? Schauen wir erst mal. Wir können auch später noch die Reißleine ziehen, was?«

»Ich schließe mich dem an«, knurrte Stankowski.

Schön, dachte Lavallier, dann schließ dich an. Lass Clohessy eine Bombe versteckt haben, die uns durch die Lappen gegangen ist, und dein schönes neues Terminal fliegt dir um die Ohren.

Laut sagte er: »Nein, natürlich haben wir keine Beweise. Das ist es ja, was ich eingangs meinte.« Er erhob sich und strich sein Jackett glatt. Im Moment hatte er das Gefühl, als sei es ihm in der letzten Stunde zu eng geworden. »Aber wenn sich die Anzeichen mehren, dass es doch was mit uns zu tun hat, muss ich Sie bitten, sich etwaigen Konsequenzen nicht zu verschließen.«

»Natürlich«, nickte Knott.

»Mann, wir haben Clinton«, fuhr Stankowski auf. »Glauben Sie, wir lassen uns Clinton durch die Lappen gehen?«

»Ist ja noch gar nicht raus, ob.«

»Der Secret Service hat den ganzen verdammten Flughafen umgestülpt! Hier ist nichts! In Düsseldorf, du lieber Himmel, wenn er da landet, kann er sich gleich selbst erschießen, aber wo soll denn–«

»Es sagt doch gar keiner, dass er in Düsseldorf landet«, versuchte Klapdor den aufgebrachten Verkehrsleiter zu beruhigen.

»Wo soll denn hier was versteckt sein? Lavallier, Mensch! Haben wir irgendetwas übersehen?«

Lavallier schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Mannomann! Verdammt!«

Knott seufzte. Klapdor sah die Bilder an. Gombel strich sich nachdenklich über die Glatze.

»Na gut«, sagte er. »Es wäre schon eine Schande, nicht? Könnte der Flughafen schlecht gebrauchen in dieser Phase. Aber was ist, das ist. Lassen wir Lavallier seine Arbeit machen, in Ordnung?«

»Ja, finden Sie den Scheißkerl«, schnaubte Stankowski. »Sie haben unsere Gebete.«

»Wir tun, was wir können«, sagte Lavallier.

Gombel brachte ihn nach draußen und schüttelte ihm die Hand.

»Sie machen das schon«, sagte er leise. »Stankowski sieht das nicht anders. Ich wäre an seiner Stelle auch sauer, aber er vertraut Ihnen ebenso wie ich. Es ist Ihre Entscheidung.«

Lavallier nickte unglücklich.

Es war eine gute Zusammenarbeit zwischen ihm, der Geschäftsleitung, Stankowski, Knott und den anderen, die in das Procedere der Landungen involviert waren. Während er die Treppen hinuntertrottete, rief er sich in Erinnerung, unter welch enormem Druck sie alle standen. Trotzdem kamen sie blendend miteinander aus, nur dass dieser Druck mit jedem Tag, den die Ankunft der Spitzenpolitiker näher rückte, immer mörderischer wurde. Jeder war ergriffen von den höheren Weihen, die dem Airport zuteil wurden, aber die Nerven lagen umso blanker.

Ohnehin war man hier in einer schwierigen Situation. Das ehrgeizige Projekt des neuen Terminals konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Köln-Bonn in der Öffentlichkeit nach wie vor eklatante Imagedefizite aufwies. Als Beamtenflughafen entstanden, klein und provinziell, im Niemandsland der Heide, hatte ihn jahrelang keiner so recht zur Kenntnis genommen. Selbst nachdem immer mehr Airlines Köln-Bonn anflogen, hatten Kölner Reisebüros Urlauber mit beharrlicher Regelmäßigkeit in Düsseldorf eingebucht. Der Schatten der Nachbarstadt hatte jahrelang auf Köln-Bonn gelastet wie ein böser Fluch. Man gab sich alle Mühe, das Angebot zu erweitern, flog auf die Seychellen und in die Karibik, aber wer vier Kilometer weiter in einem Reisebüro der Kölner Innenstadt zwei Wochen Dominikanische Republik buchte, musste sich jemanden suchen, der ihn morgens früh um fünf nach Düsseldorf fuhr.

Dann kam die Katastrophe.

Der Brand am Düsseldorfer Flughafen änderte alles. Über Nacht platzte der ehemalige Heideflughafen Köln plötzlich aus allen Nähten. Der ohnehin geplante Ausbau war damit beschlossene Sache. In halsbrecherischem Tempo entstanden zwei neue Parkhäuser. Neue Touristiker, neue Airlines kamen hinzu, ein erweitertes Linienangebot. Jede nur erdenkliche Kurve tendierte nach oben und schuf ein Klima der Zerreißprobe zwischen den Bewahrern und den Visionären in Köln-Bonn. Mittlerweile fehlte kaum eine namhafte Fluggesellschaft mehr auf den Anschlagtafeln, kaum ein Reiseveranstalter, der etwas auf sich hielt, kaum ein Ziel, das nicht angeflogen wurde. Augenblicklich traten sich im ehemals beschaulichen Terminal 1 die Fluggäste gegenseitig auf die Füße. Das neue Terminal würde sechs weitere Millionen Menschen jährlich fassen – was die Frage aufwarf, ob sich die Propheten des Wachstums zuletzt nicht doch fürchterlich verschätzt hatten.

Hier lag die Angst.

Lavallier wusste, dass immer noch zu wenig Menschen eine ungefähre Ahnung davon hatten, was im Heideland wirklich passierte. Die Presse erwies sich dabei als wenig hilfreich. Sie schürte Ressentiments, indem sie mit nervtötender Regelmäßigkeit die Nachtflugfrage in den Fokus rückte und das neu entstehende Terminal eher ignorierte. Nun jedoch stand der Köln-Bonn Airport im Mittelpunkt eines Interesses, das über Köln oder Nordrhein-Westfalen weit hinausging. Die Landungen der weltpolitischen Elite schienen zu bestätigen, was man im Herzen immer schon gewusst hatte. Dieser Flughafen hatte Weltformat. Nichts hätte gelegener kommen können als solch illustre Publicity.

Und nichts war katastrophaler als ein terroristischer Anschlag!

Niemand wollte einen Anschlag. Aber genauso wenig wollte man eine verpatzte Sternstunde!

Während Lavallier zurück zum Revier ging, fragte er sich, wie sie wohl reagieren würden, wenn er ernsthaft darauf bestand, die Flüge umzuleiten. Seine vorgesetzte Dienststelle, der Leiter Secret Service für den Bereich Ankunft, sie alle vertrauten ihm. Er konnte lediglich die Empfehlung aussprechen, aber sie würden der Empfehlung aller Wahrscheinlichkeit nach folgen. Dennoch wünschte sich Lavallier in diesem Moment, ohne jeden Einfluss zu sein. Er hasste es, darüber nachzudenken, wie er allen den Spaß verdarb, um am Ende vielleicht festzustellen, dass er sich geirrt hatte.

Mit zusammengebissenen Zähnen stieß er die Tür zur Wache auf.

Stankowski hatte Recht. Sie hatten Clinton. Sie hatten sich abgerackert dafür, dass der mächtigste Mann der Welt hier landen konnte.

Er schwor sich, alles zu unternehmen, damit es auch geschah!

Lavallier war sich nicht sicher, ob er Wagner und O’Connor noch antreffen würde nach seinem Gespräch mit der Geschäftsleitung. Statt dessen fand Lavallier sein Büro im Belagerungszustand vor.

Überall standen Kaffeetassen herum. Bär war da und O’Connor, Wagner, Mahder sowie jemand, der einen Overall trug und den er nicht kannte. Sie hatten sich vor dem Fenster versammelt, und jeder schien sich mit jedem zu unterhalten.

»Peter«, zischte er.

Bär wandte den Kopf, erblickte Lavallier und kam zu ihm herüber.

»Dieser O’Connor ist ein Phänomen«, sagte er leise. »Er hat mir die ganze Geschichte erzählt, ich muss schon sagen…«

»Ich weiß, dass er ein Phänomen ist«, antwortete Lavallier. »Mich würde interessieren, was das Phänomen gerade tut. Leitet er schon die Ermittlungen, oder haben wir noch eine Chance?«

»Warte.« Bär senkte seine Stimme noch mehr. »Ich habe ihn überprüft, er scheint sauber zu sein. Sehr prominent. Er ist tatsächlich für den Physik-Nobelpreis nominiert und hat sieben Bücher geschrieben, die sich allesamt verkaufen wie blöde. Auf der ganzen Linie beneidenswert, ich meine, er sieht ja weiß Gott nicht schlecht aus .«

»Ja, ja, ja«, unterbrach ihn Lavallier.

Bär lächelte geheimnisvoll. »Das ist aber noch nicht alles.«

»Nicht? Was ist er noch? Mitglied der Royal Family?«

»Nein, er ist beinahe vom College geflogen. Und weißt du auch, warum? Weil er und Clohessy sich des Sympathisantentums mit der IRA verdächtig gemacht haben.«

Lavallier stutzte. Er sah aus den Augenwinkeln zum Fenster herüber. O’Connor beschrieb soeben irgendwelche Dinge mit großer Geste.

»Sympathisant?«, fragte er. »Oder mehr?«

»Nachweislich nicht mehr. Im Gegensatz zu Clohessy. Aber das will ja nichts heißen.« Er machte eine Pause. »Vielleicht hatten sie in den letzten Jahren mehr Kontakt zueinander, als O’Connor vorgibt.«

»Ah, Monsieur le Commissaire!«

O’Connor hatte ihn erspäht. Die Gruppe löste sich auf und kam vom Fenster herüber. Plötzlich fand sich Lavallier im Mittelpunkt. Mahder schob den Mann im Overall nach vorne.

»Josef Pecek«, sagte er.

»Angenehm«, sagte Pecek. Er war klein, muskulös und untersetzt, mit drahtigem schwarzem Haar und dunklen Augen.

»Wir kennen uns bereits«, ergriff O’Connor das Wort, bevor Lavallier etwas sagen konnte. »Gestern Nachmittag auf dem Flughafen war er in… äh, Ryan O’Deas Begleitung, sie haben verschiedene Male miteinander gearbeitet. Sehen Sie? Pecek ist unser Mann! Sie müssen ihn nur noch fragen.«

Der Alkoholgeruch, den O’Connor am frühen Morgen ausgeströmt hatte, war weitestgehend verschwunden. Der Ire strahlte ihn an. Die Augen in dem gebräunten Gesicht blitzten, und Lavallier hatte das Gefühl, in Bedeutungslosigkeit zu versinken.

»Ich…«

»Können wir Kuhn nicht noch einmal anrufen?«, bat Wagner.

Lavallier hob die Hände.

»Langsam! Eins nach dem anderen. O’Connor, Sie setzen sich jetzt mal da rüber.« Er atmete tief durch und wies auf den kleinen Konferenztisch schräg gegenüber vom Schreibtisch. »Nein, Sie setzen sich bitte alle.«

Er wartete, bis sie sich an dem runden Tisch verteilt hatten. Da gefielen sie ihm zumindest besser als am Fenster.

»Bleiben Sie sitzen«, sagte er mit erhobenem Finger. »Ich komme gleich wieder.«

Er zog Bär am Ärmel hinaus auf den Flur und deutete hinter sich.

»Was soll diese Partygesellschaft?«

»Ich konnte nichts dafür«, verteidigte sich Bär. »Mahder brachte Pecek mit, sie sind zu dir ins Büro, und da trafen sie auf Wagner und O’Connor. Ich kam dazu, die Unterhaltung kam in Gang, na ja.«

»Das heißt, wir können es vergessen, Pecek unter sechs Augen zu verhören.«

»Das hat gewissermaßen schon O’Connor–«

»Verdammt! So ein Idiot.«

»Eric…«

»Du bist auch ein Idiot.«

»He, nun mal langsam, so wild ist das alles gar nicht. Weder Mahder noch O’Connor haben Pecek irgendwelche Informationen gegeben. Dieser Physiker tut sich bloß dicke, um dir eins auszuwischen.«

»Mir eins auszuwischen? Na, toll! Warum denn eigentlich?«

»Der ist so! Purer Übermut, was regst du dich auf.« Bär zog an seiner Zigarette. »Eric, im Ernst, Pecek weiß nicht, worum es geht, er weiß auch nicht, dass sein Kumpel Ryan eigentlich Paddy heißt. Alles klar?«

»Was soll denn klar sein? Habt ihr Pecek überprüft?«

»Ja, natürlich.«

»Und?«

»Es liegt nichts gegen ihn vor. Untadeliger Lebenslauf.«

Lavallier schnaubte. Er sah zur Tür seines Büros und dann wieder zu Bär.

»Was ist mit O’Deas – ich meine Clohessys Wagen?«

»Noch nicht gefunden. Hör zu, du hast mich eben ja nicht ausreden lassen…«

»O’Connor hat uns nicht ausreden lassen«, berichtigte ihn Lavallier verärgert.

»Wie auch immer. Punkt eins, es gibt in unseren Akten keinen Derjak. Das Ähnlichste war ein Ten Haake aus Belgien, und der sitzt. In ganz Europa haben wir niemanden dieses Namens, wie es aussieht. Jetzt brüten die Amerikaner über der Sache.«

»Gut. Zweitens.«

»Wir haben versucht, Kuhn auf seinem Handy zu erreichen, zwecklos. Wir probieren es weiter. Dafür hat uns Dublin ein paar dezidierte Informationen zu Clohessy zukommen lassen. Sie wissen natürlich auch nicht alles, aber dass Clohessy mit der IRA gebrochen hatte und von denen gesucht wird, scheint sich zu bestätigen.«

Lavallier zog die Brauen zusammen.

»Das heißt, Clohessys falsche Identität…«

»Na ja, wir wollen nicht allzu optimistisch sein. Aber wie es aussieht, könnte es sich tatsächlich um eine interne Sache der Iren handeln. Clohessy wollte offenbar raus, weil er zu dem Schluss gelangte, die IRA hätte sich erledigt. Alles, was jetzt noch folgen würde, wäre kein Kampf mehr um eine gerechte Sache, sondern nur noch Terror aus Perspektivlosigkeit.«

»Woher wissen die das?«

»Von V-Leuten aus Ulster. Er hat versucht, sich friedlich abzusetzen, aber sie wollten ihn nicht gehen lassen.«

Dasselbe, was ich eben der Geschäftsleitung erzählt habe, dachte Lavallier. Der extremistische Flügel wird weitermachen, ungeachtet dessen, ob es einen Sinn ergibt oder nicht. Clohessy dürfte ein wandelndes Verzeichnis der technischen Intelligenz der Iren sein. Einer der wenigen, die im Stande wären, den Engländern wirklich zu helfen im Wettlauf um die ausgefeilteste Technologie, weil er wusste, wie die IRA dachte.

Es war sonnenklar, dass sie ihn erledigen mussten.

»Wir haben auch Kuhn überprüft«, sagte Bär.

»Und?«

»Alter Achtundsechziger. Hat sich in den Studentenrevolten engagiert, aber eher als Mitläufer. Hier und da ein bisschen aufgefallen durch Äußerungen zur Situation der Dritten Welt, nichts Ernsthaftes. Dasselbe unausgegorene Zeug, das auch Baader-Meinhof umtrieb, allerdings gibt es keine Berührungspunkte zu RAF, Bewegung 2. Juni, Rote Zellen und wie sie alle hießen. Eine Nacht im Knast verbracht, weil er den einzigen Stein in seinem Leben geworfen und dummerweise sofort jemanden getroffen hat. Danach wird er bürgerlich und tüchtig. Karriere durch verschiedene Verlage, einige Jahre als Korrespondent in den Staaten, mittlerweile Cheflektor bei Rowohlt und O’Connors persönlicher Betreuer.«

»Politisch engagiert?«

»Eher retrospektiv und theoretisch. Aber er scheint ein fähiges Köpfchen zu sein. Wir haben seinen Verlag angerufen, er hatte natürlich keinerlei Anweisung, heute irgendwohin zu fahren.«

»Klar. Was hast du denen erzählt?«

Bär winkte ab. »Nichts. Sie wollten natürlich tausend Dinge wissen.

Interessant ist, dass diese Kirsten Wagner – O’Connor nennt sie Kika – als Wachhund auf O’Connor angesetzt wurde. Sie ist seine Pressereferentin, aber ihr eigentlicher Auftrag lautete sicherzustellen, dass er nicht zu sehr über die Stränge schlägt.«

»Mir kommt es vor, als hätte sich der Wachhund an die Leine legen lassen«, sagte Lavallier zweifelnd.

»Mir auch. Kuhn und O’Connor kennen sich jedenfalls eine ganze Reihe von Jahren. Ich weiß nicht, was sie über den Job hinaus miteinander verbindet, aber nehmen wir mal an, Clohessy glaubt – es würde ja reichen, wenn er es nur glaubt –, O’Connor sei ihm im Auftrag der IRA auf den Fersen. Er wird natürlich unruhig. Nachts sieht er O’Connor und Wagner dann vor seinem Haus stehen, und Kuhn rückt ihm sogar auf die Bude.«

»Hm.«

»Gefällt dir nicht, was?«

»Doch«, beeilte sich Lavallier zu versichern. »Es gefällt mir sehr gut. Weißt du, es gefällt mir irgendwie zu gut. Es würde so viele Probleme lösen, dass ich gar nicht wage, weiter darüber nachzudenken, nur dass mir diese SMS nicht schmeckt: Derjak schießt, Pieza, Spiglen und der ganze Rest. Sie passt irgendwie nicht in deine Theorie. – Haben wir übrigens was in Clohessys Wohnung gefunden?«

»Nichts, was auf einen Kampf hindeutet. Keine signifikanten Fusseln, Haare, ich sagte ja, es scheint, als sei er überhastet aufgebrochen und habe ein paar Sachen mitgenommen. Sein Mobiliar kannst du an einer Hand abzählen. Die Spurensicherung hat einiges sichergestellt. Sie nehmen es gerade unter die Lupe. Sie haben einen Block gefunden, Clohessy muss etwas mit der Hand darauf geschrieben und das Blatt dann abgerissen haben, aber die Schrift hat sich durchgedrückt. Vielleicht eine Spur.«

»Na gut. Gehen wir wieder rein.«

»…lade Sie gern zum Mittagessen ein«, sagte Mahder gerade zu Wagner, als sie das Büro betraten.

»Sehr gern, wir müssen ohnehin .«

»…gibt kein verbindliches Rezept für Irish Stew«, hörten sie O’Connor dazwischen zu Pecek sagen. »Die Vermutung liegt nahe, dass Irish Stew ebenso eine Erfindung der Deutschen ist wie die Pizza, die von den Süditalienern in den späten Sechzigern übernommen wurde und…«

»Ach. Ich dachte eigentlich immer…«

Lavallier schüttelte den Kopf, schickte Mahder, O’Connor und Wagner mit Bär in dessen Büro und sprach einige Minuten allein mit Josef Pecek. Der Techniker wusste wenig über Ryan O’Dea zu sagen. Sie hatten zusammen am Terminal 2 gearbeitet und zwei-, dreimal an den Hangars. Seiner Erfahrung nach war O’Dea ein Mann, der über seine Vergangenheit nicht gern sprach.

»Er hatte etwas Gehetztes«, sagte Pecek. »Ich konnte es in seinen Augen lesen. Und einmal hat er etwas gesagt, was ich behalten habe, weil es so merkwürdig klang. Dieser Job hier, sagte er, dieses Leben sei seine letzte Chance. Ich glaube, er wünschte sich nichts mehr, als in Ruhe gelassen zu werden.«

»Sie haben ihn nicht gefragt, was er damit meinte?«

»Wie schon gesagt, er wollte in Ruhe gelassen werden. Ich bin ein einfacher Mensch, Herr Kommissar. Wenn mir jemand sagt, er will in Ruhe gelassen werden, dann lasse ich ihm seine Ruhe.«

Lavallier sann darüber nach. Dann schickte er Pecek zurück an seine Arbeit, studierte die Liste der Einsätze, die Mahder ihm mitgebracht hatte, und ließ sich mit Stankowski verbinden.

»Brauers Leute und die Technik kriechen seit einer Stunde überall herum, wo Clohessy jemals Hand angelegt hat«, sagte der Verkehrsleiter. »Sie finden nichts. Nicht mal einen Kratzer.« Er machte eine Pause. »Lavallier, im Ernst, ich will ja nichts verharmlosen, aber wir hatten gestern eine umfassende Detailbesprechung mit Major Tom. Es ist alles auf Herz und Nieren gecheckt. Sind Sie sicher, dass die Geschichte mit Clohessy unsere Landungen betreffen könnte?«

Könnte. Würde. Wenn und Aber.

Lavallier seufzte. Er wusste, dass das USDAO, Stankowski und Knott am Tag zuvor drei Stunden im finalen G-8-Meeting verbracht hatten. Die SI, das Auswärtige Amt, Feuerwehr, Luftraumkontrolle, Militär, alle hatten sich eingefunden, um tausendmal besprochene Dinge noch einmal zu besprechen. Major Nader seinerseits hatte zwei Vertreter der Air Force One mitgebracht. Die Verkehrsleitung hatte jede Garantie dafür abgegeben, dass alles verlaufen würde wie geplant.

»Nein«, sagte Lavallier. »Ich bin nicht sicher.«

»Eric.« Immer, wenn er es wirklich ernst meinte, wechselte Stankowski zu Lavalliers Vornamen. »Tun Sie, was Sie tun müssen. Sie wissen, dass Ihnen keiner reinredet. Aber bedenken Sie, dass wir uns bis auf die Knochen blamieren würden. Das USDAO hat kein Problem damit, wenn wir ernsthafte Bedenken anmelden. Die Sicherheit ihres Präsidenten geht ihnen über alles. Aber sie hätten bestimmt ein Problem damit, wenn wir ihnen wochenlang erzählen, es sei alles in

Ordnung, und dann stellt sich in letzter Minute raus, dass wir nicht mal unsere eigenen Leute vernünftig überprüfen. Die Sache mit O’Dea ist peinlich! Sie ist beschämend! Wir müssten die Hose weiter runterlassen, als ein Paar Beine lang ist!«

»Ja. Ich weiß. Wir werden sie nicht runterlassen.«

»Versprechen Sie mir das?«

»Ich kann Ihnen nichts versprechen.« Lavallier verdrehte die Augen. »Herrgott, glauben Sie, mir macht das Spaß?«

Stankowski schwieg einen Moment.

»Natürlich nicht«, sagte er. »Tut mir leid. Ich möchte ungern in Ihrer Haut stecken.«

»Ich stecke selbst ungern drin.«

»Sie machen das schon.«

Lavallier legte auf und stand eine Weile reglos da.

Sie machen das schon. Kaum einer, der ihm an diesem Morgen nicht versichert hätte, er würde das schon machen.

Es war zum Auswachsen. Nichts wäre befreiender gewesen als die Bestätigung, dass Bär mit seiner Version Recht behielt. Aber auch so drohte der Fall O’Dea den kompletten Tagesablauf zu lähmen, ausgerechnet heute, wo tausend Vorbereitungen zu treffen waren. Um die Landung der russischen Iljuschin hatte er sich schon nicht kümmern können. Wenigstens die Kanadier wollte er am Nachmittag persönlich in Empfang nehmen.

Hatte er vorhin nicht gehört, wie Mahder Wagner und O’Connor zum Mittagessen eingeladen hatte?

Das war gut. Es war die beste Idee seit langem. So hatte er sie in seiner Nähe und zugleich aus den Füßen.

FLUGHAFENGELÄNDE

Die Kantine lag im alten Terminal. Martin Mahders Büro lag in der Verwaltung, die dem Flughafen – ebenso wie die Hauptpolizeiwache und das Holiday Inn – einen halben Kilometer vorgelagert war. Er wohnte unweit des Geländes in Porz. Normalerweise fuhr er zum Mittagessen nach Hause. Für Wagner und O’Connor machte er eine Ausnahme und erklärte sich bereit, sie zum zentralen Parkplatz zu chauffieren, den das Hufeisen des alten Terminals umschloss.

Als sie die Polizeiwache hinter sich gelassen und eine hoch gelegene Straße unterquert hatten, fiel Wagners Blick auf eine kleine Koppel.

»Pferde!«, rief sie verblüfft.

Mahder lachte.

»Ja, romantisch, was? Sie gehören der Polizei. Hohe Staatsgäste und andere Prominenz werden schon mal von der Kavallerie abgeholt.«

Wagner wandte den Kopf nach hinten. Die Koppel wurde rasch kleiner. Der Anblick der drei Pferde auf dem von mehrspurigen Straßen eingelagerten Rasenstück wirkte beinahe surreal. Sie fuhren weiter auf das Terminal zu. Links neben und über ihnen verzweigten sich die Zubringer, zur Rechten gewahrte sie eine riesige Fläche aus Sand und Schutt, der die Gerippe gerade begonnener Auffahrten entwuchsen. Es kam ihr vor, als habe ein Besessener das Gewirr aus hohen und ebenerdig gelegenen Straßen und Wegen in einem Anfall von Schaffenswahn begonnen, um dann mittendrin jedes Interesse zu verlieren. Etwas Apokalyptisches haftete dem Szenario an, als seien die Dinge nicht so sehr im Entstehen als vielmehr Zeugnisse einer zivilisierten Vergangenheit, bevor der große Sturm alles hinweggefegt hatte, Flugzeuge, Technik, Fortschritt und Menschen, um wieder Platz zu schaffen für Bäume, Pferde und die Abgründe des Instinkts.

Mahder deutete auf das Band des alten Zubringers, der sich auf mächtigen Säulen zur Abflugebene hochschraubte.

»Das reißen sie alles ab«, sagte er. »Das Problem mit den alten Zubringern wäre, dass sie direkt durch den neuen Flughafen hindurchstoßen und ihn in der Mitte zerteilen würden. Die neue Straßenführung nimmt ihn von außen in die Zange.«

»Wo ist denn nun das berühmte Terminal 2?«, fragte Wagner.

Mahder lachte erneut. Sein blonder Schnurrbart klappte nach oben und gab eine Reihe schlecht gemachter falscher Zähne frei.

»Gut versteckt.«

»Ich habe gestern schon danach gesucht.« Sie zeigte auf eine breite Front mit Stahlnetzverkleidung und Spiralauffahrt jenseits des Zubringers. »Das da ist ja wohl das Parkhaus.«

»Ja, das größte Europas. Toll, was? Unser neues P2. Schon schick. Das neue Terminal entsteht dahinter. Liegt an der augenblicklichen Straßenführung, dass Sie es nicht so gut sehen können.« Mahder steuerte den Wagen unter dem Zubringer hindurch, der jetzt eine Kurve beschrieb und sich hinauf zur Abflugebene wand. Er zeigte auf eine Stelle hinter dem Parkhaus. »Passen Sie auf, jetzt… zwischen der Parkhausauffahrt und dem alten Terminal… sehen Sie den Glasbau?«

Wagner folgte seiner ausgestreckten Hand. Jenseits des P2 wuchs etwas in die Höhe, das auf den ersten Blick wie ein gigantisches Gewächshaus anmutete. Die Konstruktion war licht und filigran, trotz der kolossalen Ausmaße. Wagner sah nur einen Teil. Es war schwer zu sagen, wie groß das Ding insgesamt war, aber es schien ziemlich groß zu sein.

»Wenn wir damit fertig sind, haben wir hier Europas modernsten Airport«, sagte Mahder. »Kein anderes Terminal in der Welt hat gläserne Fluggastbrücken. Es steckt voller Raffinessen.«

»Sie scheinen ja mächtig stolz darauf zu sein«, bemerkte O’Connor.

»Ja, sicher.« Mahder hob die Brauen. »Warum auch nicht?«

»Und das bekommen Sie alles unter einen Hut? Den kompletten Umbau und die Landung einiger Dutzend Staatsmänner?«

»Ach, wissen Sie, der Flughafen erlangt Bedeutung durch das eine wie das andere. Ansonsten tangieren die Landungen den Umbau selten. Weiter hinten, an den Landebahnen und Hangars, da legen wir schon mal für ein Stündchen die Arbeit nieder, wenn jemand Wichtiges reinkommt. Alles ruht, die Prominenz macht winke, winke, steigt in ihre Limousine, und wir hauen wieder rein, als sei nichts gewesen.«

»Klingt nicht sonderlich beeindruckend.«

»Wir kriegen ja gar nichts davon mit«, sagte Mahder. »Nur, dass man sich an manchen Tagen vorkommt wie bei James Bond. Überall Agenten, Scharfschützen, Polizei.« Er zuckte die Achseln. »Lavallier macht einen ordentlichen Wirbel. Ich weiß nicht, das muss er wohl, aber trotzdem. Die haben alles und jeden gefilzt, alles auf den Kopf gestellt, mir ist schleierhaft, was hier passieren soll. Na, was soll’s. Ich bin kein Fachmann in solchen Dingen.«

»Hat Paddy auch beim Bau des neuen Terminals mitgewirkt?«

»Paddy?«, echote Mahder.

»Clohessy. Pardon, ich vergaß sein schlechtes Namensgedächtnis. Er hält sich ja seit kurzem für O’Dea.«

»Ja, hat er. Ich hatte ihn für andere Aufgaben vorgesehen, aber Sie wissen ja, wie so was geht. Wir arbeiten mit Heerscharen von Dienstleistern zusammen, ein Fiasko.«

Mahder ließ die Seitenscheibe herunterfahren und hielt einen Ausweis gegen ein elektronisches Lesegerät. Eine Schranke öffnete sich.

»Ich weiß nicht, ob Sie mal ein Haus gebaut haben«, sagte er, während sie auf einen geräumigen Parkplatz fuhren. »Mein kleines bescheidenes steht ganz in der Nähe. Es umfasst Erdgeschoss, ersten Stock, Mansarde, einen kleinen Garten und eine Garage. Sehr hübsch. Dennoch, ich würde nie wieder bauen, es war die Hölle! Selbst wenn Sie überall gleichzeitig sind, machen mindestens drei Leute gerade was falsch, sofern sie überhaupt erscheinen und nicht Kaffeepause machen oder woanders sind. Sie liefern Ihnen Sachen an, die Sie gar nicht bestellt hatten und verarschen Sie mit den Rechnungen. Jetzt potenzieren Sie das Ganze hoch auf ein Objekt wie das T2, und Sie wissen, warum unsere Leute ständig einspringen müssen. – So, da wären wir.«

Mahder parkte dicht am alten Terminal. Sie stiegen aus und folgten ihm in das Gebäude. Ungefähr hier hatten sie gestern auf Paddy gewartet.

»Ich will hoffen, dass es Ihnen schmeckt«, sagte Mahder, während sie mit dem Lift in den fünften Stock zur Kantine fuhren. »Sie kochen hier mal so und mal so, aber im Holiday Inn kochen sie eigentlich durchweg beschissen.«

O’Connor lächelte.

»Wie sagten die Könige immer so schön, wenn sie bei den Untertanen schmarotzen kamen? Lass es nicht allzu sehr schmecken. Wenn es schmeckt, versuchen sie uns zu vergiften.«

Sie fanden einen Tisch nahe der Essensausgabe. Es gab Frikadellen und Möhrengemüse. Mit Sicherheit war es keine hohe Kunst, was sie aßen, aber für einen Massenbetrieb ganz ordentlich.

Wagner konsumierte Unmengen von Wasser. Nachdem die Betrunkenheit und der Kater gewichen waren, empfand sie sich als vollständig dehydriert, wie einen Extrakt ihrer selbst, zu Pulver zermahlen und konserviert. Die letzte Nacht schien ihr jede Flüssigkeit entzogen zu haben. Mit dem Wasser kehrten Wohlbefinden und Auffassungsvermögen zurück.

Und die Sorge um Kuhn.

Solange es ihr schlecht gegangen war, hatten Verdrängungsmechanismen die Kontrolle übernommen und sich auf das Wesentliche konzentriert, nämlich ihren Gesamtzustand wiederherzustellen. Eine innere Registratur hatte den Fall Kuhn vorübergehend weggeschlossen. Der Schrecken, dass der Lektor vermutlich Opfer einer Entführung geworden war, zeigte erst allmählich sein wahres Gesicht.

Sie zog ihr Handy hervor, spielte einen Moment damit herum und wählte Kuhns Nummer.

O’Connor sah sie fragend an.

»Ich weiß schon«, seufzte sie. »Lavallier hat’s verboten.«

»Dann mach’s. Ungehorsam ist sexy.«

Mahder sah von seinem Teller auf.

»Darf ich fragen, wessen Sie O’Dea, ich meine Clohessy, überhaupt verdächtigen?«, fragte er kauend.

»Nun ja.« O’Connor breitete die Arme aus. »Wir schätzen, er will die Welt vernichten. Er hat aus Plastiksprengstoff und Gewürzen diese Frikadellen…«

»Nein, im Ernst. Ich habe ihn eingestellt. Sie können sich vorstellen, dass ich mich verdammt unwohl fühle bei der Sache.« Mahder trank einen Schluck Cola. »Also, was glauben Sie? Ist das eine persönliche Geschichte zwischen Clohessy und irgendwelchen Leuten, die ihm ans Leder wollen, oder hat es tatsächlich was mit uns zu tun?«

O’Connor rieb sich das Kinn.

»Was ich glaube, ist unwichtig«, sagte er. »Vorgestern glaubte ich zum Beispiel, ich könnte mich nie verlieben.«

Wagner sah ihn aus den Augenwinkeln an, während sie dem Freizeichen in ihrem Handy lauschte. O’Connors Gesichtsausdruck wies jene Gleichgültigkeit auf, die sie inzwischen nur zu gut an ihm kannte.

Trau ihm nicht, dachte sie. Er verliebt sich ebenso in ein heißes Essen. So lange, bis es kalt wird.

»The person you have called is temporarily not available«, sagte die vertraute Stimme der Mailbox.

Wo, um Gottes willen, war Kuhn? Warum konnte er nicht wenigstens rangehen?

»Und Sie?«, fragte Mahder zu ihr gewandt. »Was glauben Sie?«

»Ich weiß es nicht«, sagte sie leise. »Aber es ist nicht Ihre Schuld. Sie konnten ja nicht wissen, dass er ein–«

Sie stockte.

Ja, was? Was war Paddy Clohessy?

Ein Mörder? Ein Attentäter? Oder einfach nur ein verzweifelter Mann auf der Flucht vor seiner Vergangenheit?

Mahder lachte, diesmal ohne jede Fröhlichkeit.

»Ich will Ihnen sagen, was passiert, wenn Lavallier zu dem Schluss gelangt, es hätte was mit uns zu tun. Er wird die Flüge umleiten. Wir sind dann raus aus dem Politspektakel. Nicht Köln, aber der Airport.« Er kratzte den Rest Möhrengemüse zusammen und schlang ihn herunter. »Mich würde wirklich interessieren, was er in der Hand hat. Uns gegenüber hat er nur davon gesprochen, Clohessy sei in einen Fall von Entführung verwickelt. Das Vertrackte ist, dass man nie gesagt bekommt, woran man ist. Wir dürfen uns den Arsch aufreißen, damit alles klappt, aber wenn es dann doch nicht klappt, sagt einem keiner, warum!«

»Vielleicht weiß Lavallier ja selbst nicht, warum«, sagte O’Connor.

Mahder gab ein unwilliges Brummen von sich.

»Eben in seinem Büro haben Sie davon gesprochen, dass Clohessy möglicherweise auf der Flucht ist. Vor der IRA, wenn ich mich recht entsinne. Und dass es mit uns nichts zu tun hätte.«

Es klang trotzig, so wie: Du hast’s mir versprochen! Wir werden keinen Ärger kriegen.

»Ich habe ebenfalls gesagt, dass wir komplett falsch liegen können«, sagte O’Connor.

»Und was wäre Ihrer Ansicht nach die Konsequenz?«

»Ganz einfach. Paddy ist ein Terrorist.«

»Ein Terrorist. Scheiße! Und was hat er dann vor, der Terrorist? Alles nur Mutmaßungen. Warum sagt uns Lavallier nicht, was er selbst denkt?«

O’Connor zuckte die Achseln. »Unser Freund Kuhn ist verschwunden. Das war letzte Nacht. Heute verschwindet Paddy. Ein Überangebot an Rätseln, finden Sie nicht? Was sollte Lavallier denn Ihrer Meinung nach tun?«

»Uns involvieren«, sagte Mahder mit Nachdruck. »Er soll uns sagen, wie er überhaupt darauf kommt, dass Ihr Freund entführt worden ist. Vielleicht können wir helfen, vielleicht fällt mir oder Pecek oder sonst wem was Sinnvolles ein.« Er machte eine Pause. »Sie beide haben den Vorfall doch gemeldet. Was ist es denn, dass Sie so sicher sind, er sei entführt worden?«

»Er hat uns eine Nachricht geschickt«, sagte Wagner.

»Eine Nachricht?«

»Eine SMS. Einen Hilferuf. Letzte Nacht.«

Mahder hörte auf zu kauen und starrte sie an.

»Das ist allerdings… Aber hat es deswegen was mit uns zu tun? Was hat er denn geschrieben?«

»Kauderwelsch«, sagte O’Connor und wischte sich den Mund ab. »Kuhn ist so schlau, dass er sich nur in Komprimaten auszudrücken weiß.«

Mahder runzelte die Stirn.

»Was wollen Sie aus Kauderwelsch schließen?«

»Dass er in Paddys Wohnung war. Und da hat ihn sich jemand gekrallt.« O’Connor zögerte. »Sie sagten, er hatte keine Freunde. Hat er nie irgendwelche Namen erwähnt? Nicht doch einer, der ihn mal

angerufen hat?«

»Was meinen Sie?«

»Kannte er vielleicht jemanden namens Derjak?«

Mahder schwieg eine Sekunde. Dann schüttelte er langsam den Kopf.

»Nein. Derjak?«

»Oder so ähnlich. Derijak.«

Der Abteilungsleiter schüttelte weiter den Kopf. Dann hielt er inne.

»Erleuchtung?«, fragte O’Connor.

»Derrick«, sagte Mahder.

Wagner stützte den Kopf in die Hände und sah ihn an.

»Derrick ist eine Fernsehserie«, sagte sie. »Mit Horst Tappert.«

»Ja, natürlich.« Mahder zog ein verlegenes Gesicht. Dann lachte er sie wieder mit seinen falschen Zähnen an. »Nun, keine Ahnung. Was ist? Hätten Sie noch Lust auf eine kleine Rundfahrt über den Flughafen? Ich könnte eine gute Stunde erübrigen, und bevor Sie sich in Lavalliers Hinterzimmer langweilen .«

Wagner warf einen Blick auf die Uhr. Es war zwei durch. Noch massenhaft Zeit bis zu ihrem Termin beim WDR.

»Klingt gut«, sagte sie. »Was meinst du, Liam? Lust, was dazuzulernen?«

»Hatte ich nie. Aber du siehst ja, was aus mir geworden ist. Fahren wir.«

LAVALLIER

Bär rief ihn an, als er gerade auf dem Parkplatz eintraf, über den die Journalisten und die Diplomaten in ihre Areale geleitet wurden, wenn Prominenz einflog. Hinter dem lang gezogenen weißen Dach des VIP-Zelts begann das Vorfeld Fracht West. Auch Clintons Air Force One würde hier einrollen.

Oder auch nicht.

Lavallier winkte Knott zu, der ein Stück weiter mit dem Fahrer einer Catering-Firma diskutierte, zog sein Handy hervor und drückte auf Empfang.

»Das musst du dir anhören«, sagte Bär.

Im Hintergrund startete eine 707. Lavallier hielt sich das rechte Ohr zu und ging ein paar Schritte abseits.

»Was muss ich mir anhören?«

»Ich habe dir doch von dem Brief erzählt.«

»Was? Ich verstehe kein Wort! Welcher Brief?«

Das Dröhnen der startenden Maschine verwandelte Bärs Stimme in einen schnarrenden Geräuschteppich. Lavallier ging zu seinem Wagen zurück, stieg ein und knallte die Tür zu.

»Noch mal. Wovon redest du?«

»Sie haben in Clohessys Wohnung einen Schreibblock gefunden«, sagte Bär. »Übrigens auch Briefmarken und Kuverts. Er muss kurz vor seiner Abreise einen Brief geschrieben haben, an wen auch immer. Die Schrift hat sich durchgedrückt.«

»Verstehe. Und?«

»Du kriegst die Motten, ich sag’s dir! Es war relativ einfach zu entziffern. Leider sieht es so aus, als hätten wir nur die letzte Seite erwischt, es sind nicht mehr als zehn Zeilen, aber darin kommt unser lieber Onkel Physiknobelpreisträger gar nicht gut weg.«

»Lies schon vor.«

Bär räusperte sich gewichtig.

»Also, pass auf. Es beginnt mittendrin: ›…ist zu allem fähig. Niemand käme je auf die Idee, dass er für Foggerty arbeitet, aber ich kenne ihn besser.‹«

»Foggerty?«

»Überprüfen wir gerade. Hör weiter: ›Er mag tausendmal mit Preisen überhäuft werden und Bücher schreiben bis ans Ende aller Tage. Die scheinheilige Ratte! Tatsache ist, dass er mich für sie gefunden hat. Wenn ich diese Zeilen schreibe, habe ich meine Sachen bereits gepackt. Es ist meine einzige Chance. Ich dachte, alles wäre vorbei, aber heute Nacht ist Ryan O‘Dea gestorben. Keine Ahnung, wie es weitergeht. Such nicht nach mir, ich melde mich, sobald ich kann. Meine Liebe ist bei dir. Paddy.‹«

Lavallier schwieg.

»Bist du noch dran?«, quäkte Bärs Stimme aus dem Handy.

»Äh… ja.«

»Was sagst du dazu?«

»Ich weiß nicht. Habt ihr das Ding auf Echtheit überprüft?«

»Wir sind natürlich nicht losgezogen und haben Clohessy aufgespürt, um ihn zu fragen«, sagte Bär. »Aber sowohl an den Kugelschreibern, die wir auf dem Schreibtisch gefunden haben, als auch an dem Block waren seine Fingerabdrücke. Und nur seine!«

»Schriftanalyse?«

»Es gibt keine Schriftproben von Clohessy.«

»Wieso? Er muss doch irgendwann mal was unterschrieben haben.«

»Ja, seinen Arbeitsvertrag. Daraus kannst du nichts entnehmen, wenngleich ich sagen würde, dass die Unterschrift auf dem Papier der im Vertrag nicht unähnlich sieht.«

Lavallier legte die Rechte auf den Lenker des Autos und begann, mit den Fingern darauf zu trommeln.

»Nirgendwo steht was von O’Connor«, sagte er. »Oder von der IRA.«

Am anderen Ende der Leitung atmete Bär hörbar ein.

»Eric, bist du taub? Mit Preisen überhäuft! Bücher geschrieben, Mann! Von wem soll denn da die Rede sein, wenn nicht von O’Connor?«

Lavallier hörte auf zu trommeln.

»Das heißt also, O’Connor war tatsächlich hinter Clohessy her.«

»Die IRA war hinter ihm her. Und O’Connor ist die verdammte IRA!«

»Dr. Liam O’Connor? Bestsellerautor und angehender Nobelpreisträger?«

»Ja, um Himmels willen!«

Es kann nicht sein, dachte Lavallier. Zugleich durchzog ihn ein Gefühl tiefster Erleichterung. Wenn der Brief echt war und sich tatsächlich auf O’Connor bezog, dann behielt Bär Recht, und der Flughafen war aus dem Schneider.

Es wäre zu schön, um wahr zu sein.

Andererseits, ein Nobelpreisträger! Wenn auch ein angehender.

Er hatte keine Handhabe. O’Connor mochte der Teufel in Person sein, solange kein Verdacht bestand, dass er jemanden umgebracht oder sonstwie geschädigt hatte, würden sie nur weiterhin versuchen können, ihn aus der Reserve zu locken.

Er sah hinüber zu Knott. Schon jetzt war hier überall Polizei. Reihen grüner Mannschaftswagen säumten das Gelände. Eben noch hatte es so ausgesehen, als seien die ganzen Vorbereitungen umsonst gewesen.

O’Connor und die IRA. Unfassbar!

Lavallier startete den Wagen und fuhr los.

RUNDFAHRT

Etwa zur gleichen Zeit rollte Mahders Wagen langsam auf den Checkpoint zu, der die Straße zum Terminal 2 gegen Unbefugte ab grenzte. Er hielt seinen Ausweis gegen die Fensterscheibe. Zwei Männer kamen aus der Wachbaracke und näherten sich.

»Den einen kenne ich«, raunte Mahder Wagner zu. »Er ist von der SI. Der andere gehört entweder zu einem der SEKs, oder er ist ein Ami.«

Er ließ die Scheibe herunter. Der Mann von der SI nahm den Ausweis entgegen, beugte sich herab und kontrollierte das Bild. Dann nickte er und gab das Dokument zurück. Sein Begleiter stand mit ausdrucksloser Miene daneben. Wagner sah, dass er eine gepanzerte Weste trug.

»In Ordnung.«

Der SI-Mann hob die Hand. Auf sein Zeichen wurde in der Baracke die Schranke betätigt, und sie durften weiterfahren.

»Wieso denn die Amis?«, fragte Wagner.

»Die sind überall«, erwiderte Mahder. »Sie machen sich keine Vorstellung davon, was hier los ist. Seit Wochen und Monaten haben wir den Secret Service am Hals, die Russen, die Tommys, die Franzosen und die Japse. Heute Abend kommt Clinton. Sie überlassen nichts dem Zufall. Ich habe gehört, es sind keine von unseren Leuten, sondern Amis, die den Präsidentenjumbo einweisen. Nicht mal das lassen sie uns machen.«

»Ihr seid nicht mehr so ganz der Herr im Haus, kann das sein?«, spottete O’Connor.

Mahder sah ihn an.

»Darauf können Sie Gift nehmen!«

Er folgte dem Verlauf der provisorischen Straße. Vor ihnen wurde eine riesige planierte Ebene sichtbar. Zur Rechten erstreckte sich die

gläserne Front des T2.

»Tja«, sagte Mahder. »Schon nicht schlecht, was?«

Wagner betrachtete wortlos den gewaltigen Bau. Obwohl es noch rund ein Jahr dauern würde bis zur Eröffnung, konnte man sich der Faszination schon jetzt schwerlich entziehen. Paradoxerweise waren es gerade die ausladenden Dimensionen, die das Filigrane an der Architektur zur Geltung brachten. Die spinnennetzartige Konstruktion des Dachs schien über den endlosen Glasflächen zu schweben.

»Es sieht toll aus«, sagte sie ehrlich beeindruckt.

»Warten Sie, bis die Fluggastbrücken fertig sind. Acht gläserne Brücken, über die Sie in den Flieger gelangen. Wie im Märchen.«

»Ja«, sagte O’Connor. »Ein wahres Luftschloss!«

Mahder lenkte den Wagen auf die planierte Fläche und fuhr in gemächlichem Tempo die Fassade entlang. Überall waren Arbeiter zu sehen. Menschen mit Helmen kletterten auf Gerüsten im Innern des Gebäudes herum, schweißten, hämmerten und bewegten Materialien.

»Wir sind hier auf dem neuen Vorfeld«, erklärte er. »Im Grunde entsteht hier ein zweiter Flughafen. Die Kapazitäten werden verdoppelt, nur halt auf einem ganz anderen Niveau als bisher.«

»Wie lang ist der Kasten?«, fragte O’Connor interessiert.

»Rund vierhundert Meter.« Mahder zeigte auf eine Gruppe Männer in dunklen Overalls mit Schirmmützen, die eben aus dem Terminal herauskamen und zu einem Transporter gingen. »Das sind auf jeden Fall Amerikaner. Schnüffeln überall rum. Einmal haben sie es beinahe umgestülpt, so genau haben sie alles unter die Lupe genommen. Zusammen mit den Jungs von der SI, damit die nicht auf die Idee kamen, sie hätten im eigenen Haus nichts mehr zu sagen. Mittlerweile sieht man hier kaum noch Sicherheit. Verstehen Sie, wenn hier jemand eine Waffe hätte verstecken wollen, wäre es aufgefallen. Oder ein Schütze, der von hier auf die Maschine ballert – gänzlich unmöglich!«

»Wo kommen die Flieger denn rein?«

»Wahrscheinlich hier.« Mahder wies auf die Seite des Vorfelds, die dem Terminal gegenüberlag.

»Ach! Da ist schon die Landebahn?«

Der Abteilungsleiter lachte.

»Ich weiß, man verliert schnell die Übersicht. Sie müssen sich das komplette Flughafengelände als rund fünf Kilometer langes Gebilde vorstellen. An der Kopfseite ist der eigentliche Airport, Autobahnzubringer, Terminal. – Warten Sie mal, Kopf ist gut, passen Sie auf, das Airport-Building ist Ihr Kopf, und Ihre Augen geben die Position des alten Terminals an. Ja? Die lange Landebahn beginnt gleich neben Ihrem linken Ohr. Das neue Terminal hingegen ist Ihr linkes Ohr. Darum haben Sie eine phantastische Sicht von hier, Sie sehen die Vögel kurz vor der Bodenberührung, es ist toll!«

»Beeindruckend«, sagte O’Connor. »Und so werden auch die Staatsgäste einfliegen?«

»Tja.« Mahder setzte einen verschmitzten Ausdruck auf. »Das weiß eben keiner so genau, von welcher Seite sie die Bahn anfliegen. Soviel ich weiß, bleibt es bis zur letzten Sekunde offen. Andererseits – was weiß ich schon.«

Wagner überlegte. Wenn Mahders Aussage zutraf, machte eine Manipulation am neuen Terminal keinen Sinn. Von hier ein Attentat zu planen, war dann ziemlich sinnlos.

Sie fuhren weiter, ließen den Neubau hinter sich und erreichten den Vorfeldbereich des Terminal 1. Zwei sternförmige Gates zweigten von dem Hufeisenbau ab. Je ein halbes Dutzend Flieger konnte hier andocken. Mahder lenkte den Wagen über die riesigen Freiflächen und fuhr eine Reihe merkwürdiger Kurven, bis Wagner erkannte, dass er einer aufgemalten Fahrbahnmarkierung folgte. Ein Stück vor ihnen rollte eine französische DC 8 über das Feld. Einen Moment lang sah es so aus, als hielte die Maschine direkt auf sie zu, dann bog sie ab zu einem der Sterne.

»Wir haben drei Landebahnen«, erklärte Mahder im Tonfall eines Dozenten. »Der Super-Runway, von dem wir gerade sprachen, zieht sich vom Terminal bis in die Heide. Er hat eine Länge von 3800 Metern. Wir sind einer der wenigen Airports, auf dem Space Shuttles landen können, wussten Sie das?«

»Schöne Aussichten für die Zukunft«, sagte O’Connor.

»Allerdings. Parallel dazu verläuft eine kürzere Landebahn, eben mal knapp zwei Kilometer lang. Weiter vorne«, seine Hand wies in die Ferne, wo sich der Super-Runway in der Ebene der Heide verlor, »werden die beiden Bahnen von einer dritten gekreuzt. Wir nennen sie die Querwindbahn. Etwa zweieinhalb Kilometer lang. Das ist koordinationstechnisch alles sehr interessant, weil die Maschinen unsere Runways von beiden Seiten anfliegen können. Die großen Maschinen, also Jelzins Iljuschin oder die Air Force One, landen natürlich auf der langen Bahn.«

Sie hatten das alte Terminal und die Sterne jetzt im Rücken und passierten eine Front aus mehreren Gebäuden. Wagner stellte überrascht fest, dass dieser ausgelagerte Teil des Airports die Größe eines mittleren Industriegebiets hatte. Mittlerweile fuhren sie auf einer richtigen Straße. Rechts und links lagen Hangars und Frachtgebäude. Weiter vorne erhob sich der Tower.

»Wir bewegen uns immer noch parallel zum Super-Runway«, sagte Mahder. »Dieser Bereich ist übrigens das Herzstück. Zur anderen Seite hin landen die Cargomaschinen. Auch so ‘ne Sache, die keiner weiß. Wir sind der zweitgrößte Frachtflughafen in Deutschland. Jedenfalls, den Tower haben wir neu gebaut. Daneben sehen Sie den kleinen, alten. War mal das höchste Gebäude hier, kaum zu glauben. Man verknüpft so seine Erinnerungen damit, aber die Zeit hat uns einfach überrollt. Jetzt wird er wohl verschwinden.«

»Können Sie nicht ein Cafe oder so was reinbauen?«

»Wurde diskutiert. Erst hieß es, wir bauen ihn zu einer Sicherheitszentrale um, Einsatzzentrale, Notfallzentrum, aber jetzt kommt er doch weg. Mit Wehmut.« Mahder zuckte die Achseln. »Tja. Das Wesentliche haben Sie gesehen. Was sagt die Uhr?«

»Kurz vor drei.«

»Gut. Kehren wir um.«

Als sie zwischen den Hallen und Hangars zurückfuhren, kam Wagner plötzlich eine Idee. Sie wählte auf dem Handy die Nummer der Auskunft und ließ sich mit dem Hyatt verbinden.

»Sie haben einen Gast namens Aaron Silberman«, sagte sie. »Wäre es möglich, dass Sie mich mit ihm verbinden?«

Die Rezeptionistin schaltete Wagner in die Warteschleife. Nach einer Minute meldete sie sich wieder und sagte, Silberman sei nicht in seinem Zimmer.

Wagner hinterließ ihren Namen und ihre Nummer mit der dringlichen Bitte, sie wegen Kuhn zurückzurufen.

»Das ist eine gute Idee«, sagte O’Connor von der Rückbank. Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Ihr Geist sandte eine stumme Bedarfsmeldung nach hinten in der Hoffnung, ein virtueller Sachbearbeiter in O’Connors Kopf würde sie in Empfang nehmen, quittieren und zur umgehenden Erledigung weiterreichen.

Im nächsten Moment spürte sie, wie seine Finger begannen, ihren Nacken zu kraulen.

Es hatte funktioniert.

»Ja«, sagte sie. »Ich weiß.«

POLIZEIWACHE

Mahder brachte sie bis vor die Tür des Flachbaus und verabschiedete sich.

»Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann«, sagte er, »lassen Sie es mich wissen. Ich sitze ja gleich gegenüber.«

»Wird gemacht«, sagte Wagner. »Danke für die Einladung.«

»Danke für Ihr Interesse.«

Eine Gruppe Beamter kam aus der Wache. Zwei von ihnen trugen gepanzerte Westen, Springerstiefel und MPs. Sie stiegen in einen der Mannschaftswagen und fuhren in Richtung Terminal 1 davon.

Wagner sah ihnen nach.

»Und?«, fragte sie. »Was hältst du mittlerweile von der ganzen Sache, jetzt, wo wir wieder nüchtern sind?«

O’Connor kniff die Augen zusammen. Er fuhr sich durch das silberne Haar und sagte ein paarmal: »Hm. Hm.«

»Soso.«

»Ich bin mir nicht sicher. Paddy hat ganz sicher Dreck am Stecken, und dass Kuhn verschwunden ist, sollte uns zutiefst beunruhigen. Vielleicht fangen wir aber auch an, Gespenster zu sehen.«

»Du meinst, es gibt gar keine Pläne für ein Attentat?«

»Möglicherweise nicht. Nur den armen kleinen Paddy und seine hausgemachten Probleme. Wie schade. Es versprach gerade spannend zu werden. Aber Verschwörungstheorien sind nun mal die Domäne der Amerikaner. Komm, schauen wir, was Lavallier hat.«

Sie nickte.

»Ich versuch’s noch mal bei Kuhn. Ganz gleich, was Lavallier sagt.« Während sie das Gebäude betraten und den Gang zum Büro des Hauptkommissars entlangschritten, meldete sich wieder Kuhns Mailbox. Wagner war entmutigt. Je länger er sich nicht meldete, desto schrecklicher wurde die Vorstellung, er könne vielleicht nie wieder an ein Telefon gehen.

Was, wenn er tot war?

Sie wollte diesen Gedanken nicht denken. Er hatte nichts in ihrem Kopf zu suchen.

»O’Connor«, sagte eine Stimme hinter ihnen.

Sie blieben stehen und drehten sich um. Lavallier kam ihnen mit eiligen Schritten hinterher.

»Mitkommen in mein Büro!«, sagte er schroff.

»Ah, Monsieur le Commissaire«, sagte O‘Connor liebenswürdig. »Was ist los, haben Sie Sorgen? Warum fliegen Sie nicht in Urlaub, es steht alles voller Flugzeuge, und–«

»Um es gleich auf den Punkt zu bringen«, sagte Lavallier, »ich kann jetzt keinen einzigen von Ihren blöden Kommentaren gebrauchen. Entweder Sie beide kommen mit, oder ich lasse Sie mitbringen. Letzteres würde Ihnen kaum gefallen, das versichere ich Ihnen.«

Er schob sie in sein Büro und deutete stumm auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. Wagner setzte sich.

O’Connor sah missmutig drein.

»Was soll das?«, murrte er. »Haben wir was falsch gemacht? Waren wir zu lange draußen spielen?«

Lavallier schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.

»O’Connor, ich erkläre Ihnen jetzt mal was in klar verständlicher Sprache! Sie gehen mir auf die Nerven! Ich weiß nicht, was Sie mit Kuhns oder Clohessys Verschwinden zu tun haben oder ob überhaupt einer von den beiden wirklich verschwunden ist, aber kommen Sie mir nicht mit dem Märchen vom zufälligen Wiedersehen.«

O’Connor starrte zuerst Wagner an und dann den Kommissar. Dann nahm er widerwillig Platz.

»Sind Sie verrückt geworden?«, blaffte er.

Lavallier ließ sich in seinen Sessel fallen und verschränkte die Arme.

»Kennen Sie einen Foggerty?«

»Foggerty?«

»Ganz richtig.«

»Du lieber Himmel, wen ich alles kennen soll. Ich kenne dermaßen viele Leute, dass es mich nicht die Bohne interessiert.«

»Denken Sie nach!«

»Nein. Nein, ich kenne keinen Foggerty. Nicht mal, wenn er mir was schulden würde.«

Lavallier fletschte die Zähne und beugte sich vor.

»James Foggerty wird verdächtigt, im Laufe der vergangenen zehn Jahre in die Führungsspitze der Irisch Republikanischen Armee aufgestiegen zu sein. Derselbe Verein, dem auch unser Freund Clohessy angehörte.«

»Na und?«

»Foggerty war zur selben Zeit am Trinity College in Dublin wie Patrick und Sie. Wir haben das nachgeprüft. Und Sie kannten ihn. Sie hatten gemeinsame Professoren und gemeinsame Kurse.«

O’Connor wirkte plötzlich verwirrt. Er hob die Hände und ließ sie wieder sinken. Dann schüttelte er langsam den Kopf.

»Kommissar Lavallier«, sagte er. »Auch ich kann nicht verhehlen, dass mir unser kleines Gespräch keine rechte Freude bereiten will. Das ist sehr schade, weil ich allmählich durchaus Geschmack an Ihnen finde. Wenn Sie mir eine Gegenfrage gestatten: Kennen Sie einen gewissen Krämer?«

»Hören Sie bloß auf«, zischte Lavallier. »Ich lasse Sie in Eisen legen, O’Connor!«

»Nein, Sie missverstehen mich. Ich verspreche ja, auf jede Ihrer Fragen wahrheitsgemäß zu antworten, aber kennen Sie einen Dieter Krämer?«

Lavallier schwieg einen Moment.

»Nein.«

»Er war aber mit Ihnen auf der Polizei-Akademie. Er hatte die gleichen Ausbilder und genauso wie Sie Kurse in Kriminologie, psychologischer Tätererfassung und Waffenkunde.« O’Connor lächelte. »Dieter Krämer könnte aber auch Fritz Schulte heißen. Oder sonst wie. Sehen Sie, am Trinity laufen Tausende Studenten rum, die die gleichen Lehrer und die gleichen Fächer haben, aber können Sie sich an jeden Einzelnen erinnern, der mal mit Ihnen in der Schule war?«

Lavallier sah ihn finster an.

»Niemand kann das. Trotzdem werden Sie mir etwas erklären, und erklären Sie es gut, wenn ich bitten darf.«

»So gut ich kann.«

»Warum schreibt Patrick Clohessy kurz vor seinem Verschwinden und eindeutig nach dem Treffen mit Ihnen in einem Brief, Sie seien ein Agent der IRA und hätten ihn im Auftrag von James Foggerty gesucht?«

»Ich soll was?«

O’Connor verlor sichtlich die Fassung. Wagner sah ihn an und merkte, wie sich der Boden unter ihren Füßen auftat.

O’Connor? Die IRA?

Kuhn hat gesagt, er hat mit der IRA sympathisiert. Kuhn ist verschwunden. Und Paddy auch.

Was um Himmels willen…

Langsam, dachte sie. Komm zur Räson! Du blöde Kuh! Lavallier sagt einen krummen Satz, und gleich witterst du Verrat.

»Erstens«, sagte sie, einem Impuls folgend, »wird Dr. O’Connor Ihnen diese Frage nicht beantworten. Da Sie so viel Wert auf klar verständliche Sprache legen, dürfte Sie das nicht überraschen. Zweitens wird er es allenfalls dann tun, wenn Sie uns einen schriftlichen Beweis für das vorlegen, was Sie gerade gesagt haben. Und lassen Sie mich klarstellen, dass der eine oder andere Anwalt augenblicklich hier sein wird, wenn ich es will.«

O’Connor sah sie aus runden Augen an.

Huch, dachte sie. Jemand muss durch mich gesprochen haben. Wie geschieht mir? Die Mutation zum unglaublichen Hulk?

Lavallier betrachtete sie unbeeindruckt. Dann griff er wortlos neben sich und schob ein Blatt Papier über den Schreibtisch.

»Eine Abschrift«, sagte er. »Das Original ist bei der Spurensicherung. Natürlich können Sie es später in Augenschein nehmen, wenn Sie drauf bestehen.«

O’Connor überflog die wenigen maschinengeschriebenen Zeilen und gab das Blatt an Wagner weiter.

»Weder mein Name kommt darin vor noch irgendetwas über die IRA«, sagte er.

»Nobelpreis«, konterte Lavallier. »Bücher. Foggerty.«

»Völliger Blödsinn.«

»So? Es sind Clohessys Fingerabdrücke auf dem Original.«

»Lavallier«, seufzte O’Connor. »Überprüfen Sie mich. Gehen Sie in Ihre gottverdammte Datenbank und holen Sie Informationen über mich ein. Ich bin eine Person des öffentlichen Lebens, jeder meiner Schritte ist besser kartografiert als die Erdoberfläche. Ich hatte nie Kontakt mit Foggerty. Wenn Sie mir ein Foto zeigen, werde ich ihn möglicherweise wiedererkennen, aber ich hatte keinen Kontakt mit ihm. Ich hatte überhaupt nie mit der IRA zu tun.«

»Sie wären fast vom College geflogen wegen der IRA.«

»Was? Ach, das!« O’Connor führte die Hand zur Stirn. »Oh Gott, Lavallier! Wir waren unausgegorene Breigehirne, die sich als Revoluzzer gefielen, weil es ihnen zu gut ging! Was haben Sie denn alles für Zeug von sich gegeben, als Sie jung waren? Paddy hat sich wirklich für die Probleme Nordirlands engagiert, ich hätte ebenso gut die Faust gegen das Aussterben der Wasserflöhe recken können. Mir ging es darum, Spaß zu haben.«

»Das war kein Spaß. Es kann kein Spaß sein, für eine terroristische Vereinigung–«

»Ich war gelangweilt«, sagte O’Connor heftig. »Begreifen Sie das nicht? Nein, das können Sie auch nicht begreifen, wenn es Ihnen vorne und hinten reingeschoben wird, dass Sie sich irgendwann fragen, was Sie eigentlich anstellen müssen, damit Sie mal auf die Schnauze fallen! Ich hatte immer jemanden, der mich rausgehauen hat, ich hätte um mich schießen können, verstehen Sie, wie öde das ist? Ich wollte, dass sie mich rauswerfen! Ich wollte raus aus diesem gemachten Bett, bevor mir darin die Knochen lahm wurden! Das war alles.«

Lavallier schwieg.

»Gehen Sie mal im Kopf zurück in Ihr Zimmer, als Sie ein junger Schnösel waren«, rief O’Connor. Er schien förmlich in Flammen zu stehen vor Zorn. »Was hing da an Postern rum? Na? Che Guevara? Welche Parolen haben Sie nachgebetet?«

»O’Connor«, sagte Lavallier sehr ruhig. »Haben Sie Briefe an Politiker geschrieben und sie überredet, sich vor laufenden Kameras lächerlich zu machen?«

»Nein.«

»Das ist eine Lüge.«

»Ich habe niemanden dazu überredet, sich lächerlich zu machen. Ich habe lächerliche Personen dazu gebracht, ihre Lächerlichkeit öffentlich kundzutun.«

»Was war mit dieser Bombengeschichte beim physikalischen Symposium?«

»Ein Streich.«

»Ein Streich?«

O’Connors Brustkasten hob sich. Wagner wartete auf den nächsten Ausbruch, aber er kam nicht. Stattdessen wandte O’Connor ihr den Kopf zu und sah sie hilfesuchend an.

»Kika, welche Strafe steht darauf, einem deutschen Polizisten die Zunge rauszustrecken?«

»Keine Ahnung.« Sie sah Lavallier an. »Wissen Sie es?«

»Notfalls werde ich eine einführen«, sagte der Hauptkommissar.

O’Connor lehnte sich zurück.

»Kika, erkläre diesem eifrigen und sicher über die Maßen fähigen Erwachsenen, dass ich ein großes Kind bin. Ich brauche meinen Spaß. Ich will nichts anderes als Spaß. Weder bin ich ein Agent der IRA noch jage ich Leuten nach, um sie dann verschwinden zu lassen.«

Die Stimmung im Raum war gereizt. Wäre sie brennbar gewesen, hätte ein Streichholz gereicht, die Polizeiwache in die Luft fliegen zu lassen.

»Noch einmal«, sagte Lavallier. »Wo waren Sie gestern Nacht zwischen Ihrem Aufbruch aus dem Maritim und dem Zeitpunkt Ihrer Rückkehr?«

Wagner sandte einen Blick zu O’Connor.

Der Physiker nickte.

Schließlich erzählten sie es Lavallier. Details ließen sie aus, aber am Ende war er so weit im Bilde.

Plötzlich sah der Hauptkommissar sehr müde aus.

»Haben Sie irgendwelche Zeugen«, sagte er beinahe lustlos.

»Für eine bestimmte Zeit ganz sicher nicht«, bemerkte O’Connor.

Lavallier seufzte.

»Und?«, fragte der Physiker. »Sind wir jetzt verhaftet?«

»Ich kann Sie nicht verhaften. Ich will’s auch gar nicht. Ich will nur, dass heute Abend Bill Clinton hier landen kann und in drei Tagen Boris Jelzin und dazwischen all die anderen. Verstehen Sie mein Problem?«

Wagner nickte.

»Wenn Liam der wäre, für den Sie ihn gerade halten«, sagte sie, »meinen Sie, wir wären dann zu Ihnen gekommen?«

Lavallier zuckte die Achseln. Offenbar tat es ihm jetzt schon leid, dass er einen Moment lang schwach geworden und ihnen Einblick in seine Sorgen gegeben hatte.

»Bleiben Sie weiterhin zu meiner Verfügung«, sagte er kühl. »Was Sie, Dr. O’Connor, betrifft, so muss ich Sie bitten, das Flughafengelände nicht zu verlassen, bis ich es Ihnen erlaube.« Er machte eine Pause. »Ich habe keine rechtliche Handhabe dazu. Sie können beide gehen, ich kann Sie nicht zwingen, hier zu bleiben. Ich kann Sie nur bitten.«

O’Connor kaute an seiner Unterlippe.

»Einverstanden«, sagte er.

»Ich werde nicht bleiben können«, sagte Wagner. »Aber ich bin erreichbar. Ist das okay? Kann ich gehen?«

Ich will gar nicht gehen, dachte sie. Ich will nicht weg von dir, Liam, nicht in dieser Situation. Nein, falsch, in keiner Situation. Ich will überhaupt nicht mehr weg von dir.

Sie sah ihn an und fing einen Blick von ihm auf. Er schien zu sagen, fahr und mach dir keine Sorgen. Das alles hier ist Teil des Spiels. Wir machen nur ein bisschen Spaß, Lavallier und ich. Spielen Räuber und Gendarm. Wenn wir uns heute Abend wiedersehen, wirst du feststellen, dass ich das Spiel für uns gewonnen habe.

Sie streckte die Hand nach ihm aus.

Im selben Moment klingelte ihr Handy.

Atemlos zerrte sie es hervor und drückte auf Empfang.

»Silberman«, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

SPEDITION

Als Jana mit schnellen Schritten durch die Halle zu ihm herüberkam, wusste Kuhn, dass er verloren hatte. Er konnte es in ihren Augen lesen. Unwillkürlich schlang er den freien Arm um seinen Körper und zog den Kopf zwischen die Schultern.

Sie blieb vor ihm stehen.

»Du hast gelogen«, sagte sie.

Es klang weder verärgert noch sonderlich erstaunt. Jana traf eine sachliche Feststellung. Kuhn schätzte, dass sie ihn jetzt ebenso sachlich ins Jenseits befördern würde. Er wunderte sich, dass sie nicht voller Zorn auf ihn einschlug wie am Morgen.

»Ja, ich habe gelogen«, sagte er müde. »Und? Was macht das für einen Unterschied?«

Sie musterte ihn.

»Für mich macht es einen. Du hast deinen Freunden eine Nachricht übermittelt. Wie es aussieht, wissen sie nicht viel damit anzufangen, aber das könnte sich natürlich ändern.« Sie machte eine Pause. »Kuhn, du bist ein armseliger Idiot. Ich hatte dir einen fairen Handel vorgeschlagen, dein Leben gegen die Wahrheit, aber du ziehst es vor, den Helden zu spielen. Lächerlich. Du bist kein Held, hat dir das noch keiner gesagt?«

Ein Lachen gluckste in Kuhns Kehle hoch.

»Seid ihr denn welche?« Plötzlich war ihm alles egal. »Wir tun uns nicht viel, was Heldenhaftigkeit angeht. Es gibt in dieser ganzen Geschichte keinen einzigen richtigen Helden, also was erwarten Sie von mir?«

Kurz zuckte es in Janas Zügen.

»Es war dumm«, sagte sie.

»Es war nicht dumm. Ich versuche, am Leben zu bleiben, das ist alles. Was hätten Sie an meiner Stelle getan?«

»Kooperiert.«

»Sie hätten nicht kooperiert«, sagte Kuhn. »Sie wissen ganz genau, dass die SMS meine einzige wirkliche Chance war.«

»Gratuliere«, höhnte sie. »Und? Jetzt hast du gar keine mehr. Du wolltest schlau sein, stattdessen wirst du sterben, angekettet an ein rostiges Rohr.«

Kuhn senkte den Kopf. Seine Angst wurde überschattet von einer tiefen Traurigkeit, dass es so enden musste. Er schlang den Arm noch fester um sich, hielt sich tröstend umfasst und spürte, wie seine Kinnlade zu beben begann. Die Terroristin betrachtete ihn unverwandt. Dann sagte sie plötzlich:

»Du bist einsam.«

Er sah auf und schwieg.

»Einsame Entscheidungen sind entweder die klügsten oder die dümmsten.« Jana wies mit einer Handbewegung auf das Schienengefährt in der Mitte der Halle. »Das Ding da einzusetzen, ist eine sehr einsame Entscheidung. Ob klug oder dumm, wird sich herausstellen. Ich gehe Risiken ein, von denen du dir keine Vorstellungen machst, Kuhn. Am Ende steht alles oder nichts. Du hast deine Entscheidung getroffen, indem du mir die SMS verschwiegen hast, na schön. Du kanntest die Regeln, du kanntest die Alternativen. Ich habe dich gewarnt, mehr als einmal, also beklag dich nicht. Alles oder nichts, und du hast dich erwischen lassen, also nichts.«

»Es war keine dumme Entscheidung.« Kuhn schüttelte heftig den Kopf. Wenn er schon sterben musste, wollte er sich von dieser Person nicht auch noch Dummheit unterstellen lassen. »Es war das Beste, was ich tun konnte. Es war genial! Es war geistesgegenwärtig und kühn. In jedem Film, in jedem blöden Buch ist es genau das, was die Guten rechtzeitig auf den Plan ruft, bevor die Bösen zum Schuss kommen.« Er lachte gequält auf. »Was ist denn so dumm, Jana? Dass ich mich an jede Hoffnung klammere, hier noch mal lebend rauszukommen? Dass ich nicht professionell genug bin im Umgang mit Killern und Verrückten, dass ich eure perversen Spielregeln nicht beherrsche, auf die ihr so stolz seid? Dass ich finde, mein Leben gehört mir?«

»Im Augenblick gehört es dem, der am meisten dafür bietet, ob es dir gefällt oder nicht.«

»Nein, dein Leben gehört dem, der am meisten dafür bietet«, stieß Kuhn hervor. »Und er hat schon geboten, und du hast angenommen, ohne es zu merken!«

»Mein Leben gehört niemandem!«, schrie Jana.

Kuhn schluckte. Es war, als hätte eine andere Frau durch ihren Mund gesprochen.

Ihre Augen funkelten ihn hasserfüllt an.

Jetzt, dachte er. Jetzt wird sie es tun.

»Es gibt nur einen Menschen, der den Preis für mein Leben festsetzt«, sagte Jana sehr leise und akzentuiert. »Das bin ich selbst, hast du verstanden? Ich! Und den für deines mache ich gleich mit.«

»Zu spät. Du gehörst schon jemand anderem.«

»Was redest du?«

»Die Holding heißt irgendwas mit Nato, Milosevic und so. Du kannst mir mein Leben nehmen, aber ich werd’s nicht verkaufen. Wenn ich sterbe, sterbe ich wenigstens als freier Mann. Deines ist längst verkauft. Komm mir nicht mit einsamen Entscheidungen, für dich ist schon entschieden worden.«

Einen Moment lang sah Jana aus, als wolle sie doch noch zuschlagen. Dann seufzte sie und lehnte sich neben ihn an die Wand.

Eine Weile war nur Kuhns keuchender Atem zu hören, der sich allmählich wieder verflachte. Dann sagte Jana:

»So viel Pathos, Kuhn. Warum machst du uns beiden das Leben dermaßen schwer?«

»Ich?« Kuhn schüttelte in bitterer Verwunderung den Kopf.

»Mein Leben war nicht schwer, bevor du dich eingemischt hast.«

Er spürte einen Schmerz in seinem Oberarm und merkte, dass er vom Griff seiner eigenen Finger herrührte. Immer noch hielt er sich selbst umklammert. Langsam ließ er den Arm sinken, und das Gefühl der Schutzlosigkeit überkam ihn noch heftiger als zuvor. Sein Handgelenk war wund gescheuert von der Handschelle.

Schutzlosigkeit und Einsamkeit.

Jana hatte Recht.

Er war einsam. Er war immer einsam gewesen. Sie standen hier und sagten sich Wahrheiten, und am Ende würde die Frau zwei Morde begehen. Zwei weitere zuzüglich zu denen, die sie wahrscheinlich schon begangen hatte.

»Man hat wenig Gelegenheit für ein vernünftiges Gespräch«, sagte Jana in die Stille hinein. »Das ist bedauerlich. Ich meine, man kann in meiner Lage über alles Mögliche sprechen, nur nicht über das, worauf es ankommt. Man unterhält sich mit seinem Echo, und jeden, der anderer Meinung ist, muss man leider töten.«

»Was für Sorgen«, sagte Kuhn.

»Willst du einen Kaffee?«

Er wandte den Kopf und sah sie an. Ihr Gesicht war wieder ohne Ausdruck, so wie meistens. Wie ein Testgelände für Gefühle. Testen, Abbruch. Testen, Abbruch. Wie eine Wüste. Nicht traurig, nicht glücklich, einfach nur ein Gesicht.

»Gern«, sagte er.

O’CONNOR

Die eine ging, der andere kam.

Wenige Minuten, nachdem Wagner zurück in die Stadt gefahren war, traf Aaron Silberman ein. Lavallier hatte sich unterdessen auf das Vorfeld Fracht West begeben, um wenigstens bei der Landung der Kanadier dabei zu sein. O’Connor wusste, dass weder der Hauptkommissar noch Bär begeistert von der Idee waren, einem Berichterstatter des White House Einblick in den Fall zu gewähren. Bär stellte Silberman dennoch ein paar Fragen, aber auch der Journalist hatte von Kuhn nichts mehr gehört oder gesehen seit dem gemeinsamen Frühstück am Tag zuvor.

Danach zeigte sich Silberman neugierig und Bär sehr beschäftigt. Er verbot dem Korrespondenten, ein Wort über die Sache verlauten zu lassen, und überantwortete ihn der Gesellschaft O’Connors, der ihn nach kurzem Überlegen in die Bar des Holiday Inn schleppte.

Während sie die wenigen Schritte hinübergingen, vorbei am Gebäude der Verwaltung, kämpfte O’Connor seinen Missmut herunter. Er war es gewohnt, dass man ihn des Zynismus, der Gleichgültigkeit und diverser schlechter Angewohnheiten bezichtigte. Aber nicht eines profanen Verbrechens! Es war einfach ungehörig, ihm Schlimmeres zu unterstellen als degoutantes Verhalten. Man mochte ihn einen Chauvinisten nennen, gut. Man hatte ihn als manirierten Parvenü, als dekadentes Arschloch und versoffenen Bastard tituliert, besten Dank! Rüpel, Schwätzer, Weiberheld, alles in Ordnung! Was immer den Ruf des Parkettschurken förderte, wurde unter Hochziehen der linken Braue als Kompliment verbucht.

Ihn jedoch wie einen Kleingauner zu verhören und terroristischer Handlungen zu verdächtigen – indiskutabel! Und es außerdem zu schaffen, dass er sich zu persönlichen Äußerungen hatte hinreißen lassen, allein dafür gehörte Lavallier geohrfeigt!

Mit vor Wut steifen Schritten stakste er vor Silberman dahin. Das Spiel nahm Züge an, die ihm nicht gefielen. Dennoch hätte er leben können mit seiner verletzten Eitelkeit, wäre da nicht noch etwas anderes gewesen. Etwas, das ihn zutiefst beunruhigte. Eine lauernde Vermutung, die plötzlich zur Gewissheit wurde.

Jemand hatte ihn ausgetrickst.

Dass er am Morgen den Finger auf ein mögliches Verbrechen gerichtet hatte, um sich nun als Verdächtiger wiederzufinden, war absurd. O’Connor bezweifelte nicht, dass man in Paddys Wohnung das ominöse Schreiben gefunden hatte. Dass es von Paddy stammte, schon eher. Paddy hatte keinen Grund, ihn auf diese Weise in Misskredit zu bringen. Bis gestern hatte er nicht einmal ahnen können, dass O’Connor ihm über den Weg laufen würde. Warum sollte er einen derartigen Unsinn verfasst haben?

Um O’Connors Glaubwürdigkeit zu untergraben?

Das war es! Hinter Paddys Verschwinden und der Entführung Kuhns steckte mehr als die Vergangenheit eines untergetauchten IRA-Aktivisten. Aber genauso sollte es aussehen. Wie eine Fehde im innersten Kreis des irischen Separatismus, die den Flughafen nur zufällig betraf.

Und ihn benutzten sie dazu!

Zielstrebig steuerte O’Connor den Tresen an und brachte zwei Hocker in Stellung.

»Was möchten Sie trinken, Aaron? Irischer Whisky empfiehlt sich eigentlich immer, wenn man ein Problem zu lösen hat. Und wir haben mehr als eines, wie mir scheint.«

Vom Moment der Begrüßung an, als Silberman mit bestürzter Miene die Polizeiwache betreten hatte, waren sie automatisch zum Vornamen übergegangen. Es war die amerikanische Art, vertraulich zu werden, ohne dass es der Vertrautheit bedurfte. Nichts Verbindliches, aber praktisch, wenn es etwa darum ging, gemeinsam eine Bar aufzusuchen und Dinge wie Entführungen oder Terroranschläge zu diskutieren.

Silberman sah skeptisch drein.

»Ein bisschen früh für Whisky, würde ich sagen.«

»Alles, was jenseits der Ein-Uhr-Marke liegt, ist als Abend zu betrachten«, sagte O’Connor. »Wir sind eigentlich spät dran. Ich kenne Gegenden in Sligo, da geht der eine Abend in den anderen über.«

»Ich bin wohl eher Amerikaner«, lächelte Silberman. »Die irische Form von Glück ist mir, fürchte ich, zu strapaziös.«

»Das haben Sie falsch verstanden«, sagte O’Connor geduldig. »Die Iren sind nicht glücklich. Sie haben sich für den Genuss entschieden. Er hält länger vor. Nebenbei, kommen die Amerikaner nicht alle irgendwie aus Irland?«

»Nicht die schwarzen.«

»Ach ja. Umso mehr ein Grund. Zwei Jamesons.«

Der Barmann wirkte verwirrt. Dann erhellte sich seine Miene. Er griff hinter sich und förderte eine Flasche Tullamore Dew zutage.

»Stopp«, sagte O’Connor.

»Das ist irischer Whisky«, sagte der Barmann schüchtern.

»Das tut man in den Kaffee, Sie Wasserspeier. Gut, versuchen wir’s mit Schottischem. Was haben Sie an Single Malts?«

»Glenfiddich?«

Es war deprimierend.

»Für mich ein Tonic Water«, sagte Silberman und putzte seine Brille. »Ich glaube übrigens nicht«, fügte er zu O’Connor gewandt hinzu, »dass Sie hier fündig werden. Es sei denn, Sie steigen auf Bourbon um.«

»Das wäre mein Ende. Geben Sie mir ein Bier.«

»Jedenfalls bin ich Ihnen dankbar, dass Sie mich angerufen haben.« Silberman hielt die Brille prüfend gegen das Licht und setzte sie wieder auf. »Kuhn ist ein guter Freund. Diese Geschichte macht mir große Sorgen. Ich fürchte nur, ich werde Ihnen kaum weiterhelfen können.«

»Wie sagt die Polizei so schön?«, grinste O’Connor. »Jede Kleinigkeit kann weiterhelfen.«

Silberman lächelte sein freundliches, breites Lächeln.

»Nun, Zeit habe ich mitgebracht«, sagte er. »Wir können immerhin unseren Verstand bemühen. Ich wäre sowieso in zwei Stunden hier gewesen.«

»Stimmt, Sie sind ja akkreditiert. Wann kommt denn eigentlich der POTUS?«

POTUS war die geläufige Bezeichnung für den amerikanischen Präsidenten. Besonders Journalisten, die CIA und der Secret Service wussten das zu schätzen. Es ging schneller, mehrmals hintereinander POTUS zu sagen als jedes Mal President Of The United States.

»Die planmäßige Ankunft ist für zwanzig nach sieben vorgesehen«, sagte Silberman. »Bei Clinton weiß man das nie so genau. Er liebt kleine Überraschungen.« Er nahm einen Schluck von seinem Tonic Water. »Wie auch immer, er ist der Präsident. Zeigen Sie mir doch mal diese Nachricht, die Kuhn geschickt hat.«

O’Connor reichte ihm den Zettel mit der Abschritt. Silberman las sie mit gerunzelten Brauen. Seine Lippen bewegten sich ohne Ton.

»Klingt bedrohlich.«

»Ich pflichte Ihnen bei. Irgendwelche spontanen Assoziationen?«

»Warten Sie mal. Jemand schießt. Es wird geschossen, um Hilfe gerufen, und Kuhn ist in dieser Wohnung, also wird er bedroht oder ist Zeuge, wie jemand bedroht wird.«

»So weit waren wir auch schon. Was ist mit dem Rest?«

»Ich muss gestehen, das sagt mir gar nichts.«

»Mir aber schon.«

»Ach!«, staunte Silberman. »Und was?«

»Ich weiß es nicht.«

Der Korrespondent runzelte die Stirn.

»Moment. Haben Sie nicht gerade…«

»Doch! Idiotisch, was? Jedes Mal, wenn ich draufschaue, weiß ich, es ist etwas völlig Vertrautes. Wie ein Gesicht, das man hundertmal gesehen hat, ohne sich erinnern zu können, wo.« O’Connor stürzte die Hälfte seines Biers herunter und wischte sich den Schaum von der Oberlippe. »Puh, grauenhaft! Wissen Sie, Aaron, ich starre auf diese Buchstaben, und sie sagen: Warm, Liam. – Ganz warm. – Heiß! – Die Lösung aller Fragen steht auf diesem Blatt Papier, und ich kann sie nicht lesen.«

»Na ja.« Silberman drehte den Zettel zwischen seinen Fingern. Dann las er die Nachricht ein weiteres Mal. »Kuhn hat sich hier und da verschrieben. Ein Zeichen, dass er unter Stress stand.«

»Er hat Wohnung falsch geschrieben und wahrscheinlich auch Spiegel. Irgendwas mit Spiegeln kommt darin vor. Und ein Objektiv. Aber das ist nicht wirklich von Bedeutung.«

»Was ist hiermit? Derjak schießt?«

»Könnte der Schlüssel sein. Möglich.«

»Also wäre die Frage, wer Derjak ist. Was sagt denn die Polizei?«

»Oh, sie entwickelt eine ganz erstaunliche Phantasie.« O’Connor lachte freudlos. »Mittlerweile bin ich der Buhmann.«

»Sie? Wieso denn Sie?«

O’Connor erzählte es ihm.

»Und was glauben Sie, wird passieren?«, fragte Silberman, ohne auf die Frage nach O’Connors Schuld oder Unschuld einzugehen.

O’Connor sah ihn an.

»Liegt das nicht auf der Hand? Hier am Flughafen ist was faul, und was da stinkt, ist nicht nur der gute alte Paddy. Darum haben sie mich kaltgestellt. Damit ich ihnen nicht weiter in die Quere komme.«

»Augenblick. Wer sind sie?«

»Na, sie halt! Die Leute, die Paddys Anwesenheit eingefädelt haben. Denen Kuhn auf die Spur gekommen ist.«

»Ich bin beeindruckt«, sagte Silberman und sah ganz so aus. »Eine waschechte Verschwörungstheorie! Kann es sein, dass die Iren eher aus Amerika stammen?«

»Das können wir gern diskutieren«, erwiderte O’Connor heiter. »So lange, bis wir alle in die Luft geflogen sind.«

Silberman zögerte. »Sie meinen das ernst, nicht wahr?«

»Ja. Aber statt der Sache nachzugehen, drangsaliert mich dieser Kommissar mit völlig aus der Luft gegriffenen Verdächtigungen.«

»Sie sind nicht aus der Luft gegriffen, wenn ich mir erlauben darf, das zu bemerken. Mit einem solchen Schreiben in der Hand, wie man es bei Paddy gefunden hat, wüsste ich auch nicht mehr, was ich noch glauben soll.«

»Mir glaubt er jedenfalls nicht.«

»Nun ja.« Silberman breitete die Hände aus. Es hatte etwas Pastorales. »Vielleicht denkt er, dass jemand, der das Licht umleiten kann, auch in der Lage ist, die Wahrheit zu verbiegen. Aber gut, nehmen wir Ihren Bericht als Tatsache. Dann stellt sich mir Folgendes dar. Sie treffen Clohessy wieder, der aber nicht mehr so heißt und wenig Begeisterung darüber an den Tag legt, Sie zu sehen. Dennoch sucht er Sie später auf.«

»Er wurde geschickt!«

»Gut. Er wird also geschickt und weckt Ihren Argwohn.

Wahrscheinlich erreicht er das genaue Gegenteil von dem, was er eigentlich wollte, jedenfalls spielen Sie und Ihre reizende Begleiterin ein bisschen Sherlock Holmes. Recht halbherzig, wenn ich auch das feststellen darf. Währenddessen oder als Folge lösen sich Kuhn und Clohessy über Nacht in Luft auf, und Sie sehen sich absurd erscheinenden Verdächtigungen ausgesetzt.«

»Paddy musste untertauchen«, nickte O’Connor. »So viel ist klar.«

Silberman schaute auf seine Hände. Dann sagte er langsam:

»Vielleicht musste er nicht einfach nur untertauchen, Liam.«

»Was meinen Sie?«

»Vielleicht musste er ja – verschwinden.«

O’Connor schwieg.

Paddy Clohessy tot?

Das war vorauszusehen, hörte er sich sagen. Natürlich war es das. Immer gewesen. Habe ich immer gesagt, es wird kein gutes Ende nehmen mit dem Kerl, noch ein Gezapftes, ah, Paddy, setz dich zu uns!

Mit einem Mal fühlte er sich von Wehmut erfüllt. Clohessy aus dem Spiel ausgeschieden, das konnte nicht wirklich stimmen. Standen sie nicht immer noch auf den Brettern des kleinen Theaters am Front Square? War ihm irgendwas entgangen? Hätte er das Drehbuch aufmerksamer lesen sollen?

Und Kuhn? Kuhn, der sich nicht meldete und nicht erreichbar war?

Was war ihm widerfahren, wenn jemand es für nötig hielt, Paddy Clohessy zu ermorden?

Silberman schien seine Gedanken zu erraten.

»Es tut mir leid, Liam«, sagte er entschuldigend. »Ich wollte Sie nicht beunruhigen, aber die Überlegung drängt sich auf. Und noch etwas. Nehmen wir an, Ihr Freund Patrick wurde geopfert. Kuhn bleibt verschollen. Sie selbst versucht man in Misskredit zu bringen. Alle diese Vorkommnisse haben eines gemeinsam, finden Sie nicht auch?«

»Was wäre das?«

»Zeit zu schinden.«

O’Connor runzelte die Stirn.

»Aber man kann auf diese Weise nicht viel Zeit schinden. Stunden. Einen Tag vielleicht.«

Silberman nickte.

»Das heißt –« O’Connor stockte. »Es ist die Zeit, die sie brauchen, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.«

»Ich denke, ja.«

»Heiliger Sankt Patrick.«

»Natürlich gefallen wir uns jetzt ein wenig in der Rolle von Detektiven, aber dafür sitzen wir ja hier. Spinnen wir es also weiter, und wir gelangen nicht nur zu dem Schluss, dass sie etwas vorhaben, sondern auch, wann sie es vorhaben.«

O’Connor starrte sein halbvolles Bierglas an. Dann schob er es langsam von sich weg.

»Clinton«, sagte er halb zu sich selbst.

»Clinton ist nicht der Einzige, der in Frage käme.« Silberman dachte kurz nach. »Nach ihm, ich glaube gegen halb neun, erwarten sie die japanische Delegation, aber ich bin nicht sicher, ob Obuchi an Bord sein wird. Morgen treffen russische, englische, französische und italienische Maschinen ein. Das weiß ich sogar ziemlich genau. Mittags kommt Blair, etwa eine Stunde später Chirac und kurz darauf D’Alema.«

»Was ist mit den Russen?«

»Materialmaschinen, Presse. Jelzin selbst wird möglicherweise erst in drei Tagen eintreffen und am selben Tag zurückfliegen. Ihn würde ich ausklammern. Aber natürlich kann ich mich irren. Auch Jelzin steht auf der Liste der meistgefährdeten Politiker der Welt.«

»Schröder?«

»Der Kanzler?« Silberman spitzte nachdenklich die Lippen. »Nein. Entschieden nein! Er kommt nicht mit dem Flieger. Außerdem werden Attentate auf deutsche Politiker immer nur von Deutschen verübt. Sie mögen sich selbst am wenigsten. Nein, ich glaube nicht, dass wir es hier mit Deutschen zu tun haben.« Silberman machte eine Pause und nippte an seinem Tonic Water. »Sofern wir es überhaupt mit jemandem zu tun haben. Es ist und bleibt pure Spekulation.«

Plötzlich schien es O’Connor, als stehe der Berichterstatter kurz davor, einen Rückzieher zu machen.

»Diesmal kann ich Sie nicht schonen, Aaron«, sagte er. »Gut möglich, dass jemand Blair oder Chirac ans Leder will, aber glauben Sie das wirklich?«

Silberman schüttelte stumm den Kopf.

»Wer also könnte einen Anschlag auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten verüben wollen?«

Silberman sah ihn an. Dann lachte er kurz auf.

»Alle! Jeder! Russland. Serbien. Libyen. China. Kolumbien. Der Irak. Nordkorea. Du meine Güte.« Er winkte dem Barmann. »Geben Sie mir einen Bourbon, schnell!«

»Welchen Bourbon?«, fragte der Barmann vorsichtig.

»Irgendwas.«

»Und – für Sie?«

»Ich ziehe es vor, stilvoll unterzugehen«, sagte O’Connor. »Was bietet die Abteilung Portwein?«

Der Barmann strahlte. Nacheinander stellte er eine ansehnliche Kollektion älterer Jahrgänge auf den Tresen.

O’Connor studierte mit Wohlwollen die Etiketten.

»Gut, gehen wir systematisch vor. Clinton gilt als treibende Kraft der Nato-Intervention. Die Serben zum Beispiel dürften einigermaßen sauer auf ihn sein. – Geben Sie mir den Achtundsiebziger Dela- force und eine Hand voll Nüsse.«

»Sie sind viel saurer auf Blair und Schröder«, bemerkte Silberman. »Von den Amerikanern haben sie nichts anderes erwartet als Krawall, aber schon wieder von Deutschland angegriffen zu werden, warum auch immer, das hat sie regelrecht traumatisiert.«

»Diesmal war’s aber nicht die Wehrmacht.«

»Na und? Sie verkennen den serbischen Opfermythos. Wenn Sie sich im Recht fühlen, ist es Ihnen verdammt egal, warum Sie jemand angreift, derjenige ist immer im Unrecht. Sie werden es kaum glauben, aber Clinton war ursprünglich wenig begeistert davon, sich überhaupt einzumischen. Man muss der moralischen Attitüde der Intervention nicht unbedingt misstrauen, aber verschiedenes relativieren. Mit diplomatischem Gewicht haben sich die USA erst engagiert, als die Übergriffe Belgrads gegen die albanische Zivilbevölkerung überhand nahmen. Um die Wahrheit zu sagen, es gibt Gerüchte, wonach die Großoffensive Serbiens gegen die UQK im letzten Jahr mit stillschweigender Billigung Washingtons geschah. Clinton hat die Spaltung der UQK betrieben, sie war ihm suspekt. Ebenso wie man drüben die Idee verwarf, dem Kosovo den Status einer dritten Republik im restjugoslawischen Verbund zu geben. Und zwar gleichberechtigt mit Serbien und Montenegro!«

»Das konnte ja nicht klappen.«

»Oh, es hätte klappen können! Es waren ja nicht mal so sehr die Serben, die am lautesten dagegen protestierten. Interveniert hat Montenegro. Aber die Vereinigten Staaten haben es damals möglicherweise für gut befunden, nicht ganz mit dem Belgrader Regime zu brechen. Wenn Sie meine Meinung hören wollen, hatte Clinton nicht das mindeste Interesse an diesem Krieg. Er ist ein großer Harmonizer, unser Willie, kein Feldherr.«

»Ich dachte, Holbrooke hätte schon letzten Sommer mit Bomben gedroht.«

»Hat er. Weil Amerika davon ausging, mit dem Bluff durchzukommen. Gelang ja auch. Wir hatten dieses schöne Abkommen, Milosevic rief ein paar Truppen zurück, und die OSZE richtete eine feine Mission im Kosovo ein. So weit, so gut.«

»Verstehe. Oder auch nicht.« O’Connor schüttelte den Kopf. »Vielleicht würden Sie mir mal was erklären, Aaron.«

»Wenn ich kann.«

»Warum hofiert man ein Arschloch wie Milosevic?«

Silberman nahm einen Schluck Bourbon und ließ ihn einige Sekunden in der Mundhöhle. »Eine schöne Frage«, sagte er. »Ich will versuchen, eine Antwort darauf zu finden. Nein, es gibt eine Antwort! Sie ist denkbar einfach. Wir hofieren ihn, weil wir so sind, wie wir sind.«

»Oh.«

Silberman lächelte.

»Wir sind westlich. Das ist überhaupt das Problem dieses ganzen Krieges. Wir können uns darüber streiten, ob wir schon früher oder überhaupt hätten eingreifen sollen, aber fest steht, dass alles, was wir getan haben, unserer westlichen Denkart entspricht. Sehen Sie, zu Beginn der Neunziger wurde das Kosovo schon auf die Tagesordnung der Verhandlungen gesetzt. Sie erinnern sich, die JugoslawienKonferenz. EU und UNO in hübscher Eintracht. Übrigens auch ein Beispiel für den Unwillen Washingtons, die europäischen Probleme zu amerikanischen zu machen. Die Parole hieß damals: ›We got no dog in this fight‹. Ende ’95 hatten wir dann die Bosnien-Konferenz.«

»Dayton.«

»Richtig. Spätestens dort ist auch dem Letzten klar geworden, dass der Krieg ins Kosovo zurückkehren würde, nur weil die Serben da vor über sechshundert Jahren eine Schlacht verloren haben. Ach was, ‘89 war das schon klar, als Milosevic die Autonomie des Kosovo aufhob! Scharen von Experten, Journalisten und Menschenrechtlern haben vorausgesagt, was jetzt passiert ist. Auch die westlichen Geheimdienste wussten das. Sie trugen dieses akademische Wissen mit sich herum, und zugleich gingen sie ihrer eigenen Mentalität auf den Leim. Wollen Sie wissen, was in Dayton passiert ist? Ein Mann trat auf, weltgewandt, jovial und kompromissbereit. Ein rational kalkulierender Staatsmann, der mit Marodeuren vom Schlage eines Karadzic oder Mladic nichts gemein hatte. Slobodan Milosevic. Sofort rastete das typische Wahrnehmungsmuster ein, das unseren westlichen

Demokratien so eigentümlich ist. Man hatte im Haufen der Fundamentalisten den Vernünftigen erkannt! Man war stolz darauf! Mit diesem Mann konnte man reden, der war zivilisiert. Wissen Sie, speziell wir Amerikaner sehen alles Fundamentalistische, was sich jenseits der Balkangrenze bewegt, als geifernden Fanatiker mit schwarzem Bart, glühenden Augen, erhobener Kalaschnikow und einem religiös bis nationalistisch verblendeten Rudiment von Verstand. Aber dieser Mann war anders. Darum haben wir ihn hofiert. Weil er sich als westlicher Staatsmann verkleidet hat. Milosevic war sein eigenes Trojanisches Pferd, und wir haben ihn aufs diplomatische Parkett gerollt, anstatt ihm rechtzeitig ein paar Backpfeifen zu verpassen und ihn gar nicht erst so weit kommen zu lassen. Dummer, dummer Westen. Dumme, dumme Psychologie.«

O’Connor lächelte. Silbermans Charakterisierung war nach seinem Geschmack. Der Korrespondent hatte Recht. Und wiederum hatte er Unrecht.

»Glauben Sie nicht, dass es gar nicht so sehr darum geht, ob Clinton den Krieg gewollt hat?«, sagte er. »Mir kommt es manchmal so vor, als habe der Westen jahrzehntelang an einem Symbol seiner selbst gebaut, und merkwürdigerweise kam dabei der Präsident der Vereinigten Staaten heraus. Ich meine, den POTUS zu töten, ist für jemanden, der dem Westen eine verpassen will, immer richtig, oder?«

Silberman schwenkte seinen Bourbon.

»Da haben Sie leider Recht. Aber da ist der Westen selbst schuld. Wer sich heute darüber beklagt, Amerika habe die Nato-Intervention dominiert, sollte sich in Erinnerung rufen, wie erbärmlich die EU in Bosnien versagt hat.« Er machte eine Pause. »Sie haben Recht, und vielleicht will ich es einfach nicht wahrhaben. Aber wenn uns die Pferde nicht durchgegangen sind und Köln-Bonn wirklich Gefahr läuft, Schauplatz eines Anschlags zu werden, dann gilt er mit einiger

Sicherheit Clinton.« Er sah auf die Uhr und verzog das Gesicht. »Und zwar in ziemlich genau zweieinhalb Stunden.«

SPEDITION

»Nicht ganz zweieinhalb Stunden«, sagte Gruschkow zu Jana. »Etwas weniger.«

Er war soeben in der Spedition erschienen, frisch und ausgeruht. Bei dieser Gelegenheit sah er zum ersten Mal den angeketteten Lektor. Er verzog das Gesicht und nahm Jana beiseite.

»Was wollen wir noch mit dem?«, fragte er.

»Wir müssen ihn nicht töten«, entgegnete Jana. »Wir müssen ja nicht jeden gleich umbringen.«

»Dafür haben Sie den Penner vor vier Monaten ziemlich gründlich abserviert. Woher die plötzlichen Skrupel?«

»Der Penner musste sein. Wir brauchten einen Test am Objekt.«

Jana sah hinüber zu dem zusammengesunkenen Lektor. Er wirkte müde und deprimiert. Aus der Entfernung sah es aus, als döse er, aber sie wusste, dass er jede Kleinigkeit um sich herum mit nervöser Aufmerksamkeit verfolgte.

»Er ist nicht dumm«, sagte sie. »Ich dachte, er sei ein Feigling, aber er hat eigentlich nur Angst vor seiner eigenen Courage. Dafür was auf dem Kasten. Ich weiß nicht, ob wir ihn noch brauchen.«

Gruschkow verzog die Mundwinkel.

»Sie wissen sehr genau, dass wir ihn nicht mehr brauchen. Sie wollen ihn nicht töten, das ist alles. Na ja. Sie sind der Boss. Gehen wir an die Arbeit.«

Er richtete eine Fernbedienung auf die Längsseite der Halle, die zum Hof hin lag. Ein metallisches Rasseln erklang, als sich die Hälften des großen Tores in Bewegung setzten und auseinander glitten.

Tageslicht fiel herein und überschwemmte die trübkalte Neonatmosphäre. Ein leichter Wind drang ins Innere. Aus einem postkartenblauen Himmel brannte die heiße Junisonne herunter. Mit Blick ins Freie sah man nun auch, dass sich die Schienen, auf denen der YAG ruhte, bis weit in den Hof hinein erstreckten und kurz vor der Mauer endeten.

Gruschkow nickte hochzufrieden.

»Könnte nicht besser sein.« Er trat hinaus ins Sonnenlicht und schaute aus verengten Lidern in den Himmel. Dann drehte er sich zu Jana um.

»In Ordnung«, rief er. »Fahren Sie das Ding ab.«

Jana trat zu der Schaltkonsole, die am rückwärtigen Ende des YAG aus dem Boden wuchs. Die Oberfläche teilten sich ein dicker grüner und ein ebensolcher roter Knopf. Sie drückte den grünen Knopf und richtete den Blick auf den YAG.

Ein Generator sprang summend an. Mit kaum wahrnehmbarem Ruckeln setzte sich die zwölf Meter lange und fast ebenso tiefe Konstruktion aus aneinander geschweißten Pritschenwagen mit dem riesigen Kasten und den beiden Starkstromaggregaten darauf in Bewegung. Die quer gestellten Räder glänzten schwarz von Öl. Sie rollten beinahe lautlos über die Schienen. Ohne jede Erschütterung glitt das monströse Gebilde aus dem Halleninnern ins Freie und näherte sich der Mauer. Reflexe von Sonnenlicht huschten über den stählernen Mantel des YAG und blendeten Jana.

Gruschkow lief vor dem Wagen her und hob die Hand.

»Einen Augenblick noch… jetzt gleich… und stopp!«

Jana presste den Handballen auf den roten Knopf. Das Summen des Generators erstarb. Draußen wurde die Konstruktion langsamer und passierte einen Mechanismus in den Schienen. Haken sprangen hervor und klinkten sich in die Räder ein, zogen das Pritschengebilde wenige Zentimeter weiter und stoppten es an einer präzise berechneten Stelle ab. Eiserne Manschetten drückten sich von beiden Seiten gegen die Räder und arretierten sie.

Der YAG hatte seine Position erreicht. Um ihn jetzt noch aus seiner Lage zu verschieben, und wäre es nur um Millimeter gegangen, hätte es eines mittelstarken Erdbebens bedurft.

Gruschkow rannte um die Pritschen herum zu einem knapp drei Meter hohen Holzgebilde von annähernd zwei Quadratmetern Grundfläche. Bei flüchtiger Betrachtung hätte man das Ding für ein Toilettenhäuschen halten können. Er machte sich an den Kanten zu schaffen und löste mehrere Verschlüsse. Nacheinander packte er die holzgezimmerten Wände und ließ sie vorsichtig zu Boden gleiten. Übrig blieb ein nach allen Seiten offenes Gestänge, in dessen Zentrum ein silbriger Dreifuß sichtbar wurde, das exakte Pendant zu dem in der Halle. An seiner Spitze, in Höhe des Lochs in der Schmalseite des Kastens und mit vier Metern Abstand dazu, schimmerte bläulich eine runde, spiegelnde Fläche von dreiunddreißig Zentimetern Durchmesser. Sie ruhte auf einem doppelt handbreiten Metallgehäuse, im Fünfundvierzig-Grad-Winkel gekippt, so dass sie den Himmel reflektierte oder die Öffnung in dem Kasten, je nachdem, von welcher Seite man hineinschaute.

Jana ging mit langsamen Schritten aus der Halle zu Gruschkow und trat zwischen den Dreifuß und den Pritschenwagen.

»Wann starten wir die Generatoren?«, fragte sie.

»In fünf Minuten«, sagte Gruschkow gelassen. »Das reicht. Wir werden ausreichend Leistung haben.«

Sie trat bis dicht vor das Loch in der Ummantelung des YAG. Es war ziemlich genau in Höhe ihres Kopfes. Mit einem eigenartigen Gefühl sah sie hinein und gewahrte in der Dunkelheit das schimmernde Auge des Spiegelteleskops. Sein Durchmesser war nur um ein Weniges geringer als der des Spiegels auf dem Dreifuß.

Sie dachte an den Penner.

»Ich werde gleich noch die Schraubfüße an der Pritschenkonstruktion justieren«, sagte Gruschkow. »Möglicherweise fehlen uns in der Höhe ein, zwei Millimeter. Es ist zwar Erbsenzählerei, aber wir wollen ja im letzten Moment nicht schlampen.« Er sah sie an. »Und? Lampenfieber?«

»Unbekannt. Wann checken wir die Kamera durch?«

»Jetzt. Kommen Sie, wir gehen wieder rein.«

Sie gingen die Schienen entlang zurück in die Halle. Jetzt, wo der YAG nicht mehr darin stand, wirkte sie ungleich größer. Der Lektor an seinem Rohr schien auf die Größe eines Insekts geschrumpft zu sein. Er hatte den Blick an Jana und Gruschkow vorbei nach draußen gerichtet. Jana konnte die Faszination in seinen Augen sehen, die sich zu der Angst und der Niedergeschlagenheit addierte.

Unter anderen Umständen hätte er ihr leid getan. Sonja wäre vor Mitleid vergangen.

Sie betraten den Computerraum. Jedes Mal schien es Jana, als seien neue Rechner und Fernsehschirme aus den Tischen gewachsen. In den Regalen türmten sich Ordner und Stapel säuberlich geschichteter Ausdrucke. Überall erblickte man technische Gerätschaften. Jana trat zu einem der Arbeitstische und ergriff die Nikon, mit der sie bereits auf den Penner gezielt hatte.

Gruschkow schaltete eine Reihe der Geräte ein. Jana richtete die Kamera auf ihn und schaute durch den Sucher.

»Perfekt«, sagte sie.

Von Gruschkow war im Sucher nichts zu sehen. Überhaupt zeigte ihr die Nikon nichts von dem Raum, in dem sie sich aufhielten. Stattdessen sah sie einen Ausschnitt der Halle, ein Stück Wand und einen Teil der Decke. Ihre Finger umfassten den vorderen Ring des Teleobjektivs und drehten ihn langsam.

Draußen in der Halle bewegte sich zeitgleich das Objektiv unter der Decke und übermittelte digitalisierte Informationen in die Nikon. Sie drehte weiter an dem Ring und sah den Lektor im Sichtfenster erscheinen.

Sie zoomte. Der Lektor wurde größer, bis seine Schläfe den Ausschnitt des Suchers vollständig einnahm.

Jana setzte die Kamera ab. Versuchsweise drückte sie gegen den kleinen Hebel, der das Fach für die Batterien öffnete. Beim Standardmodell ließ er sich nach rechts verschieben, und die Batterienklappe öffnete sich. Die umgebaute Version hielt eine Variante bereit. Jana bewegt den Hebel leicht nach links. Aus dem Boden der Kamera schob sich ein dünnes Plättchen von der Größe einer halben Briefmarke und fiel zu Boden.

»Alles wie gehabt«, sagte Gruschkow. »Flutscht raus wie ein Neugeborenes.«

Das Plättchen war ein Mikrochip auf einem Siliziumträger. Einmal im Innern der Nikon installiert, blockierte er die üblichen Funktionen und verwandelte sie stattdessen in eine Steuereinheit, die mit einer Kamera in etwa so viel zu tun hatte wie ein Präzisionsgewehr mit einer Kinderschleuder. Mit Hilfe des Chips konnte die Nikon ein anderswo installiertes bewegliches Objektiv wie das in der Halle fernsteuern. Und mehr noch. Was dieses Objektiv sah, wo auch immer es sich befand, erschien im Sucher. Hatte die Fernsteuerung das Ziel fokussiert, musste Jana nur noch den Auslöser drücken.

Dann, unmittelbar nach dem Attentat, würde sie den Batteriehebel nach links drücken, den Chip herausfallen lassen und zertreten. Danach war die Nikon wieder eine gewöhnliche Kamera. Keine Überprüfung würde etwas anderes ergeben.

»Es ist eine Meisterleistung«, sagte Jana anerkennend.

Gruschkow zuckte die Achseln. Er strich sich über die Glatze und versuchte, einen möglichst gleichgültigen Eindruck zu machen, aber es war offensichtlich, dass er vor Stolz fast platzte.

»Schießen Sie ein schönes Foto«, sagte er.

HOLIDAY INN

O’Connor stützte den Kopf in die Handfläche und strich der Reihe nach Namen durch, die Silberman auf ein Blatt Papier geschrieben hatte.

Systematisch gingen sie noch einmal alle Teilnehmer der G-8- Runde durch. Schröder würde den Flughafen gar nicht erst betreten. Jacques Chirac war grundsätzlich gefährdet, stand aber eher auf der Abschussliste radikaler Moslems. Auch wenn die Abu Nidals dieser Welt zu allen Zeiten in Lauerstellung lagen, war ein moslemischer Anschlag zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht sehr wahrscheinlich. Das aktuelle Zeitgeschehen kreiste um den Balkan.

Vor diesem Hintergrund war Tony Blair nach Clinton der zweite extrem gefährdete Staatsgast. Mehr als alle anderen hatte er in dem Konflikt die harte Linie vertreten. Wäre es nach ihm gegangen, hätte es kein Tauziehen um den Bodenkrieg gegeben. Der Hass Serbiens und auch der Unmut Russlands trafen Großbritannien besonders hart.

D’Alema umzubringen, konnte allenfalls die Neomarxisten interessieren. Über Obuchi und Chretien ließen sich keine Aussagen treffen außer der, dass es unsinnig war, einen kanadischen oder japanischen Staatsmann symbolisch in Deutschland zu ermorden.

»Wenn ein solcher Anschlag stattfindet«, erklärte Silberman, der mittlerweile auf O’Connors Portweinmarke umgestiegen war, »ist er streng symbolisch zu werten. Ansonsten gäbe es keinen plausiblen Grund, ihn unter derart schwierigen Vorzeichen durchzuführen. Clinton zum Beispiel ist grundsätzlich gut geschützt, dennoch könnten sie ihn beim Joggen hinterm White House ungleich problemloser wegpusten als hier.«

»Also geht es um die Demonstration von Macht.«

»Natürlich. Terrorismus ist immer da, wo Macht und Gewalt sich treffen, und sie treffen sich vor allem in den Medien. Macht erwächst aus Publicity und Anerkennung. Wenn Sie herausfinden wollen, was ein professionelles Terrorkommando plant und wie sie es umsetzen werden, müssen Sie einfach nur an die Hauptsendezeiten denken. Terroristen sind scharf auf Medienpräsenz. Was da am besten ankommt, werden sie tun, und die Medien sind allzu bereit, dem entgegenzukommen. 1975, die Besetzung des OPEC-Hauptquartiers in Wien und die Entführung der Ölminister, wissen Sie noch? Die Terroristen flohen auf höchst dramatische Weise mit ihren Geiseln aus dem Gebäude – aber erst, als sie sahen, dass auch genug Fernsehteams beisammen waren.«

»Frei nach dem Motto, schieß jetzt nicht, Abdul, es ist noch nicht Hauptsendezeit?«

»Genau. Das muss man wissen, wenn man verstehen will, warum sich solche Kommandos schwierige Situationen aussuchen. Clinton heute Abend zu töten, ist so gut wie unmöglich. Es zu schaffen hieße, dem gesamten westlichen Sicherheitsapparat den Mittelfinger zu zeigen, und zwar vor laufenden Kameras. Wir würden für machtlos erklärt.«

Sie fuhren fort mit ihrer Analyse. O’Connor füllte hin und wieder die Gläser, bis Silberman abwinkte.

Am Ende blieben zwei Namen übrig. Bill Clinton – und Boris Nikolajewitsch Jelzin.

Jelzin. Zar Boris. Warum nicht?

Aber Jelzin kam erst in drei Tagen. Und er hatte seine mächtigsten Feinde nicht in der Welt, sondern im eigenen Land.

»Sie wollen Clinton«, konstatierte Silberman.

»Ja. Aber wer will Clinton?«, sagte O’Connor. »Wer sind sie?«

Silberman spielte mit seinem Glas und schob es durch die Gegend. »Ich würde sagen, es hängt davon ab, auf welchen Anlass sich das Attentat bezieht. Wenn es rückwirkend mit dem Weltwirtschaftsgipfel zu tun hat, kommt praktisch jede radikale Gruppierung in Frage, die ›Dritte Welt‹ auf ihrer Fahne stehen hat.«

»Die ewige Betroffenenliga? Kaum vorstellbar. Ich bin da wenig bewandert, Aaron. Aber dass ein Haufen Menschenrechtler diesen Sicherheitsgürtel durchbrechen könnte, ist noch nicht mal gute Science-Fiction. Sie haben selbst gesagt, es ist so gut wie unmöglich, Clinton hier zu töten.«

»Wohl wahr.« Silberman überlegte. »Außerdem, was immer sie vorhaben, es muss eine Stange Geld gekostet haben.«

»Und wer hat das meiste Geld?«

»Die Staaten. Ich meine, Staaten grundsätzlich. Regierungen. Stimmt schon. Eine Aktion wie diese riecht förmlich nach Nationalismus. Man entmachtet nicht nur Amerika, sondern das Gastgeberland Deutschland gleich mit. Und alle anderen, die an dem Treffen teilnehmen.«

»So. Und wer hasst die Amerikaner im Augenblick am meisten?«

»Die Frage muss heißen, wer hasst die Nato. Und für wen wäre Clintons Kopf die größte Trophäe aller Zeiten?«

»Serbien. Milosevic.«

»Er würde zum Volkshelden.«

»Ja.«

»Sie würden ihn mythisch verklären. Und Milosevic ist durchaus sein eigener Mythos, er hat sich erschaffen als Reinkarnation des unseligen Fürsten Lazar, um die Schlacht auf dem Amselfeld diesmal zu gewinnen.« Silberman hob die Brauen und sah O’Connor an. »Ist das nicht bemerkenswert? Alle großen Faschisten hatten diesen eigenartigen Hang zum Mythischen. Ich denke, wenn wir die Staatsmänner der Welt in Hinsicht auf ihr Mythenverständnis ins Auge fassen, sollten wir eigentlich so etwas wie eine Hitler-Früherkennung entwickeln.«

»Nur dass…« O‘Connor zögerte. »Die Theorie ist schlüssig. Sollte

es uns stören, dass Paddy Ire ist?«

Silberman schüttelte den Kopf.

»Der internationale Terrorismus ist ein Arbeitsmarkt. Paddy ist nicht der Kopf. Der Kopf verrät uns, mit wem wir es zu tun haben. Entschuldigen Sie mich einen Augenblick, Liam.«

Silberman begab sich auf die Toilette und ließ O’Connor mit seinen Gedanken allein zurück.

O’Connor trank weiter Portwein und fragte sich, ob sie im Begriff waren, durchzudrehen. Nachdem sie jetzt eine konkrete Theorie hatten, kam ihm das Ganze nur umso absurder und alberner vor. Er war Physiker. Sein Fachgebiet waren Photonen, seine Arbeitsstätte Laboratorien. Er schrieb Romane und erfand Geschichten. Abenteuer vollzogen sich auf gesellschaftlichem Parkett. Hier und da jemanden hochnehmen, eine wohlgezielte Beleidigung coram publico mit der Aussicht auf eine standesgemäße Prügelei – O’Connor prügelte sich nie mit Männern unterhalb seines Standes! – und grundsätzlich ein bisschen auf Messers Schneide leben. Der Rest war Arbeit, Wohlstand und Genuss. Dazwischen hatte O’Connor genug damit zu tun, sich selbst zu erfinden. Die schroffe Wirklichkeit, in der er sich plötzlich wieder fand, verwirrte ihn. Zwei erwachsene Männer wurden sich darüber einig, dass am selben Abend der Präsident der Vereinigten Staaten würde sterben müssen.

Benahmen sie sich am Ende wie die Kinder?

Sie mussten zu Lavallier, so viel stand fest. O’Connor schätzte, dass der Kommissar in seinen Ermittlungen noch nicht wesentlich vorangekommen war. Lavallier und Bär wussten, dass O’Connor ins Holiday Inn geflohen war. Bestimmt hätten sie ihn aufgesucht, wenn etwas Wichtiges geschehen wäre. Und sei es, um ihn ein weiteres Mal mit dämlichen Fragen zu löchern.

Wie er es hasste!

Plötzlich und unerwartet stellte er fest, dass er sich nach Kika sehnte.

WAGNER

Der WDR erwies sich als unübersichtlich. Wagner schaffte es dreimal, sich zu verlaufen. Nach mehrmaligem Auf und Ab über die Etagen und ergebnislosen Expeditionen in nahezu identische Gänge landete sie endlich im richtigen Vorzimmer und war gut zehn Minuten zu spät.

Sie hasste Unpünktlichkeit. Im Geiste, während sie der Sekretärin ihren Namen nannte, formulierte sie eine knappe Entschuldigung, nur um zu erfahren, dass der Redakteur in einer Sitzung befindlich und bedauerlicherweise eine weitere Viertelstunde darin verhaftet sei. Plötzlich selbst Adressatin entschuldigender Worte, wurde sie mit Kaffee und Gebäck versorgt und der Besuchercouch im leer stehenden Büro anvertraut.

Sie griff nach einem Keks und knabberte lustlos daran herum. Die Verzögerung brachte alle ihre Pläne durcheinander. Um 18.15 Uhr wurde sie in Hürth erwartet. Der Sender erwog die Installation eines zweiten literarischen Quartetts, um Triviales fürs gemeine Volk zu besprechen, und der Verlag hatte ein gewisses Interesse daran bekundet. Filmleute waren nicht sonderlich flexibel, was Terminverschiebungen anging. Jeder in der Branche war immens wichtig und entsprechend gestresst, seltsamerweise diametral entgegengesetzt zu seiner tatsächlichen Position. Es würde eine einzige Hetzerei werden nach Hürth. Zu wenig Zeit für dieses, zu wenig Atem für das nächste Gespräch. Sie hätte weiß Gott allen Grund gehabt, nervös zu sein. Und tatsächlich war sie es, aber aus völlig anderen Gründen.

Ihre Gedanken kreisten um Kuhn und was ihm passiert sein mochte. Sie machte sich Sorgen. Alles an der augenblicklichen Situation war zutiefst beunruhigend.

Und das Beunruhigendste war, dass O’Connor ihre Empfindungen vollends durcheinander brachte.

Sie überlegte, ob sie die Zeit nutzen und ihn auf seinem Handy anrufen sollte. Gut eineinhalb Stunden waren es jetzt her, dass sie ihn am Flughafen verlassen hatte, ein eher flüchtiger Kuss, eine schnelle Umarmung. Nach so viel Nähe schien die Verbindung plötzlich wie abgerissen. Sie war irritiert. Wie konnte man einander so nah sein und im nächsten Moment so fremd? Welchen Sinn ergab das? War es unmöglich, sich länger fallen zu lassen als einen verzauberten Augenblick lang in der Abgeschiedenheit eines alten Baumes?

Warum bloß musste alles immer so schwierig sein?

Sie erinnerte sich an den Text eines römischen Philosophen, über zweitausend Jahre alt, den sie einmal gelesen hatte: Wenn du plötzlich das Gefühl hast, dass Meere zwischen dir und dem anderen liegen, so kann es gleichwohl den Anfang oder das Ende einer Liebe bedeuten, du musst es nur zu deuten wissen. Wären wir uns im Klaren über unsere Gefühle und wüssten um ihre wahre Natur, ergäbe sich alles von allein. So aber übersetzen wir die Sprache unseres Herzens mit dem Kopf, und die Fehler in der Übersetzung zerstören das tiefere Verständnis der Liebe, das, was hätte werden können.

Entstand oder verging etwas zwischen ihr und O’Connor?

Im selben Moment wurde ihr klar, dass es die Angst vor der Kälte war, die die Kälte schuf. Vor O’Connor war sie allein gewesen. Würde nun alles enden, wäre sie einsam. Am Ende bliebe, alles gegeben zu haben, um feststellen zu müssen, dass es dem anderen nicht genug war. Dass nichts mehr galt. Dass sie nicht länger die schönste Frau der Welt war.

Du bist eine komplizierte Zicke, dachte sie.

Sie zog das Handy hervor und fuhr mit dem Finger unentschlossen über die Tasten. Plötzlich verspürte sie Sehnsucht nach ihm. Und zugleich nagende Schuld, nicht all ihr Denken und Empfinden auf das Schicksal des Lektors zu verwenden. Geradezu unanständig drängte sich ihr der Gedanke auf, O’Connor genau deswegen jetzt anrufen zu können, ohne befürchten zu müssen, einmal zu oft Interesse bekundet und das Gleichgewicht der Macht gefährdet zu haben, in dem keiner dem anderen Kredit einräumt. Anruf gegen Anruf, Zuwendung gegen Zuwendung. Hast du was von Kuhn gehört? Guter Trick.

Widerlich!

Also genau deswegen nicht anrufen?

Genauso blöde. Verdammtes Taktieren! Sie hasste es, zu taktieren.

»Frau Wagner!«

Der Redakteur betrat den Raum, das breite Lächeln der Entschuldigung im Gesicht, mit dem er sich selbst die Absolution erteilte, und Wagners Gedankengänge kamen zu ihrem vorläufigen Ende.

Du bist ein Feigling, dachte sie, bevor sie sich erhob und dem Redakteur die Hand schüttelte. Und dann dachte sie noch, was tut er wohl gerade, der sorglose ewige Spieler, was fühlt er, was denkt er? Oder tut er nichts von beidem?

O’CONNOR

Was fühlte er?

Kika hatte versprochen, so schnell wie möglich wieder herzukommen, falls Lavallier ihn bis zum Abend nicht fortließ. Gemeinhin beunruhigten ihn derartige Versprechen. In O’Connors Ohren nahmen sie sich wie Drohungen aus. Sinistre Ankündigungen, in seinen Lebensraum eindringen und ihn fremden Bedürfnissen unterwerfen zu wollen, einem nicht von ihm gemachten Zeitplan. Jedes Mal aufs Neue hatte er sich gefragt, warum nicht alles aus Anfängen bestehen konnte, aus beliebig gedehnten ersten Malen? Er hatte die flüchtige Natur des Lichts gezähmt. Warum konnten

Liebesgeschichten nicht im Beginn verharren, konnte man ihr Fortschreiten nicht abbremsen wie Photonen? Warum unterwarfen sich Gefühle nicht der Physik? Das Chaos gebar den Augenblick, die Attraktion, die Reise ins Unbekannte, die Außerkraftsetzung von Regeln und Formen. Hierin lag etwas Großartiges. Aller Verbindlichkeiten ledig vollzog sich Einzigartiges, nie Dagewesenes, ungemein Elektrisierendes. Wie aufregend war es, Amerika zu entdecken!

Wie zäh und freudlos, es zu besiedeln!

Was folgte, waren gemeinsam verbrachte Stunden wie Perlen auf einer Schnur, sauber aufgereiht, von zunehmender Häufigkeit und Regelmäßigkeit. Man bemächtigte sich der Zeit des anderen und damit seiner Lebensumstände und seiner Person. Statuten wurden aufgestellt, feste Tage, an denen man sich sah und anderes dafür einschränkte. Dem Außergewöhnlichen folgte das Gewöhnliche. Es begann die zementartige Verdichtung zu dem, was sich irgendwann Beziehung nennen würde und mit dem Fortissimo des Auftakts nicht wesentlich mehr zu tun hatte als das repetetive Verstreichen von Minuten mit dem Urknall.

O’Connor goss Portwein nach und ließ die duftende Flüssigkeit langsam im Glas kreisen.

War es nicht genau das, was ihn immer abgestoßen hatte? Wie aus einer wilden, explosiven Leidenschaft ein domestiziertes Feuerchen wurde, auf dem der Alltag dahinköchelte. Wie der eine versuchte, dem anderen all das abzugewöhnen, weswegen er sich in ihn verliebt hatte. Feste Beziehungen liefen dem Wesen der Faszination zuwider. Das war so. Der andere begann, darüber zu befinden, was für einen wichtig war und was nicht. Man möblierte sein Leben, der andere möblierte es um. Er richtete sich so lange in der Persönlichkeit des Partners ein, bis er sich wohler darin fühlte als der ursprüngliche Bewohner. Der freie Geist verendete im Wir. Ja, wir fahren gern in die Berge. Nein, wir gehen nicht gern auf Partys. Ja, wir lieben dieses

Auto. Nein, diese Partei wählen wir nicht. Der Film hat uns gefallen. Das Buch hat uns weniger gefallen. Wir gehen jetzt nach Hause, es ist spät genug. Wir finden, wir meinen, wir sind der Ansicht, dass.

Nicht wahr, Schatz?

Alles, weil man es nicht bei der Premiere belassen hatte.

Warum sehnte er sich dann nach ihr?

Bislang hatten sie nichts zweimal hintereinander getan, sah man davon ab, dass sie sich mehrfach geliebt hatten. Aber das war ein Event, und ein Event war unteilbar. Nun jedoch, da ihre kurze und schnelle Romanze zu ihrem Höhepunkt gefunden hatte, hätte es keinen Grund geben dürfen für eine Fortsetzung. Der zweite Teil war immer schlechter als der erste. Serien waren todlangweilig.

Das alles war richtig und gewissermaßen ein schlüssig bewiesener O’Connorismus.

Was war diesmal schief gelaufen?

Das Wort mit L?

Besorgnis erfasste ihn. Es verunsicherte ihn, auf eine Weise für sie zu empfinden, die ihm nicht geläufig war. Selbst hatte er sich andeuten hören, er habe sich verliebt. Das stimmte sogar. Er hatte sich in den Augenblick verliebt. Sich hingegen in diese Frau zu verlieben, die er kaum kannte, mit dem Resultat, sie wiedersehen zu wollen, hätte er sich weigern müssen zu akzeptieren. Nicht er! Nicht Liam O’Connor, die Insel im Destillat des freien Willens.

Diese Reise nach Köln hatte alles auf den Kopf gestellt.

Silberman kam von der Toilette zurück.

»Und?«, fragte er. »Ist Ihnen noch was eingefallen?«

O’Connor erhob sich. War ihm noch was eingefallen? Der Portwein hatte ihn wunderbar erwärmt. Eigentlich konnten sie jetzt losziehen und den Terroristen eins auf den Hut hauen.

»Haben Sie den Zettel mit der Nachricht noch?«, fragte er.

»Sicher.«

O’Connor nahm das Stück Papier und betrachtete es zum hundertsten Male.

Was war ihm alles durch den Kopf gegangen vorhin? Kika. Beziehungen. Irland. Prügeleien. Seine Arbeit.

Seine Arbeit.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, die Dinge klar zu sehen, jeden Aspekt sauber abgegrenzt neben dem anderen, wie im Aufblitzen eines Stroposkops. Da, direkt vor seinen Augen, war die Lösung! Dann verschwamm alles wieder zu einem diffusen Durcheinander.

Seine Arbeit.

Paddys Arbeit?

Wo hatte Paddy überall gearbeitet?

Lavallier würde es wissen. Aber er würde es O’Connor nicht sagen. Nicht in hundert Jahren.

Und O’Connor würde ihn nicht fragen. Nicht in tausend Jahren!

»Hören Sie, Aaron.« Er schlug dem Korrespondenten freundschaftlich auf die Schulter. »Mir ist gerade eine Idee gekommen. Wir teilen uns. Sie gehen rüber ins Revier und erzählen denen unsere kleine Theorie. Ich meine, wenn Lavallier der gleichen Ansicht ist wie wir, kann er den Präsidenten immer noch woandershin umleiten. Alle dürften davon schwer begeistert sein und ihn schrecklich lieb haben für seine Entscheidung.«

»Und was machen Sie?«

»Geheime Mission.«

Silberman grinste schwach. »Sie sind unfair, Liam. Sie wissen, dass mich das als Journalist interessiert. Außerdem habe ich Ihnen maßgeblich geholfen, überhaupt eine Theorie zu entwickeln.«

»Schon gut.« O’Connor grinste zurück. »Ich will rüber in die Verwaltung. Mal hören, wo Paddy überall Hand angelegt hat.«

Silberman nickte.

»Wie kann ich Sie erreichen?«

»Mobilphone.«

»Warten Sie, ich schreib’s mir auf.«

Silberman notierte die Nummer. Gemeinsam gingen sie nach draußen.

»Wissen Sie«, sagte Silberman, während sie den Parkplatz vor dem Holiday Inn überquerten, »im Grunde bin ich guten Mutes. Erstens hoffe ich immer noch, dass wir in der letzten Stunde Phantome gejagt haben. Zweitens ist Clinton bislang aus allem mit heiler Haut herausgekommen. Kein Präsident hat so viele Anschläge überlebt wie er. Er wird auch diesen jovial beiseite winken.«

»Ich wusste nicht, dass es Anschläge auf ihn gegeben hat«, sagte O’Connor verwundert.

Silberman lächelte.

»Natürlich wissen Sie es. Viele Menschen waren daran beteiligt. Der prominenteste Attentäter heißt Kenneth Starr.«

»Ach so. Der Spermatologe des Präsidenten. Ja, es gibt lustige Berufe in Amerika.«

»Wir sind politisch in einer größeren Krise, als wir selbst glauben«, sagte Silberman. »Starr ist die Frontfigur. Er wird bezahlt. Dahinter stecken der rechtsextremistische Flügel der Republikaner und die ultrarechten Ausläufer. Erzkonservative Milliardäre und Zeitungsverleger. Eine Machtclique, deren gemeinsames Interesse die Vernichtung Clintons ist, angetrieben von Hass. Sie nennen es Gerechtigkeit und Aufklärung, was sie tun. Ich nenne es einen Anschlag auf die Demokratie.«

»Sie haben Recht. Ich war immer der Meinung, der mächtigste Mann der Welt sollte guten Sex haben«, sagte O’Connor. »Ihm das zu untersagen, dürfte vor allem ein Anschlag auf seine politische Gelassenheit sein.«

»Es ist ein Anschlag auf die Amerikaner und die Sicherheit der ganzen Welt. Wussten Sie, dass Starr überhaupt nicht wegen Lewinsky eingesetzt wurde? Er hat in der Whitewater-Affäre ermittelt.«

Whitewater war der berühmteste Investment-Flop der US- Geschichte. Clinton hatte in das Immobilienprojekt während seiner Amtszeit als Gouverneur von Arkansas investiert, was ihn zur Zielscheibe der Republikaner machte. Sie warfen ihm vor, er habe seine Investitionen in betrügerischer Absicht getätigt und seine Rolle in dem dubiosen Projekt vertuscht.

»Aber die Vorwürfe erwiesen sich als unbegründet, richtig?«

»Ja. Das eigentlich Perfide an der Sache ist aber, dass Kenneth Starr, nachdem Whitewater keine Anklage hergab, in seiner Funktion als Sonderermittler bestätigt und mit noch größeren Mitteln und Möglichkeiten ausgestattet wurde. Anders gesagt, der Gegenstand seiner Arbeit war nun nicht mehr ein vorliegender Verdacht, sondern ein zu findender und notfalls herbeizukonstruierender. Es ist, als ob jemand Tag und Nacht Ihr Haus beobachtet in der Hoffnung, Sie irgendwann bei etwas Verbotenem zu erwischen.«

»Und das lässt Ihr Rechtssystem zu?«

Sie hatten die Verwaltung erreicht. O’Connor blieb stehen. Silberman sah hinüber zur Baracke des Polizeireviers.

»Es ist schade, dass wir nicht mehr Zeit zum Plaudern haben«, sagte er. »Um es kurz zu machen, Kenneth Starr hat unsere Justiz korrumpiert. Er hat sie zum Instrument der Politik gemacht und mit ihrer Hilfe den Präsidenten daran gehindert, dem wichtigsten Amt der Welt nachzukommen. Das ist es, was ich mit Anschlägen meine, und dabei geht es nicht darum, wer es wem mit der Zigarre besorgt hat. Sie hier in Europa kennen das nicht. Bei Ihnen treten sich die Parteien der Mitte auf die Füße. Rechtsextremismus lebt noch in der Isolation. Bei uns ist das anders. Unseren Demokraten steht ein wirklich rechter Flügel gegenüber, und er hat einen gefährlichen, gewaltbereiten Rand. Ich würde sagen, unsere konservativen und religiösen Fundamentalisten können dem islamischen Fundamentalismus in jeder Hinsicht die Hand reichen, sie töten Menschen, verüben Sprengstoffattentate auf Abtreibungskliniken, lynchen Andersdenkende und geben ein Heidengeld aus, um Amerika den Teufel auszutreiben. Für sie ist Clinton ein Usurpator, ein tragischer Irrtum, der die alten Werte von christlicher Erziehung, puritanischer Moral und Nationalstolz nie verinnerlicht hat, eine Halbwaise aus Arkansas aus zweifelhaften Verhältnissen, die niemals Präsident hätte werden dürfen.«

O’Connor sah Silberman nachdenklich an.

»Ich will nichts davon verteidigen«, sagte er. »Aber Clinton ist tatsächlich ein feiger Hund. Was die Menschen wütend macht, ist, dass er lügt, nicht, dass er seine Praktikantinnen vögelt.«

»Er lügt ja nicht«, sagte Silberman mit gequältem Lächeln. »Er verdreht die Tatsachen. Darin ist er viel geschickter.«

»Er hat sich immer aus allem herausgestohlen«, schnaubte O’Connor. »Das wissen sogar die dummen irischen Bauern, und die kennen gemeinhin nicht viel mehr von der Welt als das Keimverhalten ihrer Kartoffeln. So etwas macht mich wütend, Aaron, diese Verlogenheit, die offenbar zur politischen Kultur gehört. Ich bin weiß Gott einer, der die Welt mit der Gelassenheit eines Theaterkritikers zur Kenntnis nimmt. Meine größte Betroffenheit gilt dem Umstand, dass die Besetzung so schlecht gewählt ist. Aber ich bin reich. Ich bin Multimillionär. Ich kann aufstehen und gehen. Die Menschen, die Clinton gewählt haben, können das nicht, sie müssen damit leben, dass das Verhältnis ihres Präsidenten zur Wahrheit im besten Fall interessant zu nennen ist. Er war gegen den Vietnamkrieg, aber nur ein bisschen. Er hat einen Joint geraucht, aber nicht inhaliert. Er hat sich einen blasen lassen, aber er hat ihr das Ding nicht reingesteckt. Und wie Clinton sind Dutzende. Hier in Deutschland ist so viel gelogen und ausgesessen worden, dass es mich wundert, die Parteiobersten nicht geteert und gefedert zu sehen. In Irland schweigen wir unsere Probleme einfach tot, wenn wir sie nicht gerade in Blut ertränken. Überall auf der Welt genießen Sie so lange Glaubwürdigkeit, bis man Sie an die Spitze gewählt hat. Danach betrachtet man Sie als gewählten Gauner. Es gibt keine Integrität in der Politik. Wer regiert, lügt. So sehen es die Leute.«

»Und Sie stehen auf und gehen?«

»Allerdings.«

»Warum tun Sie es dann nicht auch jetzt?«

O’Connor starrte ihn an.

»Was ich meine«, sagte Silberman bedächtig, »ist nichts anderes als das, was Sie eben gesagt haben. Es stimmt, Clinton ist feige, politisch ambivalent und von persönlicher Verantwortungslosigkeit geprägt. Aber er ist auch ein guter Politiker. Und er ist ein Mensch. Wenn schon die Tatsache, dass jemand überhaupt in die Politik gehen will, ihn in den Augen seiner Mitmenschen zum potentiellen Lumpen macht, ist das in der Tat bedenklich. Es ist ein Spiegel unserer Zeit. Unsere Freunde in Deutschland mögen politische Karrieristen mit persönlichem Wohlwollen betrachten, aber die wenigsten halten Politiker grundsätzlich für glaubwürdig. Sie halten Kohl für einen Paten und Schröder für einen Emporkömmling. In Amerika ist es noch schlimmer. Wir leben mit der Verachtung und dem Zynismus, der unseren Präsidenten grundsätzlich entgegengebracht wird. Ein Drittel aller Amerikaner verachtet Clinton.« Er machte eine Pause. »Aber dieses Phänomen betrifft die ganze Welt. Wir reden über Anschläge an Flughäfen und vergessen, dass der weltweite moralische Verfall der politischen Kultur die schlimmeren Attentäter wie Starr und seine Hintermänner erst ermöglicht. Wir öffnen den Rechten und Radikalen Tür und Tor, weil die Demokratie schwach und angreifbar geworden ist. Hinter Starrs Inquisition steckt der Versuch, das Amt des Präsidenten selbst zu beschädigen.

Der Kreuzzug gegen Clinton, wie immer man ihn sehen mag, ist eine Offensive gegen einen Mann, der zweimal demokratisch gewählt wurde. Wäre er zurückgetreten, hätte das fatale Auswirkungen gehabt. Es wäre einem rechten Putsch gleichgekommen. Die Methode der persönlichen Vernichtung hätte triumphiert.«

Silberman blinzelte, nahm seine Brille ab und sah O’Connor an. Ohne die Verstärkung durch die geschliffenen Linsen wirkten seine Augen in dem runden, freundlichen Gesicht klein und wie poliert. Analytische Schärfe und das Fehlen jeglicher Sentimentalität sprachen aus seinem Blick.

»Verzeihen Sie, dass ich Sie in dieser Situation so sehr mit meinen persönlichen Anliegen konfrontiere«, sagte er. »Sie haben andere Sorgen. Ich auch. Alles, was ich sagen will, ist, dass ein politischer Totschlag unseres Präsidenten noch viel schlimmer gewesen wäre als die Beendigung seiner physischen Existenz. Wenn diese Gefahr besteht, müssen wir alles tun, um ihr entgegenzuwirken. Aber verstehen müssen wir vor allem die Signale. Unsere demokratischen Strukturen werden lautlos demontiert. Ausgerechnet Amerika zerstört sein eigenes System und lässt eine Horde erzkonservativer Geiferer und religiöser Rechter den American dream in einen Alptraum verwandeln. Auch in Europa warten fundamentalistische Ideologen und Populisten der Angst auf ihren großen Auftritt. Schauen Sie nach Österreich. Nach Frankreich, nach Deutschland. Was wird aus Russland, wenn Jelzin geht? Die Welt kann keine weitere Banalisierung der Politik verkraften, Liam. Die Spaßgesellschaft hat genug Spaß gehabt. Wir brauchen eine neue Integrität in der Politik, wir brauchen Wahrheit, und wir brauchen Menschen, die daran glauben!«

»Eine Wahrheit hört auf, wahr zu sein, wenn sie von mehr als einer Person geglaubt wird«, sagte O’Connor trotzig.

»Zufällig ist mir dieses Zitat bekannt. Es stammt von Oscar Wilde, nicht wahr? Nun, Liam, gestatten Sie mir Folgendes: Wenn ein armer Hund, der nichts zu beißen und keine Perspektive hat, aufsteht und geht, sobald es unangenehm wird, habe ich dafür tief empfundenes Verständnis. Wenn ein gelangweilter Multimillionär es tut, leistet er dem Zynismus Vorschub. Die Politiker lügen, die Faschisten prügeln sie aus dem Amt, und das Volk steht auf und geht. Ich gratuliere zu einer so erhebenden Vision vom dritten Jahrtausend.«

Silberman rückte die Brille vorsichtig auf seinem Nasenrücken zurecht, als könne sie Schaden nehmen.

»Ich hoffe, Sie nehmen das nicht persönlich. Wie hieß der Kommissar noch gleich? Lavallier. Nein, Bär. Ich rufe Sie an, sobald ich mit einem von beiden gesprochen habe.«

O’Connor nickte.

Tausend Zitate, Bonmots und geistvolle Erwiderungen lagen ihm auf der Zunge. Stattdessen sagte er nur:

»In Ordnung, Aaron. Und ich Sie.«

»Das wäre nett. Ich mache mir wirklich Sorgen um den armen Franz.«

Silberman lächelte und ging davon. O’Connor sah ihm nach und fühlte sich einigermaßen überrumpelt.

Dieser Ausflug nach Köln stellte tatsächlich alles auf den Kopf!

Mit eiligen Schritten betrat er die Verwaltung und lief die Treppen hinauf in den zweiten Stock, wo die Technik saß.

JANA

Kaum eine journalistische Berichterstattung war je von längerer Hand vorbereitet und einem strengeren Sicherheitsprocedere unterworfen worden als der Doppelgipfel in Köln.

Ein halbes Jahr zuvor hatten Verlage und freie Journalisten ihre Akkreditierungsgesuche beim Bundespresseamt einreichen müssen. Akkreditiert zu werden hieß nicht automatisch, für beide Gipfel zugelassen zu sein. Es gab einen Ausweis für den EU-Gipfel und einen anderen für das G-8-Treffen. Ebenso zog das Ersuchen nicht zwangsläufig die Akkreditierung nach sich. Die Personalien der angemeldeten Journalisten wurden vom Bundeskriminalamt gegengecheckt, Lebenslauf, Leumund, beruflicher Werdegang, Dauer der Zugehörigkeit zum Verlag beziehungsweise der freien Mitarbeit, eventuelle Rechtsverstöße und Verdachtsmomente, die ganze Litanei.

Wer als unbedenklich aus dem Fegefeuer hervorging, bekam den begehrten Akkreditierungsausweis zugesprochen. Im Pressezelt auf dem Kölner Heumarkt gelangten die Ausweise schließlich an ihre Besitzer. Drei Tage vor dem jeweiligen Gipfel konnte man sie dort gegen Vorlage eines größeren Packens Dokumente – Personalausweis, Zeugnisse, Akkreditierungsanträge, Beglaubigungen des Bundespresseamts und des BKA – in Empfang nehmen. Als Erstes erwarb man damit die nachträgliche Berechtigung, das Zelt überhaupt betreten zu dürfen. Weiter kam man mit dem mühsam erworbenen Kärtchen nicht. Um etwa auf die Pressetribüne am Flughafen oder vor den Gürzenich zu gelangen, bedurfte es neben dem Akkreditierungsausweis wiederum so genannter Poolkarten. Für jeden nur erdenklichen Anlass gab es diese Karten. Wer sich erfolgreich hatte akkreditieren lassen, beantragte die Poolkarten seiner Wahl zwei Monate vor dem Gipfel und holte sie am Tag des jeweiligen Events im Pressezelt ab, sofern er im Besitz eines gültigen Akkreditierungsausweises war. So schloss sich der Kreis.

Jana stand vor dem Exit »Flughafen« und wartete geduldig auf den Shuttle-Bus. Für jeden Pool gab es im Zelt einen eigenen Ausgang. Gut eine Stunde vor dem fraglichen Termin passierte man seinen Pool-Exit, flankiert von Mitarbeitern des Bundespresseamts, bestieg seinen Bus und ließ sich ans Ziel kutschieren.

Es hatte einige Mühe bereitet, Jana zugleich in den Besitz einer ordnungsgemäßen Akkreditierung zu bringen. Mirko hatte sich darum gekümmert, und er hatte seine Sache mehr als gut gemacht. Nun war sie Cordula Malik, ausgestattet mit einer wasserdichten Legende und offiziell vermerkt als freie Journalistin aus Wien, seit heute offiziell eingebucht im Hotel Flandrischer Hof auf dem Hohenzollernring. Sie besaß einen Akkreditierungsausweis und seit wenigen Minuten eine Poolkarte für die Pressetribüne auf dem Vorfeld Fracht West des Köln-Bonn Airport.

Sie sah sich um. Das zweistöckige Pressezelt war stark frequentiert. Zweifellos hatten die Organisatoren des Gipfels hiermit ihr Meisterstück abgeliefert. Halb scherzhaft, halb ehrfürchtig wurde das provisorische Headquarter des internationalen Journalismus nun »Gipfel-Ufo« genannt. Hatte man die Sicherheitsschleuse passiert, Handy und Schlüssel dem Röntgenlaufband anvertraut und sich vom Metalldetektor absuchen lassen, während Scanner über Taschen und Geräte huschten, fand man sich in einem drei Millionen teuren High-Tech-Universum wieder, das der Kommandobrücke einer überdimensionierten Enterprise glich. Im Mittelpunkt des Ufos befand sich eine kreisrunde Faxzentrale. Von dort zweigten sternförmig endlos scheinende Reihen hochmoderner Arbeitsplätze ab, ausgestattet mit Laptop-Anschluß und PC, analogen und ISDN- Telefonen, E-Mail und Internet. Über die TV-Bildschirme einer zelteigenen Fernsehstation flimmerten fortlaufend Nachrichten und Pressekonferenzen, in den Pausen lief VIVA zur Entspannung.

Einige Schritte von Jana entfernt stand ein junger, stoppelhaariger Mann und sprach in ein Diktaphon, während er von Zeit zu Zeit in einen Notizblock schaute.

»Dreitausend Journalisten finden in dem Ufo Platz«, sagte er, »die nach vorläufigen Schätzungen bereits einige hunderttausend Hektoliter Kölsch, Wasser, Limo und Cola niedergemacht und neben Zentnern von Kanapees, belegten Broten, Salaten und Törtchen an die zweitausend Kilo Lachs verspeist haben. Alle zehn Minuten treffen die Nachschublaster ein. Es ist eine gewaltige Maschinerie in Bewegung gesetzt worden, um jeden Hunger zu stillen, sei es den nach Neuigkeiten oder Kohlenhydraten.«

Er machte eine kurze Pause, blätterte in dem Block und fuhr fort: »Die Stimmung ist gut, ganz ausgezeichnet. Man hat die Journalisten mit Wundertüten beschenkt, voll der nützlichsten Dinge – Augenblick, haben wir darüber nicht schon letzte Woche was gebracht? Egal. Jedenfalls, jeder hat was springen lassen. Der WDR einen Eurorechner mit Übersetzerfunktion, Ford ein Sitzkissen, Bayer einen Blutzuckermesser, um sich selbst auf Gipfeltauglichkeit zu testen.« Er grinste in sich hinein. »Das Sitzkissen ist den meisten, sagen wir ruhig, am Arsch vorbeigegangen, der Blutzuckermesser sorgte für Ratlosigkeit und anschließendes Entsetzen, weil man sich zwecks Diagnose in den Finger pieksen musste. Dafür waren die kostenlosen Eintrittskarten zum Gipfelkonzert auf dem Roncalliplatz, das unvermeidliche Fläschchen 4711, vor allem aber die vom Bundespresseamt großzügig verteilten Kondome auf lebhaftes Interesse gestoßen. Letzteres hat den kölnischen Klerus verdrossen, ebenso wie der Umstand, dass Kölns bekannteste Lustmeile mit neuen Matratzen und zweihundert Extramädchen aufgerüstet hat und seit Wochen ein einmotoriger Flieger über dem Dom ein Transparent hinter sich herzieht, auf dem für einen Nachtclub namens ›Pascha‹ geworben wird. Der Sprecher des Erzbistums hat einiger Verärgerung Ausdruck verliehen – haben wir ein Bild von dem Typ? Nachprüfen! –, allerdings in gedämpfter Form. Die Kirche weiß sehr genau, dass sie nichts davontragen wird als den Ruf des ewigen Spielverderbers, also begegnet man dem zu erwartenden Sündenbabel mit Last-Minute- Beichtgelegenheiten und zusätzlichen Gipfel-Gottesdiensten. – Irgendwie sind am Ende doch alle wieder versöhnt, und Köln hat, was es will, nämlich eine hochzufriedene Journaille.«

Der Mann, der da seinen Artikel ins Gerät diktierte, hatte es auf den Punkt gebracht. Jana war klar, was sich die Kölner Stadtgewaltigen wünschten. Bei allem Augenmerk auf die Protagonisten und politischen Inhalte des Gipfels erhoffte man sich vor allem die weltweite Etablierung eines Stars, und der hieß Köln.

Sie würden sich wundern.

Jana gähnte und überprüfte in einem Schminkspiegel ihr Makeup.

Cordula Malik existierte tatsächlich. Beziehungsweise, sie hatte existiert, wenn auch nur drei Lebensjahre lang. Dann waren sie und ihre Eltern bei einem Brand ums Leben gekommen, Anfang der siebziger Jahre. Mit Akribie und den richtigen Verbindungen ließ sich aus einem solchen Fall ein lebender Mensch gestalten, mit einem beruflichen und persönlichen Werdegang und einem festen Wohnsitz. Mirko hatte sich in den Besitz der Geburtsurkunde gebracht, eine gängige Methode international operierender Verbrecher und Terroristen, wenn sie unter falschem Namen in andere Länder einzureisen beabsichtigten. Eine ganze Reihe weiterer Schritte inklusive der Bestechung ehrbarer Beamter war erforderlich gewesen, um eine quicklebendige, dreißigjährige Journalistin zu erschaffen.

Cordula Malik war dem Grab entstiegen. Eine andere Frau würde dafür abtreten. Eine elegant gekleidete, gut aussehende Italienerin mit langem, rotbraunem Haar namens Laura Firidolfi, die nie zurückkehren würde. Jana empfand leichtes Bedauern. Sie hatte die erfolgreiche Geschäftsfrau gemocht. Laura Firidolfi hätte die würdige Nachfolgerin Sonja Cosics sein könne, aber die Geschichte hatte es anders gewollt.

Cordula Malik trug die Haare kurz und strohig. Vor einer Stunde hatte die Verwandlung mittels Schere stattgefunden, gleich nachdem Jana und Gruschkow die Kamera gecheckt hatten. Firidolfis teures Kostüm war einer ausgeblichenen Jeans und einem bauchfreien T- Shirt mit leichtem Blouson darüber gewichen, deren Farben die Siebziger widerspiegelten, gemäß der augenblicklichen Mode. An den Füßen trug Cordula Turnschuhe von Nike mit verstärkten Sohlen. Derart gekleidet, Augen und Lippen expressiv geschminkt, wirkte sie wie ein etwas verspätetes Girlie, nominell zu alt für den Look, in ihrer äußeren Erscheinung dennoch aufreizend genug, um als Vertreterin der Szene durchzugehen. Über ein Nabelpiercing hatte sie nachgedacht, den Gedanken jedoch verworfen und stattdessen mit Tattoostiften ein keltisches Symbol aufgetragen, das sich aus dem Hosenbund hinaufwand.

Sie sah aus wie die Bilderbuchvertreterin der Spaßgeneration. Eine Medienschlampe, wahrscheinlich furchtbar von sich eingenommen und nicht sonderlich intelligent. Mit Sicherheit die Allerletzte, der man einen Anschlag auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten zutraute.

Die Nikon hatte sie zusammen mit einer kleinen Olympus um den Hals hängen, so, dass die Kameras nicht direkt vor ihrer Brust baumelten, sondern über der Hüfte. Ihre Kiefermuskeln spannten und entspannten sich in der Bearbeitung eines Kaugummis. Offensichtlich gelangweilt wanderte sie vor dem Exit auf und ab. Schließlich wurden die Türen geöffnet, und sie wurden nach draußen geführt.

Eine Menge Menschen war unterwegs. Das Sonnenlicht tauchte die Altstadt in warme Farben. Alles sah nach einem schönen frühsommerlichen Abend aus.

Bis auf die geschlossene Wolkendecke, die sich vom anderen Rheinufer näherte.

Regen. Das Einzige, was den Plan gefährden konnte.

Allerdings nur, wenn es wie aus Eimern schüttete. Und selbst dann hätte sie eine weitere Chance.

Dennoch, Regen war schlecht. Er würde sie möglicherweise zwingen, länger zu bleiben, als ihr lieb war. Im Zweifel musste Laura Firidolfi noch einige Tage fortbestehen. Die Verkleidung war kein Problem, aber sie hasste den Gedanken trotzdem.

Kein Regen, dachte sie. Bitte.

»Auch POTUS?«, sprach sie der junge Mann mit den Stoppelhaaren an.

Sie wandte den Kopf. Der andere war mit Kameras behängt wie sie.

»Mhm«, drückte sie zwischen den auf- und abgehenden Kiefern heraus.

»Ich auch«, sagte der Mann. »Von welchem Blatt sind Sie?«

»Kein Blatt«, nuschelte sie. »Bin frei.«

Der junge Mann streckte ihr die Hand hin.

»Peter Fetzer. Kölner EXPRESS.«

»Oh. Die Lokalmatadoren.« Sie hob die Brauen und verstaute den Kaugummi im hinteren Winkel ihrer rechten Backentasche. »Cordula Malik. Wien. Korrespondentin für alles Mögliche.«

»Sind Sie schon lange in Köln?«, fragte Fetzer.

Sie schüttelte den Kopf.

»Ist mein erster Termin«, sagte sie.

Er grinste. »Wundern Sie sich nicht, wenn Sie Bus fahren. Meist fahren wir eine ganz manierliche Strecke, aber es kann Ihnen passieren, dass der blöde Bus Sie einfach nur um die Ecke karrt. Übermorgen, heißt es, geht Clinton in den Dom.«

»Weiß schon«, sagte sie gelangweilt. »Will ich auch hin. Geile Kirche.«

»Dann viel Spaß.« Er wies dorthin, wo die Türme der Kathedrale über die Häuser der Altstadt ragten, und lachte. »Das wird die kürzeste Busfahrt Ihres Lebens.«

Sie lachte zurück und versuchte, es ein bisschen gewöhnlich klingen zu lassen. Natürlich wusste sie genau, wovon er sprach. Alle

Journalisten, die zu einem Gipfelevent wollten, mussten am Heumarkt oder einem anderen Fixpunkt den Bus besteigen, und wenn er nur zehn Meter weit fuhr. Man hatte ein Auge auf die Journalistenpools.

»Vielleicht sehen wir uns ja gleich«, sagte Jana. »Wann kommt denn der Bus?«

»Weiß nicht.« Fetzer schaute sich um und zuckte die Achseln. »Hat offenbar Verspätung. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann…«

»Ganz lieb. Komm schon zurecht.«

VERWALTUNG. TECHNIK

Mahder war im Begriff, sein Büro zu verlassen, als O’Connor eintrat. Der Abteilungsleiter trug einen Packen technischer Zeichnungen unter dem Arm und wirkte angespannt.

»Irgendwie macht uns die Gipfelitis alle fertig«, sagte er. »Ich bin froh, wenn es vorbei ist, aber das darf man ja nicht laut sagen, sonst springt einem Stankowski ins Gesicht.«

»Ich wollte Sie nicht aufhalten«, sagte O’Connor.

»Tun Sie nicht. Warten Sie einen Augenblick.«

Mahder ging ins Nebenzimmer. O’Connor hörte, wie er jemanden anwies, die Pläne ins alte Terminal zu bringen. Dann kehrte er mit entschuldigendem Gesichtsausdruck zurück.

»Die Arbeit geht ja weiter«, sagte er. »Oder besser gesagt, sie soll weitergehen, und zugleich dann doch wieder nicht. Meine Leute werden alle zehn Minuten kontrolliert, wenn wir rausfahren.«

»Die Technik wird kontrolliert?«

»Alle werden kontrolliert. Techniker, sonstiges Personal. Die SI kontrolliert uns, die Polizei kontrolliert die SI, der Secret Service kontrolliert die Polizei und wird wiederum von denen kontrolliert, und wenn das BKA nix zu tun hat, kontrolliert es wahrscheinlich noch sich selbst.« Er verzog das Gesicht. »Und das ist nur das amerikanische Kapitel. Dasselbe Spiel werden wir in drei Tagen erleben, wenn Jelzin kommt, dann haben wir die Kosaken am Hals, und morgen werden uns die Engländer und die Franzosen auf die Nerven gehen. Alle drehen durch. Haben Sie von Strack gehört?«

»Strack?«

Mahder lachte unvermittelt. Die billigen falschen Zähne blitzten. Das Lachen eines unzufriedenen Menschen, dachte O’Connor, der feststellt, dass jemand anders gerade auf einer Bananenschale ausgerutscht ist.

»Strack ist ein hohes Tier bei der Polizei, wussten Sie das nicht? Er macht den großen Zampano, läuft schon mal gern durchs VIP-Zelt und redet ständig mit wichtigen Leuten, während Männer wie Lavallier die ganze Arbeit erledigen. Jeder in Köln weiß das. Wollen Sie übrigens einen Kaffee?«

»Danke, ich möchte mich gar nicht lange–«

»Sie haben ihn verhaftet!« Mahder starrte O’Connor an und lachte aus vollem Halse. »Ist das nicht ein Ding? Waren natürlich Ossis. SEKs aus Brandenburg. Als letzte Woche der französische Premier abgeflogen ist, haben sie wieder mal alles abgesperrt. Aus allen Bundesländern haben wir hier Polizei, und manche sind zu dämlich, den eigenen Polizeichef durchzulassen, bloß weil er eben mal seinen Ausweis nicht parat hat. Lavallier musste ihn raushauen.«

»Allerhand.«

Mahder hörte auf zu lachen und zuckte die Achseln.

»Na ja. Soll mir egal sein, wie sie’s machen. Das Problem ist, dass wir die Arbeit niederlegen müssen, wenn Clinton reinkommt.«

»Sagten Sie heute Mittag nicht, die Landungen würden die Arbeit nicht tangieren?«

»Grundsätzlich stimmt das. Im Terminal 2 geht alles normal weiter. Aber heute kommt Clinton. Vorfelder, Frachtflughafen, alles Mögliche wird gesperrt. Wir haben eine wichtige Baumaßnahme auf A2, da wird betoniert. Wir arbeiten auch nachts. Ursprünglich sollten wir komplett die Zelte abbrechen, aber wenigstens diesmal konnten wir den Amis ein paar Kompromisse abringen. Trotzdem ist für zwei Stunden Schicht, wenn Clinton kommt. Unsere Leute werden in Busse verfrachtet und dürfen da ihre Stullen essen. Lächerlich!«

»Er ist immerhin der Präsident der Vereinigten Staaten.«

»Na und? Was erwarten die denn? Dass wir mit Schaufeln nach der Air Force One werfen?«

»Ich weiß nicht, ob es so lächerlich ist«, sagte O’Connor. »Ich denke an Patrick Clohessy, will sagen, O’Dea.«

»Das ist natürlich wahr«, gab Mahder mürrisch zu. Er kratzte sich hinterm Ohr und sah O’Connor an. »Was kann ich eigentlich für Sie tun? Oder wollten Sie nur plaudern?«

»Nein.« O’Connor schüttelte den Kopf. »Mich würde interessieren, wo Clohessy überall gearbeitet hat.«

»Warum fragen Sie nicht Lavallier?«

»Er ist nicht da«, log O’Connor. »Außerdem schätze ich, Sie haben die detaillierteren Informationen.«

»Schon«, sagte Mahder zögerlich.

O’Connor trat zu dem Abteilungsleiter und senkte seine Stimme.

»Heute Mittag waren Sie der Ansicht, dass man Ihnen nicht genug erzählt. Nun, ich erzähle Ihnen was. Vielleicht können Sie ja bei der Aufklärung helfen, ohne sich mit den Institutionen herumärgern zu müssen, die Ihnen jeden Schritt verbieten.«

Mahders Augen verengten sich. Dann lächelte er.

»Ich muss zugeben, dass ich mir tatsächlich schon meine eigenen Gedanken gemacht hatte.«

»Ich auch.«

»Aber wir haben alles untersucht. Meine Leute, die SI, die Polizei. Ich habe Lavallier eine komplette Liste der Einsätze gegeben, an denen O’Dea – Clohessy beteiligt war. Ich bin selbst vorhin noch über die Gerüste balanciert. Wir haben nichts gefunden.«

»Wo war er denn am häufigsten?«

»Im neuen Terminal. Ich sagte ja, wir müssen da ständig aushelfen.«

O’Connor trat einen Schritt beiseite und rief sich in Erinnerung, was Mahder ihnen auf der Rundfahrt alles gezeigt hatte. In Höhe des neuen Terminals landete möglicherweise die Air Force One. Oder auch nicht. Sie machten ein Geheimnis draus. Sich dort auf die Lauer zu legen, war sinnlos. Zumal man ein ziemliches Kaliber ins Feld führen musste, um den bestgeschützten Jumbo der Welt aus der Luft zu holen.

Derjak schießt.

Wer in Herrgottsnamen war Derjak? Womit wollte er schießen?

Pieza Datspiglen.

»Können Sie mir auf dem Plan noch mal zeigen, wo Clinton genau landet?«, sagte O’Connor.

Mahder breitete die Hände aus.

»Sicher. Aber was soll das bringen?«

»Aufschluss.«

»Kein Problem. Kommen Sie hier rüber.« Mahder ging zu einer weiß getünchten Wand, an der mit Heftzwecken ein gezeichneter Plan des gesamten Flughafengeländes befestigt war. Daneben hingen mehrere Luftaufnahmen. O’Connor folgte ihm.

Erstmals sah O’Connor den Airport aus der Vogelperspektive.

Es war verwunderlich, wie klein das Hufeisen des alten Terminals im Vergleich zu der Gesamtgröße des Airports wirkte. Tatsächlich machte es nur einen winzigen Teil aus, erweitert durch das T2 und das riesige angrenzende Parkhaus. Ein Stück davor, auf der anderen Seite des Autobahnzubringers, konnte O’Connor die Gebäude des Holiday Inn, der Verwaltung und der Polizeiwache ausmachen. Sie lagen dicht beieinander und erschienen irgendwie abgeschlagen, als gehörten sie nicht wirklich zum großen Ganzen. Wie unliebsame Verwandte, die nicht im Schloss wohnen dürfen, sondern im Häuschen an der Auffahrt.

Jenseits des Terminals begannen die Runways, die Vorfelder und das, was Kika als »kleine Stadt« bezeichnet hatte. Wie O’Connor jetzt sah, handelte es sich dabei fast zur Gänze um den Frachtflughafen. Der Komplex aus Verwaltungsgebäuden, Hangars, Fracht- und Lagerhallen zog sich parallel zu den Landebahnen dahin. Sie hatten ihn durchquert, aber O’Connor war trotzdem verblüfft über die Ausdehnung des Trakts.

Mahder zeigte auf das Ende des Super-Runway.

»Daran sind wir entlanggefahren. Erinnern Sie sich? Auf dieser Bahn wird die AFO landen.«

»AFO?«

»Air Force One. Sie können nicht in dieser Branche arbeiten, ohne Abkürzungen zu benutzen, andernfalls hätten Sie keinen Feierabend mehr. Wie schon gesagt, es ist nicht definitiv sicher, aber ich schätze mal, sie werden bei 14L runterkommen, also in Terminalhöhe.« Mahders Finger fuhr die Landebahn entlang. »Sehen Sie, jede Bahn hat ihre eigene Codierung. Das nordwestliche Ende des großen Runway heißt 14L, die südöstliche Seite 32R. L und R für links und rechts. Also, er kommt links rein, rollt am Frachtflughafen vorbei in südöstliche Richtung. Hinten in der Heide macht er einen Backtrack, fährt über Rollbahn A zurück, dann links und wieder rechts auf die westliche Seite des Frachtflughafens.«

»Er fährt auf den Frachtflughafen«, sinnierte O’Connor.

Mahder grinste.

»Was dachten Sie denn? Der POTUS zeigt seinen Pass, geht durch den Zoll und wartet am Gepäckband auf sein Köfferchen?«

»Ich hatte überhaupt keine klare Vorstellung«, sagte O’Connor. »Der Luxus eines eigenen Vorfelds wurde mir noch nicht zuteil.«

»Darf ich Sie was fragen?«

»Natürlich.«

»Sie sind doch bestimmt ein wohlhabender Mann. Warum leisten Sie sich keinen eigenen Flieger?«

Da war er wieder, der hohle Neid, verpackt in Anteilnahme.

»Es wäre langweilig«, sagte O’Connor. »Man ärgert immer dieselbe Crew.« Er wies auf ein großes Gebäude, das in die westlichen Vorfelder hineinragte. »Was ist das hier?«

»Die Lärmschutzhalle. Hier auf der Luftaufnahme können Sie sie gut erkennen, ein ziemlicher Brocken. Wir testen darin Turbinen, darum mussten wir eine nach oben offene Halle anschaffen. Wenn die AFO in Richtung Frachtflughafen rollt, fährt sie über die beiden anderen Landebahnen auf die westliche Seite, dreht hier ein weiteres Mal, sehen Sie, über 14R auf Rollbahn T und kommt auf dem Vorfeld Fracht West zum Stehen. Es liegt gleich rechts von der Lärmschutzhalle, genau hier.«

»Und da verlässt Clinton die Maschine?«

»Alle Staatsgäste steigen da aus. Das VIP-Zelt steht da, Presse, Auswärtiges Amt, Polizei und Bundeswehrbataillon. Clinton schreitet die Ehrenformation ab, schüttelt ein paar Hände und steigt in seine Limousine. Der Frachtflughafen wird von der Heinrich- Steinmann-Straße durchquert, wir sind sie heute ein Stück entlanggefahren. Die Fahrzeugkolonne verlässt das Vorfeld, biegt auf die Straße ein und verlässt den Flughafen Richtung Autobahn.«

»Perfekt«, sagte O’Connor. »Er muss durch kein Gebäude.«

»Nein, nur dazwischen durch. Aber auch das ist kein Problem. Alle Fenster und Türen, alle Hangars und Hallen werden geschlossen, jeder Raum wird gecheckt sein.«

»Es gibt eine Menge Gebäude da.«

»Alles, was wichtig ist«, nickte Mahder. »Sie haben’s ja heute gesehen. Schräg gegenüber der Lärmschutzhalle liegt der Tower, davor das UPS-Gebäude…«

O’Connor warf einen Blick auf eine der Luftaufnahmen. »Beide recht hoch, nicht wahr?«

Mahder schwieg eine Sekunde. »Na ja, der Tower ist natürlich das höchste Gebäude überhaupt. Dann haben wir hier Terminal West, Luftpostleitstelle, Luftsicherheit, Lkw-Verladestation und Zollgebäude, Gerätehallen, Frachthallen, weiter hinten die Feuerwehr und noch dies und das. Zur anderen Seite der Straße die Hangars 1 bis 3, das Lufthansagebäude, und so weiter und so fort.«

»Und die sind alle gesichert?«

»Da kann nichts passieren«, sagte Mahder im Brustton der Überzeugung. Bei allem Unmut, den er an den Tag legte, schien er darauf wiederum stolz zu sein. »Die Dächer sind übersät mit Scharfschützen. Ich habe sagen hören, sie sind sogar auf einen Angriff aus der Luft vorbereitet.«

O’Connor betrachtete stirnrunzelnd den Frachtkomplex. Mahder hatte vermutlich Recht. Wie sollte man eine Waffe in diese komprimierte Sicherheitszone einschmuggeln?

Derjak schießt.

Womit schießt er?

Derjak erschießt den POTUS.

POTUS.

POTUS war kein Eigenname. Es war eine Abkürzung. War auch Derjak eine Abkürzung?

»Und die Wagenkolonne fährt hier entlang?«

»Sie wartet auf der anderen Seite der Lärmschutzhalle«, sagte Mahder geduldig. »Hier. Dann–«

»Auf GAT 1?«

»Ja. GAT steht für General Aviation Terminal. Das GAT 1 ist für die kleinen Learjets vorgesehen, mit denen die Außenminister zum Teil gekommen sind. Sie werden da geparkt, während große Maschinen wie die AFO oder Jelzins Iljuschin auf den nahe gelegenen Militärflughafen…«

O’Connor hörte nicht mehr zu.

Das GAT. Dasgat. Daskat. Es gab tausend Möglichkeiten für ein Missverständnis.

Im selben Moment wurde ihm klar, was sie vorhatten und wie sie es bewerkstelligen würden.

Derjak war kein Name, kein Akronym und keine Person. Es war überhaupt kein zusammenhängendes Wort. Der war nichts weiter als der männliche Artikel.

Der YAG!

Alles fügte sich zusammen. Kuhn musste eine Unterhaltung belauscht haben. Offenbar hatte er aufs Geratewohl eingegeben, was ihm bedeutsam vorgekommen war, in großer Hast und ohne den Sinn zu verstehen, aber er hatte ins Schwarze getroffen. Pieza datspi- glen. Piez Adapt. Spiegel. Piezomotoren in einem Adaptiven Spiegel. Ein YAG und ein System von Spiegeln, wie in der klassischen Physik. Ein Objektiv, um das Ziel ins Visier zu nehmen. Das war es. Zugleich erledigte sich die Frage, wie jemand eine Waffe in den Flughafen schmuggeln sollte und was mit Clinton passieren würde, sollte er getroffen werden.

»He. Dr. O’Connor.«

Er reagierte nicht. Sein Geist versuchte blitzschnell, sämtliche Möglichkeiten durchzugehen. Er konnte auf ein umfassendes Wissen zurückgreifen. Das Wissen eines Mannes, der sich bis zur Nobelpreisreife mit Photonenforschung beschäftigt hatte und jeden nur erdenklichen Aufbau kannte. Während er in fieberhafter Eile Paddys

Arbeit zu rekonstruieren suchte, konnte er kaum fassen, dass er nicht schon eher darauf gekommen war.

Andererseits, es war absurd. Kaum vorstellbar, dass jemand mit so etwas rechnete. Und dass es überhaupt klappte.

Konnte es klappen?

»Dr. O’Connor? Ist Ihnen nicht gut?«

»Sie haben einen YAG«, murmelte er. Langsam sah er auf und in Mahders besorgtes Gesicht. »Ich weiß es.«

»Was wissen Sie?«

»Ich weiß, was sie vorhaben.«

Mahder wirkte verwirrt.

»Sie? Wer? Wovon reden Sie überhaupt?«

»Wo hat Paddy sonst noch gearbeitet außer im neuen Terminal?«

Mahder starrte ihn an.

»Wollen Sie mir nicht sagen–«

»Später. Wo?«

»Na, hier.« Mahders Finger fuhr über die Luftaufnahme und verweilte nacheinander auf einigen Gebäuden. »Terminal West, die Luftpostleitstelle, Hangar 1. Ach, und da drüben, auf der anderen Seite, das ist eine ganze Strecke weit weg, an den Zwischenlagern.«

O’Connor trat näher heran. Das Foto zeigte den Frachtflughafen klar und detailliert, aber dennoch aus beträchtlicher Höhe. Kaum eines der fraglichen Bauwerke wies die erforderliche Höhe auf. Und sie brauchten Höhe, um ihren Plan in die Tat umzusetzen.

Oder unterlag er einem gewaltigen Irrtum?

Nein, es ist möglich, dachte er. Es steht in der Wahrscheinlichkeit nicht weit hinter einem UFO-Angriff zurück, aber es ist zu machen.

Also doch im Terminal 2?

Es kam darauf an, wie groß der YAG war. Um ein landendes Flugzeug zu beschädigen, würde er so groß sein müssen wie drei Häuserblocks. Und selbst das würde kaum reichen.

Also mussten sie es auf den Menschen abgesehen haben. Auf den Präsidenten, im Moment, da er den Flieger verließ.

Das neue Terminal war möglicherweise hoch genug. Es fiel schwer, ein endgültiges Urteil auf Basis der Luftaufnahme zu fällen. Die Frage war weiterhin, wie viele Umleitungspunkte der Aufbau besaß. Es mussten mehrere Spiegel sein, und der erste war adaptiv.

Neben ihm begann Mahder nervös von einem Bein aufs andere zu treten.

»Dr. O’Connor, ich will Sie nicht drängen, aber…«

»Keine Bange, Sie drängen mich nicht. Sie sind sicher, dass Paddy ausschließlich an diesen Gebäuden gearbeitet hat?«

»Natürlich.« Es klang gereizt. Mahder schien plötzlich seinen guten Willen zu verlieren. »Ich habe ihn persönlich für sämtliche Einsätze eingeteilt. Er hätte gar nicht woanders hingekonnt ohne meine Einwilligung. Wir sind hier keine Truppe von Clowns.«

»Ich bitte um Verzeihung.«

O’Connor zog sein Handy hervor und griff in die andere Innentasche seines Jacketts. Seine Finger tasteten nach dem Zettel mit den beiden Nummern von Lavallier und griffen ins Leere.

Wo hatte er den Zettel…?

Dann fiel es ihm ein. Sie hatten die Namen der Politiker daraufgeschrieben. Der Zettel lag an der Bar des Holiday Inn, falls er nicht schon dem Ordnungseifer des Barmanns zum Opfer gefallen war.

Was war er doch für ein verdammter Idiot!

Einen Moment lang überlegte er zurückzulaufen. Aber er würde nur Zeit verlieren.

»Wären Sie so freundlich, Lavallier anzurufen?«, sagte er mit liebenswürdigem Lächeln.

Mahder rang die Hände und öffnete den Mund. Dann zuckte er die Achseln und ging hinüber zu seinem Schreibtisch. Wortlos blätterte er in einem Buch, dann wählte er die Nummer der Wache.

»Hauptkommissar Lavallier, bitte.«

Er wartete einige Sekunden.

»Im VIP-Zelt? Ja, natürlich. Ja, ich notiere.«

Mahder schrieb zwei Telefonnummern auf ein Blatt, während O’Connor unruhig im Raum auf und ab ging. Er musste etwas unternehmen. Sie hatten keine Zeit, stundenlang der Polizei hinterherzutelefonieren.

»Versuchen Sie’s bei Bär!«, rief er.

»Er ist ebenfalls nicht da«, sagte Mahder. »Sie sind alle raus zum VIP-Zelt. Alle ungemein beschäftigt. Ich probiere Lavallier auf dem Handy zu erreichen.«

»Bitte. Sie würden mir und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten einen großen Gefallen tun.«

Mahder starrte ihn verwirrt an, während seine Finger über die Tasten des Telefons huschten. Er runzelte die Brauen, dann schüttelte er den Kopf. »Beide besetzt. Hören Sie, ich hätte auch noch Verschiedenes zu tun. Nicht, dass ich Sie loswerden will, aber wenn ich Ihnen weiter zur Verfügung stehen soll, müssen Sie mir schon einen Grund liefern. Sonst bin ich hinterher der Dumme, verstehen Sie?«

»In Ordnung«, sagte O’Connor. »Wenn Sie mich dafür ins neue Terminal bringen.«

»Was?«

»Ich will mich da umsehen.«

Mahder schnappte nach Luft.

»Das können Sie nicht so einfach. Man wird Sie nicht reinlassen, Sie sind nicht befugt, und–«

»In Ihrer Gesellschaft bin ich befugt«, brauste O’Connor auf. »Sie haben einen Ausweis, das hat heute Mittag schon mal funktioniert.« Er lief ungeduldig zur Tür. »Kommen Sie endlich, wir haben keine Zeit zu verlieren. Ich erzähle Ihnen im Auto, wonach ich suche, aber ich muss da rein, oder der Präsident der Vereinigten Staaten wird

den letzten Blick seines Lebens auf das Vorfeld Fracht West werfen.« Der Abteilungsleiter erbleichte. »Sie meinen .«

»Ja. Genau das meine ich.«

»Dann… ist gut, ich… ich hole nur gerade meine Autoschlüssel.« »Beeilen Sie sich.«

Mahder verschwand im angrenzenden Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Eine Minute zog sich zäh dahin, dann tauchte er wieder auf, einen Packen Schnellhefter unter dem Arm.

»Ich dachte nur, ich könnte bei der Gelegenheit gleich rüber ins alte Terminal und ein paar Dinge besprechen«, sagte er schnell. »Mein Wagen steht unten.«

»Es reicht, wenn Sie mich reinbringen«, sagte O’Connor.

»Ja, selbstverständlich.«

Mahder eilte zur Tür seines Büros und hielt sie für O’Connor auf. Der Physiker sah auf die Uhr.

Keine Stunde mehr bis zur Landung der Air Force One.

VORFELD FRACHT WEST

Lavallier trat aus dem Feuerwehrcontainer und richtete skeptische Blicke in den Himmel.

Es zog sich zu. Den ganzen Tag über hatte die Sonne geschienen, aber jetzt näherten sich von Osten her bleigraue Wolken. Wind war aufgekommen und blähte die Fahnen vor dem VIP-Zelt. Wenigstens ein erfreulicher Nebeneffekt der Wetterverschlechterung, dachte er. Schlaff herunterhängende Fahnen machten irgendwie keinen Spaß.

Er ging einige Schritte auf das Vorfeld hinaus und nahm die Atmosphäre in sich auf.

Mittlerweile hatten sich alle hier daran gewöhnt, ohne Unterlass Staatsgäste in Empfang zu nehmen, aber bei Bill Clinton war es dennoch etwas anderes. Unwillkürlich ertappte man sich dabei, hundertmal für gut Befundenes einer weiteren kritischen Betrachtung zu unterwerfen, die Fassade des Zelts nach Verschmutzungen abzusuchen, die grauen Stoffverkleidungen über den Sockeln der Fahnen auf korrekten Sitz und Unversehrtheit zu überprüfen. Die Vorstellung, dass der Präsident in etwas mehr als einer Stunde hier aussteigen und Hände schütteln würde, hatte etwas Erhebendes. Und natürlich wollten sie. Jeder hier wollte den Mann aus der Nähe sehen, der in kaum je da gewesener Weise Hoffnungsträger, Friedensengel, Moralist, Wüstling und Dunkelmann in einer Person vereinte – einer Person zudem, die bekannt war für ihre geradezu magnetische Ausstrahlung.

Lavallier richtete den Blick über die Betonfläche des Vorfelds.

In einigen hundert Metern Entfernung zogen sich der kurze Run- way und die Rollbahn entlang, über welche die Air Force One einfahren würde, nachdem sie auf dem Super-Runway gelandet war und ihre Runden durch die Heide gedreht hatte. Jenseits des Runways konnte er die Flugzeughallen der Bundeswehr ausmachen. Der Militärflughafen lag am äußersten westlichen Rand des Flughafengeländes.

Nachdem Clinton den Flughafen verlassen hatte, würde die amerikanische Maschine dorthin gebracht werden, wo sie für die Dauer des Besuchs unter strenger Bewachung verblieb. Alle Maschinen wichtiger Staatsgäste kamen dorthin.

Lavallier drehte sich um und genoss den Anblick. Es sah schon verdammt großartig aus, was sie da hingekriegt hatten. Regelrecht feierlich.

Das VIP-Zelt selbst, weiß, mit Giebeldach und romanischen Rundbogenfenstern, erstreckte sich über die Länge von annähernd fünfzig Metern am Rand des Vorfelds. Rechts daneben ein knallroter Feuerwehrcontainer, zwei grüne Mannschaftswagen, Rettungswagen und Notarzt. Davor bildeten die Fahnen, an denen der Wind jetzt ungestümer zerrte, ein unbekümmertes Durcheinander von Farben, die Welt in seltener Eintracht.

Links vom Zelt zur Lärmschutzhalle hin war ein separater Bereich abgeteilt worden. Auch hier erhoben sich zwei Zelte, die kleiner und der Presse vorbehalten waren. Die Absperrungen, die das komplette Vorfeld umgaben und nur die Front des VIP-Zelts offen ließen, knickten hier diagonal ab und endeten an der Flanke der Lärmschutzhalle. Auf diese Weise hatte man für die Journalisten eine Fläche zum Rollfeld hin geschaffen, auf der sich Fotografen und Korrespondenten seit Gipfelbeginn auf die Füße traten, wann immer hoher Besuch zu erwarten war.

Hinter dem VIP-Zelt wuchs der neue Tower in den Himmel. Dazwischen verlief die Straße, über die Clintons Wagenkolonne den Flughafen verlassen würde.

Zwanzig Minuten zuvor würden die zuständigen SEKs damit beginnen, die komplette Autobahn und die darüber laufenden Brücken zu sperren. Es hatte eine Heidenlogistik erfordert, alle relevanten Bereiche in Köln zu sichern. Allein, was sie am Flughafen auf die Beine gestellt hatten, übertraf alles Dagewesene seit dem Besuch von Präsident Johnson, und der lag immerhin Jahrzehnte zurück.

Besonders an den Vorfeldabsperrungen hatten sie lange getüftelt.

Jetzt war alles perfekt. Um in die Pressezelte und ins VIP-Zelt zu gelangen, musste man von der Heinrich-Steinmann-Straße zuerst auf einen riesigen gesicherten Parkplatz und dann durch separate Checkpoints. Die Presseleute betraten das Gelände durch einen Container, in dem sie abgetastet, überprüft und ihre Geräte einem Röntgengerät überantwortet wurden. Danach passierten sie eine Detektorsperre, nahmen ihre metallenen Gegenstände und die Ausrüstung wieder in Empfang und durften über den angrenzenden Rasen zu den Pressezelten gehen. Den Gästen des VIP-Bereichs hatte man einen prosaischen Kasten wie den Checkcontainer nicht zumuten wollen und stattdessen ein schmuckes Zelt in die Phalanx der Gitter eingefügt, wo man sich höflich, aber bestimmt der authentischen Person des Eintretenden versicherte, bevor man ihn auf den kurzen Pfad über die Wiese zum Zelt entließ. Jenseits des Checkpoints trennte eine Absperrung die VIPs von den Presseleuten. Es hatte ein wenig den Augenschein von Klassentrennung, aber tatsächlich war es besser so. Man hatte Pressetourismus vermeiden wollen, wo Vertreter des Auswärtigen Amts mit Sicherheitsleuten und Diplomaten das eine oder andere besprechen würden, was man tags darauf nicht unbedingt in der Zeitung wieder finden wollte, und außerdem war ein VIP ohne Exklusivität kein VIP mehr.

Lavallier dachte an die eben zurückliegende Besprechung und fluchte leise vor sich hin.

Er hatte im Container eine zweite Krisensitzung einberufen. Von dem verschwundenen Lektor fehlte nach wie vor jede Spur, ebenso von Patrick Clohessy. Mehr und mehr schien sich die Sache als Gerangel unter separatistischen Iren zu entpuppen. Dennoch blieb die gespenstische Vision eines potentiellen Innentäters. Innentäter waren ein Alptraum, und Clohessy schickte sich mehr und mehr an, Lavalliers ganz persönlicher Alptraum zu werden. Zu allem Überfluss war auch noch dieser White-House-Journalist aufgetaucht, mit dem O’Connor im Holiday Inn an der Bar herumgehangen hatte, und hatte ihnen eine abenteuerliche Theorie aufgetischt. Er hatte nicht ganz nüchtern gewirkt, und was er sagte, klang schwer nach O’Connor im fortgeschrittenen Stadium, aber das hatte Lavallier nicht unbedingt ermutigt.

Die Serben wollten Clinton töten. So weit die Essenz.

Konnte man O’Connor trauen?

Sie hatten den Physiker auf Herz und Nieren überprüft und mit Hilfe der Dubliner einen lückenlosen Lebenslauf zusammengetragen.

Lavallier wusste gut genug, dass Intellektualität und Berühmtheit nicht automatisch mit Ehrbarkeit einhergingen, aber O’Connor schien tatsächlich über jeden Zweifel erhaben. Seine gelegentlichen Ausfälle ergaben eher ein clowneskes Bild. Nachweislich gab es Frauen, die offen geäußert hatten, ihn umbringen zu wollen. Kriminelleres gab es über den irischen Doktor ansonsten nicht zu sagen. Unterm Strich entpuppte sich O’Connor als Freigeist ohne politische Ambitionen, zu dem Clohessys Brief einfach nicht passen wollte.

Falls Clohessy ihn überhaupt geschrieben hatte.

Dass jemand versuchen sollte, O’Connor in Misskredit zu bringen, bereitete Lavallier die meisten Bauchschmerzen. Welchen Sinn sollte das haben? Um seine Glaubwürdigkeit zu untergraben? Um davon abzulenken, dass O’Connor Recht hatte mit seinen Verschwörungstheorien?

Dann war ihm wieder Foggerty eingefallen, der IRA-Führer, den O’Connor vorgab, nicht zu kennen, beziehungsweise sich nicht an ihn erinnern zu können. Und Clohessy wurde tatsächlich von der IRA gejagt, das hatten die Dubliner bestätigt.

Alles hätte so schön sein können!

In den vergangenen zwanzig Minuten hatten sie sich in den Feuerwehrcontainer zurückgezogen, um die Sache ein weiteres Mal zu beraten. Er, Gombel und Klapdor, Brauer, Stankowski und Colonel Graham Lex, der örtliche Leiter des Secret Service für den Bereich Ankunft. Lex hatten sie am frühen Nachmittag über die Situation in Kenntnis gesetzt, als er im VIP-Zelt eintraf. Keiner der Beteiligten hatte während der Sitzung besonders glücklich ausgesehen, aber sie überließen die Entscheidung, was zu tun sei, widerspruchslos Lavallier und Lex. Selbst Stankowski hatte seine Proteste auf ein paar zusammengezogene Brauen beschränkt. Das Vertrauen in die Sicherheitskräfte war uneingeschränkt, und Lex hatte betont, er vertraue bis auf weiteres Lavallier.

Das Problem war, dass niemand sich vorstellen konnte, wie jemand mit einer Waffe nahe genug an Clinton herankommen sollte, um ihm ernsthaften Schaden zuzufügen. Nirgendwo konnte eine Waffe versteckt sein. Nirgendwo stand zudem geschrieben, dass ein eventueller Anschlag unbedingt Bill Clinton gelten musste, auch wenn O’Connor und dieser Silberman das annahmen. Falls wirklich die Gefahr eines Anschlags bestand, konnte er jedem gelten. Was sollten sie tun? Sämtliche Flüge umleiten?

Schließlich waren sie übereingekommen, alles programmgemäß weiterlaufen zu lassen, jedoch die südöstliche Seite der Lärmschutzhalle einem Blitzcheck zu unterziehen. Viel Zeit blieb ihnen nicht, aber es war der letzte kritische Punkt. Sofern sie dort nichts fanden, würden sie nirgendwo etwas finden.

Es konnte keine Waffe geben!

Lavallier sah erneut in den Himmel. Das graue Band der Wolken war näher herangerückt. Hinter ihm verließen die anderen Teilnehmer der Runde den Container. Gombel und Klapdor verschwanden mit Brauer im VIP-Zelt, um den amerikanischen Botschafter und seine Frau zu begrüßen, die soeben eingetroffen waren. Vor der Lärmschutzhalle hielten im selben Moment drei Fahrzeuge mit Hebebühnen. Ein Team aus Technikern, Polizisten und Sicherheitsleuten ging daran, die Fassade der Halle in Augenschein zu nehmen und Hohlräume abzuklopfen.

Stankowski und Lex traten zu ihm. Der Verkehrsleiter folgte Lavalliers Blick und sah mit zusammengekniffenen Augen nach oben.

»Es wird regnen«, sagte er.

Lavallier zuckte die Achseln.

»Ich kann nicht behaupten, dass das meine größte Sorge ist. Dann wird der POTUS eben nass.«

»Der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika wird nicht nass, merken Sie sich das«, belehrte ihn Lex. »Er ist so gut abgesichert, dass nicht mal Regentropfen an ihn rankommen. Wenn doch einer vom Himmel fällt, werden sich die Bodyguards dazwischenwerfen und Clinton mit ihren Leibern schützen.«

Lavallier starrte den Amerikaner mit finsterem Gesicht an. Dann musste er doch lachen.

»Nehmen wir’s mit Humor, mhm?«

»Man vergisst über der ganzen Scheiße seine eigentlichen Sorgen«, knurrte Stankowski. »Wenn es regnet, werden die Angstschreie der Japaner bis nach Tokio zu hören sein. Mir werden die Trommelfelle platzen.«

»Die Japaner?«

»Das wissen Sie nicht? Punkt neun des aktuellen japanischen Wunschzettels: ›Entladen des Gepäcks bei Regen‹. Für den Fall haben sie Millionen Sonderwünsche, zum Schreien! Sie wollen auch wissen, wie lange unsere Röntgengeräte brauchen, um zweihundert Gepäckstücke zu durchleuchten. Ich schätze, in der nächsten halben Stunde werden sie mich fragen, was wir gegen Godzilla zu unternehmen gedenken, wenn er auftaucht.« Er lachte knarzig und schlug Lex auf den Rücken. »Ihr habt ja gar keine Ahnung, was Probleme sind. So was sind Sorgen, Männer!«

»Ich bin überrascht«, grinste Lex. »Ich dachte immer, es gäbe nichts Nervtötenderes als den Secret Service.«

»Stimmt. Ihr seid einzigartig.«

»Das will ich meinen.«

»Na ja.« Stankowski rieb seinen Bart. »Lieb sind sie schon, die Söhne Nippons. Nur, dass sie sich wegen jeder Kleinigkeit ins Hemd machen.« Er deutete zum Zelt hinüber. »Gehen wir rein. Mir knurrt der Magen.«

»Ich komme nach«, sagte Lex.

Sie warteten, bis Stankowski im Zelt verschwunden war.

»Und?«, fragte Lex.

»Was und?«

»Was meinen Sie? Blasen wir Clinton ab?«

»Das sollten Sie mir sagen«, erwiderte Lavallier. »Er ist Ihr Präsident.«

Lex zuckte die Achseln.

»Wissen Sie, die Theorie von diesem O’Connor hat für mich einen kleinen Schönheitsfehler. Die Zeit. Um hier und heute einen Anschlag durchzuführen, schleicht man sich nicht eben mal herein. So was bereitet man vor. Aber der Krieg ist erst vor gut zweieinhalb Monaten ausgebrochen. Vorher hatte Milosevic eigentlich keinen Grund, sauer auf Clinton zu sein, und danach war einfach nicht genug Zeit, einen Anschlag dieser Kategorie vorzubereiten.«

»Ja. Sicher.«

»Wohl ist mir auch nicht, Eric. Aber wenn hier was im Busch ist, dann sind es die Iren. O’Connor scheint ein komischer Vogel zu sein. Ich weiß nicht, ob wir ihm trauen können.«

»Das weiß ich selbst nicht.«

»Schauen wir, was die Untersuchung der Lärmschutzhalle bringt«, sagte Lex. »Dann sehen wir weiter.«

Lavallier schwieg.

»Was ist, kommen Sie mit rein, bevor Stankowski uns die Kanapees wegfuttert?«

»Gleich.«

Lavallier ging näher an die Lärmschutzhalle heran und sah zu, wie die Hebebühnen an der Fassade emporfuhren.

Wenn sie nichts fanden, würden sie Clinton landen lassen. Es gab dann nichts mehr, was sie noch absuchen konnten. Immer vorausgesetzt, Lex blieb bei seiner Entscheidung. Lavallier wusste nicht, was er sich mehr wünschen sollte, dass sie fündig wurden oder nicht.

Etwas klatschte auf seine Wange.

Er wischte es ab. Es war Wasser.

Auf dem Beton des Vorfelds zeigten sich dunkle Flecken, zuerst vereinzelt, dann in wachsender Zahl. Leises Rauschen setzte ein, als die Tropfen immer dichter herniederklatschten.

In wenigen Minuten würde der Flughafen den Luftraum sperren. Niemand durfte mehr starten oder landen, bevor Bill Clinton den Flughafen nicht verlassen hatte. Tausende Menschen würden für die Dauer einer halben Stunde oder mehr am Himmel kreisen oder zu anderen Flughäfen umgeleitet werden.

Es war nicht zu ändern. Wo immer die Air Force One auftauchte, setzte sie jeden geregelten Flugverkehr außer Kraft.

In diesen Minuten wurden auf den Vorfeldern im Landebahnbereich sämtliche Arbeiten eingestellt. Nirgendwo gab es noch ein offenes Fenster, ein geöffnetes Hangartor. Nichts und niemand würde sich im Augenblick der Landung in den fraglichen Sektionen oder darauf zu bewegen dürfen, kein Fahrzeug, kein Mensch. Schon vor einer halben Stunde hatte ein Trupp Mechaniker, der Reparaturen dort ausführte, wo der Super-Runway die Querwindbahn kreuzte, einen Bus bestiegen und sich in größere Distanz verfügt.

Die Besucherterrasse war ohnehin seit Gipfelbeginn geschlossen, sie bot freien Blick auf landende Maschinen und galt damit als Tabuzone.

Was konnte noch passieren?

Was konnte noch passieren?

Es kam darauf an, wie man die Frage betonte.

Langsam ging er hinüber zum Zelt, zog eines seiner beiden Handys hervor und rief Bär an, um den Stand der Dinge zu erfragen.

O’CONNOR

Mahder schaffte es, die wenigen hundert Meter bis zum Checkpoint wie auf einer Rennstrecke zurückzulegen. Offenbar war ihm O’Connors Schreckensvision mächtig in die Glieder gefahren.

»Und was ist nun…?«, begann er.

»Später. Versuchen Sie es noch mal bei Lavallier.«

Der Abteilungsleiter wählte, während er mit der anderen Hand steuerte. Entnervt schüttelte er den Kopf und wählte ein zweites Mal.

»Versuchen Sie’s bei Bär.«

Mahder nickte. Sein Daumen glitt über das Tastenfeld.

»Besetzt.«

O’Connor stieß ein unwilliges Knurren aus. Einen Moment lang überlegte er, ob er Silberman anrufen sollte. Dann fiel ihm ein, dass er dessen Nummer ebenso wie die Lavalliers im Holiday Inn hatte liegen lassen. Aber der Korrespondent würde ihm in dieser Situation ohnehin nicht weiterhelfen können. Wahrscheinlich war Silberman schon auf dem Vorfeld eingetroffen und traf Vorbereitungen für die Ankunft seines Herrn und Meisters.

Er reckte die Arme. Sein Nacken war verspannt, sein ganzes Kreuz schmerzte. Es war ein Genuss gewesen mit Kika unter dem alten Baum im Volksgarten, aber nicht eben sehr bequem.

Dann erzählte er Mahder in wenigen Sätzen, was passieren würde.

Der Abteilungsleiter schwieg. Er sah starr geradeaus. Sein Gesicht spiegelte Fassungslosigkeit wider. Sie passierten den Checkpoint und wurden kontrolliert, dann rollten sie in gemäßigtem Tempo weiter.

»Sie sind verrückt«, sagte Mahder schließlich.

»Nein«, erwiderte O’Connor ungerührt. »Der Plan ist verrückt. Aber er wird funktionieren.«

»Für mich klingt das nach Krieg der Sterne.«

»Jede Menge verrückte Dinge haben schon funktioniert. Zum Beispiel zig Tonnen Stahl das Fliegen beizubringen.«

Mahder steuerte bis dicht an die gläserne Front vor einen Bauzaun und stellte den Motor ab. Vereinzelt standen weitere Privatfahrzeuge herum, außerdem Transporter, Pritschenwagen und ein Mannschaftswagen der Polizei.

»Vertrauen Sie mir«, sagte O’Connor. »Ich verstehe mehr davon, als mir im Augenblick lieb ist.«

»Und was jetzt?«

»Zeigen Sie mir einfach, wo genau Paddy gearbeitet hat«, sagte O’Connor. »Und schicken Sie mir ein paar Leute, die suchen helfen. Am besten eine ganze Hundertschaft.«

»Und… wonach suchen wir?«

»Spiegel«, sagte O’Connor. »Kleine Spiegel, wahrscheinlich nicht größer als ein Teller. Oder einfach nur bläulich schimmernde Glasplatten. Möglicherweise irgendwo versteckt und auf ein technisches Gerät montiert. So was fällt in einer modernen Architektur wie dieser, wo alles im halb fertigen Zustand ist, kaum auf. Ich schätze, Paddy wird sie gut getarnt haben.«

Er stieg aus und sah die gewaltige gläserne Front empor.

Mahder schloss den Wagen ab.

»Kommen Sie.«

Auf dem Weg ins Innere ließ O’Connor den Blick schweifen, und sofort war ihm klar, dass er im unteren Bereich nicht fündig werden würde. Sie durchquerten eine schätzungsweise fünf Meter hohe Halle von beträchtlicher Länge und Tiefe. Förderbandähnliche Konstruktionen nahmen den größten Teil davon ein. Über die Decke liefen gewaltige Rohre. Es waren kaum Arbeiter zu sehen.

»Das ist die Gepäcksortieranlage«, erläuterte Mahder. »Wir befinden uns auf Level 0, das heißt ebenerdig in Relation zum Vorfeld. Im Querschnitt des Bauplans ist das Ebene 5.«

»Wie das?«

»Das Terminal hat einen überirdischen und einen unterirdischen Teil. Hier sind wir auf der Seite der Flugzeuge. Zur anderen Seite hin«, er deutete auf die einzige Wand, die das Terminal der Länge nach durchteilte, »wird die neue Vorfahrt für Autos und Busse entstehen. Sie liegt tiefer als das Vorfeld, gut fünf Meter darunter. Es geht dann weiter abwärts bis Ebene 1.«

»Wie tief ist das?«

»Knapp achtzehn Meter unter der Erde. In zwei Jahren werden Sie da mit dem ICE einfahren können. Von dort bis zum Check-in – Schalter sind es dann keine hundert Schritte mehr. Schon praktisch.«

Mahder betrat den Schacht eines Treppenhauses. O’Connor warf einen letzten Blick auf die Gepäckbänder und folgte ihm nach oben.

»Der Flughafen hat sich für diesen Entwurf entschieden, weil er auf vergleichsweise kleinem Raum alles unterbringt«, sagte Mahder. »Wir nennen es das Terminal der kurzen Wege. Alles ist übereinander geschichtet, wie bei einem Hamburger. Das Gepäck wird auf null sortiert und eins drunter in der Vorfahrtebene ausgegeben. Von da kommen Sie ebenerdig zum Taxi oder runter zum Bahnhof.«

»Schön, aber wir müssen in die Höhe«, sagte O’Connor.

»Hier haben Sie Ihre Höhe.«

Sie traten aus dem Schacht hinaus. Einen Moment lang fiel kein Wort, dann sagte der Abteilungsleiter mit einiger Würde:

»Die Abflughalle.«

O’Connor ging ein paar Schritte in den Raum hinein und nahm die Atmosphäre in sich auf. Sein erster Eindruck war der unendlicher Weite. Ohne Zwischenwände erstreckte sich die Halle, in der später die Check-in-Schalter, Lounges und Gates sein würden, über mehrere hundert Meter Länge. Aber nicht das machte die Faszination aus, nicht die enorme Raumausdehnung, sondern die Tatsache, dass der komplette Oberbau des Terminals aus nichts als Glas zu bestehen schien. In regelmäßigen Abständen entwuchsen der Halle filigrane

Konstruktionen aus Stahlrohren. Jedes der Rohre musste dick wie ein Mensch sein, aber im Verhältnis zu den Gesamtdimensionen wirkten sie wie in die Luft gemalte Pinselstriche. Darüber spannte sich das transparente, gefältelte Dach.

Ungefiltertes Licht durchströmte die Halle. Es war, als stünde man im Freien. Den kompletten Flughafen konnte man von hier überblicken, das Umland, die ferne Stadt. O’Connor sah eine startende 747 von British Airways an seinen Augen vorbeiziehen, nah genug, dass er Lust bekam, aufzuspringen und sich mit über die Wolken tragen zu lassen. Er sah über die Vorfelder hinaus auf die Heidelandschaft und die angrenzenden Wälder bis hin zur verwaschenen Silhouette Kölns.

Von hier abzufliegen, musste ein Erlebnis sein.

Plötzlich verstand er, warum am Flughafen alle so nervös waren. Er hatte es auch vorher verstanden, aber der ganze Ehrgeiz eines Airports, der sich anschickte, sich aus seiner provinziellen Larve zu schälen, um in der Weltspitze mitzumischen, wurde hier oben auf einen Blick deutlich.

Und jetzt kam die weltpolitische Elite.

Kein Wunder, dass sie Sorgen hatten. Die Frage war, ob sie gewillt waren, sich noch ganz andere Sorgen zu machen.

Lavallier musste die Air Force One umleiten!

O’Connor sah sich genauer um. Auf den zweiten Blick wirkte die Abflughalle weniger leer. Überall zogen sich Gerüste hoch. O’Connor hatte Geschäftigkeit erwartet, aber es waren nur wenige Menschen in dem Terminal. Zwischen den Arbeitern bewegten sich einige Zivilisten.

»Wir bauen überall gleichzeitig«, sagte Mahder, der unbemerkt neben ihn getreten war. Er wies mit einer Kopfbewegung zum Dach hinauf. »Clohessy hat vornehmlich auf den Gerüsten gearbeitet. Elektrische Leitungen in die Stangen unterm Dach gelegt.«

»Wo genau?«, fragte O’Connor.

»Südöstliche Schmalseite. Zum alten Terminal hin.«

»Richtung Frachtflughafen also?«

»Gewissermaßen.«

Sie durchschritten die Halle, vorbei an Gerüsten, Maschinen und provisorischen Verschlägen für Geräte. Mehrmals wurde Mahder gegrüßt. Er trug seinen Ausweis deutlich sichtbar am Overall. Einmal wurden sie angesprochen, und Mahder erklärte, dass O’Connor mit seinem Einverständnis auf ein paar Gerüste klettern würde. Der Mann, offenbar jemand von der Flughafensicherheit, nickte, und sie gingen weiter bis ans Ende des Glasbaus.

Von dort überblickte man das alte Terminal und einen großen Teil des Frachtflughafens mit dem Tower.

Sie waren hoch. Dennoch reichte die Höhe nicht aus. Irgendwo dort hinten musste es einen weiteren Spiegel geben, an einem der höheren Gebäude im Frachtbereich, auch wenn Paddy dort angeblich nicht gearbeitet hatte. Ja, das war möglich. Einer im T2, ein weiterer drüben.

O’Connor lief ein Stück an den Scheiben entlang und deutete zur Decke.

»Wie hoch ist das?«

Mahder legte den Kopf in den Nacken.

»Im Durchschnitt sechzehn Meter.«

»Im Durchschnitt?«

»Das Dach ist wie eine Ziehharmonika gefaltet. Unterschiedliche Höhen. Die Differenz beträgt etwa zwei Meter.« Er machte eine Armbewegung, die die gesamte Schmalseite einbezog. »Hier sind überall Gerüste, wie Sie sehen. Alle reichen bis unters Dach. Von einigen kommen Sie übrigens auch nach draußen, man kann außen herumturnen, auch da war Clohessy zugange.« Er machte eine Pause. »Sagen Sie mal, sind Sie wirklich überzeugt von dem, was Sie mir eben erzählt haben?«

O’Connor sah ihn mit reglosem Gesicht an.

»Ich habe keine andere Wahl, als davon überzeugt zu sein«, sagte er. »Die Alternative wäre, aufzustehen und zu gehen. Vor einer Stunde habe ich von einem klugen Mann gelernt, dass das keine Lösung ist. Also werde ich jetzt da hochsteigen.«

»Gut. Ich hole Verstärkung.«

Eigentlich, dachte O’Connor, hättest du das schon auf unserer Herfahrt tun können, Dummkopf. Warum hatte er selbst nicht daran gedacht? Die Zeit lief ihnen davon, und Lavallier war nicht zu erreichen.

»Versuchen Sie vor allem weiterhin, den Kommissar zu erreichen«, sagte O’Connor. »Versuchen Sie es alle dreißig Sekunden. Wenn er fragt, was los ist, sagen Sie ihm einfach, dass ich gerade durch sein neues Terminal turne und versuche, Bill Clintons Leben zu retten. Ich glaube, er wird schneller hier sein, als man Kirk auf die Brücke beamen kann.«

Mahder blinzelte ihn unentschlossen an. Dann nickte er mit zusammengekniffenen Lippen und lief los.

»Brechen Sie sich nicht den Hals«, rief er O’Connor im Davoneilen zu.

O’Connor sah ihm nach.

Der Mann war wirklich ein Trottel. Warum schickte er nicht ein paar von denen, die hier Dienst taten, zu ihm rüber? Fürs Erste wenigstens?

Einen Moment lang überlegte er, ob er selbst welche von den Männern ansprechen sollte.

Aber dann müsste er alles ein weiteres Mal erklären. Vielleicht würden ihn die Sicherheitsleute mit Fragen bombardieren und nicht mehr auf die Gerüste lassen. So dynamisch, wie Mahder ihm erschien, stand zu befürchten, dass es Ewigkeiten dauerte, bis überhaupt jemand käme, um das Dach in Augenschein zu nehmen.

Er strich seinen teuren Anzug glatt, öffnete die Jacke und kletterte die nächststehende Leiter hoch.

JANA

Verkleidung war Routine, und doch wieder nicht. In die meisten Rollen war Jana schon mehrfach geschlüpft. Man wurde vertraut mit einer Signora Baldi oder der ukrainischen Geschäftemacherin Karina Potschowa. Cordula Maliks Girlie-Look hingegen war neu und aufregend. Er machte Jana Spaß. Selten zuvor hatte sie sich mit so viel Vergnügen im Spiegel betrachtet. Cordula war das völlige Gegenteil der stets auf Korrektheit bedachten Laura Firidolfi, die in den letzten Jahren Janas Leben beherrscht hatte. Ihre gestylte Schlampigkeit drückte Lebensfreude und Sinnlichkeit aus, Dinge, von denen sie viel zu lange viel zu wenig zugelassen hatte.

Vielleicht wäre es eine gute Idee, aus der Asche von Jana, Sonja, Laura und all den anderen jemanden wie Cordula aufsteigen zu lassen. Das Leben würde lustiger sein mit bauchfreien T-Shirts.

Auch über das Piercing könnte man sich noch mal Gedanken machen. Ein kleines mit einem Stein darin. Einem wasserblauen oder einfach einem funkelnden kleinen Brillanten. Sie hätte Millionen zur Verfügung. Die Bezeichnung Edelschlampe würde eine völlig neue Bedeutung erhalten.

Jana sah aus dem Fenster, während der Bus sie und vierzig weitere Journalisten auf das Flughafengelände fuhr, und dachte an ihr neues Leben.

Für viele Menschen stellte die Überlegung, ein silbernes Schmuckstück in ihrem Nabel unterzubringen, den Gipfel der Komplexität dar. Wie sorglos waren solche Gedanken. Wie anders als solche, die um Waffen kreisten und um Auftragsmorde, die einen YAG schufen und einen Plan, wie man den mächtigsten Mann der Welt umbringen konnte.

Würde sie in ein Juweliergeschäft gehen und sagen, guten Tag, ich habe Bill Clinton umgebracht und ein gutes Dutzend weiterer Menschen, jetzt würde ich mir gern den Nabel versilbern lassen?

Würde sie es denken? Denken können? Wäre es möglich, ein Mensch zu werden, der in aller Unschuld einfach nur ein Mensch war?

Sie schob ihren Kaugummi von rechts nach links und versuchte, sich wie ein Girlie zu fühlen, aber sie fühlte sich nur wie eine Killerin aus der Eliteklasse, die ein bauchfreies T-Shirt trug.

Einmal noch, dachte sie. Dann wird sich alles ändern.

Der Bus passierte einen Checkpoint und fuhr weiter die Straße entlang. Links erstreckten sich die Neubauten des Flughafens, das Parkhaus 2 und das halb fertige Terminal, dann unterquerten sie eine Rollbahn und hielten auf einen Kreisverkehr zu. Dahinter begann der lang gestreckte Bereich des Frachtflughafens. Überall waren Sperren und Polizei. Mannschaftsfahrzeuge säumten die Heinrich- Steinmann-Straße. Jana wusste, dass dies der Weg war, über den die Politiker den Flughafen verließen. Links sah Jana den Flachbau der Luftpostleitstelle liegen, daneben das quer stehende Luftsicherungsgebäude, dahinter die Frachthallen. Wo die Frachthallen endeten, erhob sich ein sandgelber mehrstöckiger Bau, das UPS-Gebäude, nur überragt vom Tower.

Jana lächelte. Sie kannte den Flughafen wie ihre Westentasche.

Sie stoppten. Nacheinander stiegen sie aus und betraten den Parkplatz, von dem aus es zu den Zelten ging. Jana sah den EXPRESSReporter neben sich auftauchen. Sie tauschten ein paar Bemerkungen über das exzeptionelle Aufgebot an Polizei und ausländischen Sicherheitskräften aus, während sie über den Parkplatz gingen und sich der Absperrung näherten. Vor ihnen lag eine flache Speditionshalle, dahinter erhob sich der gewaltige, lang gestreckte Kasten der Lärmschutzhalle, die weit in die Vorfelder hineinragte und sie in zwei Hälften teilte. Rechts von der Halle lag das GAT, auf dem gemeinhin kleinere Maschinen parkten, Privatflugzeuge und die Jets der Außenminister. Zur Linken, von der Lärmschutzhalle flankiert, erstreckte sich das Vorfeld Fracht West.

Überall waren Polizisten, Scharfschützen, Sicherheitskräfte in Zivil.

Für eine kurze Weile herrschte ziemliches Gedränge. Vor dem Checkcontainer bildete sich im Nu eine Schlange. Jana versorgte ihre Kiefermuskulatur mit einem neuen Kaugummi und flirtete mit dem EXPRESS-Mann, bis die Reihe an ihr war. Sie stieg die zwei Stufen empor und ging ins Innere.

»Personalausweis, Akkreditierungsausweis, Poolkarte bitte.«

Die Beamten waren von sachlicher Freundlichkeit. Janas Ausweis wurde mit den Daten und dem Foto auf den Listen verglichen. Ein Beamter nahm sich ihrer Handys und der Kameras an und platzierte sie vorsichtig auf einem Band. Das Band setzte sich in Bewegung und fuhr die Nikon und die Olympus ins Innere eines Kastens, wo sie geröntgt wurden. Nacheinander verschwanden darin auch alle metallischen Gegenstände, die Jana mit sich führte, der Schlüssel zu ihrem Hotel, das Portemonnaie mit einer Mischung aus deutschem und österreichischem Geld, ihre kleine Umhängetasche mit Stiften und Schminkzeug.

Wegen der Röntgengeräte hatte Gruschkow eine Zeit lang Bedenken gehabt. Er fürchtete, sie könnten den Mikrochip in der Kamera beschädigen, und hatte vorgeschlagen, ihn mit einer hauchdünnen Bleischicht zu ummanteln. Schnell waren sie davon wieder abgekommen. Blei erschien als schwarzer Fleck auf den Bildschirmen von Röntgengeräten, und schwarze Flecken würden das Interesse der

Beamten auf sich ziehen. Schließlich hatten sie eine Reihe von Tests durchgeführt und die Strahlung über das übliche Maß hinaus erhöht, um ganz sicherzugehen.

Nichts war passiert.

Ihre Kameras, das Handy und die Tasche kamen auf der anderen Seite des Kastens wieder zum Vorschein. Eine Beamtin tastete sie ab, dann musste sie durch eine Detektorsperre gehen. Belustigt dachte sie, dass es vielleicht doch ganz gut gewesen war, auf das Piercing zu verzichten.

»Vielen Dank«, sagte die Beamtin.

Jana grinste.

»Schönen Abend noch«, sagte sie schmatzend, nahm ihr Equipment wieder in Empfang und verließ den Container auf der anderen Seite, während hinter ihr der Nächste zur Überprüfung einstieg.

Sie war auf dem Sicherheitsgelände.

Sie war drin.

Einen Moment lang fühlte sie ihr Herz schneller schlagen. Ein Vorgefühl des Triumphs ergriff von ihr Besitz, die Genugtuung, es bis hierhin geschafft zu haben. Jetzt hing alles nur noch vom Funktionieren des Systems ab. Und vom Wetter.

Sie dachte an den Lektor in der Spedition. Gruschkow würde ihn erst töten, wenn sie ihm die Anweisung gab.

Wenn sie die Anweisung gab.

Sie dachte an die Frau, die am Ende des Weges auf sie wartete, des langen Weges, den sie bis hierher gegangen war, ihres Lebensweges, der bald enden würde, um einem neuen Leben Platz zu machen.

Vielleicht forderte dieses neue Leben einen Eintritt, eine Morgengabe. Vielleicht das Fortbestehen dieses Lektors.

Vielleicht, dass sie ihn leben ließ.

Der Gedanke gefiel ihr. Sie packte die Riemen ihrer Kameras und ging über die Wiese hinüber zu den Pressezelten.

TERMINAL 2

Sechzehn Meter waren sechzehn Meter.

Auf zwei Zwischenebenen des Gerüsts machte O’Connor Halt und inspizierte die Einfassungen der riesigen Glasscheiben.

Paddy musste den Spiegel außen installiert haben, wenn das System funktionieren sollte, aber nirgendwo ließ sich die gläserne Fläche öffnen. Unter ihm wurden die Menschen, die den Hallenboden bevölkerten, kleiner. Auf den Gerüsten selbst war niemand zu sehen. O’Connor warf einen Blick auf seine Armbanduhr, die kurz nach sieben anzeigte.

Noch eine Viertelstunde. Was zum Teufel trieb Mahder so lange?

Im selben Moment klingelte sein Handy.

»Ja?«

»Mahder.«

»Na endlich! Wo bleiben Ihre Leute?«

»Ich musste tausend Purzelbäume schlagen, bis ich Lavallier an der Strippe hatte«, quakte Mahders Stimme. »Ich dachte eigentlich, das sei das Wichtigste.« Er klang beleidigt. »Ich habe getan, was ich konnte. Gleich kommt Ihre Verstärkung, okay? Schneller ging’s nicht.«

»Lavallier ist informiert?«

»Ich habe ihm alles so weitergegeben, wie Sie es mir erzählt haben. Milde ausgedrückt, er war bestürzt.«

O’Connor atmete auf.

»Gut. Bis später.«

Er schaltete ab. Eigentlich konnte er jetzt seine Suche einstellen. Aber er wusste von allen am besten, wonach er Ausschau halten musste.

Langsam kletterte er höher, bis er direkt unter dem Dach war.

Hier oben verlor man komplett die Übersicht. Zwischen den Gestängen war es wie in einem Wald. Einen Moment lang fühlte O’Connor seinen Mut sinken. Die stählernen Konstruktionen, auf denen das Dach ruhte, boten durchaus Raum für Vertiefungen, in denen man Spiegel verstecken konnte, aber sie lagen sämtlich hinter Glas. Er würde hinaus aufs Dach klettern müssen. Kein allzu behaglicher Gedanke. O’Connor war nicht unsportlich und kein Angsthase, aber große Höhen machten ihm zu schaffen.

Erneut sah er nach unten. Man musste halt einfach so tun, als befinde man sich lumpige zwanzig Zentimeter über dem festen Boden. Dann ging es. Sagten die Schlaumeier, die selbst kein Problem damit hatten, über ein zwischen zwei Kirchtürme gespanntes Seil zu laufen.

Unter ihm trat eine Gestalt vor das Gerüst und winkte.

»Dr. O’Connor!«

Er sah genauer hin.

Es war Josef Pecek. Der Techniker.

»Sie kommen wie bestellt«, rief O’Connor. »Können Sie mir helfen?«

»Ich wurde bestellt«, sagte Pecek. »Mahder schickt mich.«

Na wunderbar. Wenigstens einer.

Pecek begann, die Leiter zu ersteigen.

»Bin gleich bei Ihnen«, sagte er.

O’Connor nickte und wandte sich wieder den Gestängen zu. Die Plattform des Gerüsts, auf der er sich befand, war schätzungsweise drei Meter breit und nahm die komplette Breitseite des Glasbaus ein. Er ging einige Meter weiter, dorthin, wo die Schmalseite der Abflughalle im rechten Winkel an die Front stieß und eines der tragenden Rohre von unten hochwuchs und in die Decke mündete. Solche Schnittstellen waren mit Sicherheit am ehesten geeignet, um von dort aufs Dach zu gelangen, aber er konnte keine Luke und nichts dergleichen entdecken.

Hinter sich hörte er Schritte über die Planken näher kommen. Er

drehte sich um und gewahrte die bullige Statur Peceks.

»Was suchen Sie denn?«, fragte der Techniker.

»Hat Mahd er das nicht gesagt?«

»Er war sehr in Eile.« Pecek ging an ihm vorbei und inspizierte mit flüchtigem Blick die Gerüstebene. »Will noch ein paar Leute rüberschicken. Ich war zufällig in der Nähe. Hat es was mit Ryan zu tun?«

»Ryan?«

Ach richtig, für Pecek war Paddy immer noch Ryan O’Dea. Vermutlich hatte ihm auf der Wache niemand Paddys wahren Namen genannt.

Pecek schaute ihn an.

»Ja, Ryan. Hat es was mit ihm zu tun? Ist er wieder aufgetaucht?«

»Nein. Aber was wir hier machen, hat in der Tat einiges mit Ryan zu tun. Wir suchen Spiegel.«

»Spiegel?«

»Eigentlich eher transparente Scheiben. Von der Größe eines Tellers. Oder auch kleiner. Bläulich schimmernd. Möglicherweise hat er so was hier eingebaut.«

Pecek zog die Brauen zusammen.

»Und wozu soll das gut sein?«

»Ich erzähl’s Ihnen später«, sagte O’Connor. Dann kam ihm eine Idee. Im Grunde war es eine glückliche Fügung, dass Mahder ausgerechnet Pecek über den Weg gelaufen war!

»Haben Sie hier oben zusammen gearbeitet?«, fragte er. »Sie und Ryan?«

»Ja, einige Male.« Pecek umfasste eine der Dachstreben. Es sah nach einer überflüssigen Geste aus, als rüttele jemand an einem Baum, um sich zu vergewissern, dass er nicht umfällt. »Aber wir waren zumeist an unterschiedlichen Stellen. Ich zum Beispiel habe bei Schweißarbeiten geholfen, hier und weiter hinten. Paddy hat

Kabel verlegt.«

»Wo sind die Kabel?«

»In den Rohren.«

Pecek kam näher. Unter seinen Schritten geriet der Bretterboden in Schwingungen. Jemandem wie O’Connor, der große Höhen nicht schätzte, entgingen sie keineswegs. Unwillkürlich hielt er sich mit einer Hand am Geländer fest.

»Also versteckt?«

»Natürlich, wie sähe das denn aus.«

Der Techniker kam auf seine Höhe und deutete nach oben.

»Wenn er was installiert hätte, das keiner sehen durfte, wäre das hier drin wohl schwierig geworden«, sagte er. »Was anderes ist es draußen auf dem Dach. Das haben sie draufgesetzt und Amen.«

Natürlich, dachte O’Connor, so schlau bin ich auch. Ich habe nur keine Lust, auf das verdammte Dach hinauszuklettern.

»Wie kommt man aufs Dach, Herr Pecek?«

»Nennen Sie mich Jo. Alle nennen mich so. Bin’s nicht anders gewohnt.« Pecek sah ihn skeptisch an. »Es wäre gut zu wissen, wohin aufs Dach«, sagte er. »Das Dach ist groß.«

O’Connor ließ das Geländer los und sah nach oben. Pecek hatte Recht. Er konnte Wochen damit zubringen, auf dem Dach herumzukriechen.

Denk nach, Liam!

Der Spiegel muss so installiert sein, dass er eine schnurgerade Verbindung zu dem anderen Spiegel am Frachtflughafen ermöglicht. Es muss diesen zweiten Spiegel geben! Egal, was Mahder sagt. Paddy muss es gelungen sein, an einem der dortigen Gebäude einen weiteren Spiegel zu installieren, wie immer er das angestellt hat.

Damit kam hier nur eine Stelle in Frage.

»Dort vorne«, sagte er und zeigte in die Richtung, wo die tragende Strebe aus dem Hallenboden ins Dach mündete.

Pecek kniff die Augen zusammen. Dann zog er ein großes Taschentuch hervor und schnäuzte sich geräuschvoll. Allmählich begann er O’Connor auf die Nerven zu gehen mit seiner Behäbigkeit. War Mahder verrückt geworden? Hatte er chinesisch gesprochen, als er dem Abteilungsleiter gesagt hatte, was passieren würde?

»Da gibt’s einen Ausstieg«, sagte Pecek, während er das Taschentuch sorgfältig wieder zusammenlegte und wegsteckte. »Kommen Sie, ich zeig’s Ihnen.«

O’Connor folgte dem Techniker und zwang sich, nicht hinunterzusehen. Das Gerüst erzitterte unter jedem Schritt. Sie erreichten das Ende der Plattform, wo Längs- und Schmalwand des Terminals aneinander stießen, und O’Connor fühlte sich von leichtem Schwindel erfasst. Nicht genug dessen, dass es unter ihm sechzehn Meter abwärts ging, narrten ihn die Glasflächen und suggerierten ihm, in der leeren Luft zu stehen, nur wenige Zentimeter entfernt vom Abgrund. Er wusste, dass die Scheiben ihn schützten, aber sein Unterbewusstsein erhielt die Information, er stehe am Ende einer Planke und werde hinabstürzen.

Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück.

Pecek grinste. Anscheinend amüsierte ihn O’Connors Höhenangst.

Er löste eine dünne Stange aus einer Halterung und drückte dagegen.

Dicht über ihnen schwang ein Rechteck von etwa vier Quadratmetern nach außen. Pecek griff über sich und zog eine Aluminiumleiter herab.

»Nach Ihnen«, sagte er.

O’Connor zögerte. Er spürte, wie ein Kribbeln seine Leistengegend durchzog.

»Warum gehen Sie nicht vor?«, sagte er. »Sie wissen ja, was wir suchen.«

Pecek schenkte ihm einen mitleidigen Blick. Dann kletterte er die Leiter hoch und durch die Luke nach außen. O’Connor sah, wie er sich aufrichtete und zu ihm herunterblickte.

»Kommen Sie nun, Doktor? Ich sehe keinen Spiegel, aber ich sehe wahrscheinlich nicht richtig hin.«

Er hat ihn getarnt, du Irrtum der Evolution, hätte O’Connor am liebsten nach oben gerufen. Mit einem tiefen Durchatmen zwang er die Furcht zurück und umfasste die Sprossen der Leiter.

»Es ist sicher hier oben«, hörte er Peceks Stimme. »Kann nichts passieren. Nach Ihnen werden noch Dutzendschaften hier rumlaufen und nach dem Rechten sehen, also seien Sie nicht so ein Hasenfuß!«

Der Techniker lachte. O’Connor biss die Zähne aufeinander und setzte den linken Fuß auf die unterste Sprosse.

Höhenangst. Fallangst.

Nichts konnte schlimmer sein. Er hatte mitunter Träume, in denen er auf der Spitze eines Turmes balancierte, einer winzigen Fläche, die ständig kleiner wurde, bis er sich nicht mehr halten konnte und kippte…

Entschlossen kletterte er nach oben.

Wind und Regen schlugen ihm ins Gesicht. Er zog sich aus der Luke und sah sich um. Hinter ihm erstreckte sich das Dach Hunderte von Meter weit. Es hatte tatsächlich etwas von einer Ziehharmonika. Oder erinnerte an ein Blatt, das man in parallelen Linien dutzendfach geknickt und dann auseinander gezogen hatte. Zwischen den erhabenen Falzen verliefen schmale stählerne Stege, auf denen man sich fortbewegen konnte, so geschickt angeordnet, dass man sie von unten nicht sah. Wer aus der Abflughalle nach oben blickte, gewahrte nur Glas.

Auf einem der Stege stand Pecek und winkte ihn heran. Sie waren direkt vor der Dachkante. Zu beiden Seiten des Winkels ging es steil abwärts. Tief unter ihnen lag das Vorfeld. Winzige Menschen bewegten sich darüber. Autos wie Modelle. O’Connor sah auf das sternförmige Gate, das ein Stück entfernt aus dem alten Terminal herauswuchs, und erschauderte. Von hier oben wirkten selbst die angedockten Jumbos wie Spielzeuge.

Nirgendwo gab es einen Schutz. Kein Geländer, nichts.

»Und?« Pecek schien bester Laune. Er trat bis dicht an die Kante und sah hinab. »Wo fangen wir an?«

»Gleich an der Ecke«, sagte O’Connor. Seine Füße schienen wie festgeschweißt. Unter Aufbietung aller Willenskraft bewegte er sich tastend zu dem Techniker und versuchte, den Abgrund zu ignorieren, aber es war beinahe unmöglich. Zu seiner Rechten ging es mindestens zwanzig Meter in die Tiefe. Schaute er nach vorne, war es nicht anders.

Pecek balancierte mühelos ein paar Schritte weiter und ging in die Hocke. Sein Oberkörper beugte sich über die Kante. O’Connor wurde schlecht vom Hinsehen.

»Kein Spiegel«, rief er.

O’Connor richtete den Blick in den Himmel und dann dorthin, wo der Super-Runway begann. Je weiter er in die Ferne schaute, desto besser ging es. Eine Maschine der Lufthansa kam herangeschwebt. Auf Höhe des Terminals war sie bereits tiefer als O’Connor.

»Versuchen Sie es direkt an der Spitze«, sagte O’Connor.

»Geht klar, Chef.«

Pecek rutschte einen Meter weiter und untersuchte das Gestänge. Seine Hände glitten über das rund gebogene Metall.

Plötzlich hielt er inne.

»He, Doc.«

»Was ist, Jo?«

»Ich weiß nicht, ob es das ist, was Sie suchen. Hier ist eine Klappe eingelassen. So was hat hier eigentlich nichts verloren.«

O’Connor fühlte, wie ihn eine Welle der Erregung erfasste. Für einen Moment vergaß er seine Angst. Mit unsicheren Schritten tastete er sich zu Pecek und ging neben ihm in die Hocke.

»Wie groß?«

»Zwei Handbreit, würde ich sagen.«

»Können Sie sie öffnen?«

Pecek beugte sich weiter vor und ließ ein Ächzen hören.

»Es… geht ein bisschen schwer«, keuchte er.

»Seien Sie um Himmels willen vorsichtig.«

Pecek keuchte noch lauter. Dann lachte er zufrieden auf.

»Was ist?«, rief O’Connor atemlos. »Was haben Sie gefunden?«

Pecek grinste ihn an. »Wie sind Sie bloß darauf gekommen, Doc? Woher konnten Sie das wissen?«

»Was ist da?«

»Am besten, Sie werfen selbst einen Blick drauf. Warten Sie.« Der Techniker erhob sich und trat einen Schritt zurück. »Robben Sie vor. Es ist zu eng für uns beide. Ich sichere Sie von hinten.«

O’Connor sog seine Lungen voller Luft. Dann ließ er sich auf Hände und Knie herunter und schob sich zentimeterweise bis zum Rand.

»Gleich können Sie’s sehen«, sagte Pecek.

Was hieß gleich, um Himmels willen? Glaubte Pecek, er hätte Flügel?

Seine Angst hielt ihn mit tausend Händen zurück. Es bereitete ihm beinahe körperliche Schmerzen, dagegen anzugehen. Er reckte den Kopf ein Stück vor und sah die schimmernde Fläche der Front senkrecht in die Tiefe stürzen. Tief unten auf dem sandigen Vorplatz, der das neue Vorfeld vom Terminal trennte, nahmen sich die Menschen wie Ameisen aus.

Sein Blick suchte das Gestänge ab.

»Ich sehe nichts«, rief er.

»Es ist in dem Rohr darunter.« Der Wind schien Peceks Worte herüberzuwehen. »Ein wenig zurückversetzt. Ein Stück noch, dann haben Sie’s. Keine Angst, ich passe auf.«

Unter allen anderen Umständen hätte O’Connor getan, weswegen Silberman ihn heute zurechtgewiesen hatte. Aufstehen und gehen. Sein Herzschlag beschleunigte sich. Mit schier übermenschlicher Anstrengung zog er auch die Schultern über den Rand und beugte den Kopf nach unten.

»Nicht zu fassen«, sagte Pecek hinter ihm. »Wer hätte gedacht, dass der gute alte Paddy ein solches Schlitzohr war.«

Paddy?

Wieso sprach Pecek plötzlich von Paddy?

O’Connor riss den Kopf nach oben. Mit einem Ruck fuhr er zurück und rollte sich instinktiv zur Seite, gerade rechtzeitig, um Pecek mit vorgestreckten Armen heranstürzen zu sehen. Die Augen des Technikers spiegelten alles auf einmal, Hass, Wut und die Erkenntnis, dass er verloren hatte. In einem letzten verzweifelten Versuch, sich zu retten, griffen seine Hände ins Leere, dann verschwand sein Körper jenseits der Kante. Ein kurzer, gellender Schrei entfernte sich mit schrecklicher Geschwindigkeit und brach unvermittelt ab.

Keuchend prallte O’Connor auf den Rücken und rutschte über die Glasfläche der Dachschräge auf die andere Kante zu. Seine Finger bekamen eine der Streben zu fassen, die den stählernen Laufschienen als Abgrenzung dienten. Er glitt weg, strampelte mit den Beinen und suchte, zurück zu der Luke zu gelangen. Unter ihm knackte es in der gläsernen Fläche. In fiebernder Hast krallte er sich an der nächsten Strebe fest, nahm alle Kraft zusammen und schnellte ein Stück nach vorne. Seine Schulter schlug gegen etwas Hartes. Er kam hoch, sah vor sich die Luke und taumelte darauf zu.

Mit einem Geräusch, als habe jemand eine Kanone abgefeuert, brach unter ihm das Glas. Unerbittlich riss es ihn nach unten. Das Klirren und Splittern, als die Glasplatte auf der Hochebene des

Gerüsts in tausend Scherben ging, zerschnitt seine Gehörgänge, dann schlug er hart auf und fühlte einen stechenden Schmerz.

Sein Körper lag auf den Pritschen der Plattform, sechzehn Meter über dem Boden der Abflughalle, aber sein Geist stürzte unaufhaltsam weiter. Er fiel in einen endlosen, nachtschwarzen Schacht, und das Rechteck aus Licht über ihm wurde kleiner und kleiner.

Er würde zerschmettert werden. Der Aufprall würde jeden Knochen in seinem Körper pulverisieren.

Aber der Schacht schien keinen Boden zu haben, und O’Connor raste weiter abwärts, tiefer und tiefer, bis seine Moleküle auseinander gerissen wurden von der unmenschlichen Geschwindigkeit, und er erkannte, dass es ihn am Ende doch noch in das schwarze Loch gesogen hatte, in die viel beschworene Singularität des Stephen Hawking, ins kosmische Wurmloch.

Aus der Tiefe reckte sich etwas Schwarzes zu ihm hoch.

»Wissen Sie, was ein Teilchenbeschleuniger ist?«, hörte er sich trällern, ein Glas in der Hand.

»Ja«, sagte eine freundliche Stewardess. »Ich schätze, so was wie Sie. Schön, Sie an Bord gehabt zu haben, Dr. O’Connor. Sie werden jetzt sterben. Wir wünschen Ihnen eine angenehme Reise.«

Unfähig zu schreien, fiel O’Connor in seinen eigenen Abgrund.

AIR FORCE ONE

»Honk!«

Wenn Bill Clinton sich schnäuzte, tat er es geräuschvoll und ausgiebig. Man sagte dem Präsidenten nach, sein Schnäuzen klinge wie der Schrei einer Wildgans. Der Vergleich stammte von Robert Reich, Clintons Arbeitsminister der ersten vier Jahre, der es wissen musste. Seine Kenntnis der Gewohnheiten Clintons hatte noch in Oxford eingesetzt, wo sie beide Quartier bezogen hatten in den alten Innenhöfen des University College, um im Zuge eines Jurastudiums erwachsen zu werden. Etwas, das Clinton nie vollständig gelungen war. Ein hervorragender Jurist war er geworden. Erwachsen eher nicht.

»Honk!«

Norman Guterson, Clintons Sicherheitschef, saß dem Präsidenten gegenüber, angeschnallt in einem der komfortablen weißen Sessel, die ebenso gut in jedem geschmackvoll eingerichteten Penthouse Platz gefunden hätten. Vor seinem geistigen Auge zog ein Strich Gänse vorbei, hoch am Himmel, die allesamt mit den Flügeln schlugen und »Honk!« schrien. Es war Reichs Schuld. Seit Erscheinen des Buches, das der ehemalige Arbeitsminister über seine Rolle in der Clinton-Administration geschrieben hatte, konnte Guterson nie wieder in aller Unschuld ein Niesen oder Schnäuzen seines Präsidenten hören.

Clinton knüllte das Papiertaschentuch zusammen und zog noch einmal die Nase hoch.

»Verdammte Pollen«, sagte er.

»Das ist die trockene Luft im Flugzeug«, sagte Guterson.

Clinton sah ihn an und kicherte.

»Blödsinn, Norman. Das ist Washington. Es hängt mir in den Kleidern.«

»Köln ist besser«, versicherte Guterson.

Clinton litt unter einer Reihe von Allergien. Er reagierte so ziemlich auf alles, was blühte, mit tränenden Augen und laufender Nase. Die Aussicht, zwei Perioden lang das Land zu regieren, hatte ihm keine Angst gemacht, wohl aber, Washington durchzustehen, die Pollenhauptstadt der Welt.

»Köln liegt in einer Senke, nicht wahr?«, sagte der Präsident. »Alles staut sich darin. Die Luft, der Regen, die Pollen. Wahrscheinlich werde ich aus dem Niesen nicht mehr rauskommen.«

»Wer sagt das?«

»Morris.«

Guterson schüttelte den Kopf. Dick Morris war ein Fall für sich. Es hieß, er habe ‘96 für Clinton die zweite Wahl gewonnen, indem er die Politik der hehren Absichten einer auf Umfragen und Marktforschungsstudien basierenden Strategie opferte. Am Ende der ersten Amtsperiode Clintons waren die Werte des Präsidenten in der Öffentlichkeit auf ein besorgniserregendes Niveau gesunken, trotz wirtschaftlicher Erfolge. Weiterhin hatte Clinton versucht, das zu tun, was ihm richtig und gerecht erschien. Morris hingegen hatte auf den so genannten Swing abgezielt, die Wechselwähler, ein unentschlossenes Potential, das die dringend benötigte Mehrheit darstellte. Mitte der Neunziger startete er darum eine beispiellose Marktforschung, um zu erspüren, was der Swing erwartete. Was im Swing gut ankam, empfahl er dem Präsidenten. Morris war es auch gewesen, der Vokabeln wie »Problem« und »Krise« gänzlich aus dem Wahlkampf strich. Clinton sollte nicht Probleme ansprechen, sondern gnadenlosen Optimismus ausstrahlen. Das Konzept war aufgegangen, und Morris und die Seinen feierten sich als Comeback-Macher des Präsidenten, während die sozial Schwachen weiter im Abseits verschwanden. Ihre Sorgen waren nicht populär, Clintons Kritiker, vor allem auch in den eigenen Reihen, vermerkten seitdem, der Präsident habe sich an die Marktforschung verkauft. Das mochte übertrieben sein. Unrecht hatten sie dennoch nicht in ihrer Beurteilung einer Politik, die weniger auf tatsächliche Missstände als vielmehr auf die verzerrte Perspektive eines unentschlossenen Mittelstands abzielte – frei nach dem Motto, löse nicht die Probleme des Landes, sondern das, was der Mittelstand als Problem empfindet. Am Ende der ersten Periode schienen nur noch Morris und seine Marktforschung die politische Entscheidungsfindung im Weißen Haus zu prägen. Hatte Clinton früher diverse Einschätzungen erhalten, was für die Vereinigten Staaten gut und richtig sei, wurden damals noch Optionen gegeneinander abgewogen und der Veränderungswille der frühen Jahre beschworen, schaute man jetzt in Umfragelisten.

Guterson wusste, dass es sich um kein rein amerikanisches Phänomen mehr handelte. Viele Politiker verließen sich mittlerweile auf Consultants wie Morris, die bei ihnen noch die letzten Reste von Prinzipien exorzierten und sie einzig auf ihre Vermarktbarkeit zurechtbogen. Weltweit entstanden auf diese Weise politische Superstars an der Spitze von Medienparteien, deren Charisma die kaum vorhandene Konzeptionslosigkeit überstrahlte. Tony Blair, Gerhard Schröder, sie alle waren als Lichtgestalten der Hoffnung angetreten, senkten den Altersdurchschnitt in der Politik um Jahrzehnte, gaben sich kumpelig und winkten und überlegten unterdessen, was dem Volk gefallen könnte. Gefiel es dem Volk dann doch nicht, korrigierte die Marktforschung die Strategie, und am Ende stimmte es wieder irgendwie.

Inzwischen hatte Clinton zu gewissen Grundsätzen zurückgefunden und sogar die Schlacht gegen die republikanische Inquisition für sich entschieden. Paradoxerweise war es gerade das von den Republikanern hochstilisierte Monicagate, aus dem Clinton gestärkt und selbstbewusst hervorgegangen war. Am Ende stand wieder der gute alte Bill aus Arkansas, ein unbändiger Optimist, der unkonventionell und an Instanzen vorbei Entscheidungen fällte und sich keinen Deut um formale Kanäle scherte. Was einerseits gut war, weil er überhaupt etwas entschied, und aus denselben Gründen schlecht, weil niemand genau wusste, mit wem sich der Präsident gerade über welches Thema unterhielt. Clinton fragte um Rat, wen er wollte. Solange er dachte, es sei der Richtige, fragte er auch den Nachtwächter oder die Putzfrau.

Entsprechend verdankte er seine Informationen über Köln wahrscheinlich auch nicht dem mühevoll zusammengestellten Expose, das eigens für ihn angelegt worden war. Er hatte wieder alle möglichen Leute gefragt. Morris hatte dies gesagt, ein anderer jenes. Clintons Bild der Wirklichkeit war wie üblich fragmentarisch, und wie üblich würde der Präsident dennoch das Beste daraus machen.

Hierin, das wussten Guterson und alle, die um den Präsidenten herum waren, lag seine eigentliche, geniale Stärke. Er würde Köln das Gefühl geben, die schönste und für ihn persönlich wichtigste Stadt der Welt zu sein. Jeder Kölner, dem er in die Augen sah, würde den Eindruck davontragen, etwas ganz Besonderes zu sein.

Nicht anders hatten wohl die Menschen in Paris empfunden, von wo die Air Force One vor zwanzig Minuten gestartet war. Nach seinem Lunch mit Chirac war der Präsident Eis essen gegangen. Clinton auf der Terrasse eines Bistros, schäkernd mit der Serviererin, dann der unprotokollarische Kopfsprung in die Menge, Hände schütteln, quatschen. Das war Clinton. Der Traum vom anfassbaren Star, der Alptraum seiner Leibwächter.

Guterson schlug die Beine übereinander und sagte geringschätzig:

»Morris war garantiert noch nie in Köln. Er hat keine Ahnung. Es wird Ihnen gefallen, Mr. President.«

»Mir gefällt das Programm«, sagte Clinton. »Schröder ist ein viel lustigerer Bursche als Kohl. Er hat den besseren Schneider und mag die Stones, und seine Frau gibt einem nicht ständig das Gefühl, auf eine Breitwandprojektion zu starren. Sehr nette Leute.«

»Sie wollen wirklich auf das Stones-Konzert?«, fragte Guterson.

»Warum nicht? Wann ist das noch gleich? Am Sonntag! Seien Sie nicht so langweilig, Norman. Immer kommen Sie mit dem ewigen Sicherheitsgezänk. Ich weiß noch nicht, ob ich hingehe, irgendwann wollten die Schröders mit Hillary und mir zum Essen–«

»Mr. President…«

»Aber ich hab Chelsea versprochen, es möglich zu machen, wenn es irgendwie klappt. Sie geht auf jeden Fall.« Der Präsident reckte die

Arme und gähnte. »Sie können das nicht begreifen, Sie haben keine Kinder.«

»Nein, Sir.«

»Wie viel Verspätung haben wir jetzt?«

»Etwa zwanzig Minuten.«

»Das ist ärgerlich, Norman. Das nächste Mal informieren Sie mich am Boden darüber, dass wir zu spät sind, und nicht erst in der Luft. Es ist Ihre Aufgabe und die des Protokollchefs, das heißt, eigentlich ist es mir egal, wessen Aufgabe es ist, jedenfalls habe ich keine Lust, mir auch noch Abflugtermine merken zu müssen.«

»Tut mir leid, Mr. President«, sagte Guterson. »Es kommt nicht mehr vor.«

Clinton lächelte versöhnlich. Auch das war bemerkenswert an ihm. Kurzen Gewittern folgte fast augenblicklich Sonnenschein. Er konnte recht deutlich werden, aber er war niemals nachtragend. Tatsächlich hatte das Protokoll es versäumt, ihn rechtzeitig über die Verspätung ins Bild zu setzen. Sicherheitschecks waren der Grund gewesen, nicht zuletzt verursacht durch Clintons übermäßig langes Bad in der Pariser Menge, aber natürlich konnte das nicht das Problem des Präsidenten sein.

Die Air Force One flog eine Kurve und ging weiter runter. Guterson schaute aus dem Fenster, aber außer einer Wolkendecke sah er nicht viel. Er mochte es, wenn Clinton während der Landung hier saß und nicht in seinen Räumlichkeiten war. Die Air Force One bot dem Präsidenten und seiner Familie eine komplett eingerichtete Suite mit einem komfortablen Schlafzimmer, Ankleidezimmer, Bad und Dusche und WC, außerdem ein voll eingerichtetes Büro. Darüber hinaus gab es ein Esszimmer für die Präsidentenfamilie und ihren Stab an Bord, das auch als Konferenzraum benutzt wurde. Möglichkeiten, sich zurückzuziehen, boten sich viele, und viele Präsidenten hatten sie genutzt. Clinton war dafür zu bodenständig.

Er hing lieber mit den Security-Leuten und der Crew herum und schwatzte.

»Wie ist das Wetter?«, fragte er beiläufig.

»Es regnet«, sagte Guterson.

»Ich will auf jeden Fall in diese Brauerei.«

Auch das war typisch. Die schnellen Themenwechsel. Clintons Verstand war rastlos, er hatte immer mehrere Sachen gleichzeitig im Kopf. Guterson war auf die Sprunghaftigkeit des Präsidenten eingestellt. Langweilig war es nie mit Clinton. Der Präsident war ein blitzschneller Denker, der aus dem Stand heraus improvisierte und ein hohes Maß an Kreativität entwickelte. War er in der richtigen Stimmung, bekam man eine Menge Spaß mit ihm. Staatsbesuche mit Clinton waren immer eine Mischung aus ernsthafter Politik und der Vorbereitung einer Studentensause inklusive dreckiger Witze, alberner Streiche und konspirativem Gejohle.

Folgerichtig hatte der Präsident zuallererst die unterhaltsamen Seiten Kölns erspürt. Als man ihm die Mentalität der Kölner auseinander setzte und ihm erzählte, in der Stadt gäbe es eine Reihe uriger Brauhäuser und ein angenehm schmeckendes Bier, war er Feuer und Flamme gewesen.

»Wir müssen so ein Ding besuchen«, hatte er gesagt und Guterson in die übliche Verzweiflung gestürzt. Wenigstens hatte er es überhaupt angekündigt. Es war schwer genug gewesen, ihm ein bisschen Rücksichtnahme auf die Menschen anzugewöhnen, die sich um seine Sicherheit zu kümmern hatten und über Spontanbesuchen in öffentlichen Gaststätten und unabgesprochenen Bädern in der Menge graue Haare bekamen. Dabei lag es dem Präsidenten fern, diese Menschen zu brüskieren. Er hatte nur einfach Präsident werden und trotzdem weiterhin so leben wollen wie der nette Bursche von nebenan, der schnell mal mit Freunden ein Bier trinken oder joggen geht, wenn ihm danach ist. Irgendwie, obwohl er den Job nun lange genug machte, konnte oder wollte Bill Clinton nicht begreifen, warum der mächtigste Mann der Welt einen eingeschränkteren Handlungsspielraum haben sollte als ein Student.

Also hatten sie Wochen vorher damit begonnen, Kölns Brauhäuser abzuklappern, um den Besuch des Präsidenten vorzubereiten. Sie checkten die Malzmühle, das Päffgen, das Brauhaus Sion und die Küppers Brauerei, schauten sich um und aßen die Speisekarten rauf und runter. Natürlich wusste Clinton, was sie taten. Dennoch schärften sie den Gastwirten ein, die Sache vertraulich zu behandeln und niemandem davon zu erzählen, dass möglicherweise irgendwann zwischen dem 17. und dem 22. Juni der Präsident der Vereinigten Staaten hereingeplatzt käme und Kölsch bestellen würde. Sie wollten Clinton nicht den Spaß verderben. Es sollte spontan wirken. Für Clinton war es ein Vergnügen, für seinen Stab ein weiteres Steinchen im Gefüge der präsidentialen Wurstigkeit. Sie wussten, dass so etwas gut in der Öffentlichkeit ankam. Wenn der Präsident plötzlich ein Kölsch trinken wollte, sollte er eben plötzlich ein Kölsch trinken gehen, je plötzlicher, je lieber.

Da unten, dachte Guterson, während die riesige Maschine tiefer und tiefer ging, scheint jedenfalls alles in Ordnung zu sein. Sie hatten keine gegenteiligen Meldungen erhalten. Er schloss für eine Sekunde die Augen. Wirklich entspannt war er nie. Als Sicherheitschef des amerikanischen Präsidenten war man nicht entspannt. Man war vielleicht gelassen, aber immer in höchster Bereitschaft. Selbst an Bord des bestausgestatteten und bestbewaffneten Passagierflugzeugs der Welt. Vier Jahre lang hatten Generäle, Sicherheitsexperten, Geheimdienstler und Ingenieure an dem vierhundert Millionen Dollar teuren Überflieger getüftelt. Die Air Force One war Regierungssitz und fliegende Festung in einem. Ausgerüstet mit Warnanlagen und Abwehrsystemen gegen radar- und hitzegelenkte Raketen. So isoliert, dass ihr Kommunikationsnetz selbst gegen elektromagnetische Störungen nach Atombombenexplosionen immun war. Vierhundert Kilometer Kabel liefen durch den Bauch der Air Force One, sechzig Antennen, Dutzende abhörsicherer Telefone, Funk und Fax verbanden das Präsidentenflugzeug mit der Außenwelt. Wenn Clinton wollte, konnte er sich aus zehntausend Metern Höhe mit dem Kommandanten eines Atom-U-Boots auf Tauchstation unterhalten. Auf neunzehn Fernsehschirmen empfing die Air Force One Bilder aus der ganzen Welt. Zehn Piloten waren immer an Bord, der Proviant reichte für zweitausend Mahlzeiten, es gab einen OP und ein Team hoch qualifizierter Ärzte, die mitflogen, wenn Clinton auf Reisen ging. Heute war außerdem eine knappe Hundertschaft Agenten des Secret Service mit an Bord. Und es gab noch ein paar Tricks, die die Air Force One auf Lager hatte und über die man nicht sprach. Entsprechend wurde draußen spekuliert, über Rettungskapseln bis hin zu nuklearer Bewaffnung. Andrews Air Force, die Home Base, hüllte sich in beredtes Schweigen, aber so oder so war klar, dass es wahrscheinlich keinen sichereren Platz in der Welt gab als dieses Flugzeug.

Guterson öffnete die Augen wieder. Es gab keinen sicheren Ort in der Welt. Nur Leute, die für sichere Orte sorgten.

Seine Leute.

Ohne das geringste Ruckeln tauchte der blauweiße Rumpf der Boeing 747-200B mit der Leitwerknummer 29000 in die Wolken ein.

Die Air Force One befand sich im Landeanflug auf Köln.

TERMINAL 2

Der Schrei war nicht das Schlimmste.

Schrecklich war, wie der Schrei abbrach, als Josef Peceks Körper geräuschvoll auf das Dach des Mannschaftswagens knallte, der vor dem Terminal parkte. Es klang, als habe jemand eine Granate auf einen Gong abgefeuert. Sein linker Arm rutschte über die Dachkante und baumelte sachte hin und her.

Am schlimmsten war die Gewissheit, dass er tot war.

Dass Pecek tot war. Und nicht O’Connor.

Mahder begann an allen Gliedmaßen zu zittern. Ihm war, als packe ihn ein Anfall schwersten Fiebers. Er hatte im Innern des Terminals gewartet und sich beiläufig mit einem der Arbeiter unterhalten, während sein Blick den Sandstreifen zwischen der Glasfassade und dem Vorfeld unter Beobachtung hielt. Er hatte den Sturz erwartet.

Nur nicht, dass es Pecek war, der stürzen würde.

Der Arbeiter neben ihm begann in Richtung des Unfalls zu laufen. Die beiden Polizisten, die unmittelbar nach dem Aufprall mit gezogener Waffe aus dem Wagen gesprungen und dahinter in Deckung gegangen waren, erkletterten die Flanken des Transporters. Weitere Menschen näherten sich. Nur Mahder stand wie angewurzelt. Mahder, der nicht fassen konnte, was passiert war.

Entsetzt sah er zu, wie Blut an Peceks baumelndem Arm herunterzulaufen begann, sich mit dem Regen vermischte und auf den Sand tropfte.

Panik befiel ihn.

Bis zu diesem Punkt hatte er gewusst, was zu tun war. Als O’Connor in seinem Büro gestanden und mit einem Mal die Wahrheit begriffen hatte, war Mahder gefasst geblieben. Er hatte seine Rolle gut gespielt. War ins Nebenzimmer gelaufen und hatte Jana über das FROG angerufen. Ihm war bewusst gewesen, dass sie zu diesem

Zeitpunkt nur noch in absoluten Notfällen telefonieren wollten, aber das war ein Notfall. Auf keinen Fall durfte O’Connor noch mehr Leuten erzählen, was er unglaublicherweise herausgefunden hatte!

Schnell, in wenigen, präzisen Worten, hatte er ihr alles erklärt. Janas Antwort war ebenso kurz und deutlich ausgefallen, in der kaugummiverzerrten Sprache Cordula Maliks, ein weiteres Element des Bizzarren in einer ohnehin aberwitzigen Situation.

»’n Unfall, Mann. Vom Gerüst. Oder vielleicht vom Dach. Musst du mal checken.«

Mahder hatte gewusst, dass sie mitten in einem Pulk von Journalisten stand. Dennoch sprach sie mit normaler Lautstärke. Wahrscheinlich klang sie für die anderen wie jemand, der irgendeiner Story auf den Fersen war. Falls überhaupt einer zuhörte.

Also hatte er O’Connor ins Terminal gebracht und weiterhin so getan, als versuche er Lavallier auf dem Handy zu erreichen. Er hatte gewartet, bis der Physiker das Gerüst bestiegen hatte. Dann war er wie von Furien gehetzt nach unten gelaufen und hatte Pecek telefonisch angewiesen herzukommen. Er war zum Checkpoint gefahren, um den Techniker dort in Empfang zu nehmen. Als Abteilungsleiter durfte Mahder das Terminal jederzeit betreten, Pecek hingegen nicht, speziell nicht in diesen Stunden. Mahder hatte gehofft und gebetet, dass es keine Schwierigkeiten geben würde, und es hatte keine gegeben. Pecek war hineingelangt, Mahder hatte ihn zum Terminal gefahren, O’Connor von unterwegs angerufen und ihm vorgelogen, mit Lavallier gesprochen zu haben, um Pecek Minuten später an seine schmutzige Arbeit zu schicken.

Und jetzt war Pecek vom Dach gefallen.

Aber wo war O’Connor?

Mühsam versuchte er sich zu beruhigen. Jana würde inzwischen im abgesperrten Bereich sein. Vermutlich stand sie eng gedrängt zwischen Dutzenden anderer Journalisten.

Jetzt gab es nur noch ein Signal, das er ihr telefonisch übermitteln konnte. Auf alles andere würde sie nicht reagieren. Nicht reagieren können. Wie sollte sie mit ihm über Peceks Tod konferieren, wenn sie von allen Seiten eingekeilt war? Es gab nur dieses eine Wort, und es galt nur für den Fall eines unvorhergesehenen Scheiterns der Operation. Jeder von ihnen hatte die Option, es den anderen telefonisch zu übermitteln, um gleich darauf die Verbindung zu kappen.

Das Wort hieß »Abbruch«.

Es lag in Mahders subjektiver Entscheidung. Aber er würde sich dafür zu verantworten haben. Einen verdammt triftigen Grund vorweisen müssen. Die Operation vorzeitig abzubrechen, hieß, eine von zwei Chancen, für die sie monatelang gearbeitet hatten, im Handumdrehen zunichte zu machen. Vielleicht sogar die einzige.

Abbruch.

Mahder stellte sich vor, wie er Jana anrief, das Wort sagte und wieder auflegte. Sie würde augenblicklich den gesicherten Bereich verlassen. So schwer es war, hineinzukommen, so einfach und problemlos kam man heraus.

Bei dem Gedanken wurde ihm übel.

Er hatte nicht die Nerven dazu. Überhaupt wurde Martin Mahder in diesem Augenblick, als er zusah, wie sie Peceks zerschmetterte Leiche vom Dach des Mannschaftswagens hievten, die volle Tragweite dessen bewusst, worauf er sich eingelassen hatte, damals, gleich nach Neujahr, als Mirko in Janas Auftrag an ihn herangetreten war, um ihn für das Projekt zu gewinnen. Sie hatten ihm eine Million geboten. Sie hatten herausgefunden, dass er sich von Lieferanten schmieren ließ, um seinen viel zu aufwendigen Lebensstil und seine Spielleidenschaft zu finanzieren. Sie hatten es gewusst und durchblicken lassen, dass andere es auch erfahren könnten, und im Gegenzug mit der versöhnlichen Lösung all seiner Probleme aufgewartet.

Sie hatten gewusst, dass er darauf einsteigen würde.

Bestechlichkeit war eine Charakterhaltung. Man war es entweder gar nicht, oder man war es immer. Ein rückgratloses Etwas, das sich verkaufte. Eine charakterlich amorphe Masse. Oder, auf Deutsch gesagt, ein Schwein.

Aber mit einer Million war man zumindest ein sehr reiches Schwein.

Dennoch verfluchte sich Mahder in diesem Augenblick in den tiefsten Abgrund aller Höllen, nicht standhaft geblieben zu sein. Er starrte noch eine Sekunde auf Pecek, dann machte er kehrt, rannte hinüber zum Treppenschacht und hastete hinauf zur Abflughalle.

Auch dort drängten sich Menschen. Sie umlagerten das Hochgerüst an der seitlichen Schmalseite, gleich unterhalb der Stelle, wo Pecek abgestürzt war. Einige turnten auf der höchsten Ebene herum, liefen hin und her und bückten sich über eine Gestalt, die dort oben lag.

Es war das Gerüst, auf das er O’Connor geschickt hatte. Wohl wissend, dass es dort oben keinen Spiegel gab. Hierin hatte der Doktor geirrt. Es hätte gar keinen dort geben können, die Höhe reichte nicht aus. Die beiden Spiegel, die Paddy und Jo unter seinem Schutz in mehreren Nächten installiert hatten, waren woanders. Niemand würde sie finden. Niemand wusste davon. Mahder hatte die Einsätze nicht gemeldet, also hatten sie nicht stattgefunden.

Alles, was noch schief gehen konnte, war, dass O’Connor auch dieses Rätsel löste.

Falls er noch Rätsel lösen konnte.

Mahder ging näher heran. Die Gestalt lag reglos auf den Pritschen. Über ihr war eine der gläsernen Dachplatten in Scherben gegangen. Wie es aussah, war O’Connor durch das Dach ins Innere gebrochen und drei Meter tief auf das Gerüst gestürzt. Das war nicht viel. Aber möglicherweise genug für eine Gehirnerschütterung, bestenfalls für einen Genickbruch.

Zeit. Sie brauchten Zeit.

Hinter sich hörte Mahder hastige Schritte. Er drehte sich um und sah mehrere Sanitäter, einen Polizisten und eine Polizistin auf sich zurennen. Instinktiv überkam ihn der Gedanke an Flucht. Er zwang sich zur Ruhe, und die Sanitäter und Beamten liefen an ihm vorbei zur Schmalseite des Terminals.

Er blickte ihnen nach und hob die Augen zur obersten Gerüstebene.

Die Gestalt bewegte sich.

O’Connors Kopf erschien über den Pritschen. Er versuchte, sich aufzurichten, und sackte wieder zurück. Die Polizisten und Sanitäter begannen, nach oben zu klettern.

Er lebte. Pecek hatte es gründlich vermasselt.

Mahder fühlte sich wie taub. Er hatte nicht die mindeste Ahnung, was er tun sollte. Mit bleischweren Beinen trat er zu der Frontverglasung und sah in die Tiefe. Auch unten war jetzt der Notarztwagen eingetroffen, schwirrten Uniformierte und Männer in weißen Overalls herum. Peceks Körper wurde auf eine Bahre gelegt, ein Tuch über ihn gezogen.

Würde Lavallier jetzt alles stoppen? Würde O’Connor mit dem Finger auf Martin Mahder zeigen, der seit vierzehn Jahren zuverlässig und ohne Makel seinen Dienst für den Flughafen verrichtet hatte, und ihn anklagen, ihm einen Killer auf den Hals geschickt zu haben?

Er sah auf die Uhr. Es mochte ein Wettlauf mit der Zeit werden, aber Jana konnte es immer noch schaffen! Sie hatten Pech gehabt. Paddy. Pecek. O’Connor. Auch, dass es regnete. Als hätte sich alles gegen sie verschworen.

Aber der Regen war nicht so stark, und hinten wurde es wieder heller.

Nur Minuten! Wenige Minuten waren alles, was Jana brauchte.

Mutlosigkeit überkam ihn. Jana mochte es schaffen, aber was würde aus ihm? Seine Rolle in dem Spiel war soeben aufgeflogen.

Er sah hinaus auf das Vorfeld.

Direkt vor seinen Augen hing ein gewaltiges Flugzeug in der Luft, so nah und tief, dass er glaubte, es mit ausgestreckter Hand berühren zu können. Unterhalb des gewaltigen weißen Rückens stand in großen Buchstaben »United States of America«. Kopf und Nase des Jumbos erstrahlten in kräftigem Blau, die Unterseite und die vier CF6-Triebwerke in hellem, freundlichen Mint. Auf dem Leitwerk prangte das Sternenbanner.

Majestätisch zog die Air Force One an Mahder vorbei und setzte ihre dreihundertfünfundsiebzig Tonnen fast behutsam auf den Super-Runway.

Mahder sah ihr nach.

Dann ging er zum Treppenschacht, erst bemüht langsam, dann immer schneller. Im Schacht begann er zu laufen, mehrere Stufen auf einmal nehmend. Er rannte aus dem Terminal, stieg in seinen Wagen und gab Gas.

Jana und ihre Leute hatten sich in sein Leben gemischt. Sie hatten ihm gar keine andere Wahl gelassen, als Verrat zu begehen. Was immer in den nächsten Minuten geschehen würde, am Ende käme ihn jemand holen. Er würde vor Gericht gestellt und wegen Beihilfe verurteilt werden.

Er hatte ein Haus und eine Familie. Im Gefängnis hätte er nichts von alledem. Also konnte er ebenso gut untertauchen und wenigstens seine Freiheit behalten.

Sie schuldeten ihm immer noch eine Million.

Er würde sie einfordern. Eine Million reichte, um den Abschied zu erleichtern.

WAGNER

Leise Sinustöne fügten sich zu einer Melodie.

Ihre Finger glitten über die Tasten des Handys, und im Display erschien O’Connors Nummer.

Zu guter Letzt hatten Sehnsucht und die Sorge um Kuhn zu einem argumenteschweren Doppel gefunden und sich angeschickt, Wagner auf unerträgliche Weise zu bedrängen, noch während sie mit den Filmleuten verhandelt hatte. Den Spielregeln war Genüge getan, und schließlich, wer würde deren Anwendung besser verstehen als O’Connor!

Sie hatte genügend Zeit verstreichen lassen. Genug, um ihre Unabhängigkeit, wenn nicht ihm, so doch sich selbst zu beweisen. Ein albernes Unterfangen, so viel war ihr klar, hinter dem sich unverändert die kleine, klamme Angst vor Zurückweisung und Enttäuschung verbarg, aber wenigstens tarnte sie sich einigermaßen respektabel im dezenten Grau der Vernunft.

Die Filmleute hatten sich als angenehme Gesprächspartner erwiesen. Natürlich ging es um Geld. Der Verlag respektive Wagner als Vertreterin der publikatorischen Interessen, hatte mit einem Scheck gewedelt und im Gegenzug gewisse Zusagen erwirkt hinsichtlich der Berücksichtigung von Neuerscheinungen. Niemand würde sich sonderlich aufregen über eine derartige Einflussnahme. Die Sendung verstand sich als neutrales Forum, aber man kaufte ja keine positiven Rezensionen, sondern lediglich die Zusage, rezensiert zu werden. Was, wie Reich-Ranickis historischer Grass-Verriss bewiesen hatte, in jedem Fall gut fürs Geschäft war.

Irgendwie passte die Art und Weise des Agreements in die Zeit. Ohnehin war nur verkäuflich, was ein Label trug, Personen des öffentlichen Lebens nicht ausgenommen.

Wagner verließ den Flachbau des Senders und trat hinaus auf den

Parkplatz, während sie wählte. Es hatte zu nieseln begonnen. Sie beschleunigte ihre Schritte. Als sie zu ihrem Golf hinüberging, erklang das Freizeichen. Sie lächelte. Jetzt, nachdem sie sich dazu durchgerungen hatte, endlich zu tun, was sie die ganze Zeit über schon hatte tun wollen, freute sie sich darauf, seine Stimme zu hören.

Es rauschte in der Leitung, dann sagte eine Frauenstimme:

»Hallo?«

Wagner stutzte und blieb stehen.

»Ich möchte gern Dr. O’Connor sprechen«, sagte sie zögernd.

Wahrscheinlich verwählt, dachte sie. Oder hatte sie seine Nummer falsch notiert? Ersteres wäre nicht schlimm, das Zweite ärgerlich.

Die Frau schwieg eine Sekunde. Dann sagte sie:

»Dr. O’Connor hatte einen Unfall. Er kann nicht mit Ihnen sprechen.«

Die Worte klangen sachlich und beinahe lapidar.

»Unfall?«, echote sie tonlos. »Was für einen Unfall?«

»Er ist gestürzt. Wer spricht denn da?«

»Wagner«, sagte sie tonlos. »Ich bin seine…«

Sie stockte. Ihre Gedanken rasten ziellos durcheinander. Paddy, Kuhn, O’Connor, der Flughafen, die Landungen, Lavallier, der Verdacht, etwas Schreckliches könne passieren, die schleichende Gewissheit, dass es bereits angefangen hatte, schon passiert war.

Er hatte einen Unfall gehabt. Was hieß das: einen Unfall gehabt?

Etwas verdickte sich in ihrer Kehle.

»Ist er…?«

»Nein«, sagte die Frau. Im Hintergrund waren andere Stimmen zu hören. Es klang, als spreche sie aus einer großen Halle zu ihr. »Dr. O’Connor ist durch ein Glasdach gebrochen. Er hat eine Reihe von Schnittverletzungen, aber offenbar nichts gebrochen.«

»Warum kann er nicht selbst mit mir sprechen?«

»Er hat das Bewusstsein verloren. Wir wissen nicht, ob es etwas

Ernstes ist. Möglicherweise Gehirnerschütterung. Ist erst vor wenigen Minuten passiert. Sind Sie eine Verwandte?«

»Ich bin seine… Presseagentin. Wer sind Sie?«

»Polizeimeisterin Gerhard.«

»Wo sind Sie, mein Gott?

»Flughafen. Terminal 2.«

»Ich muss zu ihm«, sagte sie hastig.

»Kommen Sie am besten raus zur Wache«, sagte die Polizistin. »Kennen Sie sich aus?«

Wagner starrte durch den Regen über den Parkplatz.

Die letzten Meter zu ihrem Wagen rannte sie.

VORFELD FRACHT WEST

Jana fühlte eine beinahe überirdische Ruhe. Auch der Umstand, dass es regnete, konnte daran nicht sehr viel ändern.

Ohnehin war der Regen nicht sehr dicht. Aber selbst wenn er es gewesen wäre, hätte sie sich damit abfinden müssen. Alle Teilnehmer der Operation waren sich von Anfang an darüber im Klaren gewesen, dass starker Regen das Unternehmen gefährden konnte. Auch das ominöse Trojanische Pferd wusste es. Und selbst wenn es heute nicht funktionierte, hatten sie immer noch eine zweite Chance. Dann nämlich, wenn Clinton wieder abflog. Es wäre lästig, das Spiel der doppelten Identität bis dahin weiterspielen zu müssen, pendeln zwischen Laura Firidolfi und Cordula Malik. Aber vielleicht war die zweite Chance sogar die bessere. Beim Rückflug würde der Präsident mit seiner Frau Hillary und Tochter Chelsea über das Rollfeld gehen. Sie würden dabei sein, wenn es passierte. So wie Jackie Kennedy damals in Dallas, als man ihren Mann erschoss.

Kein Programmdirektor auf der Welt konnte sich bessere Bilder wünschen.

Die Sache mit Clohessy war ärgerlich gewesen. Auch, dass sie den Lektor hatten entführen müssen und dass es ihm gelungen war, eine SMS an diese Frau zu schicken. Sehr dumm! Am schlimmsten von alldem war jedoch, was Mahder vorhin durchgegeben hatte. O’Connor wusste Bescheid. Jana ahnte, wie er es herausgefunden hatte. Er war Physiker, und er beschäftigte sich mit Licht. Jeder, der das tat, wusste, was ein YAG war. Am Ende musste es ihm gelungen sein, Kuhns Nachricht zu entschlüsseln.

Was passiert war, war passiert. Kein Grund, sich jetzt darüber aufzuregen. Sie hatte entschieden, die Sache durchzuziehen. Nur noch darauf galt es sich zu konzentrieren.

Offenbar hatten sie Glück im Unglück. Wie immer Mahder das Problem gelöst hatte, er musste es irgendwie gelöst haben. Er hatte die Operation nicht abgebrochen. Niemand kam, um der Presse zu sagen, dass Clinton nicht in Köln-Bonn landen würde, dass sein Flug umgeleitet worden war. Keine bewaffneten Truppen stürmten den Pressebereich, um alle Anwesenden in Haft zu nehmen.

Vor Jana drängten sich die Journalisten mit ihren Kameras und Richtmikrofonen. Sie selbst hatte sich in die letzte Reihe zurückgezogen. Für das, was sie vorhatte, reichte es nicht nur, es war möglicherweise besser. Obwohl Jana davon ausging, dass man alle Journalisten nach dem Anschlag stundenlang festsetzen würde, auch sie, war es immer besser, den Rücken frei zu haben.

Sie hatte sich nicht lange in den Pressezelten aufgehalten, wo man an Stehtischen bei Wasser und belegten Brötchen Gipfelthemen wälzte. Sie hatte ein Wasser getrunken und war zur Absperrung hinausgegangen. Es war eine recht geräumige Ecke des Vorfelds, die man der Presse vorbehalten hatte. Von hier aus hatte man das Vorfeld gut im Blick, die hereinrollenden Maschinen, die Politiker, das VIP-Zelt. Jenseits der Lärmschutzhalle zog sich eine weitere Absperrung entlang, die das Vorfeld längs durchschnitt und den Bereich Fracht West vom General Aviation Terminal auf der anderen Seite der Halle abtrennte. Durch diese Absperrung würde Clintons Wagenkolonne einfahren. Ob der Präsident sofort seine Limousine besteigen oder vorher ein paar Worte an die Presse richten würde, war ungewiss. Man hoffte auf jede Kleinigkeit, möglichst auf etwas Ungewöhnliches. Letzteres war der Grund, dass sich alle fast noch mehr auf Jelzin freuten als auf Clinton. Jeder hatte in bester Erinnerung, wie der russische Bär bei seiner Deutschlandvisite seinerzeit zuerst Helmut Kohls Namen vergessen und anschließend das Bundeswehrorchester dirigiert hatte. Zur Freude der anwesenden Journalisten – und wohl zum tiefsten Leidwesen aller anderen – hatte er sogar gesungen. Es hatte geklungen, als hätte er ganz Russland leer gesoffen. Die Presse war hellauf begeistert gewesen.

Clinton war Clinton. Jeder wollte ihn, man drängte und verzehrte sich nach ihm, aber unterm Strich war er natürlich nicht halb so unterhaltsam wie Zar Boris.

Jana sah hinüber zum VIP-Zelt. Einzig der WDR hatte zu beiden Seiten des Zeltes zwei Tribünen zugestanden bekommen, die der Air Force One frontal zugewandt sein würden. Die Logenplätze für die öffentlich-rechtliche Fernsehberichterstattung.

Sie würden ihre Bilder bekommen!

Vor ihr wurden Rufe laut. Plötzlich drängte sich der Pulk dichter an die Absperrung. Kameras wurden hochgehalten, erste Bilder wurden geschossen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Vorfelds, in einigen hundert Metern Entfernung, sah Jana, was die anderen so erregte.

Die Air Force One fuhr über die angrenzende Rollbahn und verschwand für kurze Zeit jenseits der Lärmschutzhalle. Das Geräusch der Triebwerke wurde erst leiser und veränderte sich dann, als die Maschine eine Einhundertachtzig-Grad-Drehung vollführte und zurückkam.

In wenigen Sekunden würde sie wieder in Sichtweite geraten. Sehr viel näher. Sie würde ausrollen, und der Präsident würde winkend auf der Gangway erscheinen.

Janas Finger umschlossen die Nikon.

Sie wartete.

VIP-ZELT

Im Grunde war es nichts weiter als die Landung eines Jumbos. Und dennoch eine beinahe mythische Erfahrung. Die Gewissheit darüber, wer im Innern saß, strafte jede Routine Lügen. An Außen- und Wirtschaftsminister hatten sie sich gewöhnt. An Augenblicke wie diese würde sich niemand gewöhnen.

Im Nu lagen Buffet, Sitzgruppen und Stehtische verlassen da. Mit dem Auftauchen der blauen Kanzel hinter der Lärmschutzhalle hielt es niemanden mehr im Zelt. Die VIPs verließen ihr Refugium und traten nach draußen, um ja nichts von dem historischen Ereignis zu verpassen. Für die Delegierten des Auswärtigen Amts, denen das Protokoll oblag, die Protokolloffiziere und die vierzig Angehörigen der US-Botschaft begann der erhebende Teil, für die Sicherheitsleute die zweite Phase.

Die Landung war überstanden. Auch während des Rollvorgangs gab es gefährliche Momente. Naturgemäß war die Air Force One am sichersten, solange sie sich in beträchtlicher Höhe aufhielt, wo sie theoretisch – weil in der Luft mit Treibstoff und Sauerstoff betankbar – bis ans Ende aller Tage bleiben konnte. Trotz ihrer Wehrhaftigkeit gehörten Start und Landung zu den kritischen Phasen. Dennoch stand der kritischste Moment erst noch bevor. Sobald Clinton seine fliegende Festung verließ, war nicht mehr die Maschine das Ziel möglicher Angriffe, sondern die Person. Zwar war Clinton alles andere als ungeschützt. An allen Eckpunkten des Vorfelds waren fahrbare Fluggastbrücken mit Scharfschützen darauf postiert worden. Weitere Scharfschützen lagen auf den Dächern sämtlicher umstehender Gebäude. Niemand würde eine Waffe ziehen können. Kein Überraschungsangriff hätte eine Chance. Dallas war nicht wiederholbar.

Dennoch fühlte sich Lavallier wie kurz vor einer fürchterlichen neuen Erfahrung, als er mit den anderen vor das Zelt trat und zusah, wie die Präsidentenmaschine hereinrollte.

Es gibt keinen Grund, sagte er sich. Er wiederholte es wie einen Trancegesang, aber tatsächlich war es ein immer wiederkehrendes Stoßgebet. Wir haben alles überprüft. Es gibt keinen Grund. Gibt keinen Grund. Keinen Grund. Keinen Grund.

Sein Blick wanderte zu der Lärmschutzhalle. Die Überprüfung hatte nichts ergeben. Im Wettlauf gegen die Zeit hatten sie jeden Quadratzentimeter des ausladenden Gebäudes mit den außen liegenden Rohrkonstruktionen unter die Lupe genommen, die Rohre abgeklopft.

Nichts.

Nichts war anders, als es hätte sein sollen.

Er rieb sich die Augen. Es war 19.55 Uhr. Inzwischen war die Maschine fast zum Stillstand gekommen. Die Einweisung hatten Major Thomas Nader und ein Kollege übernommen. Nicht einmal das hatte der amerikanische Air Attache den Deutschen überlassen. Nader selbst war mit dem Messrad das Vorfeld abgeschritten und hatte die Position für das Bugrad bestimmt, und es war unerfreulich weit draußen.

Lavallier erinnerte sich an die nicht enden wollenden Diskussionen, die der Flughafen mit dem Auswärtigen Amt darüber geführt hatte, wo die Air Force One stehen sollte, wenn der Präsident ausstieg. Wäre es nach dem Secret Service gegangen, hätten die Journalisten Clinton nur aus beträchtlicher Entfernung zu Gesicht bekommen – sie wollten die Maschine gar nicht erst aufs Vorfeld rollen lassen. Am liebsten hätten sie den Präsidenten noch auf der Landebahn aussteigen lassen, eine Herausforderung für jedes Teleobjektiv. Eine Brüskierung, hatte der Flughafen eingewandt, eine grobe Missachtung der Medien, unvertretbar in der Medienstadt Köln. Was nützte die Landung des amerikanischen Präsidenten, wenn keiner ein vernünftiges Foto davon schießen konnte?

Das Tauziehen war eine Zeit lang hin- und hergegangen. Der Flughafen insistierte auf Nose in, was hieß, dass die Air Force One auf das VIP-Zelt zufahren und kurz davor stoppen sollte, um der Presse den Präsidenten möglichst hautnah zu präsentieren. Das Auswärtige Amt beharrte auf der Landebahn und ließ sich am Ende zu einem Kompromiss erweichen. Seitlich zum VIP-Zelt würde die Maschine stehen, weit genug draußen, um im Notfall mittels einer Neunzig- Grad-Drehung unverzüglich wieder auf den Runway rollen und das Weite suchen zu können, womöglich ohne gestoppt zu haben.

Immerhin hatten sie wenigstens die Japaner Nose in am heutigen Abend. Sie kamen nach Clinton, die Letzten für heute. Kein wirklicher Trost, aber einer, den man sich wichtig reden konnte.

Lavallier sah Stankowski und Knott im Gespräch mit dem Leiter SI. Brauer wirkte nicht gerade glücklich. Er hatte sechs seiner Leute mitgebracht, hinzu gesellten sich Lex mit einer zwölf Mann starken Abordnung des Secret Service und Lavalliers eigene Leute. Die Botschaftsangehörigen gingen miteinander plaudernd in Richtung Maschine. Die deutsche Abfertigungscrew, vom Sektionsleiter bis zum Oberlader überprüft, hatte die Maschine fast erreicht.

Und überall lagen die Scharfschützen. Sichtbar. Unsichtbar.

Wer wollte dem etwas entgegensetzen, was sie nicht schon längst bedacht hatten?

Vor allem – was?

Lavallier fiel nichts ein. Er seufzte und hoffte, dass es anderen ebenso gegangen war.

O’CONNOR

Die blaue Fronttür der Air Force One schwang auf. Zeitgleich rollte die Gangway heran. Der oberste Absatz der fahrbaren Treppe schmiegte sich mit metallischem Poltern an den Rumpf des Jumbos, dann entstieg der Maschine ein Sicherheitsbeamter, warf einen Blick in die Runde und gab ein Zeichen nach drinnen.

Bill Clinton erschien in der dunklen Öffnung.

Der Präsident trug das gewinnende Lächeln im Gesicht, dem die Republikaner zwei Wahlkämpfe lang nichts hatten entgegensetzen können als Häme und Hass. Er hob den rechten Arm hoch in die Luft und winkte den Menschen auf dem Rollfeld zu, lächelte weiter, während der Wind durch seinen Haarschopf fuhr. Die Bewegungen seines Arms und seiner Finger wurden zusehends langsamer, als habe sich die Luft um ihn herum sirupartig verdickt, wirkten siegessicher und gequält zugleich.

Die Umstehenden hielten den Atem an.

Clintons Lächeln bekam etwas Verzerrtes. Schmerz lag plötzlich darin. Immer ungestümer zerrten die Böen an den weißen Haaren, rissen sie nach allen Seiten, bis sie zu flackern schienen. Der Schopf färbte sich rötlich. Feuer züngelte aus Clintons Kopfhaut empor, aber der Präsident lächelte tapfer weiter. Auf seiner Gesichtshaut bildeten sich schwarze Blasen. Im nächsten Moment schossen grelle Flammen aus Mund, Nase und Augen, und immer noch winkte die brennende Gestalt wie in extremer Zeitlupe.

Dann begann sie zu schreien.

Es war ein unirdisches, hohles Schreien, als vergehe in dem Inferno nicht ein Mensch, sondern etwas anderes. Schreiend, brennend und winkend begann der Präsident, die Gangway herabzuschreiten. Die Hitze, die von ihm ausging, fegte über das ganze Vorfeld hinweg, setzte die Zelte in Brand, Menschen, Hallen und Hangars, Fahrzeuge und Flugzeuge.

Dann explodierte er.

Sein Körper flog in tausend Stücken auseinander, und O’Connor schoss hoch, riss die Augen auf und starrte in das Gesicht eines sehr hübschen Polizisten.

»Der YAG«, sagte er.

Das Schreien erstarb. Es war überhaupt kein Schreien gewesen, sondern das Dröhnen von Düsentriebwerken, das sich rasch entfernte.

»Dr. O’Connor.« Der Polizist beugte sich vor. »Können Sie mich hören?«

Er trug eine schwarze Lederjacke und hatte kurze schwarze Haare. O’Connors Blick klärte sich, und der Polizist verwandelte sich in eine Polizistin.

»He! Sind Sie in Ordnung?«

O’Connor streckte eine Hand nach ihr aus. Sie ergriff seinen Arm. Mühsam zog er sich hoch und kam unsicher auf die Beine. Sein Rücken schmerzte, als habe man ihn stundenlang mit Knüppeln verdroschen.

Alles fiel ihm wieder ein.

»Wo ist Lavallier?«, stöhnte er. »Ich muss mit ihm reden, schnell!«

»Lavallier?« Die Polizistin runzelte die Stirn. »Er ist draußen auf dem Vorfeld. Was wollen Sie denn jetzt von Lavallier?«

O’Connor ließ ihren Arm los. Jetzt bemerkte er weitere Leute, Bauarbeiter, Sanitäter und einen zweiten Polizisten. Sie standen oder knieten um ihn herum und trugen alle dieselbe Mischung aus Ratlosigkeit und Bestürzung im Gesicht.

»Nur die Ruhe.« Einer der Sanitäter legte ihm besänftigend die Hand auf die Schulter. »Erst mal werden wir Sie verarzten, okay?«

»Kommen Sie um Himmels willen nicht auf die Idee, mich zu verarzten!« O’Connor schüttelte ihn ab. »Jedes Mal, wenn ich bisher zu einem Arzt gegangen bin, war ich hinterher drei Wochen krank.« Er packte das Geländer und trat einen Schritt vor. Sein Blick fiel in die Tiefe. Sofort begann sich alles um ihn herum zu drehen. Hastig stolperte er zurück und schaute auf seine Hände.

Aus mehreren Schnittwunden drang Blut. Hier und da hingen Mullbinden herunter. Der Sanitäter hatte offenbar angefangen, ihn zu verbinden.

»Wie viel Uhr ist es?«, keuchte er.

»Es ist acht«, sagte die Polizistin. »Warum wollen Sie das wissen?«

Acht Uhr!

O’Connor brauchte einen Moment, um zu begreifen. Dann drehte er sich ruckartig um und schaute über das alte Terminal hinweg in Richtung des Frachtflughafens. Sein Magen kramp fte sich zusammen.

»Mein Gott«, flüsterte er.

»Dr. O’Connor!«

Er wandte ihr den Kopf wieder zu.

»Sie sind doch Dr. O’Connor?«

»Clinton«, sagte er beinahe flehentlich.

»Ja, klar.« Der Sanitäter begann zu grinsen. »Und ich bin Madeleine Albright. Wollen Sie jetzt bitte–«

»Er darf nicht aussteigen, hören Sie!« O’Connor sah hilfesuchend von einem zum andern, aber sie starrten ihn nur verständnislos an. »Er darf auf keinen Fall seine Maschine verlassen!« Unter Schmerzen begann er, auf die Leiter zuzuhumpeln, die nach unten führte. Die Polizistin stellte sich ihm in den Weg.

»Bill Clinton?«

»Ja, zum Teufel!«, explodierte O’Connor. »Verdammt, rede ich in Rätseln? Warum gehen Sie mir nicht aus dem Weg, wenn Sie schon nichts begreifen?«

Er packte sie bei den Schultern, um sie beiseite zu schieben. Im nächsten Moment fühlte er sich selbst im Klammergriff. Blitzschnell hatte sie den Arm um seinen Hals geschlungen und ihn gegen das Gitter gedrückt.

»Vorsicht, Freundchen«, sagte sie warnend. »Wir wollen doch hier keinen Aufstand machen. Erklären Sie mir lieber, was auf dem Dach los gewesen ist. Da unten liegt einer, der ist mausetot! Was habt ihr da oben getrieben?«

O’Connor hätte sie am liebsten im hohen Bogen vom Gerüst geschmissen und wäre ihr hinterhergesprungen, aber in seiner augenblicklichen Situation konnte er nur hoffen, nicht selbst hinuntergeworfen zu werden. Allmählich kehrte sein klares Denken zurück und damit die Erkenntnis, wie seine Worte auf die anderen wirken mussten.

»Ist ja gut«, würgte er hervor. »Lassen Sie mich los.«

»Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee wäre«, sagte die Frau skeptisch. »Sie sind mir entschieden zu temperamentvoll.«

»Sie mir auch.«

»Also?«

O’Connor wand sich. Sie zog den Griff fester zu.

»Okay, Schlangenmädchen!« Allmählich blieb ihm die Luft weg. »Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Hören Sie mir eine Minute zu, ohne mich zu unterbrechen. Danach können Sie machen, was Sie wollen, aber lassen Sie mich um Himmels willen los!«

»Jetzt ist aber Schluss«, fuhr ihn der andere Beamte an. »Sie haben keine Vorschläge zu machen, sondern sich zu erklären!«

»Will ich ja«, krächzte O’Connor zwischen zusammengebissenen

Zähnen. »Es ginge schneller, wenn Sie nicht versuchen würden, mitzudenken.«

»Sie…« Der Polizist lief rot an. Seine Mundwinkel zuckten. »Wir machen hier unseren Job! Haben Sie darüber schon mal nachgedacht?«

»Ich zerbreche mir nicht den Kopf anderer Leute und strecke mich auch nicht nach deren Decke«, sagte O’Connor mühsam beherrscht. »Ich zermartere mir grundsätzlich kein Gehirn, das kleiner ist als meines. Wollen Sie mir jetzt zuhören oder nicht?«

Der Griff um seinen Hals lockerte sich. Dann ließ die Polizistin ihn los. O’Connor schnappte nach Luft und drehte sich schwankend zu ihr um. Sein Atem ging pfeifend. Er fühlte sich wie nach einem Anakonda-Angriff.

»Reden Sie«, sagte die Frau. »Eine Minute.«

»Werde ich nicht brauchen. Ist Clinton schon gelandet?«

»Ja. Mit Verspätung.«

»Hat er die Maschine verlassen?«

»Das weiß ich nicht.«

»Er darf sie nicht verlassen«, sagte O’Connor sehr bestimmt. »Falls er das tut, wird er sterben. Er wird von einem Laserstrahl getroffen werden. Wenn es ein Laser der Größenordnung ist, wie ich vermute, wird die Entladung reichen, ein Loch in seine Brust zu reißen. Oder in seinen Kopf.«

Einen Moment lang starrten ihn alle an.

»Ein Laser?«, echote der Polizist. »Sie sind doch nicht ganz dicht.«

O’Connor überhörte die Bemerkung. Unverwandt sah er der Polizistin in die Augen.

»Wo steht dieser Laser?«, fragte sie ruhig.

»Ich weiß es nicht. Irgendwo in einem Radius von einigen Kilometern. Ein Neodym-YAG-Laser. Wahrscheinlich ein gewaltiges Gerät.

Der Strahl wird über ein System von mehreren Spiegeln umgeleitet werden. Mindestens zwei dieser Spiegel müssen sich in unmittelbarer Nähe des Vorfelds befinden. Wichtig ist nur der letzte, der Clinton am nächsten ist. Sie müssen ihn zerstören.« Er machte eine Pause. »Ich muss es mit eigenen Augen sehen. Bringen Sie mich zu Lavallier. Bitte!«

Ihre Züge blieben unbewegt. O’Connor stellte sich vor, wie die Gedanken hinter ihrer Stirn einander jagten.

Ein Stück Glas barst unter seinem Absatz.

Krrk.

Die Polizistin griff nach ihrem Funkgerät.

»Machen Sie das während der Fahrt«, drängte O’Connor.

»Es ist besser, wenn wir erst–«

»Himmel, haben Sie immer noch nicht verstanden? Ich muss das Gelände sehen! Wir haben keine Zeit. Ich muss es sehen, um sagen zu können, wo die verdammten Dinger sind!«

Die Polizistin ließ langsam und vernehmlich den Atem entweichen. Dann nickte sie.

»Okay. Kommen Sie mit.«

AIR FORCE ONE

»Nein, Herr Präsident«, sagte der Präsident.

Guterson warf einen Blick auf die Uhr und sah durch die offene Tür des Büros zu Clinton herüber. Seit einigen Minuten telefonierte er mit Boris Jelzin, und es schien ein längeres Gespräch zu werden. Gleich nachdem sie gelandet waren, hatte der Russe angerufen.

»Sie kennen meinen Standpunkt, Boris«, sagte Clinton gerade. »Die Befugnisse der Kfor sind im Appendix B klar geregelt. Natürlich sollen sich Ihre Truppen im Kosovo frei bewegen können, alles andere wäre ja blanker Unsinn. Ich meine nur, wir sollten Belgrad nicht den Eindruck vermitteln, als zögen Russland und die Nato nicht an einem Strang.«

Er lauschte einige Sekunden konzentriert. Dann sah er zu Guterson herüber und wies ihn mit einer Handbewegung an, die Tür des Büros zu schließen.

»Ganz genau«, sagte er herzlich. »Wir wollen doch beide nicht, dass dieses Treffen von so einem Husarenstück wie in Pristina…«

Guterson zog die Tür zu und ging nach vorne, wo Clintons Leibwächter und Mitglieder der Crew versammelt standen. Sie unterhielten sich und lachten. Die Stimmung war gut. Niemanden interessierte es, wie lange sie noch in der Maschine bleiben würden. Wenn Clinton zu telefonieren hatte, telefonierte er eben. Wenn die Erfordernisse es mit sich brachten, dass der Präsident der Vereinigten Staaten ein paar Nächte in der Air Force One zu campen wünschte, würden sie auch darüber keine Miene verziehen. Im Flugzeug des Präsidenten lebte man ohnehin nicht schlecht, die beiden Bordküchen leisteten hervorragende Arbeit, und man schlief besser als in den meisten Hotels.

Guterson ahnte, worum es in dem Gespräch mit Jelzin ging. Die Verteilung der Kompetenzen innerhalb der Kfor-Friedenstruppe war seit dem Militärisch-Technischen Abkommen vom 9. Juni eher unbefriedigend geregelt. Weniger für die Staaten der Nato als vielmehr für die russischen Streitkräfte. Moskau hatte immer noch daran zu beißen, dass die internationale Friedenstruppe im Grunde eine Nato-Truppe mit ein paar russischen Soldaten war. Dennoch hatte sich die Lage mittlerweile entspannt. Auch Jelzin hatte offenbar keine Lust mehr, mit dem Säbel zu rasseln. Guterson schätzte, dass er Clinton in Köln um den Hals fallen und Madeleine Albright küssen würde. Er hoffte beinahe, dass es dazu käme. Das Gesicht der Außenministerin im Augenblick des russischen Schmatzers war ihm, um es mit David Letterman zu sagen, a million bucks wert – mindestens!

Er trat zu einem der Seitenfenster der Air Force One und sah hinaus auf das Vorfeld. Es hatte aufgehört zu regnen. Erste Sonnenstrahlen brachen sich durch die Bewölkung Bahn und schufen glitzernde Reflexe auf dem Beton. Die Gangway war herangefahren, der rote Teppich ausgerollt, gesäumt von zwei Dutzend Soldaten der Bundeswehr im großen Dienstanzug, grünes Barett, Schlips und Kragen, weiße Koppel, schwarz gewienerte Stiefel. Sie sahen zackig und kampfbereit aus mit ihren Gewehren. Wahrscheinlich furchtbar stolz, obwohl es ein Scheißjob war, wie Guterson fand. Jeder Job, bei dem man sich nicht kratzen konnte, wenn es einen juckte, war ein Scheißjob, egal, vor wem man sich respektvoll zu versteifen hatte. Aber dafür waren sie schließlich auch da, um im Ernstfall den Scheißjob zu machen. Und die Ankunft des amerikanischen Präsidenten war der Ernstfall.

Sein Blick ging hinaus aufs Vorfeld. Draußen tummelte sich das Begrüßungskomitee. Einige der Delegierten sahen verstohlen auf die Uhr. Es tat Guterson von Herzen leid, dass sie warten mussten, aber er konnte es nicht ändern.

Sie würden ihren Präsidenten schon bekommen.

WAGNER

Die Flughafenautobahn war unbefahrbar.

Wagner sah ungläubig auf die Mannschaftswagen. Die Zubringer, die von der A4 auf die A559 überleiteten, waren sämtlich abgeriegelt. Sie hatte den Golf über die Autobahn hergeprügelt, hatte rechts überholt, geschnitten und konsequent das Tempolimit überschritten, und jetzt ließ man sie nicht auf die richtige Autobahn.

Natürlich, die Amerikaner und die Sicherheit. Die Kolonne des Präsidenten würde den Weg über die A559 nach Köln und zum Hyatt nehmen. Sogar die Autobahnbrücken sollten abgesperrt werden. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch drunter herfahren durfte, aber wahrscheinlich würde sich auch das in den nächsten Minuten ändern.

Fluchend fuhr sie weiter und wechselte auf die A3. Der Verkehr wurde dichter. Auf dem letzten Kilometer vor der Ausfahrt Königsforst schob er sich zäh dahin, dann endlich konnte sie von der Autobahn entwischen und sich dem Flughafen über die Landstraße nähern. Auch hier ging es nicht wesentlich schneller voran. Radio Köln brachte eine Staumeldung nach der anderen. Sie wählte die Nummer der Auskunft und ließ sich mit der Polizeiwache des Flughafens verbinden, was die Telefonistin vor einige Probleme stellte. Als Wagner endlich durchgestellt wurde, erhielt sie ein Nichts von Information. Weder war etwas über den Verbleib O’Connors noch der Polizeimeisterin Gerhard bekannt. Man wusste von einem Unfall im Terminal 2, aber auch nur, dass dort jemand zu Tode gekommen war.

Wagner fühlte ihren Herzschlag stocken. Sie bat um eine Verbindung mit der Polizeimeisterin, aber das schien aus irgendwelchen Gründen nicht möglich zu sein.

Die Blechlawine quälte sich auf den Flughafen zu und wurde immer langsamer.

Den Tränen nahe, wählte Wagner die Nummer von Silberman.

20.07 UHR. LAVALLIER

Abseits zu stehen, konnte Vorteile haben.

Lavallier hatte sich in einiger Entfernung von der Diplomatengruppe postiert und hielt sie im Auge. Hin und wieder wanderte sein Blick routinemäßig zum VIP-Zelt und zu den Absperrungen ringsum. Immer noch war die vordere Tür des Flugzeugs verschlossen. Über die hintere Treppe hatten sich wenige Minuten zuvor Heerscharen von Agenten des Secret Service ergossen und waren zu den Fahrzeugen der Kolonne hinübergegangen. Der Repräsentant des Auswärtigen Amts hob gerade seine Stimme, und Gelächter brandete auf. Offenbar hatte er einen Witz gerissen.

Die Atmosphäre war entspannt. Dennoch wusste Lavallier im selben Moment, als jemand im Funkgerät seinen Namen sagte, dass es nichts Gutes verhieß. Es war die falsche Stimme für gute Nachrichten: »Monsieur le Commissaire! He, Lavallier, bitte kommen.«

Er riss das Funkgerät hoch und drückte auf Senden.

»O’Connor, zum Teufel, was ist los? Wenn das wieder einer Ihrer Scherze ist–«

»Ich mache keine Scherze«, quäkte O’Connors Stimme aus dem Funkgerät. »Wo ist Clinton?«

»Was?«

»Ist er schon ausgestiegen?«

»Nein, er ist noch im Flieger. Was soll das, O’Connor?«

Dumme Frage, dachte er im selben Moment. Du weißt genau, was es soll. Soeben passiert, wovor es dir am meisten gegraut hat.

»Hören Sie mir genau zu«, sagte der Physiker. »Clinton darf nicht aussteigen. Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen, wir sind auf dem Weg zu Ihnen. Achten Sie auf die Gebäude, die Clinton am nächsten sind. Hohe Gebäude, die höchsten. Suchen Sie nach Spiegeln.«

»Was heißt, Sie sind auf dem Weg? Wovon reden Sie überhaupt?« Es knackte in dem Funkgerät, dann sagte die Stimme einer Frau: »Kommissar Lavallier, hier ist Polizeimeisterin Gerhard. Weisen Sie Ihre Leute an, uns durchzulassen. Wir sind an der Sperre West. Eiszeit 0.«

Eiszeit.

Lavallier war plötzlich, als vibriere der Boden unter seinen Füßen. Intuitiv erwanderte sein Blick die Fassade der Lärmschutzhalle. Eiszeit. Das Codewort für den Attentatsfall.

Gerhard Schröder hatte Eiszeit 16. Toni Blair Eiszeit 5. Jacques Chirac Eiszeit 1.

Bill Clinton hatte Eiszeit 0.

20.08 UHR. JANA

Was immer es war, das den Präsidenten seit einer Viertelstunde daran hinderte, die Air Force One zu verlassen, es konnte nur zweierlei bedeuten.

Entweder er war gewarnt.

In diesem Fall hatte O’Connor gewonnen. Die Sicherheitsleute ließen Clinton nicht aussteigen, weil sie wussten, dass er im Innern der Maschine geschützt war. Was wiederum vermuten ließ, dass sie auch über die Art und Weise des Anschlags im Bilde waren. Andernfalls hätte die Air Force One längst schon das Weite gesucht.

Oder sie hatten keine Ahnung.

Dann allerdings erwies sich die Verspätung des Präsidenten als Segen. Mittlerweile hatten sich die Regenwolken verzogen. Spätes Sonnenlicht fiel schräg auf die Betonfläche und ließ sie warm erstrahlen.

Idealbedingungen für den YAG.

Janas Blick suchte das Vorfeld ab. Nichts deutete darauf hin, dass irgendjemand dort beunruhigt war. Die Herren vom Begrüßungskomitee übten sich in Geduld, sie standen beisammen und sahen hin und wieder hoch zur verschlossenen Tür im Rumpf der Air Force One. Währenddessen hatte das Abfertigungsteam damit begonnen, die Maschine zu entladen. Von jenseits der Lärmschutzhalle, wo das Vorfeld zum benachbarten GAT hin ab gesperrt war, fuhren die ersten Fahrzeuge der Wagenkolonne mit der Präsidentenlimousine ein. Offenbar hatte die SI entsprechende Order erhalten. Lange konnte es nicht mehr dauern.

Noch stand ihr frei, die Operation abzubrechen. Aber falls O’Connor sein Wissen hatte weitergeben können, war es ohnehin zu spät. Die SEKs hätten den Pressebereich längst geräumt. Sie hätten den Kontrollcontainer dichtgemacht, so dass niemand mehr rein und vor allem niemand raus konnte, und die Journalisten in den Zelten festgesetzt.

Jana wusste, dass nach dem Attentat genau das passieren würde. Der Abend versprach lang zu werden. Es würde Stunden dauern, die Journalisten einzeln zu überprüfen. Auch Cordula Malik standen Leibesvisitation, Observierung des technischen Equipments, Überprüfung mit Rückfragen bei allen möglichen Stellen bevor, das ganze Procedere.

Aber Cordula Malik war das Produkt hochprofessioneller Planung. Ihre Vita war absolut wasserdicht. Nicht einmal der Schatten eines Verdachts würde auf die zierliche Journalistin fallen.

Sie wandte sich um. Weiter hinten standen die Türen des Containers unverändert offen.

20.09 UHR. O’CONNOR

»Wir stecken fest«, sagte die Polizeimeisterin.

»Lavallier«, rief O’Connor in das Mikro des Funkgeräts. »Wir kommen nicht weiter. Die verdammte Kolonne blockiert alles.«

Er rutschte unruhig auf dem Beifahrersitz des Streifenwagens hin und her und spähte nach draußen. Hinter der Sperre konnte er deutlich den Rumpf der Air Force One sehen. Links vor ihnen lag riesig und zum Greifen nah die Lärmschutzhalle. Von dort zog sich die Sperre quer über das Vorfeld, umlagert von Polizei. Die Durchfahrt war geöffnet.

Lavallier hatte im selben Moment Anweisung gegeben, den Wagen passieren zu lassen, als das erste Fahrzeug der Kolonne hindurchgefahren war, gefolgt von fünfundvierzig Vans und Limousinen. Die Hälfte der Kolonne stand jetzt auf dem Vorfeld Fracht West, die andere Hälfte wartete auf dem GAT.

»Kommen Sie von der Ostseite rein«, sagte Lavallier. »Wir treffen uns am VIP-Zelt. Ich lege unterdessen hier alles lahm.«

Die Polizistin legte den Rückwärtsgang ein. In hohem Tempo fuhren sie von der Sperre weg. Der Wagen drehte sich auf der Stelle, schoss in entgegengesetzter Richtung davon und beschrieb eine Kurve. O’Connor wurde in die Rückenlehne gedrückt. Er sah hinüber zur Lärmschutzhalle und zog das Funkgerät zu sich heran.

»Sie haben keine Zeit, irgendwas lahmzulegen«, sagte er eindringlich. »Sie kämpfen gegen die Lichtgeschwindigkeit, Lavallier! Es sind kleine Spiegel von zehn bis zwanzig Zentimetern Durchmesser. Keine üblichen Spiegel, transparentes Glas wahrscheinlich. Wenn Sie einen zerstört haben, ist das ganze System zum Teufel, also schießen Sie die Dinger ab, bevor Sie sonst was machen!«

»Wo?«, rief Lavallier. »Wo, O’Connor?«

»An der Lärmschutzhalle.«

»Da war nichts.«

»Es muss einer da sein!«

Der Wagen schlitterte mit quietschenden Reifen in die nächste Kurve. Plötzlich waren sie auf einer bemerkenswert breiten Straße und jagten in einigem Abstand an der Halle und der geparkten Air Force One vorbei. Wie es aussah, umfuhr die Polizistin das Vorfeld weiträumig. O’Connors Blick glitt über die Gebäude, die sich hinter der Halle erhoben.

»Zweite Möglichkeit, der Tower«, sagte er schnell. »Oder das Gebäude davor, das große gelbe.«

Er sah hinüber zu der Polizistin, die unerbittlich das Gaspedal durchdrückte.

»So wie Sie fahren, heben wir gleich ab.«

»Das wäre kein Problem«, erwiderte sie trocken. »Wir sind auf der Startbahn.«

20.09 UHR. AIR FORCE ONE

»Das hat alles viel zu viel Zeit gekostet«, stellte Clinton fest.

Er hatte sein Büro verlassen und war nach vorne gekommen, wo die Crew und die Bodyguards bereitstanden. Der Präsident sah großartig aus. Vielleicht machte er selbst in seinen schwärzesten Stunden noch die sprichwörtlich gute Figur, weil er sie tatsächlich besaß. Bill Clinton überragte die meisten Menschen, nicht unbedingt an Charakter, dafür aber an Statur und sichtbarer Würde. Der dunkle Anzug saß perfekt, die leuchtend blaue Krawatte schien den gleichen Optimismus und die unerschütterliche Zuversicht auszustrahlen wie das Gesicht darüber, an dessen ewiger Jugend auch der weiße Schopf nichts ändern konnte.

Ein bisschen war Guterson stolz darauf, dass sein Präsident sich nicht die Haare färbte, wie es Reagan getan hatte, oder von der Aura eines Besenstiels umgeben war wie Bush.

Das erste Mal seit langem war Clinton wieder uneingeschränkt guter Laune. Die Nato hatte den Krieg der Werte gewonnen. Im Nachhinein hätte ihm kaum etwas Besseres passieren können als Slobodan Milosevic. Dem Bombengewitter über Belgrad war gewissermaßen auch eine kleine, dickliche Praktikantin zum Opfer gefallen. Die Stadt des Friedens hatte den roten Teppich ausgerollt, nicht nur für den Präsidenten der Vereinigten Staaten, sondern für den legitimierten Feldherrn der freien Welt. Es war eine unglückliche Fügung, dass die gute Laune des Präsidenten durch die Verspätung getrübt worden war.

»Gut, Norman«, sagte Clinton. »Sind wir so weit?«

Hinter ihm machten sich die Bodyguards bereit, die Air Force One zusammen mit dem Präsidenten zu verlassen. Guterson warf einen letzten Blick durch das kleine Fenster in der Tür und trat einen Schritt zurück.

»Aufmachen«, sagte er.

20.09 UHR. LAVALLIER

Der Tower. Das UPS-Gebäude. Die Lärmschutzhalle.

Irgendwo schien eine Uhr zu ticken, um ihn mit jeder verstreichenden Sekunde daran zu erinnern, dass er nicht zwei Dinge gleichzeitig tun konnte.

Lavallier starrte auf die Lärmschutzhalle.

Er hätte beides gleichzeitig tun müssen, Lex Bescheid geben, der ein Stück weiter unter der Tragfläche stand, und die Scharfschützen anweisen. Fatalerweise ging es nicht zur gleichen Zeit. Also fiel die Entscheidung für die Reihenfolge: Erst die Schützen. Dann Lex.

»An alle«, sagte er ins Funkgerät. »Eiszeit 0. Ausschau halten nach Spiegeln oder Glasplatten, Durchmesser zehn bis zwanzig Zentimeter, an der Lärmschutzhalle, möglicherweise am Tower und am UPS-Gebäude. Abschießen, wo immer ihr die Dinger seht.«

Dann fiel ihm noch etwas ein.

»Schalldämpfer«, fügte er hastig hinzu. »Kein Geballere!«

Alles, was ihm zum Glück noch fehlte, war eine Panik, wenn es plötzlich anfing zu knallen.

Im selben Moment veränderte sich hinter ihm die Geräuschkulisse.

Lavallier fuhr herum und sah, dass sich die Tür der Air Force One geöffnet hatte.

Ein Mann trat heraus. Lavallier kannte sein Gesicht von Fotos. Es war Norman Guterson, Clintons Sicherheitschef, der jetzt die Empore der Gangway betrat und einen routinierten Blick auf das Vorfeld warf. Dann gab er ein Zeichen ins Innere der Maschine.

Lavallier stöhnte auf. Er wusste, was das Zeichen zu bedeuten hatte.

Guterson winkte den Präsidenten nach draußen.

YAG

Jana sah durch den Sucher der Nikon und drehte am vorderen Ring des Teleobjektivs. Ein Funksignal erreichte Gruschkows Laptop in der Spedition dreieinhalb Kilometer weiter, durchlief das Programm und veranlasste es, seinerseits zwei Signale zurückzuschicken, eines zur Lärmschutzhalle, ein weiteres zum UPS-Gebäude, dem großen gelben Bauwerk gleich unterhalb des Towers.

Die Scharfschützen auf dem Dach des UPS-Gebäudes richteten ihre Aufmerksamkeit auf den Tower und die Lärmschutzhalle. Sie wussten, dass es wenig Zweck hatte, ihren eigenen Standort zu observieren, das taten andere auf den gegenüberliegenden Dächern und Fluggastbrücken. So entging ihnen, was sich in dem Wäldchen aus Belüftungsrohren und Antennen vollzog, das der Mitte des Daches entspross und einige Meter weit in den Himmel ragte. Keiner von ihnen sah, wie sich im oberen Bereich ein doppelt handbreites Stück Rohrverkleidung nach unten schob. Niemand hörte es, weil der Mechanismus nahezu geräuschlos arbeitete. Der Vorgang vollzog sich innerhalb von zwei Sekunden und gab eine rechteckige, bläulich schimmernde Glasscheibe von zwanzig Zentimetern Kantenlänge frei. Auch die Scharfschützen auf den anderen Gebäuden, den erhöhten Gangway-Positionen und die Beobachter im Tower übersahen, was passierte. Vermutlich übersahen sie es vor lauter Konzentration.

Gleichzeitig öffnete sich am außen umlaufenden Gestänge der Lärmschutzhalle, zwölf Meter über dem Erdboden, eine zweite Klappe. Sie war so nahtlos in die gebogene Fläche eingefügt worden, dass man die Ränder selbst aus kürzester Distanz nicht hatte wahrnehmen können. Die Fernsteuerung zog die kleine metallene Fläche leicht nach innen und schob sie seitlich in das Rohr. Auch dieser Mechanismus, in seiner Funktionsweise nicht komplizierter als die Schublade eines CD-Players, gab keinerlei Geräusch von sich. Die entstandene Öffnung war noch kleiner als das Pendant am Belüftungsrohr des UPS-Gebäudes und weder vom Boden noch von den anderen Standorten aus zu erkennen, sofern man nicht genau wusste, wo man hinzusehen hatte.

Dahinter wurde ein Kameraobjektiv sichtbar. Vor der Linse schimmerte eine ebensolche Glasplatte wie drüben am UPS- Gebäude, nur dass diese hier erheblich kleiner und dem Objektiv beweglich vorgelagert war. Das ganze Gebilde maß nicht mehr als zehn Zentimeter im Quadrat der Platte und fünfundzwanzig Zentimeter in der Länge. Es schob sich auf einem Schlitten ein kurzes Stück ins Freie, über ein Drehgelenk damit verbunden, und richtete sein geschliffenes Auge auf die Air Force One.

Im Sucher der Kamera sah Jana, was das Objektiv im Gestänge übermittelte. Es schickte das Bild auf digitalem Wege in die Nikon. Jana drehte an den Ringen des Tele, und das Objektiv hoch oben drehte sich auf dem Kugelgelenk mit. Wenige Grade reichten, um die geöffnete Tür der Air Force One in den Blick zu bekommen.

Ein Mann war darin zu sehen, der ins Innere der Maschine winkte. Jana wusste, dass er zum Sicherheitsstab des Präsidenten gehörte. Dann erschien Clinton selbst im Türrahmen.

Die Konstruktion des Zielobjektivs hatte ihnen das meiste Kopfzerbrechen bereitet. Ursprünglich war die Glasplatte starr auf das Objektiv montiert gewesen. Dann hatten sie eine ebenso einleuchtende wie bestürzende Entdeckung gemacht. Sie schossen daneben. Bewegte sich das Objektiv um zehn Grad, um das Ziel zu fokussieren, veränderte sich der Austrittswinkel des Laserstrahls um zwanzig Grad. Das Objektiv mochte sein Ziel erfassen, aber man würde dennoch niemals treffen können.

Gruschkow hatte ein paar schlaflose Nächte darüber verbracht. Nun bewegte sich die gläserne Platte auf elektronisch ausfahrbaren Teleskopstangen halb so schnell wie das dahinter liegende Objektiv. Das Ganze war eine Meisterleistung der Steuerungstechnik. Das System synchronisierte die Bewegungen der beiden Komponenten und glich sie einander simultan an. Gruschkow hatte sich damit selbst übertroffen. Der Austrittswinkel stimmte wieder.

Die hochgewachsene Gestalt Bill Clintons war deutlich in der offenen Tür zu erkennen.

Blitzschnell zoomte sie auf den Kopf des Präsidenten. In wenigen Sekunden würde es vorbei sein. Sie drehte weiter an dem Tele, und das Objektiv im Gestänge veränderte seine Position um weitere drei Grad.

Lavallier ahnte den Lichtreflex mehr, als dass er ihn sah. Im Moment, als er zu Lex hinüberlaufen wollte, geschah alles gleichzeitig. Clinton erschien in der Türöffnung, und zugleich blitzte oben am Gestänge der Lärmschutzhalle etwas für den Bruchteil einer Sekunde im Sonnenlicht auf.

Lavallier wirbelte herum und starrte in die Höhe.

Da war es!

An der Ecke, dort, wo sich das Gestänge am äußeren Rand entlangzog. Etwas von der Größe einer Handfläche. Dunkler als das umgebende Metall.

Es bewegte sich.

Später wusste er nicht mehr genau, was er in das Funkgerät ge- schrien hatte, während die Diplomaten ans untere Ende der Treppe traten. Niemand achtete auf ihn. Alle Blicke waren Bill Clinton zugewandt. Nur Lavallier, O’Connor und die Polizeimeisterin ahnten in diesem Moment, als die Sonne auf das Vorfeld schien und dem Präsidenten der Vereinigten Staaten einen Bilderbuchempfang bereitete, dass die nächste Eiszeit fast schon angebrochen war.

»Abschießen!« war alles, woran er sich erinnerte.

Lex, der Lavallier am nächsten stand, hörte als Einziger, wie der Hauptkommissar etwas in sein Funkgerät schrie. Er konnte nicht verstehen, was es war, aber ein Blick reichte ihm. Lavalliers Körperhaltung war angespannt, sein Gesicht verzerrt, sein Blick zur Lärmschutzhalle gerichtet.

Lex runzelte die Stirn. Er konnte sich irren.

Aber möglicherweise gab es gerade ein Problem.

Lavalliers Worte erreichten die Scharfschützen auf den Gangways, auf den Dächern der Frachthallen, auf dem Dach des UPS-Gebäudes.

Einige der Männer fühlten sich hilflos und wie gelähmt, während sie durch ihre Zielfernrohre fieberhaft das Gestänge absuchten. In ihrer Hast übersahen sie die winzige schimmernde Glasplatte in der Öffnung. Andere suchten zu tief unten, wieder andere zu weit rechts oder an ganz verkehrten Stellen.

Es war ein neunzehnjähriger Spezialist, der das Ding im Gestänge als Erster sah. Der Mann lag flach auf dem Dach des UPS-Gebäudes, gleich unterhalb des Spiegels im Belüftungsrohr. Er hatte sich in seiner Ausbildung durch besondere Treffgenauigkeit und Kaltblütigkeit hervorgetan, ein ruhiger, zurückhaltender Zeitgenosse, dem seine Kameraden ein hohes Maß an Fairness und einen eklatanten Mangel an Phantasie bescheinigten. Er war weit davon entfernt, einen Augenblick wie diesen herbeizusehnen, ebenso wenig wie er ihn verwünschte. Weder empfand er Angst danebenzuschießen noch Befriedigung oder gar ein Gefühl des Triumphs, das Objekt entdeckt zu haben. Er kannte die Entfernung zur Lärmschutzhalle – etwas weniger als ein halber Kilometer –, war sich der Konstanten und Variablen bewusst, die auf sein Geschoss einwirken würden, Gravitation, Drallabweichungen, Seitenwind, wusste, wo das Projektil die Visierlinie zum ersten und zum zweiten Mal schneiden und wo es auftreffen würde.

Ruhig hielt er das Gewehr im Anschlag, nahm das Ziel auf und visierte.

Jetzt.

Die Spitze ihres Zeigefingers ruhte auf dem Auslöser. Clinton trug das Fadenkreuz mitten auf der Stirn. Jana konzentrierte sich.

Dann entschied sie sich anders und fokussierte den Punkt exakt zwischen den Augen des Präsidenten, auf einer Achse mit seinen Pupillen.

So gefiel es ihr besser.

Mit sanftem Druck löste sie den Impuls aus.

Und der Soldat schoss.

Er drückte den Abzug eine halbe Sekunde früher durch, als Janas Finger den Auslöser betätigte. Das Projektil verließ den Lauf des halbautomatischen Präzisionsgewehrs und raste mit einer Geschwindigkeit von achthundert Metern in der Sekunde auf das Spiegelding zu.

Und dennoch kroch es, verglichen mit der Geschwindigkeit des Lichtimpulses, der Bill Clinton töten sollte.

Die Chips in Janas Nikon schickten ein Radiosignal in die Spedition, das den YAG aktivierte.

In dem riesigen metallenen Kasten vollzog sich in unvorstellbar kurzer Zeit eine komplexe Abfolge von Funktionen. Stoßartig entluden sich die beiden 20-KVA-Starkstromaggregate und ließen mehrere Tausend daumennagelgroße Diodenlaser synchron erstrahlen und einen Lichtimpuls in einen Resonator schicken.

Der Resonator war der eigentliche Neodym-YAG. YAG stand für Yttrium-Aluminium-Granat. Ein röhrenförmiger Kristall von einigen Metern Länge, versetzt mit Neodym-Atomen, dessen Enden planparallel geschliffen und nach innen verspiegelt waren. Zwischen diesen Spiegeln baute sich im Moment, da Jana den Auslöser betätigte und die Diodenlaser elektromagnetische Energie in den Kristall pumpten, eine Lichtwelle auf, schoss zwischen den Spiegeln hin und her und verstärkte sich mit jedem Durchgang, bis das System die Welle emittierte und in den ersten von drei Verstärkern schickte.

Dort schaukelte sich die Welle weiter auf, synchronisierte sich, traf auf einen weiteren Spiegel und wurde im rechten Winkel in den zweiten Verstärker geschickt, verstärkte sich erneut, gelangte in den dritten Verstärker und trat aus diesem in ein kleines Spiegelteleskop von dreißig Zentimetern Durchmesser, das sie fokussierte und durch das Loch in der Schmalseite des Kastens nach draußen schickte. Zu diesem Zeitpunkt betrug die Frequenz des Laser 1,6 µm. Der Strahl war damit für das menschliche Auge unsichtbar, das eben noch in der Lage war, 0,75 µm als sichtbares Licht im roten Bereich wahrzunehmen.

Aber selbst im sichtbaren Spektrum hätte man die Welle nicht gesehen, denn der YAG erzeugte keinen kontinuierlichen Strahl, sondern einen ultrakurzen Impuls.

Der vielfach gebündelte Lichtstoß, der den Kasten verließ, dauerte nur eine 100 000stel Sekunde, aber seine Leistung betrug ein GigaWatt! Der Impuls reichte, um dreißig Kubikzentimeter Wasser explosionsartig verdampfen zu lassen. Oder dreißig Kubikzentimeter menschliches Gewebe, das zum überwiegenden Teil aus Wasser bestand. Es würde explosionsartig aufgebläht werden von rund vierzig Kubikmetern schockartig entstehendem Wasserdampf – mehr als genug, um jede bildende und umgebende Struktur augenblicklich in Fetzen zu reißen.

Der Impuls wurde von dem Spiegel auf dem Dreifuß eingefangen, der mit einer Kamera gekoppelt und auf winzigen Piezomotoren gelagert war, ein System, das man als adaptive Optik bezeichnete. Im Moment des Ausstoßes maß es über die komplette Entfernung bis zum Zielsystem an der Lärmschutzhalle die Partikelverunreinigungen in der Atmosphäre und schickte die Informationen zurück. Blitzartig justierten die Motoren die Oberfläche des Spiegels, indem sie ihn auf eine Weise verbogen, dass der Impuls unterwegs nicht abgelenkt werden konnte.

Die Welle raste aus dem Innenhof hinaus und hoch in die Luft zu einem zweiten Spiegel, der wenige hundert Meter weiter an der Spitze eines Strommasts befestigt war, wurde von diesem reflektiert und auf seine drei Kilometer lange Reise über die umliegenden Vororte, Wiesen und Wäldchen zum UPS-Gebäude geschickt. Kein Regentropfen zerstreute die synchronisierte Welle, in keinem Dunst verlor sich ihre geballte Kraft. Konisch verengt traf sie auf den Spiegel am Ende des Belüftungsrohrs und bewegte sich von dort weiter zur Lärmschutzhalle.

Das alles vom Moment an, da Jana den Auslöser der Nikon gedrückt hatte, vollzog sich mit 300 000 Sekundenkilometern, in Lichtgeschwindigkeit also. Das Projektil des Scharfschützen und der mörderische Lichtimpuls lieferten sich auf den letzten paar hundert Metern zur Lärmschutzhalle sozusagen ein Rennen. Und nur die Tatsache, dass Jana die Position des Fadenkreuzes in letzter Sekunde nach unten verschoben und dadurch Zeit verloren hatte, rettete dem Präsidenten der Vereinigten Staaten das Leben.

Das Projektil schlug in das Drehgelenk des Objektivs ein, als der Impuls auf den vorgelagerten Spiegel traf. Es reichte, um den Mechanismus zu zerstören und den Spiegel nach oben zu verbiegen. Anstatt auf Clintons Kopf zu treffen, wurde der Impuls steil in die Höhe reflektiert.

Sechzehnhundert Meter über dem Erdboden traf er mitten in einen Vogelschwarm.

Das Tier, in dessen Brust er sich bohrte, überlebte nicht annähernd lange genug, um schreien zu können. Die Wassermoleküle im Körper des Vogels verwandelten sich binnen eines Sekundenbruchteils in Gas und blähten den Organismus um ein Vielfaches auf. Sehnen und Fasern zerrissen. Der ganze Körper explodierte und schleuderte Fetzen von Gewebe, Federn und Blutpartikel in den Schwarm.

Die Vögel, die dem Geschehen am nächsten waren, erlitten einen Schock. Sie kreischten und schrien, verloren für kurze Zeit die Orientierung und fielen hinter die Formation zurück.

Dann beruhigten sie sich. Ihr Gedächtnis tilgte den bewussten Teil der Erinnerung und legte den Rest unter Erfahrung ab.

Mit kraftvollen Flügelschlägen schlossen sie wieder auf.

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