PHASE 4

JANA

Ihr erster Eindruck war, dass etwas in der Bildübermittlung nicht stimmte. Im Moment, als sie den Auslöser betätigt hatte, war der Präsident aus dem Sucher verschwunden. Ein Defekt vielleicht, verursacht durch den Impuls, nur dass die Tests keine derartigen Probleme ergeben hatten.

Dann begriff sie, dass die blassblaue Fläche vor ihrem rechten Auge der Himmel war. Fassungslos drehte sie am vorderen Ring des Teleobjektivs, aber Clinton tauchte nicht wieder auf. Die Vorstellung, das System könnte versagt haben, brachte Jana fast um den Verstand. Sie musste die Kiefer aufeinander pressen, um nicht laut loszufluchen.

In der nächsten Sekunde endete die Übertragung vollständig.

Mit einem Blick über die Kamera sah sie, dass der Präsident keine Anstalten machte, die Treppe herunterzugehen. Wahnsinnig vor Wut drückte sie erneut auf den Auslöser. Die Akkus, die den YAG speisten, hielten genügend Energie für einen zweiten Schuss bereit, aber nichts geschah. Falls die tödliche Ladung Licht den YAG überhaupt verlassen hatte, war sie wirkungslos verpufft.

Clinton verschwand wieder im Innern der Air Force One.

Es war vorbei.

Mit einer schnellen Bewegung ihres linken Zeigefingers legte Jana den kleinen Hebel für das Batteriefach um. Die Chip-Einheit glitt aus der Nikon und fiel zu Boden. Jana zertrat sie. Die Nikon war wieder eine ganz normale Kamera. Jana richtete das Tele auf die vordere obere Ecke der Lärmschutzhalle und zoomte, bis sie den zerstörten Mechanismus erkennen konnte.

Das Objektiv auf seinem Schlitten war nur noch ein splittriger Klumpen. Der Plan war aufgeflogen. Sie hatte keinen Schuss gehört, vermutlich hatten sie Schalldämpfer benutzt, aber fest stand, dass die Scharfschützen ihren Job gemacht hatten.

Es half alles nichts. Ab jetzt würde Cordula Malik tun, was jeder um sie herum tat. Warten und Fotos machen.

LAVALLIER

»Abgeschossen.«

Dreimal kurz hintereinander war das Wort aus dem Funkgerät gedrungen. Vor Lavalliers geistigem Auge wurde es in goldene Lettern gegossen, auf eine polierte Marmorplatte verfügt und an der Tür zu seinem Büro aufgestellt. Es war das schönste Wort der Welt. Es war schöner als »Ich liebe dich« und alles, was Lavallier je in seinem Leben gehört hatte.

Zumindest in diesem Augenblick.

Ihm schien, als hätte er den Befehl zum Abschuss vor Stunden gegeben. Tatsächlich konnten allenfalls einige Sekunden vergangen sein. Den Blick über die Schulter zur Lärmschutzhalle gerichtet, das Funkgerät mit der Rechten umklammert, ging er hinüber zu Lex. »Wie hat das Ding ausgesehen?«, fragte er in das Gerät.

»Komisch«, sagte einer der Scharfschützen über Funk. »Wie ein Kameraobjektiv. Ich habe mehrere Male reingeschossen. Ist zu nichts mehr gut.«

»Sucht weiter«, sagte Lavallier in das Gerät.

Clinton war nirgendwo zu sehen. Lavallier wusste nicht recht, ob er dem Frieden trauen konnte.

Noch konnte er höchsten Alarm geben. Was dann passieren würde, war ihm klar. Ungeachtet dessen, ob tatsächlich noch konkrete Gefahr bestand oder nicht, würde der Information unverzüglich der totale Abbruch folgen. Die Sicherheitsleute würden augenblicklich die Türen schließen lassen.

Die Air Force One würde das Rollfeld verlassen und möglicherweise ohne weitere Rücksprachen zu einem anderen Flughafen starten. Das Chaos wäre perfekt.

Es war seine Entscheidung.

Lex sah zu ihm herüber und runzelte die Stirn.

»Was ist denn los?«, fragte er leise.

Lavallier sah irritiert zur Gangway.

»Wo ist Clinton?«

»Drinnen. Ich habe Sie beobachtet, das hat mir nicht gefallen. Ich habe Guterson das Zeichen gegeben, ihn wieder reinzuschicken.«

»Scheiße«, sagte Lavallier, ohne zu wissen, ob er es aus Wut oder Erleichterung sagte.

»Keine Angst«, beruhigte ihn Lex. »Erst mal ist er nur wieder drinnen. Keiner denkt was Böses, ich habe einfach nur signalisiert, dass wir das Okay aussetzen. Gibt es ein Problem?«

Lavallier rang nach Worten. Er wollte kein Chaos entfesseln, aber O’Connor hatte von mehreren Spiegeln gesprochen. Unwillkürlich blickte er auf das Funkgerät, als könne er ihm die Lösung entlocken.

»Eric«, sagte Lex noch einmal. »Was ist los?«

Und die Lösung kam.

Es knackte erneut, dann hörte er eine andere Stimme:

»Noch einer, abgeschossen. UPS-Gebäude, oben an einem der Rohre.«

»Sucht den Tower ab«, sagte Lavallier.

Aber am Tower würden sie nichts finden, dachte er grimmig. Kein verdeckter Einsatz war dort möglich gewesen. Wenn es einen einzigen Platz auf diesem ganzen verdammten Flughafen gab, an dem Clohessy und seine Bande nichts hatten anstellen können, dann war es der Tower.

Oder auch nicht. Woran sollte man noch glauben nach einem Tag wie diesem?

»Das komplette Gelände sperren«, sagte er ins Funkgerät. »Sofort. Pressebereich, alles. Keiner kommt mehr rein und raus. Das Protokoll läuft weiter, Clinton wird den Flughafen wie geplant verlassen.« Er machte eine Pause, dann sagte er noch einmal: »Es besteht kein Grund zur Beunruhigung. Alles läuft weiter wie geplant.«

SPEDITION

Mit offenem Mund starrte Maxim Gruschkow auf den Bildschirm.

Er wusste, dass Jana den Laser zweimal gezündet hatte. Die Akkus hatten sich hörbar entladen. Auf dem Bildschirm seines Laptops waren die Impulse als heftige Ausschläge zu sehen gewesen. Weil das Spiegelsystem die Daten der Impulsbahnen umgehend zurückspielte, wusste Gruschkow auch, dass der erste Ausstoß vom Zielspiegel in viel zu steilem Winkel und der zweite gar nicht mehr reflektiert worden war.

Allein diese Daten boten Anlass zu Bestürzung. Aber der Laptop zeigte außerdem das Bild, das Jana in ihrer Kamera sah. Oder gesehen hatte, denn es gab kein Bild mehr.

Damit war das Scheitern zur Gewissheit geworden. Hätte Jana den Präsidenten getroffen, wäre sein Tod zu sehen gewesen – zwangsläufig, denn das Spiegelobjektiv im Gestänge der Lärmschutzhalle war ja zugleich das Zielfernrohr. Und tatsächlich war Clinton auch zu sehen gewesen. Wie auf dem Präsentierteller hatte er dagestanden. Mit einem Fadenkreuz auf der Stirn, das auf die Nasenwurzel gerutscht war, bevor Jana den Auslöser betätigt hatte.

Plötzlich eine diffuse Fläche.

Dann Bildausfall.

Irgendetwas war schrecklich schief gelaufen.

Gruschkows Finger glitten in fiebernder Hast über die Tastatur und schickten einen schwachen Testimpuls in das System. Die Rückmeldung erfolgte prompt. Sie besagte, dass an der Lärmschutzhalle keine Messung mehr erfolgte. Nichts wurde dort reflektiert, nichts kam überhaupt erst an.

Fluchend schickte er einen zweiten Teststrahl auf die Reise. Diesmal kam auch vom UPS-Gebäude nichts mehr zurück. Der Strahl verlor sich im Irgendwo. Das System, so wie Paddy und Jo es installiert hatten, existierte nicht mehr.

Er rief die letzten Sekunden der Filmübertragung auf und wartete, bis die winkende Gestalt des Präsidenten nach unten wegkippte. Mehrmals wiederholte er die Sequenz, den entscheidenden Moment, Bild für Bild, bis er sicher war.

Kein Defekt in der Steuerung konnte ein solches Versagen herbeigeführt haben.

Langsam ließ Gruschkow die Luft entweichen und sank in seinem Stuhl zurück.

Sie mussten die Spiegel entdeckt haben. Entdeckt und zerstört. Alles andere war ausgeschlossen.

Sein Blick wanderte über die Computer, die er an der gegenüberliegenden Wand aufgereiht hatte. Seit einer halben Stunde empfingen sie unterschiedliche Radio- und Fernsehsender. Eine diffuse, halblaute Melange aus Geräuschen, Stimmen und Musik erfüllte den Raum. Der WDR spielte leicht verdauliche Popmusik, die ARD brachte einen Krimi, NTV und CNN Talkrunden mit Wirtschaftsfachleuten und Politikern. Niemand unterbrach das Programm, um die Meldung durchzugeben, dass Bill Clinton auf dem Köln-Bonn Airport einem Attentat zum Opfer gefallen war. Ereignislosigkeit, wohin man blickte und hörte.

Gruschkow sprang auf, verließ den Raum durch die offene Tür und betrat die Halle. Er sah nach draußen auf den Hof, wo der YAG auf seinem rollenden Untersatz ruhte.

Dann fiel sein Blick auf den angeketteten Lektor.

Hass stieg in ihm hoch. Mit knallenden Absätzen lief er zu dem Gefangenen hinüber, der sich auf dem Boden niedergelassen hatte und mit dem Rücken an der Wand lehnte. Bei Gruschkows Herannahen hob Kuhn den Kopf. Seine Augen weiteten sich, als er den Russen quer durch die Halle auf sich zustürmen sah. Er versuchte, auf die Beine zu kommen, hob den freien Arm zum Schutz, aber da stand Gruschkow bereits vor ihm und rammte ihm die Stiefelspitze in den Unterleib.

Ein erstickter Schrei kam von den Lippen des Lektors. Er klappte zusammen. Gruschkow trat ihn in die Seite. Kuhn wimmerte und versuchte davonzukriechen. Die Kette der Handschellen straffte sich, Metall kreischte über Metall. Gruschkows Wut steigerte sich zur Raserei, und er trat weiter auf den am Boden liegenden Körper ein, bis das Wimmern erstarb.

Schwer atmend hielt er inne.

So war es gewesen damals. In Russland. Als er die Frau totgetreten hatte. Und das Kind. Das Kind hatte noch drei Tage gelebt. Diese schreckliche Wut, die ihn mitunter heimsuchte, dass er nicht mehr klar denken konnte, sie hatte sich seiner bemächtigt und seine Familie gefordert.

Bis an die Grenze der Amnesie hatte er den Tag verdrängt, und dennoch waren die Bilder der verkrümmten Körper immerzu präsent, selbst wenn er schlief. Der große, schlanke und der kleinere daneben. Auf dem Fußboden in der Küche. Dort, wo sie es getrieben hatte mit ihrem Liebhaber, den es gegeben haben musste! – Ungeachtet ihrer Beteuerungen, ein solcher Mann habe nie existiert.

Und das Kind, es hatte die Mutter beschützt. Auch das Kind war gegen ihn gewesen. Alle waren gegen ihn gewesen.

Man hatte ihn nicht gefasst.

Gruschkow war geflohen und hatte Leute um Hilfe gebeten, Leute mit Verbindungen, die andere Leute kannten. Teuer, das Ganze, aber er war ein hervorragender Wissenschaftler gewesen in Moskau, und er hatte ein bisschen Geld. Jana war auf ihn aufmerksam geworden und hatte ihn rausgeholt aus Russland. Nie hatte sie ihn verurteilt, obwohl sie sehr genau wusste, was er getan hatte.

Nie ein Wort des Vorwurfs. Stattdessen eine Karriere als Terrorist.

Es war so überraschend einfach gewesen, all diese Waffen zu entwickeln. Nicht in technischer Hinsicht, sondern an sich, als bereitwillig vollzogene Handlung. Waffen, mit denen Jana für Geld Menschen tötete. Es war so einfach geworden, kein Gewissen zu haben, dass er sich mitunter gefragt hatte, ob er je eines besessen hatte.

Und immer wieder kamen die Bilder aus der Küche über ihn.

Das war Janas einzige Bedingung gewesen. Nie wieder ein Wutanfall mit derartigen Folgen. Nichts dergleichen.

Der Lektor vor seinen Füßen rührte sich nicht. Gruschkow ging in die Hocke und streckte zögerlich die Hand nach ihm aus, zog sie wieder zurück, betrachtete ihn.

Es war zu spät. Er hoffte, dass der Mann noch lebte, aber er konnte nichts tun. Nur noch warten, bis Jana kam. Er schätzte, dass auch Mahder irgendwann aufkreuzen würde, falls der sich überhaupt noch irgendwo hintraute nach dem Fehlschlag. Gut möglich, dass sie alle schon gesucht wurden.

Ja, allerdings. Sehr gut möglich.

Besser, den YAG wieder einzufahren!

Gruschkow erhob sich, ging hinüber zu dem Schaltkasten und betätigte den Mechanismus. Klirrend schnappten die Arretierungsklammern zurück und gaben die Räder frei. Das Gefährt setzte sich in Bewegung und rollte aus dem Hof zurück in die Halle. Gruschkow wartete, bis es so weit im Innern war, dass er die Tore schließen konnte. Dann drückte er auf HALT. Unnötig, das ganze Riesending zurück bis in die Mitte der Halle fahren zu lassen. Wie es aussah, brauchten sie den YAG ohnehin nicht mehr.

Andererseits – man konnte nie wissen.

Sicherheitshalber warf er die Akkus wieder an. Binnen einer Stunde würde der YAG wieder einsatzfähig sein. Wofür auch immer.

Er schloss die Tore mit der Fernbedienung, strich sich über die Glatze und ging zurück in den Computerraum, um fernzusehen.

O’CONNOR

Sie hoben nicht ab.

Die Polizeimeisterin steuerte den Wagen in einer weiträumigen Kurve um das Vorfeld herum und hielt auf das VIP-Zelt zu, als wolle sie geradewegs hindurchfahren. Über Funk war zu hören, wie Lavallier den Befehl zum Abschuss gab. Während die Polizistin auf die Bremse trat und den Wagen mit quietschenden Reifen quer zum Zelt setzte, kamen die Abschussmeldungen der Scharfschützen durch.

O’Connor öffnete die Beifahrertür und sprang hinaus, kaum dass sie standen. Clinton war nicht zu sehen. Er begann, um den Wagen herum in Richtung Maschine zu laufen.

»He!« Die Polizistin war nicht weniger schnell draußen und packte ihn am Ärmel. »Was soll das werden?«

»Das Ende Ihrer Karriere, wenn Sie mich nicht auf der Stelle loslassen!«

»Sie rennen nirgendwohin!«

»Wofür sind wir dann wie die Irren hergebrettert?«, polterte O’Connor. »Ich muss näher heran.«

Sie warf ihm einen warnenden Blick zu. O’Connor erinnerte sich des Würgegriffs und griff unwillkürlich nach seinem Hals.

»Wir gehen da jetzt hin, aber zusammen«, sagte sie sehr bestimmt. »Und Sie bleiben dicht bei mir.«

»O’Connor, hören Sie mich?«

Lavalliers Stimme drang aus dem Funkgerät an ihrem Gürtel. Sie zog es heraus und drückte es O’Connor in die Hand.

»Wir haben zwei von den Dingern abgeschossen«, sagte Lavallier. »Lärmschutzhalle. UPS-Gebäude. Zwei Spiegel.«

»Sind Sie sicher?«, fragte O’Connor atemlos.

»Nein, ich mache Spaß. War’s das, verdammt? Besteht weiterhin Gefahr? Ich muss das wissen!«

O’Connors Augen suchten die umliegenden Gebäude ab. Der Tower war eindeutig zu hoch, um mit bloßem Auge etwas von der Größe eines Rasierspiegels erkennen zu können. Ohnehin wirkte von hier alles wieder ganz anders als von der Rollbahn aus oder auf der Luftaufnahme in Mahders Büro. Größer und unübersichtlicher.

Mahder.

»Sie können Entwarnung geben«, sagte er ruhig. »Wenn Sie zwei getroffen haben, ist das System vernichtet.«

»Sind Sie sicher?«

»Ja. Ach, und Lavallier, damit Ihnen nicht langweilig wird – Sie haben einen Verräter.«

»Und?«, fragte Lex.

LAVALLIER

Lavallier seufzte und sah hinüber zur Gangway.

»Lassen Sie ihn aussteigen.«

»Was war los?«

»Möglicherweise ein Zwischenfall. Keine Ahnung. Definitiv haben wir es verhindert.«

»Ein Attentat?« Lex schnappte nach Luft. »Und Sie erwarten, dass ich Bill Clinton aussteigen lasse?«

Lavalliers Blick wanderte zum VIP-Zelt. Er konnte O’Connor dort sehen. Der Physiker mochte ein verdammter Idiot sein, aber merkwürdigerweise hatte Lavallier das Gefühl, sich auf seine Aussage mehr als verlassen zu können.

»Es ist vorbei«, sagte er zu Lex. »Geben Sie den Leuten ihren Präsidenten. Wir treffen uns am VIP-Zelt, in Ordnung?«

Lex verzog die Augenbrauen.

»Wenn ich ja nicht so grenzenloses Vertrauen in Sie hätte…«, sagte er gedehnt. Dann gab er die Anweisung, und der Sicherheitsmann oben auf der Gangway winkte Bill Clinton das zweite Mal an diesem Tag vor die Öffentlichkeit.

Erst jetzt wurde Lavallier bewusst, dass er in Schweiß gebadet war. Er fuhr sich über Stirn und Augen. Seine Handfläche wurde noch nasser, als sie ohnehin schon war. Schnell wischte er sie an der Hose ab. Auf der Empore der Gangway erschien der Präsident mit mürrischer Miene. Ohne sich mit Winken aufzuhalten, schritt er zügig die Stufen zum roten Teppich herunter.

Lavallier überlegte, was die Presse mitbekommen hatte von dem Vorfall. Die Schalldämpfer hatten die Schüsse verschluckt, die Einschläge in der Lärmschutzhalle durften im Lärm untergegangen sein, den die Journalisten bei Clintons Erscheinen selbst veranstaltet hatten. Möglicherweise hatte der eine oder andere etwas zu hören geglaubt, aber Geräusche ließen sich im Nachhinein erklären.

Wie immer das Nachhinein aussehen mochte.

Es konnte immer noch geschehen, dass er Clinton die Hand schüttelte. Vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse würde es eine völlig neue Bedeutung bekommen. Eine existentielle sozusagen. Eine unausgesprochene Gratulation zu einem neu geschenkten Leben.

Lavallier zögerte.

Dann entschied er sich anders. Er hatte zu tun. Seine Hände waren ohnehin zu feucht nach dem ganzen Theater. Ein Händedruck mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten sollte frei sein von den Absonderungen ausgestandener Ängste.

Während Clinton über den roten Teppich und zwischen den starr aufgereihten Spalieren der Infanterie hindurchschritt, eilte Lavallier zum VIP-Zelt.

KOLONNE

Norman Guterson stellte sich eine lange Reihe von Fragen. Sie war noch länger als die Wagenschlange, die beim Eintreffen der Air Force One zweireihig auf das Vorfeld gerollt war.

Alles war voller Menschen. Die Fahrer und sonstigen Insassen der Kolonne waren ausgestiegen und sahen zu ihnen herüber, durchsetzt von den Agenten aus der Maschine und Einheiten des erweiterten Personenschutzes mit ihren Panzerwesten und MPs. Etwa dreißig Diplomaten umstanden das Ende des roten Teppichs. Zivile und uniformierte Sicherheitsleute hielten sich unterhalb des Heckbereichs der Maschine auf, weitere Polizisten flankierten die Absperrungen, hinter denen sich die Journalisten drängten. Nicht viel ließ darauf schließen, das etwas Unvorhergesehenes stattgefunden hatte oder noch zu erwarten war, sah man davon ab, dass Clinton mit einiger Verzögerung und erst bei seinem zweiten Erscheinen ausgestiegen war.

Lex’ Signal konnte alles oder nichts bedeutet haben. Lex hatte ihm lediglich signalisiert, den Präsidenten noch nicht aussteigen zu lassen. Möglicherweise wegen einer Lappalie, einer fehlenden Rückbestätigung, dass alles in Ordnung war. So was kam vor.

Dennoch ahnte Guterson, dass nichts anderes der Grund gewesen sein konnte als der Attentatsfall. Er hatte ein Gespür für derlei Situationen entwickelt. Wahre Gefahr offenbarte sich nicht augenfällig. Während er vor Clinton herging, legte er erhöhte Wachsamkeit an den Tag. Sein Hirn verarbeitete die Informationen, die ihm seine Sinne lieferten, in Hochgeschwindigkeit. Er studierte Gesichter, Bewegungen, Fahrzeuge, Fassaden. Was immer zu der Verzögerung geführt hatte, Lex war einem Verdacht gefolgt und auf Nummer Sicher gegangen.

Wie es aussah, hatte sich die Sache erledigt. Schon drei Minuten später hatte er den Präsidenten endgültig herauswinken können, kein nennenswerter Zeitverzug angesichts des Umstands, dass Clinton ohnehin zwanzig Minuten auf sich hatte warten lassen. Selbst sein plötzliches Auftauchen und Verschwinden würde sich erklären lassen. Die Frage war immer, was man wie erklärt haben wollte. Und was überhaupt passiert war.

Und natürlich am Ende, ob überhaupt etwas passiert war.

Guterson wusste, dass Clinton ziemlich sauer auf ihn war. Der Präsident hasste Schlampereien in der Sicherheit. Clinton wollte auf seine außerprotokollarischen Alleingänge nicht verzichten, aber ihm war auch bewusst, dass er sich das Bad in der Menge nur erlauben konnte, wenn die Security ohne jede Panne funktionierte. Und Guterson hatte ihn heute zurückgeschickt, nachdem er schon fast draußen gewesen war.

Es würde ein Donnerwetter geben.

Er stellte sich seitwärts und wartete. Mehrere seiner Leute gingen in kurzem Abstand hinter dem Präsidenten her, andere hatten beidseitig der Gangway Posten bezogen. Clinton schüttelte dem Chef des deutschen Protokolls die Hand, wechselte lächelnd ein paar Worte mit ihm, entschuldigte sich für die Verzögerung, begrüßte dann nacheinander den Bonner US-Botschafter und seine Frau, die anwesenden Offiziere und ein paar weitere Diplomaten. Es geschah für Clintons Verhältnisse außergewöhnlich knapp. Dann war die Begrüßung zu Ende, und das Lächeln wurde wieder ausgeknipst. Der Präsident sah hinüber zu Guterson und winkte ihn mit einer knappen Geste zu sich heran.

»Was sollte das eben?«, zischte er. »Dieses Raus und Rein.«

»Ich weiß es noch nicht«, sagte Guterson betreten.

»Klären Sie das. Umgehend! Sie sind für meine Sicherheit verantwortlich, Norman, machen Sie verdammt noch mal Ihren Job.«

»Natürlich!«

»Das war für heute Ihre letzte Panne.«

Clintons Miene blieb unbeweglich, während er Guterson zusammenstauchte. Er mochte nicht eben als Inbegriff guter Laune erscheinen in diesen Sekunden, aber solange das Auge eines Menschen oder einer Kamera auf ihn gerichtet war, verlor er niemals die Fassung oder zeigte auch nur ansatzweise Verunsicherung. Schon ‘78 in Arkansas, als Clinton mit zweiunddreißig Jahren jüngster Gouverneur der Vereinigten Staaten seit über vier Jahrzehnten geworden war, hatte er seine Lektion im Rollenspiel perfekt gelernt. Noch im Angesicht des Weltuntergangs vermochte er Menschen das Gefühl zu geben, es sei alles in bester Ordnung, abgesehen vielleicht von seinem persönlichen Armageddon vor den Untersuchungsausschüssen. Selbst Kenneth Starr hatte er vergleichsweise souverän aufklatschen lassen. Die Kehrseite der enormen Selbstbeherrschung war, dass sie ihm half, aufrechten Gesichts die Unwahrheit zu sagen. Clinton einer Lüge zu überführen, war ein kräftezehrender Faktenjob und darum auch so schwierig. An der Nase war sie ihm jedenfalls nicht anzusehen.

Guterson nickte, erspähte Graham Lex, der vom Heck der Maschine herangetreten war, und ging zu ihm hinüber. Einige Sekunden lang sprach er leise mit dem Bereichsleiter. Dann ging er weiter zur Kolonne. Türen wurden geöffnet, schlugen zu, als sich die Hundertschaft Agenten und die Besatzung in ihre Fahrzeuge verdrückten. Clinton stieg soeben in seine Limousine. Schon am Vortag hatte eine US-Galaxy-Maschine drei gepanzerte, überlange Lincolns eingeflogen. Sie brachten alles in doppelter und dreifacher Ausfertigung mit, wenn sie auf Reisen gingen. Soeben war, wie Guterson wusste, auch die Spare-Maschine gelandet, eine 707 mit nahezu derselben Ausstattung wie die Air Force One, Clintons Ersatzflieger für alle Fälle. Sie ließen es nicht drauf ankommen. Zufälle konnten nett sein, wenn einem unvermittelt alte Schulkameraden oder die Frau fürs Leben über den Weg liefen. In der Politik hatten sie nichts zu suchen.

Vermutlich hatten sie die Deutschen mit den Stretchlimousinen ein weiteres Mal brüskiert, aber es war ihm gleich. Das Auswärtige Amt und das BKA hatten einen gepanzerten Audi A8 offeriert, der Secret Service hatte abgelehnt. Die Geschichte lehrte, dass sich Amerikaner nicht mal auf Amerikaner verlassen konnten. Wie also dann auf ein anderes Land?

Missmutig sah er zu, wie der Präsident in seiner Limousine verschwand, und rutschte selbst auf den Rücksitz des Ersatzwagens. Die sechsundvierzig Fahrzeuge der Kolonne »USA 1« setzten sich in Bewegung, rollten vom Vorfeld, passierten das Zelt, in dem die Diplomaten gewartet hatten, und durchquerten ein kurzes Stück Heidelandschaft mit kleinen Waldstücken zu beiden Seiten. Wie es aussah, hatten sie hier sogar einen Golfplatz. Guterson sah berittene Polizei und Hundeführer. Nach einer Minute wendeten sie, fuhren über eine breite Straße zurück, passierten den Tower und die rückwärtige Seite des Zelts und unterquerten eine Brücke. In dreihundertsechzig Metern Höhe begleitete sie ein Polizeihubschrauber und funkte über eine hochauflösende Kamera Echtzeitbilder an die Zentrale am Waidmarkt. Dort hatte man die Fahrzeuge der Delegation ohnehin auf dem Monitor. Sie waren ausgerüstet mit GPS und elektronischem Stadtplan. Was immer in den nächsten Tagen geschah, verloren gehen konnte Clinton nicht.

Guterson nahm den Hörer des Autotelefons im Fond und wählte den Anschluss des Präsidentenfahrzeugs.

»Mr. President«, sagte er, »wir haben noch keine definitiven Informationen. Die Initiative ging von der deutschen Polizei aus, Lex wusste nur, dass der Verdacht eines Anschlags bestand.«

»Ein Anschlag!« Clinton schwieg eine Sekunde. »Welcher Art?«

»Keine Ahnung. Sie halten uns auf dem Laufenden. Es besteht keine Gefahr mehr, wie man mir versichert hat. Trotzdem sollten wir ein bisschen Vorsicht walten lassen. Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, heute Abend in diese Brauerei zu gehen.«

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun«, sagte Clinton. »Ich weiß auch nicht, ob es eine gute Idee ist, Präsident zu sein, aber ich bin es trotzdem.«

»Im Hyatt haben sie einiges vorbereitet«, sagte Guterson. »Ein Abendessen.«

»Kommen Sie, Norman, es ist langweilig, immer nur in Quarantäne zu essen«, schnaubte Clinton. Er wirkte ziemlich unbeeindruckt von der Nachricht. »Gehen wir dahin. Kein langes Procedere mit der Presse vor dem Hotel, ich will sofort aufs Zimmer und mich frisch machen. In einer halben Stunde erwarte ich Ihren ausführlichen Bericht.« Er machte eine Pause, dann fügte er hinzu: »Sorgen Sie dafür, dass ich eine Verbindung mit dem Kanzler bekomme, sobald wir in der Sache schlauer sind.«

Es ist Ihr Lieblingsessen, hätte Guterson am liebsten gerufen, aber es war offenkundig, dass er verloren hatte. Und dabei war es tatsächlich Clintons Lieblingsessen: Steak mit Kartoffeln aus Idaho. Im Hyatt hatten sie Erleseneres für den Gaumen des Präsidenten vorgesehen, aber die folgenden Tage würden Gourmet-Menüs im Übermaß bereithalten. Im Grunde war es ohnehin egal. Clinton war weder ein Feinschmecker noch ein Kostverächter, er folgte nur einfach einem weiteren seiner Triebe, nicht anders als beim Sex. Wenn es ums Essen ging, kannte der Präsident kein Halten. Er schlang in sich hinein, was er greifen konnte, undiszipliniert und manchmal unter Umgehung gewisser Tischmanieren. Ganz klar, dass er sich auf einen Abend mit Bier und irgendwas Deutschem freute, das in großer Portion verabreicht wurde.

Während sich die Kolonne aus dem Flughafengelände heraus- und auf den Zubringer zur Autobahn hinbewegte, tätigte Guterson eine Reihe weiterer Anrufe, um eine Hand voll Kölner Lokalitäten darauf vorzubereiten, möglicherweise in einer Stunde den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu empfangen.

Wenn schon spontan, dann wenigstens geplant.

FEUERWEHRCONTAINER

In dem kleinen Innenraum war es eng und stickig, obgleich die Tür offen stand. Lavallier hatte die Einsatzzentrale im VIP-Zelt vorgeschlagen, aber der Mann, der Lex hieß, drängte auf Intimität. Also hatten sie sich zu fünft nach nebenan in den Feuerwehrcontainer gedrängt. Es folgte eine Vorstellung im Eiltempo, der O’Connor im Wesentlichen entnahm, dass er es mit dem Bereichsleiter Flughafen des Secret Service, dem Verkehrsleiter und dem stellvertretenden Verkehrsleiter sowie dem Leiter der Flughafensicherheit zu tun hatte. Sie holten einen Sanitäter, der O’Connors Hände ordentlich verband, gaben ihm ein Glas Wasser zu trinken und begannen, ihn mit Fragen zu bombardieren.

»Wo ist Martin Mahder? Was hat er–«

»Wo steht dieser Laser?«

»Woher hatten Sie Kenntnis von der Position der Spiegel? Wie konnten Sie so genau–«

»Kannten Sie Mahder schon vorher?«

»Woher wussten Sie–«

O’Connor hörte nicht hin. Nachdem er gesehen hatte, wie Clinton wohlbehalten seine Limousine bestiegen hatte und darin abgerauscht war, fand er zu alter Gelassenheit zurück. Am liebsten hätte er jetzt einen Macallan getrunken, hübsch ordentlich mit einem Spritzer Quellwasser versetzt und zimmertemperiert kredenzt, und außerdem wünschte er, dass Kika bei ihm wäre. Er hob die bandagierten Hände und schickte einen hilfesuchenden Blick zu Lavallier.

»Monsieur le Commissaire, dieses Interview wird in babylonischer Verwirrung enden. Ich schlage vor, Sie lassen mich einfach reden.«

»Das ist es, worum wir Sie bitten«, sagte Lavallier.

»Ja, aber Sie tun es alle zur gleichen Zeit, und jeder von Ihnen hat seine eigene Vorstellung davon, wie man ›bitte‹ sagt. Bevor wir über irgendetwas sprechen, lege ich Wert auf die Feststellung…«

»Uns interessiert im Wesentlichen, ob noch eine Gefahr für den Präsidenten besteht«, sagte Lex dazwischen.

»…eben diesem Präsidenten das Leben gerettet zu haben«, endete O’Connor und sah in die Runde.

Einen Moment lang war es still. Lavallier breitete die Hände aus.

»Gut, wir sind Ihnen alle sehr dankbar. Sie sind ein Held. Wir haben ein paar Spiegel zerdeppert, ohne zu wissen, ob es diesen Laser, von dem Sie reden, überhaupt gibt. Also – was macht Sie so sicher?«

O’Connor nippte an seinem Wasser. Seltsamerweise fühlte er kaum Schmerz in seinen zerschnittenen Händen.

»Die Tatsache, dass ich bisher in allen Punkten Recht hatte.«

»Wie müssen wir uns diesen Laser vorstellen?«

»Ein Neodym-YAG ist ein Festkörperlaser«, sagte O’Connor. »Festkörper steht für das Medium, in dem sich die Lichtwellen aufschaukeln, das heißt… ach, egal. Kommen wir lieber–«

»Glas oder Kristall mit beigemischten Atomen«, ergänzte Lex ungerührt. »Derartige Laser gibt es in allen Größen. Wie groß schätzen Sie unseren?«

»Festkörperlaser werden durch Lichtquellen angeregt«, erläuterte O’Connor, um den Sicherheitsmann auf seinen Platz zu verweisen. »Dabei geht Wärme verloren. Sie setzen kaum fünf Prozent der einfallenden Energie in Licht um. Bei 2 kW Ausgangsleistung brauchen Sie eine elektrische Anschlussleistung von 80 kW, und hier dürften wir es mit mindestens 4 bis 5 kW Ausgangsleistung zu tun haben. Allein die Akkus dürften Tonnen wiegen. Kühlaggregate, Umlaufpumpen, Steuergeräte – selbst wenn sie den YAG mit Diodenlasern gepumpt haben, wird er immer noch von beachtlicher Größe sein, wenn der Impuls einen Menschen töten soll.«

»Ich verstehe nur Bahnhof«, sagte der Verkehrsleiter mit einem Blick auf Lex. »Hat er die Frage nun beantwortet oder nicht?«

»Hat er«, sagte der Amerikaner. »Wir müssen nach einem Kasten von zehn Metern Länge oder mehr suchen.«

»Und zwar im Umkreis einiger Kilometer«, ergänzte O’Connor.

»Dr. O’Connor«, sagte Brauer, »mir ist eines noch nicht klar. Unsere Leute sind dabei, die zerstörten Spiegel zu untersuchen. Der eine war starr, aber der andere war verbunden mit etwas, das auf den ersten Blick einem Kameraobjektiv zu ähneln scheint…«

»Ja, das macht Sinn«, nickte O’Connor. »Wir haben im Institut bereits mit ähnlichen Aufbauten gearbeitet. Sie werden feststellen, dass die Spiegel beidseitig transparent sind wie Klarglas. Spiegel heißt in diesem Fall nicht, dass Sie sich drin spiegeln können. Die Oberflächen sind auf eine spezielle Art bedampft, wir nennen das dielektrische Vielfachbeschichtung. Sie sollen einzig die Laserwellenlänge reflektieren. Für normales Licht sind sie durchlässig, weshalb sie problemlos ein Objektiv dahinter installieren können.«

»Aber wozu dient das Objektiv?«

»Ist das nicht offensichtlich?«

»Ich fürchte«, seufzte Brauer geduldig, »Sie werden es uns erklären müssen.«

O’Connor stürzte den Rest seines Wassers herunter und stellte das Glas auf den Tisch.

»Ich darf um Nachfüllung bitten. Das Objektiv übermittelt ein Bild, Herrschaften. Irgendwohin, wo es jemand empfangen kann. Ich vermute, in diesem Fall haben wir es mit einer Doppelfunktion zu tun. Bildübertragung und Zielfernrohr in einem.« Er lehnte sich zufrieden zurück. Die Sache begann ihm plötzlich Spaß zu machen. »Ja, Sie werden genau das feststellen. Das Objektiv ist der Zielmechanismus.«

»Ferngesteuert?«

»Natürlich. Über Radiowellen, schätze ich. Infrarot bietet sich auf solchen Distanzen nicht an.«

»Also hat das Objektiv ein Bild gesendet«, sagte Brauer gedehnt. »Wo ist dann aber der Schütze?«

O’Connor suchte nach einer Antwort. Die Frage war schwierig. Er kannte den Aufbau von Festkörperlasern in- und auswendig. Ein Todesschütze kam darin im Allgemeinen nicht vor.

»Wenn das Ding ferngesteuert war«, sinnierte Lavallier mit zusammengezogenen Brauen, »kann der Schütze ein ganzes Stück weit weg gestanden haben, nicht wahr?«

»Er könnte das Signal auf einem Laptop empfangen haben«, schlug der stellvertretende Verkehrsleiter vor. »Dort, wo auch der Laser steht.«

Nein, dachte O’Connor, das macht keinen Sinn. So wie Lavallier den Ablauf der Ereignisse geschildert hatte, bevor sie in den Container gegangen waren, hatten sich die Spiegel erst in letzter Sekunde gezeigt. Sie waren aus dem Nichts aufgetaucht, was bedeutete, dass Clohessy, Pecek oder Mahder sie getarnt hatten. So, dass sie erst zum Vorschein kamen, wenn der Präsident die Air Force One verließ. Als Folge hatte das Objektiv im Verborgenen kein Bild übermitteln können. Der Schütze musste sich in Sichtweite der Maschine befunden haben, um zu sehen, was geschah. Im entscheidenden Augenblick hatte er die Spiegel aus ihren Verstecken befreit und sofort geschossen.

Womit hatte er geschossen? Wie konnte er den Präsidenten so genau ins Visier nehmen?

Und wenn es das Visier einer Kamera war?

Nur eine Personengruppe hatte die Möglichkeit gehabt, mit dem entsprechenden Equipment nah genug an die Air Force One heranzukommen, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.

»Die Journalisten«, sagte O’Connor.

JANA

Alles an der Situation war zutiefst deprimierend.

Ein halbes Jahr lang hatten sie an dem System gefeilt. Sie hatten es immer wieder getestet. Mehrmals hatten sie den YAG in den Hof gefahren, die Klappen am Gestänge der Lärmschutzhalle und am Entlüftungsrohr des UPS-Gebäudes geöffnet und den Testimpuls ausgesandt, um feinste Korrekturen vornehmen zu können. Selbst

Gruschkow hatte sein Erstaunen nicht verbergen können, dass es so reibungslos funktionierte.

Und nun das.

Technisches Versagen war ausgeschlossen.

Die Tatsache, dass die Journalisten zusammengedrängt in den Zelten darauf warteten, einzeln überprüft zu werden, bevor sie das Gelände verlassen durften, ließ keine andere Deutung zu, als dass O’Connor sie geschlagen hatte.

Schwerer noch als das heutige Versagen wog die Tatsache, dass mit der Zerstörung des Systems auch die zweite Chance dahin war. Sie hatten gewusst, dass es Schwierigkeiten geben konnte. Dass der Lichtimpuls bei starkem Regen nicht durchkommen würde. Aber solange niemand etwas von dem YAG ahnte, wäre niemand auf die Idee gekommen, nach Spiegeln zu suchen. Sie hätten es am Tag von Clintons Abreise ein weiteres Mal versucht. Auf demselben Vorfeld, mit Hillary an seiner Seite. Zweimal Juniregen war sogar im wechselhaften Rheinland unwahrscheinlich. Spätestens beim zweiten Mal hätte es funktioniert.

Aber sie waren aufgeflogen. Die Operation »LAUTLOS« war geplatzt.

Jana fragte sich nicht, was aus Mahder oder Pecek geworden war. Alles, was noch zählte, war, hier wegzukommen und sich schnellstmöglich abzusetzen.

Die Journalisten um sie herum tranken Mineralwasser oder Cola und unterhielten sich. Wer rausgewunken wurde und die Kontrolle überstanden hatte, durfte entweder zurück zur Absperrung gehen, um die Ankunft des japanischen Premiers zu erleben, dessen Maschine in diesen Minuten einrollte, oder den Bereich verlassen.

Sie dachte an die Summen auf ihren Schweizer Konten. Wenigstens ein Teil des Geldes war ihr sicher. Auch ohne die restlichen Millionen, die das Trojanische Pferd ihr jetzt natürlich nicht mehr zahlen würde, besaß sie immer noch mehr als genug, um irgendwo ein neues Leben zu beginnen.

Vorausgesetzt, Mirko und seine Hintermänner ließen das Desaster mit Paddy als höhere Gewalt durchgehen. Falls das Regime in Belgrad die Fäden zog, konnte ihr durchaus blühen, dass man das bereits gezahlte Geld zurückverlangen würde. Milosevic hatte schon manch einen über die Klinge springen lassen, um nicht bezahlen zu müssen.

Aber sie würden es nicht bekommen.

Ricardo hatte ein teuflisch ausgeklügeltes System erdacht, um Geld aus Transfers wie diesem in einem Labyrinth Potemkin’scher Bankverbindungen verschwinden zu lassen. Ein Rücktransfer war unmöglich. Wenn sie es wiederhaben wollten, müssten sie schon Jana in die Finger bekommen.

Und Jana würde sehr bald aufhören zu existieren.

So niederschmetternd das Ergebnis war, auch diesen Fall hatte sie mit einkalkuliert. Vielleicht nicht exakt in der Art, wie es gelaufen war. Aber so, dass sie unbehelligt das Land verlassen konnte.

Sie musste lediglich hier raus. Dann in die Spedition, wieder Laura Firidolfi werden und am folgenden Morgen abreisen. Niemand verdächtigte Laura Fridolfi. Niemand würde je auf den Gedanken kommen, es zu tun. Und selbst wenn, würde sich die Spur der italienischen Geschäftsfrau im Nichts verlieren. Lauras Existenz würde im Laufe der nächsten vierundzwanzig Stunden aus der Weltgeschichte getilgt werden.

Fürs Erste musste sie weiterhin Cordula Malik sein.

Sie gähnte ostentativ, nuckelte an ihrer Cola und begann ein Gespräch mit einem Journalisten des Kölner Stadt-Anzeigers. Eine halbe Stunde war vergangen, seit die Polizei den Pressebereich zugemacht hatte. Vor ihr lag ein ganzes Leben.

Sie konnte warten.

FEUERWEHRCONTAINER

Lavallier sah ihn an. Sein Blick verriet, dass er sofort begriffen hatte, was O’Connor meinte.

»Die Journalisten«, wiederholte er.

»Ganz klar.«

»Sie glauben, die Spiegel sind durch eine Kamera am Boden gesteuert worden?«

O’Connor beugte sich vor.

»Das ganze System ist so gesteuert worden. Ein Journalist konnte alles sehen. Wenn er das Spiegelobjektiv über eine umgebaute Kamera bedient hat, war nahezu alles möglich. Er konnte Clinton in aller Ruhe ins Visier nehmen und abdrücken. Für die Zündung des Lasers spielt die Entfernung keine Rolle.«

»Alle Journalisten waren aber doch akkreditiert«, sagte Brauer hilflos.

»Na und?« Lavallier blickte finster drein. »Sie hatten Plastikkärtchen um den Hals hängen mit ihrem beschissenen Foto drauf. Wir haben einen Blick darauf geworfen und es mit den Bildern auf der Liste verglichen, das war alles.«

»Klingt professionell«, sagte O’Connor. »Untersuchen Sie vor allen Dingen die Kameras. Ein paar elektronische Komponenten, die da nicht reingehören, und Sie haben ihn.«

»Das tun wir ja schon alles«, sagte Lavallier gereizt. »Die Überprüfung ist in vollem Gange. Wir haben einen Experten für Kameratechnik mit rausgeschickt, Computercheck, der ganze Zinnober. Aber ich fürchte, es wird nichts bringen.«

»Warum?«

»Wenn dieser Anschlag wirklich stattgefunden hätte, wäre das Gleiche passiert. Wir hätten die Journalisten auseinander genommen wie die Weihnachtsgänse. Unser Freund muss seine Vorkehrungen getroffen haben. Wenn er unter den Journalisten zu suchen ist, wird er uns trotzdem durch die Lappen gehen.«

»Könnte nicht Mahder der Schütze gewesen sein?«, sinnierte Brauer.

»Mahder ist kein Journalist«, wandte der Verkehrsleiter ein.

»Nein, aber er muss ja nicht auf dem Vorfeld gestanden haben. Sichtweite reicht.«

Lavallier schüttelte den Kopf. »Wenn irgendwo jemand mit einer Kamera herumgestanden hätte, wäre uns das komisch vorgekommen. Falls es Mahder war, muss er es anders angefangen haben. Aber ich glaube nicht mal das. Nach dem missglückten Mordversuch an O’Connor dürfte ihm klar gewesen sein, dass er aufgeflogen ist. Das war lange bevor Clinton die Maschine verließ. Die Fahndung nach Mahder läuft auf Hochtouren. Glauben Sie im Ernst, er wäre eine Minute länger am Flughafen geblieben als absolut notwendig?« Er machte eine Pause und sah sie skeptisch der Reihe nach an. »Überhaupt, jemand wie Mahder! Er soll der Mann sein, der Clinton erschießt?«

»Gute Killer tarnen sich auch gut«, bemerkte Lex. »Krüppel, Bettler, senile Greise, alles schon da gewesen.«

»Schön, spielen wir’s durch. Mahder, Clohessy und Pecek. Hätte Clohessy einen solchen Laser bauen können?«

»Er musste ihn nicht bauen«, sagte O’Connor. »Es gibt ja welche. Vielleicht haben sie ihn einfach ins Land geschmuggelt. Fakt ist, dass Clohessy zu allen Zeiten eine arge Schlampe war. Desorganisiert und auf wirkliche Führungspersönlichkeiten angewiesen. Paddy hätte das nie auf eigene Faust durchgezogen.«

»Es ist immer noch nicht sicher, ob überhaupt ein Schuss abgefeuert wurde«, sagte Brauer. »Ich meine, vielleicht war Mahder ja als Schütze vorgesehen, aber dann musste er untertauchen und–«

»Vergessen Sie endlich Mahder, die Spiegel sind ausgefahren im Moment, als Clinton erschien«, erwiderte Lavallier entschieden. »Jemand hat zumindest schießen wollen! Ich stimme Dr. O‘Connor zu. Wir müssen uns auf die Journalisten konzentrieren.«

Einen Moment lang herrschte unbehagliches Schweigen.

»Ich möchte darauf zurückkommen«, sagte Lex zu O’Connor, »ob Sie noch eine Gefahr für unseren Präsidenten sehen.«

O’Connor zuckte die Achseln.

»Wenn die Spiegel zerstört sind – nein.«

»Die Spiegel am Flughafen wurden zerstört.« Lex lächelte höflich. »Sie sind mehr als ich der Experte, Dr. O’Connor. Wie weit kann der YAG maximal von uns entfernt sein?«

O’Connor überlegte.

»Das Äußerste der Gefühle sind zehn Kilometer. Aber ich schätze, sie haben nicht so viel riskiert. Im Umkreis von bis zu fünf, sechs Kilometern sollten Sie fündig werden.«

»Dann könnte er auch woandershin schießen, nicht wahr? Zum Beispiel in die Innenstadt.«

Einen Moment lang herrschte atemlose Stille.

»Ganz richtig«, sagte O’Connor langsam.

»Gesteuert von einem Attentäter, der uns, wie Herr Lavallier zutreffend bemerkt hat, gerade durch die Lappen geht.«

Lavallier sprang auf. »Das reicht. Alles andere wird zurückgestellt. Wir müssen das Ding aufstöbern, und zwar schnell. Los, O’Connor, tun Sie was für Ihren unverhofften Ruhm. Worauf haben wir zu achten?«

»Hohe Punkte«, sagte O’Connor. »Erhebungen.«

»Wie hoch? Wie sehen die aus?«

»Unmöglich zu beurteilen von hier unten, Monsieur le Commis- saire. Bedauerlicherweise kenne ich Ihre schöne Stadt vornehmlich aus der Perspektive einer Theke.«

Lavallier grinste ihn an.

»Das ist ja fein. Dann freut es mich, Ihnen zu einem touristischen Highlight verhelfen zu können.«

HYATT

»Er ist in Kalk!«

Vor dem Hyatt standen sich seit über einer Stunde Hunderte Schaulustiger und Journalisten die Beine in den Bauch. Einige hörten den Polizeifunk ab. Jetzt schwenkte einer sein Handy, über das er soeben die Botschaft empfangen hatte. Bewegung kam in die Menge. Sie hatten geduldig auf den Präsidenten gewartet, aber jetzt wurde es auch Zeit, dass er tatsächlich kam. Wenn er in Kalk war, konnte es sich nur noch um Minuten handeln.

Wie immer war es ein Vabanquespiel mit Ereignissen dieser Art. Nie wusste man so recht, ob es die Mühe wert war, sich herzubegeben und auszuharren, sich angestellt zu haben, um die Poolkarte zu ergattern. Mal wurde es ein journalistisches Eldorado, mal ein Reinfall. Mal nahm sich die Prominenz Zeit, dann wieder ließ sie sich gar nicht erst blicken. Die meisten der Anwesenden hatten schon über Handy erfahren, dass die Landung weniger hergegeben hatte als erhofft und dass sich die Journalisten am Flughafen zu allem Überfluss einer nicht angekündigten Überprüfung unterziehen mussten. Kein Winken des Präsidenten, kein Wort an die Presse. So war es nun mal. Wer sich der Illusion hingab, der Beruf des Berichterstatters sei es, Bericht zu erstatten, musste sich belehren lassen, dass der größte Teil davon aus Warten bestand und sich das Objekt der Begierde allzu oft als Godot erwies. Und dennoch – immer wieder postierte man sich aufs Neue an den Orten der Verheißung, samt Equipment, wartete und hoffte und hoffte und wartete.

Das Gelände war von allen Seiten durch Polizei abgesichert. Auf dem Dach des Landschaftsverbands kauerten Scharfschützen hinter Sandsäcken mit Ferngläsern und Präzisionsgewehren. Boote der Wasserschutzpolizei und kleinere Spezialboote mit vermummten Tauchern an Bord patrouillierten auf dem Rhein.

Hoffen und warten.

Zuerst hörten sie den Hubschrauber. Er näherte sich aus südöstlicher Richtung, drehte eine Runde über dem Hotel und knatterte weiter auf den Rhein hinaus. Die ersten Fotoapparate wurden gezückt, Filmkameras in Bereitschaft gebracht, Mikrofone auf Teleskopstangen vorgestreckt.

Dann ging alles blitzschnell.

Polizeiwagen unter Blaulicht, drei schwarze Stretchlimousinen mit verdunkelten Scheiben und weitere Kolonnenfahrzeuge kamen in schneller Fahrt heran, nahmen rasant die Kurven und bogen in hohem Tempo um die letzte Ecke vor der Auffahrt.

Es wurde ein Reinfall.

Die Limousinen verschwanden ohne anzuhalten in der Tiefgarage des Hyatt, derart schnell, dass es unmöglich war zu sagen, in welcher der Präsident überhaupt saß. Die anderen Wagen stoppten vor dem Haupteingang. Jede Menge Leute entstiegen den gepanzerten Vans und Geländewagen und gingen ins Innere.

Als klar war, dass man den Präsidenten hier nicht mehr zu Gesicht bekommen würde, wurden halbherzig ein paar Fotos geschossen und einige nichts sagende Sequenzen aufgenommen, in denen Mitarbeiter des Secret Service und des FBI von hier nach da gingen.

Clinton war ihnen entgangen. Vielleicht würde er ihnen morgen gnädiger sein. Zu einer anderen Zeit an einem anderen Ort, nach neuerlichem Warten und Hoffen, Hoffen und Warten.

Schon auf der Zufahrt zur Tiefgarage verlangsamten die Limousinen ihre Fahrt und glitten gemächlicher dahin. Guterson hatte die Zeit vom Flughafen hierher mit Telefonieren verbracht. Mittlerweile wusste er eine ganze Menge mehr, und was er wusste, erfüllte ihn nicht mit Freude.

Ein Laserattentat.

Gott und alle Gerechten! Sie hatten versucht, Clinton mit einem Laser umzubringen.

Die Lincolns wurden langsamer und stoppten. Guterson stieg aus und sah zu, wie dienstbare Geister Clinton den Schlag öffneten. Ein roter Teppich war ausgerollt worden. Von den Aufzügen, die ins Innere des Hotels führten, näherte sich eine Hand voll Menschen. Der Präsident kam zum Vorschein, die Herzlichkeit selbst. Keine Spur mehr von Übellaunigkeit. Guterson hoffte, dass sich Clintons Laune tatsächlich gebessert hatte und nicht nur auf der Oberfläche seines Gesichts. Im Geiste rekapitulierte er, wem Mr. President gerade die Hand schüttelte: Erstens Nadja Horst, Verkaufsdirektorin des Hyatt. Zweitens Jan Peter van der Ree, Hoteldirektor. Die anderen waren Beiwerk, unwichtig für den Augenblick. Aber natürlich waren auch sie einer dezidierten Prüfung unterzogen worden. Wer immer in diesem Hotel Dienst tat und auch nur im Entferntesten mit der Anwesenheit des Präsidenten zu tun hatte, war von Carl Seamus Drake, dem Abteilungsleiter Sicherheit für den Bereich Wohnen, dermaßen unter die Lupe des Secret Service genommen worden, dass ein Röntgenapparat dagegen ein Topf trüber Suppe war.

Aus der dritten Limousine gesellten sich Botschafter Kornblum und seine Frau hinzu. Clinton plauderte angeregt mit seinen Gastgebern. Getränke wurden gereicht. Gemeinsam gingen sie zu den Aufzügen. Van der Ree erkundigte sich nach Hillary und Chelsea. Clinton erwiderte, sie würden wie geplant in zwei Tagen aus Palermo eintreffen, und er freue sich darauf, sie wiederzusehen. Wohlklingende Worte über das Wesen der Familie wurden gewechselt. Guterson beorderte drei Männer zu sich, dann fuhren sie mit dem Präsidenten in den sechsten Stock. Clinton hieß ihn mit in seine Suite kommen, schloss hinter Guterson die Tür und nahm einen Schluck von seiner Cola light.

»Also«, sagte er.

Guterson sah aus dem Augenwinkel den gigantischen Strauß champagnerfarbener Rosen, den das Hyatt für seinen Gast bereitgestellt hatte. Die Suite sah phantastisch aus. Nichts erinnerte daran, dass sie ausgebrannt war und die Instandsetzung seinen Leuten zusätzliche Sorgen bereitet hatte.

»Mr. President«, sagte er langsam, »wie es sich im Augenblick darstellt, hat man auf dem Flughafen versucht, Sie mit einer… ähem… Laserwaffe anzugreifen.«

Clinton starrte ihn an.

»Das ist ja mal was ganz Neues«, sagte er.

Tatsächlich war es nicht das erste Mal, dass der Secret Service Clinton vor einem Anschlag bewahrt hatte, aber derlei drang für gewöhnlich nicht in die Presse. Wer sich schlau machte, konnte bei der CIA ein paar Daten abrufen – rund achttausend potentielle Clinton-Attentäter allein in den Staaten waren den Sicherheitsorganen namentlich bekannt. Dass einige es bereits versucht hatten und gescheitert waren, andere darüber ihr Leben verloren hatten, fand Einzug in geheime Akten. Man wollte keine Atmosphäre der Verunsicherung schaffen. Bill Clinton hatte sich angewöhnt, unkompliziert mit dem fortwährenden Risiko umzugehen, das ihm vor allem aus den Reihen der weißen Suprematisten und fundamentalistischen Milizen drohte. Rechtslastige Homepages im Internet brachten unverhüllte Aufrufe zum Präsidentenmord, und immer wieder fühlten sich Hitzköpfe dazu bemüßigt, schlecht geplante Angriffe durchzuführen. Das meiste flog auf, bevor es überhaupt den Status der Praktikabilität erreicht hatte.

Guterson erläuterte dem Präsidenten in kurzen Zügen, was Lex ihm berichtet hatte.

»Dubios«, sagte Clinton schließlich. »Aber es gibt keinen wirklichen Beweis dafür, dass der Anschlag mir gegolten hat.«

»Wir geben uns keinen Illusionen hin«, erwiderte Guterson. »Eher könnten wir uns fragen, ob an der ganzen Geschichte überhaupt was dran ist. Sie haben ein paar Spiegel gefunden, na schön. Lex meinte, es gäbe einen Mann, der ihnen den Floh ins Ohr gesetzt hat. Im Augenblick vertrauen sie im Wesentlichen seinen Aussagen, und er scheint Recht zu behalten. Andererseits deutet vieles darauf hin, dass Mitglieder der IRA involviert sind. Das klingt, falls es diesen Laser tatsächlich gibt, eigentlich eher, als hätten sie Tony Blair ans Leder gewollt.«

»Hm.« Clinton begann, im Raum auf und ab zu wandern.

»Wir können die Sicherheit verstärken«, sagte Guterson. »Und das tun wir auch. Wenn Sie meine Empfehlung hören wollen, nehmen Sie ein Essen im Hyatt ein und gehen Sie schlafen.«

»Ihre Empfehlung in allen Ehren«, sagte Clinton. »Aber glauben Sie im Ernst, wenn ich heute Abend in einem dieser Brauhäuser auftauche, werden sie mit einer Laserkanone in der Küche auf mich warten?«

Guterson seufzte.

»Nein. Natürlich nicht.«

Das Dumme war, dass Clinton Recht hatte. Im Grunde waren Orte wie die Malzmühle oder das Küppers Brauhaus sicherer als jeder andere Platz.

»Der Hoteldirektor hat mir übrigens gerade was Interessantes erzählt«, grinste Clinton. »Gleich hier in der Nähe muss es eine Kneipe geben, in der sie Koteletts dick wie Bibeln servieren. Lommetsman oder so ähnlich.«

»Nie gehört«, sagte Guterson, geplagt von bösen Vorahnungen. »Haben wir garantiert nicht gecheckt.«

»Dann tun Sie’s jetzt. Mein Gott, Norman, machen Sie kein Gesicht! Sie können doch mal fragen, oder?«

»Das ist unklug. Wir wissen nicht–«

»Wenn der Laden voll ist, hocken sie sich auf Kisten und legen Telefonbücher drauf«, kicherte Clinton. »Als Kissen. Und das Bier muss großartig sein. Van der Ree sagt, es sei das beste.«

»Wir kümmern uns drum«, versprach Guterson.

Clinton wurde augenblicklich wieder ernst.

»Kümmern Sie sich vor allem um diese Attentatsgeschichte, Norman. Keine Pannen.«

»Bestimmt nicht.«

»Meine Familie trifft übermorgen ein. Ich will keinerlei Risiken eingehen.«

»Nichts wird geschehen, Mr. President.«

Das Telefon klingelte. Guterson wollte zum Apparat eilen, aber Clinton hielt ihn zurück und ging selbst ran.

»Ah, guten Abend!«, sagte er. »Ja, danke… Ja, ich warte…«

Guterson wandte sich ab und ging nach draußen.

»Herr Bundeskanzler«, hörte er noch. »Besten Dank, ich bin gut angekommen. Traumhaftes Hotel, alles ausgesprochen nette Leute. Ich liebe die Stadt jetzt schon. Wie bitte? Nein, keine Probleme, überhaupt nicht… Bis auf eines vielleicht .«

HYATT. SECRET SERVICE HEADQUARTER

»Mr. Carl Seamus Drake?«

»Am Apparat.«

»Colonel Graham Lex für Sie, Sir. Ich verbinde.«

Drake stand am Fenster der Hotelsuite im sechsten Stock, die zur Zentrale des Secret Service, Bereichsleitung Wohnen, umfunktioniert worden war, und sah hinaus auf den Rhein. Er hatte gewusst, dass der Anruf kommen würde. Er hatte ihn regelrecht herbeigesehnt, nachdem Norman Guterson ihn vor einer halben Stunde telefonisch über die Vorkommnisse am Flughafen informiert hatte. Der Sicherheitschef hatte aus der fahrenden Kolonne angerufen, im Moment, als Clintons Tross den Köln-Bonn Airport verließ, und Drake hatte augenblicklich Anweisung gegeben, die Sicherheitskräfte im und um das Hotel herum zu verstärken.

Wie immer bei derartigen Anlässen war der Secret Service mit erheblich mehr Personal angereist, als für den routinemäßigen Ablauf des Staatsbesuchs vonnöten war, damit die Bereichsleiter notfalls auf umfangreiche Reserven zurückgreifen konnten. Guterson war keineswegs sicher gewesen, ob es sich tatsächlich um einen Notfall handelte. Ungeachtet dessen hatte er durchblicken lassen, dass der Präsident auf seinem Besuch in der Malzmühle insistierte, so schmackhaft die Steaks im Hyatt auch sein mochten. Also war Drake seiner Pflicht und Schuldigkeit nachgekommen und hatte sich mit Pete Nesbit kurzgeschlossen, der den Bereich Innenstadt leitete. Nesbit war bereits auf demselben Kenntnisstand gewesen und hatte die Zahl der Secret-Service-Leute in den Brauereien drastisch erhöht, während Drake dafür Sorge trug, dass auf dem Weg vom Hotel bis zur Brauerei nichts schief gehen konnte. Noch war nicht sicher, in welchen der Läden Clinton gehen würde.

Er schätzte, dass auch das BKA seine Kontingente erhöht hatte. Aus allen Teilen Deutschlands waren die SEKs der Polizei zusammengezogen worden. Drake wusste, dass die Kathedrale auf der anderen Seite des Rheins von Scharfschützen regelrecht befallen war. Sie hingen zu Dutzenden in den Winkeln, Bögen und Gesimsen, auf Gerüsten und Türmchen. Inzwischen dürfte sich ihre Zahl noch erhöht haben. Gleiches galt für die Eisenbahnbrücke. Sogar die Möglichkeit, dass jemand aus einem fahrenden Zug mit einer Panzerfaust auf Clintons Suite schoss, hatten sie mit einkalkuliert.

Im Grunde gab es nichts, womit der Secret Service hypothetisch nicht rechnete. Oblag der CIA im weitesten Sinne die Sicherheit des Landes, verantwortete der Secret Service das Wohlergehen der Präsidentenfamilie und des engsten Regierungsstabes. Eine erstaunliche Entwicklung für eine Behörde, die vor einhundertfünfunddreißig Jahren mit dem eigentlichen Zweck gegründet worden war, dem Umlauf von Falschgeld entgegenzuwirken. Erst 1901, nach der Ermordung von Präsident William McKinley, hatte der Kongress die Kompetenzen des Secret Service erweitert. Seitdem war die Verantwortung der Behörde in gleichem Maße gewachsen wie der Erfindungsreichtum potentieller Attentäter. Jeden nur erdenklichen Verlauf eines Präsidentenbesuchs als Planspiel durchzuexerzieren, stellte den Secret Service im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert vor eine fast unlösbare Aufgabe. Den Unwägbarkeiten begegnete man darum mit größtmöglicher Risikominimierung.

So spielte es an diesem Abend keine Rolle, woher der Hinweis auf ein Attentat kam. Die Sicherheit des Präsidenten war unteilbar, weil der Präsident unteilbar war. Wenn er sich nach B begab, weil A als kritisch eingestuft worden war, galt automatisch auch B als kritische Zone.

Drei Bereichsleiter waren sie insgesamt in Köln, Lex, Drake und Nesbit, sämtlich einem Supervisor unterstellt, der für den Besuch als Ganzes verantwortlich zeichnete. Sie genossen alle erdenklichen Freiheiten und konnten nach eigenem Gutdünken Sicherheitskräfte aufstocken oder abziehen, aber wenn einer von ihnen einen Verdacht meldete, galt er automatisch für alle drei. Wer versucht hatte, Clinton am Flughafen zu attackieren, würde es womöglich auch in der Innenstadt versuchen oder im Hotel. Es war unwichtig, ob es sich wirklich so verhielt. Clintons Aufenthalt in Köln unterlag von nun an verschärften Sicherheitsbedingungen.

Drake trat vom Fenster weg und setzte sich auf die Kante eines

Schreibtischs. Der Raum war durchdrungen vom leisen Summen der Computer. Mehrere Special Agents telefonierten auf anderen Leitungen. Über ein Observierungsflugzeug, das unablässig in zehntausend Metern Höhe über Köln kreiste, standen sie in ständigem Kontakt mit Washington.

»Was ist denn los bei euch da draußen?«, sagte Drake zu Lex.

»Wenn wir das so genau wüssten«, ließ sich Lex im Hörer vernehmen. »Es klingt aberwitzig, aber du weißt ja, was von aberwitzigen Sachen zu halten ist. Wie es aussieht, haben irgendwelche Irren versucht, Clinton mit einem Laser zu attackieren.«

»Einem Laser?«, echote Drake.

Lex begann ausführlich zu berichten, was er wusste. Es war eine ganze Menge, wie Drake befriedigt feststellte. Mehr als genug, um ihm Gelegenheit zum Handeln zu geben.

»Und das Ding, dieser YAG«, hakte er nach, »ist hier in Köln?«

»So sieht es aus«, sagte Lex. »Oder im Umland. Dieser irische Doktor erwähnte einen Radius von fünf bis sechs Kilometern. Er befindet sich im Augenblick mit Lavallier in der Luft .«

»Wer ist Lavallier?«

»Nicht dein Ressort. Flughafenpolizei.«

»Das ist sehr bedenklich«, sagte Drake. »Solange dieser Laser nicht gefunden wird, steht die Sicherheit des Präsidenten nach wie vor auf dem Spiel.«

»Die Suche läuft.«

»Wie sollen sie diesen YAG finden in einer Großstadt?«

»Oh, sie haben eine Menge Polizei aufgeboten. Das Biest dürfte an die zehn Meter lang sein. Es muss sich in unmittelbarer Nähe eines sehr hohen Gebäudes oder einer anderen exorbitant hohen Erhebung befinden.«

»Warum das?«

»Weil der Impuls des Lasers von irgendwoher über das Land geleitet werden muss, ohne in Bäume oder Häuser zu krachen.«

»Verstehe«, sagte Drake nach einer Pause. »Ich denke, wir werden uns hier ein bisschen in die Ermittlungen einschalten. Vielleicht halten wir selbst mal Ausschau nach hohen Punkten.«

»Ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, Carl. Du kennst die Stadt nicht, und wahrscheinlich wäre das BKA wenig begeistert davon.«

»Ich war schon mal hier, als Attache in Bonn vor einigen Jahren. Ich kenne Köln ganz gut. Wir hatten einen Attentatsversuch auf Clinton, da interessiert es mich herzlich wenig, ob das BKA begeistert ist. Außerdem sollten sie es mittlerweile gewohnt sein, dass wir unsere eigenen Vorstellungen haben.«

»Mach, was du willst«, sagte Lex. »Er ist jetzt dein Präsident. Geh sorgfältig mit ihm um. Wo ist er übrigens?«

»Eben eingetroffen«, erwiderte Drake. »Habe ihm die Hand geschüttelt, da sah er sehr entspannt aus.«

»Ja, Clinton ist der Optimismus in Person. Will er immer noch in diese Brauerei?«

»Er wird überallhin gehen«, sagte Drake und versuchte, ein bisschen Resignation durchklingen zu lassen. »Wir werden ihn in Bodyguards verpacken. Ich habe alles veranlasst. Nichts wird passieren.«

»Gut. Wir halten euch auf dem Laufenden.«

Drake beendete das Gespräch und starrte vor sich hin.

Es war alles schief gegangen, was schief gehen konnte. Wenigstens würde er jetzt dafür sorgen, dass der letzte Teil des Plans reibungslos über die Bühne ging. Soeben hatte ihm Lex die Legitimation dafür erteilt.

Er wählte die Nummer eines Special Agents, der mit seiner Gruppe in einem Hotel in der Nähe untergebracht war und der Reserve angehörte.

»Es geht los«, sagte er und legte gleich wieder auf.

LAVALLIER

»Ich muss zugeben, dass ich ein gewaltiger Idiot bin«, sagte O’Connor.

Lavallier sah ihn schief an.

»Kommt es mir nur so vor, oder klingt selbst so etwas aus Ihrem Mund, als machten Sie sich Komplimente?«

Der Hubschrauber zog über die Autobahn in Richtung Rhein. Seit einer Viertelstunde kreisten sie über dem Umland des Flughafens. Die Sonne stand tief und tauchte die Vororte und die Heide in warme Farben, durchbrochen von langen Schatten. O’Connor wies auf eine Gruppe höherer Gebäude.

»Wohnbaracken in Porz-Eil«, sagte Lavallier.

»Näher ran«, sagte O’Connor.

Der Hubschrauber senkte die Nase ab und hielt auf die Häuser zu. Nach wenigen Sekunden winkte O’Connor ab.

»Zu niedrig.«

»Warum sind Sie denn ein Idiot?«, fragte Lavallier. »Ich hätte gern die historische Chance, es aus Ihrem Mund zu hören.«

Der Physiker zog eine Grimasse.

»Na ja, die Sache mit Mahder.«

»Ah!«

»Es war vielleicht nicht einer meiner luzidesten Momente. Ich meine, nur Mahder konnte wissen, dass ich hinter die Sache mit dem YAG gekommen war. Danach ging alles viel zu leicht. Ich hätte stutzig werden sollen, dass er mich so einfach auf Gerüste steigen ließ.«

»Sie hätten stutzig werden sollen, dass er nicht mit Ihnen auf die Wache oder gleich aufs Vorfeld gefahren ist«, sagte Lavallier streng. »Was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht, auf eigene Faust im T2 herumzuturnen? Als gäbe es nicht tausend Möglichkeiten, uns Bescheid zu geben!«

»Wollte ich ja«, verteidigte sich O’Connor.

»Nein, O’Connor!«, sagte Lavallier mit dünnem Lächeln. »Sie wollten Detektiv spielen, weil Sie uns für dämlich hielten. Stimmt’s?«

»Nur anfangs.«

»Wenn Pecek sich auf dem Dach nicht verraten hätte, lägen jetzt Sie da unten. Vom Zustand des Präsidenten will ich gar nicht erst reden.«

»Wäre ich nicht aufs Dach gestiegen, hätten Sie gar nicht erst erfahren, dass Mahder ein Verräter ist«, gab O’Connor ungerührt zurück. »Und mir wäre nicht klar geworden, dass Mahder gelogen hat, was Paddys Einsätze betraf. Bedeutsame Erkenntnisse über das UPS-Gebäude und die Lärmschutzhalle verdanken Sie mir, schon vergessen?«

»Wir haben die Lärmschutzhalle auch ohne Ihre freundliche Hilfe abgesucht«, sagte Lavallier.

»Gut. Patt. Was ist, schließen wir endlich Frieden?«

O’Connor streckte ihm die bandagierte Rechte hin. Lavallier zögerte, dann ergriff er behutsam die Hand des Physikers.

»Wir hatten eigentlich nie Krieg«, sagte er.

»Nein, aber es macht so viel Spaß, sich zu vertragen. Was ist das da?«

»Was meinen Sie?«

»Die Industrieanlage. Das ausgedehnte Gelände.«

»Die Shell-Raffinerie in Godorf«, sagte Lavallier skeptisch. »Aber das sind mindestens zehn Kilometer.«

»Und dahinten?«

»O’Connor, wo bleibt Ihr räumliches Vorstellungsvermögen? Das Lufthansa-Hochhaus ist noch viel weiter weg, der Messeturm ebenso. Als Nächstes kommen Sie mir noch mit dem Dom!«

O’Connor breitete die Hände aus, als wolle er deutlich machen, dass seine guten Gaben alle verteilt seien. Lavallier nagte an seiner Unterlippe. Sie hatten eine ganze Reihe hoher Gebäude in der Umgebung entdeckt, die in Frage kamen. Von einigen hätte man durchaus über die Wälder des Königsforsts hinwegschießen können. Andere wiederum lagen weit jenseits des Flughafens im Bergischen. Eine Fabrik, ein Kraftwerk, ein alter Wasserturm, Sendemasten. Zum Rhein hin verteilten sich mehrstöckige Wohnhäuser wahllos in den Ortsteilen von Porz.

Das Ergebnis ihrer Suche war nicht sonderlich ermutigend. Einige Kilometer weiter kreiste der zweite Hubschrauber. Sie standen miteinander in Funkverbindung und gaben sofort nach unten weiter, was ihnen wert schien, untersucht zu werden. Dennoch würden die Einheiten ewig brauchen, um den Laser zu finden. Falls sie ihn überhaupt fanden. Selbst der dritte Spiegel würde ihnen nur verraten, dass sie dem YAG näher gekommen waren, nicht aber, wo er sich befand.

Immerhin, damit ließ sich leben. Sofern sie alle Spiegel an erhöhten Positionen aufgespürt und zerstört hatten, war der YAG wertlos für die Terroristen.

Aber die Suche am Boden fiel ohnehin nicht mehr in Lavalliers Ressort. Mit dem Helikoptereinsatz hatte Lavallier die Grenzen seiner Befugnisse ausgeschöpft. Sein Revier war die Sicherung des Flughafens und der Politiker, die dort landeten.

Unablässig fragte er sich, wer hinter dem Anschlag stecken mochte. Ganz sicher nicht Martin Mahder. Im Licht der Ermittlungen entwickelte sich der Abteilungsleiter immer mehr zum klassischen Innentäter, der geschmiert worden war oder erpresst wurde. Zu Hause war er bislang nicht eingetroffen. Seine Frau hatte keine Angaben über seinen Verbleib machen können, wahrscheinlich, weil sie tatsächlich von allem nichts wusste. Bei der Gelegenheit war ihnen aufgefallen, dass Mahder ein bisschen feudal wohnte. Wahrscheinlich war er bestochen worden. Der typische Fall. Mahder besaß nicht das Format, eine solche Aktion zu planen. Weder er noch Clohessy oder Pecek.

Vor allem besaß keiner der drei ein Motiv, sah man davon ab, dass Clohessy schon vorher im Terrorismus aktiv gewesen war. Über Pecek hatten sie inzwischen immerhin herausgefunden, dass sein Vater aus Serbien stammte und ein Großteil seiner Familie dort lebte, aber das änderte nichts an den Ergebnissen der ersten Überprüfung. Peceks Lebenslauf blieb untadelig.

Immer vorausgesetzt, dass es überhaupt sein Lebenslauf war.

Und dann war da noch die Sache mit dem verschwundenen Lektor.

Für Lavallier bestand kein Zweifel daran, dass er den Terroristen entweder in die Hände oder zum Opfer gefallen war. Auch nach Kuhn liefen die Nachforschungen mittlerweile auf Hochtouren. Ein Gefühl sagte Lavallier, dass sie – sobald sie den Laser finden würden – auch den Lektor gefunden hätten, und die Vorstellung machte ihm auf unbestimmte Weise Angst.

Er beugte sich zu dem Piloten vor und tippte ihm auf die Schulter.

»Wir brechen ab«, sagte er.

Der Pilot nickte und ging in eine rasante Abwärtsschraube. O’Connor erbleichte und hielt sich unwillkürlich an Lavallier fest.

Das war ja wenigstens mal was!

»Höhenangst?«, fragte Lavallier in übertriebener Besorgnis. »Sie sind doch heute schon mal geflogen. Wenn auch nur drei Meter tief.«

»Der Magen«, japste O’Connor.

»Der Magen.« Lavallier konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Vielleicht sollten Sie auf festkörperreiche Nahrung umschwenken, mein Freund. Man steht so was dann besser durch.«

»Lavallier«, sagte O’Connor schwer atmend, während es weiter abwärts ging, »Sie haben den Sinn und Zweck des Genusses nicht verstanden. Er besteht darin, sich auf hohem Niveau zu ruinieren. Ich bin in dieser Disziplin der unangefochtene Meister. Wollen Sie es mit mir aufnehmen?«

Lavallier dachte darüber nach.

»Nein«, sagte er.

»Schade. Wir könnten viel Spaß dabei haben.«

»Offen gestanden, diese Art Genuss enthält mir irgendwie zu wenig Perspektive.«

»Oh Gott, Lavallier!«, stöhnte O’Connor. »Wie säuerlich! Solange man seinen Mangel an Perspektiven in Champagner ersäufen kann, gibt es keinen Grund, sich welche zuzulegen. Das heißt, ich muss mich korrigieren, eine Perspektive hätte ich anzubieten, falls der Ikarus am Steuerknüppel nicht endlich seinen Sturzflug beendet.«

»Und die wäre?«, fragte Lavallier amüsiert.

»Ihnen den Hubschrauber voll zu kotzen.«

Lavallier sah O’Connor unsicher an.

»Fliegen Sie ein bisschen schonender«, sagte er nach vorne.

Er hätte den impertinenten Doktor gern noch ein bisschen leiden sehen, auch wenn er Bill Clinton tausendmal das Leben gerettet hatte. Aber der Mann war bekanntlich zu allem fähig.

Außerdem begann er, O’Connor irgendwie zu mögen.

SPEDITION

Mahder schickte ängstliche Blicke über die Straße, aber niemand war zu sehen. Das kleine Industriegebiet, mehr eine Industrie-Straße, lag weitestgehend verlassen da. Gegen eine Umzäunung gedrückt, wartete er auf Jana.

Er wusste, dass sie irgendwann eintreffen musste, es sei denn, man hatte sie am Flughafen verhaftet. Aber das war unwahrscheinlich.

O’Connor mochte so ziemlich alles herausgefunden haben, von Jana konnte er unmöglich wissen. Selbst wenn er oder die Polizei zu dem Schluss gelangten, der Attentäter müsse unter den Fotografen zu suchen sein, würden sie bei ihr nichts finden.

Natürlich konnte sie dennoch verhaftet werden. Vielleicht hielt ihre falsche Identität den Überprüfungen nicht stand. Vielleicht hatten sie jemanden, der sich mit Kameras gut genug auskannte, um den winzigen Schlitz zu entdecken, durch den der Chip geschoben wurde.

Vielleicht, vielleicht.

Er wusste nicht einmal, ob das Attentat gelungen war, seit er überstürzt den Flughafen verlassen hatte. Zuerst war er zu einem kleinen Friedhof gefahren, der wenige Straßen von der Spedition entfernt lag, hatte den Wagen unter einen Baum gestellt und sich voller Angst in die Kapelle verkrochen, bis ihm das Warten unerträglich wurde. Er war kein Profi in solchen Dingen. Er wusste, dass man in Fällen wie diesem untertauchte, aber keineswegs, wie man das am besten anstellte, ohne erwischt zu werden.

Sie würden natürlich auch nach seinem Wagen suchen. Das war bitter! Den Wagen konnte er vergessen. Schließlich hatte er sich schweren Herzens entschieden, ihn unter den Bäumen stehen zu lassen. Er würde eben versuchen, sich in den Besitz eines Mietwagens zu bringen, sobald Jana oder Gruschkow ihm das Geld gegeben hatten.

Beim Heraushuschen aus der Kapelle war er sich vorgekommen wie der Hase auf der Flucht vor den Hunden. Er hatte sich im Schatten der Hauswände gehalten und sich wahrscheinlich so verdächtig bewegt, dass jeder Idiot stutzig werden musste. Beim Überqueren der Hauptstraße war ihm das Herz in die Hose gerutscht in Erwartung, plötzlich von Autos umstellt zu sein, aus denen Polizisten stürmten. Er hatte sich gefühlt wie gebrandmarkt. Sah nicht jeder, wer er war und was er getan hatte?

Aber niemand hatte ihn beachtet, war stehen geblieben und hatte mit dem Finger auf ihn gezeigt, und dann war er schon in der schmalen, ruhigen Straße mit den Zweckbauten gewesen, wo um diese Zeit nicht mehr gearbeitet wurde und niemand mehr unterwegs war.

Er sah hinüber zur Spedition auf der anderen Straßenseite. Hatte er zu viel Zeit in der Kapelle verbracht? Die Ungewissheit war schrecklich. Vielleicht war Jana schon längst eingetroffen und hatte sich mit Gruschkow abgesetzt. Was war dann mit dem Lektor, von dem er wusste, dass sie ihn drüben gefangen hielten? War auch er tot? Hatte dieser Mirko einen weiteren Menschen getötet?

Dann fiel ihm ein, dass Jana gesagt hatte, Mirko werde am Tag des Anschlags gar nicht mehr zugegen sein. Irgendwie bestätigte dies Mahders Verdacht, dass hinter dem Kommando eine andere Macht stehen musste. Sie hatten ihm so gut wie nichts erzählt, und er war klug genug gewesen, nicht zu fragen. Er wollte nichts wissen, was seinen Kopf kosten konnte. Er wollte auch nicht wissen, ob der verdammte Lektor tot war, aber um diese Erfahrung würde er kaum herumkommen.

Ein Geräusch mischte sich in seine Gedanken, wurde lauter. Ein gleichmäßiges Knattern, das rasch näher kam. Mahder hob den Kopf zum Himmel und erstarrte.

Ein Hubschrauber!

Er kam aus Richtung des Flughafens ziemlich dicht über den Häusern herangeflogen und schien geradewegs auf ihn zuzuhalten. Mahder erschrak zu Tode. Fluchtinstinkt überkam ihn. Aber sie würden ihn rennen sehen, würden womöglich auf ihn schießen. Zitternd blieb er an seinem Platz und heftete seinen Blick auf die Maschine. Deutlich war zu erkennen, dass es sich um einen Polizeihubschrauber handelte.

Sie suchten ihn.

Sein Magen krampfte sich zusammen vor Angst. Das Dröhnen brachte die Luft zum Erzittern. Einen Moment fürchtete er, der Helikopter werde direkt vor seinen Augen auf der Straße runtergehen, Scharfschützen würden herausstürzen, er würde die Hände heben, und sie würden es missverstehen und ihn erschießen. Er schloss die Augen und rang nach Luft.

Dann war der Hubschrauber über ihn hinweggezogen und entfernte sich. Das Knattern wurde leiser. Nach einer Weile war es erstorben.

Mit einem leisen Fluch setzte sich Mahder in Bewegung und lief über die Straße, während er das FROG hervorzog und Gruschkows Nummer wählte.

»Mahder hier«, sagte er, als der Russe sich mit neutralem »Da!« meldete, russisch für Ja.

»Nicht Namen«, sagte Gruschkow.

Der Glatzkopf sprach wenig Deutsch, anders als Jana oder Mirko, die beide eine Menge Sprachen beherrschten. Wenn Jana und Gruschkow sich miteinander unterhielten, geschah es im allgemeinen auf Italienisch, mit Mirko hatte sie serbisch gesprochen. Für Mahder machte es keinen Unterschied. Außer ein paar Brocken Englisch konnte er überhaupt keine Fremdsprachen.

»Schon gut«, zischte er in das FROG. »Wo sind Sie? Sind Sie in der Spedition?«

Gruschkow ließ ein kurzes Schweigen verstreichen.

»Wo Sie?«, fragte er.

»Hier draußen. Ist Jana schon eingetroffen?«

»Njet. Nicht Namen!«

Natürlich, sie hatten sich darauf geeinigt, während der kurzen Telefonate auf Namen zu verzichten. Na und? Es war doch ohnehin alles egal, oder nicht?

»Tut mir leid«, sagte Mahder beschwichtigend. »Lassen Sie mich rein, ja? Hier draußen ist mir das zu ungemütlich.«

»Draußen?«

»Mann, Gruschkow, ich bin direkt vor der Spedition! Überall sind die Bullen unterwegs, also machen Sie das Tor auf, verdammt noch mal!«

Über Mahder setzte sich etwas summend in Bewegung. Er sah hoch und gewahrte das Auge der Überwachungskamera. Langsam schob sich das Tor zur Seite, und Mahder hastete über den Innenhof hinüber zur Halle. Er hatte erwartet, den YAG draußen postiert zu sehen, aber Gruschkow hatte den Laser entweder schon wieder hinein- oder gar nicht erst in den Hof gefahren. Der adaptive Spiegel auf seinem Stativ war wieder unter der Kistenattrappe verschwunden. Hatten sie überhaupt geschossen?

Unwichtig. Er wollte sein Geld, und er wollte es schnell. Möglicherweise konnte Gruschkow ihn auszahlen. Wenn der Russe Zicken machte, würde Mahder eben ungemütlich werden. Er konnte es sich nicht leisten, auf Jana zu warten. Mit Schwung stieß er die Tür auf und betrat die Halle.

»Gruschkow, wo–«

Etwas Kühles drückte sich gegen seine Schläfe.

»Ruhig«, sagte Gruschkow.

Mahder erstarrte. Sein Mut war wie weggeblasen. Der Russe hielt den Lauf einer Pistole gegen seinen Kopf gepresst, während er mit der anderen Hand die Tür zuwarf. Mahders Blick erwanderte die Halle. Der YAG war nicht an seinem Platz in der Mitte, sondern nahe der geschlossenen Wand zum Hof. Offenbar hatten sie ihn doch bewegt, möglicherweise wie geplant, und dann in die Halle zurückgefahren, eben so weit, wie es nötig war, um die Tore zu schließen.

Von der gegenüberliegenden Seite drang ein Stöhnen herüber. Ein Mann lag dort am Boden. Mahder schätzte, dass es der Lektor war.

Er lebte.

»Ist schon in Ordnung, Gruschkow«, sagte er so ruhig wie möglich. »Ich mach ja nichts. Ich bin ganz kusch.«

»Jemand bei dir?«, erkundigte sich Gruschkow.

»Ich bin allein. Ich will nur mein Geld und dann verschwinden. Ist das in Ordnung? Nur mein Geld.«

Gruschkow trat einen Schritt zurück und senkte die Pistole, hielt sie aber unverändert auf Mahder gerichtet.

»Warten«, sagte er. »Jana warten.«

Mahder nickte heftig. »Okay, okay. Jana warten. Wir warten auf Jana. Ich bin allein, Gruschkow, wirklich, Sie können aufhören, mir Angst zu machen. Tun Sie das verdammte Ding weg.«

Gruschkow zögerte. Dann nickte er und steckte die Waffe in seinen Gürtel. Mahder atmete auf. Er ging ein paar Schritte weiter in die Halle hinein und drehte sich zu dem Russen um.

»Und?«, fragte er. »Hat es geklappt?«

»Klappt?«, echote Gruschkow.

»Clinton!«

Gruschkow schüttelte den Kopf. Seine Brillengläser blitzten.

»Nicht funktionieren«, sagte er.

Mahder schluckte. Er hatte kaum etwas anderes erwartet, aber die Gewissheit, dass alles schief gegangen war, verstärkte seine Angst nur noch mehr. Sie waren ihnen draufgekommen. Der Himmel mochte wissen, was die Polizei schon alles in Bewegung gesetzt hatte.

»Können Sie mir nicht das Geld geben?«, sagte er. »Ich muss unbedingt verschwinden.«

»Geld Jana«, sagte Gruschkow.

Mahder seufzte. Dann zuckte er die Achseln. Sich mit Gruschkow anzulegen, würde nichts bringen. Leute wie er waren halt doch eine Nummer zu groß für den unbescholtenen Abteilungsleiter Technik Martin Mahder, dessen Leben bis vor einem halben Jahr noch in beschaulichen Bahnen verlaufen war.

Jana warten. Wenn Jana kam.

WAGNER

Die schlimmsten zwei Stunden ihres Lebens endeten, als sie O’Connor den Hubschrauber verlassen sah. Er wirkte unbeholfen und wackelig auf den Beinen, als er über das Vorfeld zu ihr herüberkam. Seine Hände waren verbunden, sein eleganter Anzug dunkel befleckt von etwas, das Blut sein konnte. Alles in allem kam er ihr vor wie nach drei Runden mit Mike Tyson, aber seine Augen strahlten, als habe er die Gameboy-Meisterschaft gewonnen.

Hinter ihm sprang Lavallier aus dem Helikopter.

»Kika«, sagte O’Connor.

Er schaffte es, einen halben Roman in diese beiden Silben zu legen.

Sie erzählten vom Whiskytrinken in Jameson’s Pub, von der Versunkenheit im Halbdunkel eines Hotelzimmers und von fremden Universen im Innern alter Bäume. Sie erklärten jedes Empfinden von Distanz für obsolet. Vor allem aber ließen sie keinen Zweifel daran, dass der Vorhang in diesem Stück so schnell nicht fallen würde. Alles, sagten sie, hat seine Gültigkeit. Erklären wir das Ereignis zum Zustand. Schreiben wir die Geschichte fort.

O’Connor grinste. Sie tauschten einen flüchtigen Kuss. Eine Begrüßung nicht anders als der Abschied am Nachmittag. Es lag etwas Beruhigendes darin, als sei gar nichts Besonderes geschehen. Fortsetzung des Vorangegangenen.

Sie erzählte ihm, wie sich die Polizistin auf seinem Handy gemeldet hatte. O’Connor hob die Brauen.

»Das hat sie mir verschwiegen«, sagte er konsterniert. »Ich hätte natürlich zurückgerufen und die Welt später gerettet.«

»Ich dachte, du seist tot.«

»Ach, Kika! Ich war viel zu sehr damit beschäftigt, an dich zu denken, um sterben zu können.«

»Du lügst«, sagte sie fröhlich. »Du siehst zum Fürchten aus.«

»Natürlich lüge ich. Lügen sind die Höflichkeit der Liebenden. Oh, die Stimme Amerikas!«

Aaron Silberman hatte sich bis jetzt im Hintergrund gehalten. Nun trat er lächelnd hinzu. O’Connor ergriff seine Rechte, drückte sie und zuckte zusammen.

»Passen Sie auf Ihre Hände auf«, sagte Silberman mit einem skeptischen Blick auf die Mullverbände. »Was haben Sie bloß angestellt, Sie sehen aus wie Boris Karloff am Set von ›Die Mumie‹.«

O’Connor zuckte die Achseln.

»Nichts Außergewöhnliches«, sagte er. »Ich bin beinahe umgebracht worden, durch ein Dach gekracht und in einen Haufen Scherben gefallen. Danach haben Lavallier und ich Bill Clinton ein bisschen unter die Arme gegriffen.«

»Verstehe. Was man so jeden Tag erlebt.«

O’Connor lachte. Sie gingen gemeinsam zum VIP-Zelt hinüber. Nur eine Hand voll Uniformierter war noch dort sowie Bär und ein weiterer PPK-Hauptkommissar aus der Kölner Zentrale, der kurz nach Wagner eingetroffen war und sich die letzte Viertelstunde über im Zelt mit Silberman unterhalten hatte. Die japanischen Diplomaten und Vertreter des Auswärtigen Amts hatten das Gelände sofort verlassen, nachdem Obuchi wohlbehalten seiner 747 entstiegen und abgefahren war. Es war die letzte wichtige Landung an diesem Tag gewesen, wie man ihr erzählt hatte, sah man davon ab, dass man ihr ansonsten gar nichts erzählt hatte. Lavallier kam ihnen in einigem Abstand hinterher. Es war neun Uhr vorbei. Der abgesperrte Pressebereich weiter hinten lag menschenleer da. Umso mehr spielte sich zwischen den Pressezelten und dem Checkpoint ab. Wagner wusste im Wesentlichen nur, dass dort eine ausgedehnte Kontrolle im Gange war und die Journalisten den Bereich einzeln verließen, alle mit erheblicher Verspätung. Hoch oben an der Fassade der Lärmschutzhalle waren Leute in Overalls damit beschäftigt, eine bestimmte Stelle im Gestänge zu untersuchen.

Wagner hätte Silberman küssen können. Die Sperrung der Flughafenautobahn hatte den kompletten Verkehr ringsum lahm gelegt. Als sie Silberman auf seinem Handy erreicht hatte, in Sorge aufgelöst, eingekeilt zwischen zwei Dreißigtonnern und dem definitiven Stillstand entgegenkriechend, hatte Clintons Wagenkolonne den Flughafen eben verlassen. Das Erste, was Silberman ihr am Telefon versichert hatte, war, dass O’Connor lebte und wohlauf sei. Sofort hatte der Stau jeden Schrecken für sie verloren, und plötzlich ging auch alles wieder schneller – die Sperrung war aufgehoben worden, der Verkehr normalisierte sich. Etwa zeitgleich mit der Landung der japanischen 747 hatte Wagner die Polizeiwache des Flughafens erreicht und dort gekonnt auf die Tränendrüse gedrückt. Nachdem der japanische Premier in Richtung Innenstadt entschwunden war, hatte sie ein Streifenwagen rausgefahren aufs Vorfeld. Sie war eingetroffen, als O’Connor und Lavallier bereits über Köln kreisten. Silberman hatte ihr das Wenige erzählt, was er wusste. Als White-House-Berichterstatter über ein Dasein im Presseghetto erhaben, hatte er direkt vom Vorfeld berichten dürfen und hätte der ursprünglichen Planung zufolge mit der Kolonne zum Hyatt fahren sollen. Allerdings hatten ihn Bärs Leute gebeten zu bleiben. Ein Wunsch, dem der Korrespondent bereitwillig nachgekommen war in der Hoffnung, die wirklich interessanten Dinge zu erfahren. Bär und der zweite Kommissar hatten danach zu Protokoll genommen, dass er und O’Connor in dialektischer Gemeinschaft zu größeren Mengen Portwein und einer kühnen Theorie gefunden hatten, Silbermans höfliche Fragen indes ebenso höflich ignoriert. Einzig, dass es von Kuhn immer noch keine Spur gab, hatte der Korrespondent erfahren.

Entsprechend neugierig fragte er O’Connor, ob sie denn nun Recht behalten hätten.

»Haben die Ihnen nichts verraten?«, staunte O’Connor.

Lavallier trat hinzu und schüttelte den Kopf.

»Wir werden auch weiterhin nichts verraten. Ich muss Ihnen den Doktor leider noch einmal entführen«, fügte er mit Blick auf Wagner und Silberman hinzu. »Das PPK muss seine Aussage aufnehmen.«

»Schon wieder?«, fragte O’Connor mit einem Stirnrunzeln. »Können wir nicht endlich mal nach Hause?«

»Sie haben mit uns geredet«, meinte Lavallier. »Normalerweise müsste ich Sie ins PPK überstellen, Ihre Rolle war ja zwischenzeitlich mehr als dubios. Seien Sie froh, dass die zu uns rausgekommen sind.«

»Lavallier, Sie werden mir allmählich lästig.«

»Freut mich, dass es Sie nicht kalt lässt.«

O’Connor zog ein Gesicht.

»Kann ich dabei sein?«, fragte Wagner.

Lavallier schüttelte den Kopf. »Das wäre gegen die Vorschriften.«

Sie lächelte ihn freundlich an.

»Ich hoffe, Sie können es mit den Vorschriften vereinbaren, ihn baldmöglichst zurückzubringen.«

»Oh, das werden sie«, beruhigte sie O’Connor und gab ihr einen Kuss. »Wenn sie darin genauso schnell sind wie in der Aufklärung gewisser Untaten, solltest du im Holiday Inn auf jeden Fall ein Zimmer anmieten.«

»Ach ja?« Lavallier grinste schief. »Höre ich da eine gewisse Ironie heraus, werter Doktor?«

»Keineswegs.« O’Connor fasste den Kommissar freundschaftlich um die Schultern und ging mit ihm zum Zelt herüber. »Ich habe mir schon lange abgewöhnt, ironisch zu sein. Es lohnt nicht. Jedes Mal, wenn ich glaubte, ironisch zu sein, gaben mir hinterher alle die Gewissheit, dass ich einfach nur die Realität beschrieben hatte.«

JANA

Die Reihe war an ihr.

Sie beendete ihren Plausch mit einer Gruppe männlicher Journalisten, die offenbar allesamt großes Vergnügen daraus zogen, sich mit ihr zu unterhalten. Niemand in den Zelten wusste, was vor sich ging. Die Polizeikräfte waren höflich und entschuldigten sich mehrfach für die Prozedur. Es hieß, die Amerikaner hätten in letzter Sekunde darum gebeten, den umfangreichen Check auch beim Verlassen des Geländes durchzuführen. Außergewöhnliche Vorkommnisse? Habe es nicht gegeben. Amerikanisches Sicherheitsdenken halt. DallasTrauma. Kennt man ja.

»Ich weiß nicht«, sagte Peter Fetzer zu ihr, als sie nach draußen ging. Er stand am Eingang des Zelts auf einen Stehtisch gestützt und drehte ein Glas Mineralwasser zwischen seinen Fingern. »Komische Routine, finden Sie nicht auch? Die Amerikaner machen ständig, was sie wollen.«

»Wer sagt, dass wir die Warterei den Amis zu verdanken haben?«

»Wem sonst? Es ist typisch für sie.«

»Tja.« Jana blieb stehen und zuckte die Achseln. »Die Amis sind schon komisch drauf, die bewachen ihren Präsidenten besser als die Briten ihre Kronjuwelen.«

»Ja, aber Clinton ist längst weg. Was wollen die noch von uns?«

Sie tat, als müsse sie nachdenken.

»Vielleicht wollen sie einfach nur sichergehen«, sagte sie. »Ab morgen ist Bad in der Menge angesagt und so was. Kann ja nicht schaden, uns alle noch mal unter die Lupe zu nehmen.«

Fetzer hob die Brauen und sah sie zweifelnd an.

»Sie sind ja sehr verständig.«

Jana ließ ihren Kaugummi kreisen.

»Überhaupt nicht«, sagte sie. »Ich will einfach nur hier raus.«

Sie folgte dem Beamten über den Rasen. Weitere Polizisten, einige mit kugelsicheren Westen, standen über das Gelände verteilt. Es war beinahe mehr Polizei da als Journalisten.

»Ich find’s echt scheiße«, sagte sie, als sie den Container betrat. Im Innern erwarteten sie zwei Männer und eine Frau in Uniform und eine weitere Frau in Zivil.

»Was finden Sie scheiße?«, fragte einer der Beamten.

»Na, alles. Das hier.« Es war gut, sich ein bisschen zu echauffieren. Sie würden nach jemandem Ausschau halten, der sich möglichst unauffällig zu geben suchte. Den Gefallen würde sie ihnen nicht tun.

»Wir können auch nichts dafür«, sagte ein anderer, älterer Polizist mit verhaltenem Bedauern. »Haben Sie Fotos gemacht?«

»Was denn sonst?«

»Schießen Sie die restlichen Bilder auf den Filmen ab und entnehmen Sie sie bitte den Kameras.«

»Mensch, ich leb von den Bildern«, fuhr sie ihn an.

»Darum wollen wir ja auch, dass Sie die Filme entnehmen. Wir müssen Ihre Kameras untersuchen.«

Mit offensichtlichem Unwillen verschoss sie zuerst die restlichen Bilder der Nikon und spulte den Film zurück. Dann wiederholte sie die Prozedur mit der Olympus.

»Blöder Mist«, knurrte sie. »War ohnehin so ein Scheißtag.«

Erneut entschuldigte man sich knapp und förmlich, nahm die Kameras in Empfang und schickte sie in die Durchleuchtung. Jana murrte und grummelte noch ein wenig weiter und gab sich schlecht erzogen, während sie ihre Taschen leerte und durch die Detektorschranke ging. Der Kaugummi half ihr, möglichst viel zu vernuscheln. Ihr Deutsch war perfekt, allerdings gefärbt von einer gewissen Härte in der Aussprache. Darum hatte sie sich für eine österreichische Identität entschieden. Wer nicht selbst Österreicher war, würde ihren Akzent nicht einordnen können. Damit war sie im Zweifel das, was sie vorgab zu sein.

Als sie das erste Mal im Container kontrolliert worden war, hatte den Beamten ein Blick auf ihren Akkreditierungsausweis gereicht. Diesmal wurden ihre Personalien aufgenommen und über Funk gegengecheckt. Um ihre Identität machte sich Jana keine Sorgen. Cordula Malik würde hier durchmarschieren, sofern nicht jemand auf die Idee kam, sich nach ihrem Tod zu erkundigen. Jana hatte die Geburtsurkunde und die gefälschten Dokumente im Zuge der Akkreditierung beim BKA und beim Bundespresseamt vorgelegt. Sie wusste, dass man sich dort rückversichern würde und nicht in Österreich. Sofern die Beamten in diesem Container nicht zu dem Schluss gelangten, sie sei hochgradig verdächtig, gab es an der Person Cordula Malik nichts zu entdecken oder auszusetzen. Eine Publizistikstudentin, die auf freier Basis für mehrere Zeitungen arbeitete. Sogar die Zeitungsausschnitte lagen dem BKA vor.

Die Beamtin tastete sie ab und sah in ihren Mund. Jana musste den Gürtel aus der Hose ziehen und erneut durch den Detektor gehen. Die Gürtelschnalle wurde untersucht, gleichfalls ihr Portemonnaie, dann wurden der Hotelschlüssel und ihr Wagenschlüssel unter die Lupe genommen.

»Sie wohnen im Hotel Flandrischer Hof?«

»Mhm.«

»Heute eingecheckt?«

»Mhm.«

Währenddessen beschäftigte sich die Zivilistin zuerst mit ihrem Handy und dann mit den Kameras.

Ostentatives Wegsehen wäre den Beamten verdächtig vorgekommen, also legte Jana Interesse an den Tag und sah zu.

»Sie machen doch nichts kaputt?«, sagte sie nörgelig.

»Natürlich nicht«, erwiderte die Frau.

»Wissen Sie, was die Dinger kosten? Ich bin frei. Ich hab keinen

Verlag, der mir neue kauft, wenn Sie die hier kaputtmachen.«

Die Frau studierte aufmerksam das Innere der Nikon. Dann machte sie sich am Objektiv zu schaffen.

»Wir machen nichts kaputt.«

Jana kaute Kaugummi und sah weiter zu.

»Sind Sie aus Köln?«, fragte sie die Frau.

Sie sah kurz auf.

»Ja.«

»Wo kann man denn hier hingehen?«

»Was meinen Sie?«

»Clubs und so.«

Die Frau antwortete nicht. Sie sah mit zusammengezogenen Brauen erneut ins Innere der Nikon. Ihr Zeigefinger strich am Innengehäuse entlang und verweilte.

Plötzlich herrschte Totenstille in dem Container.

Jana neigte nicht dazu, die Nerven zu verlieren. Sie verhielt sich weiterhin so, wie Cordula Malik sich verhalten hätte, wenn sie nicht Jana gewesen wäre, aber ihr Herz begann zu rasen.

Langsam ließ die Expertin die Kamera sinken. Eine steile Falte war über ihrer Nasenwurzel entstanden. Sie sah ihr Gegenüber mit einem merkwürdigen Ausdruck in ihren Augen an.

Es konnte nicht sein!

Jana schluckte. Aller Speichel schien zur Gänze in dem Kaugummi verschwunden zu sein. Ihre Mundhöhle war trocken und klebrig.

»Warten Sie mal…«, sagte die Frau. Dann erhellten sich ihre Gesichtszüge. »Ich bin zu alt für so was, aber meine Tochter geht regelmäßig in Clubs. Es gibt einen Paul‘s Club am Rudolfplatz, ich glaube, im Crowne Plaza. Keine Ahnung, ob es das ist, was Sie suchen, aber Sie können‘s ja mal ausprobieren.«

Sie legte die Nikon weg und nahm sich die Olympus vor.

»Danke«, sagte Jana. »Riesig nett von Ihnen.«

Der Rest ging schnell. Die Frau schloss die Untersuchung der Kameras ab. Ein Foto wurde von ihr geschossen, ihre Fingerabdrücke genommen. Dann erhielt sie ihre Habseligkeiten zurück und konnte gehen.

Als sie aus dem Container nach draußen trat, war ihr, als betrete sie eine neue Welt. Frei von Ängsten und Zwängen. Die Welt des Mädchens mit dem bauchfreien T-Shirt. Und vielleicht einem Piercing im Nabel.

Irgendwann.

Ihr Blick wanderte über den Parkplatz. Ein Shuttlebus wartete mit laufendem Motor. Die Verantwortlichen für die Kontrolle hatten immerhin dafür Sorge getragen, dass in regelmäßigen Abständen Busse zum Heumarkt fuhren und die Journalisten zurück zum Pressezelt brachten.

Sie warf einen Blick auf die Uhr.

Viertel nach neun.

Es war schneller gegangen, als sie gedacht hatte. Vom Heumarkt würde sie ein Taxi zum Rudolfplatz nehmen – Laura Firidolfis Wagen stand in der Tiefgarage des Crowne Plaza, in dem auch der Paul’s Club war.

Beinahe ein Grund, sich zu amüsieren.

WAGNER

»Wir hatten also Recht«, sagte Silberman, während sie vor dem VIP- Zelt auf O’Connors Rückkehr warteten. »Ganz sicher hatten wir Recht.«

Wagner betrachtete den Himmel. Er war von quecksilbrig getöntem Blau. Die Sonne berührte den Horizont, wo ihr Licht von Schlieren aufgesogen wurde. Eine Schar Schwalben zog dicht über sie hinweg auf der Jagd nach Insekten. Trotz des fortgeschrittenen Abends war es immer noch sehr warm.

»Womit hatten Sie Recht?«, fragte sie.

»Wir waren zu dem Schluss gekommen, Liam und ich, dass jemand versuchen wird, den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu töten. Ich kenne die Sicherheitsgebräuche Amerikas zur Genüge. Der Secret Service weiß vorher, was er tut. Mit Kontrollen nachkarten, als wär’s ihnen gerade eingefallen, das ist nicht deren Art. Wir hatten Recht, und Liam weiß über alles Bescheid.«

»Wir wussten schon gestern Bescheid«, sagte Wagner. »Wir haben’s nur nicht geglaubt, sonst hätten wir nicht alle diese Fehler begangen.«

»Ja, ich weiß. Liam hat von Ihren nächtlichen Aktivitäten erzählt.«

Sie hob in gespieltem Entsetzen die Brauen.

»Doch nicht alles, will ich hoffen!«

Silberman schmunzelte. Wagner sah nach Osten, wo jenseits des Frachtflughafens ein Linienjet landete.

»Ich glaube«, sagte sie nach einer Weile, »unser Problem ist, dass wir mit dieser Art der blanken Realität nicht umgehen können.«

»Wie meinen Sie das?«

»Was hier passiert ist, kennen wir nur aus Filmen.« Sie zeigte dorthin, wo der Jet eben jenseits der Frachthallen verschwand. »Das da ist unsere Realität, Aaron. Normalität. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich durchlebe meine Abenteuer für gewöhnlich im Kopf. Ich sitze vor dem Fernseher und gucke Nachrichten. Wenn mir der Sprecher erzählt, dass überall auf der Welt täglich Menschen entführt und umgebracht werden, ziehe ich das keine Sekunde lang in Zweifel, aber würde er mich anschauen und sagen, dass es morgen mich trifft, würde ich ihm einfach nicht glauben. Echten Menschen passiert nicht, was denen im Fernsehen widerfährt. Sie werden lachen, aber es fällt mir schwer, zwischen Werbespots und Nachrichten überhaupt noch eine Grenze zu ziehen. Es wirkt alles so… auf uns zugeschnitten. Part of the show.« Sie machte eine Pause. »Dass Liam und ich gestern losgefahren sind, um Paddy zu beschatten, ist kein Indiz dafür, wie ernst wir es gemeint haben, sondern dass wir es eben nicht ernst gemeint haben. Liam ist ein Spieler, und ich habe mitgespielt. Andernfalls wären wir auf die nächste Polizeiwache gefahren. Ich habe nicht wirklich darüber nachgedacht, was wir da machen. Für mich war klar, dass keinem von uns was passieren wird, ich hatte keinen Moment lang Angst. Ist das nicht verrückt? Wir sind irgendeiner abstrusen Kinodramaturgie gefolgt, nicht unserem klaren Menschenverstand. Hätten wir es getan, wäre Kuhn nicht verschwunden. Basta!«

Silberman nickte.

»Kommen Sie«, sagte er. »Wir gehen ein paar Schritte.«

Sie schlenderten am VIP-Zelt entlang in Richtung Pressebereich. Wagner fühlte die Blicke der Polizisten auf sich ruhen, die von der Absperrung zu ihnen herübersahen.

»Sie machen sich Vorwürfe wegen Kuhn«, sagte Silberman. Es war keine Frage, sondern eine Feststellung.

»Ja.«

»Das müssen Sie nicht. Sie haben ihn zu nichts gezwungen.«

»Wir hätten zur Polizei gehen sollen.«

»Was Sie hätten tun sollen und getan haben, betrifft Ihren Umgang mit der Wirklichkeit, was Kuhn getan hat, seinen. Ich bin sehr betroffen über sein Verschwinden. Aber Sie sind nicht verantwortlich.«

»Wären wir zur Polizei gegangen, hätten wir niemanden in Gefahr gebracht.«

»Kika.« Er blieb stehen und sah sie an. Sie mochte sein rundes, freundliches Gesicht mit den kleinen Augen. »Ich verstehe Sie sehr gut. Was mich betrifft, habe ich andere Erfahrungen gemacht als Sie, ich war Korrespondent in Bosnien und Kuwait. Ich habe die Bilder geliefert, die Sie aus dem Fernsehen kennen. Die einen haben mit Waffen draufgehalten, wir mit Kameras. Natürlich haben wir uns um Objektivität bemüht, aber schon die Wissenschaft lehrt uns, dass wir nichts beobachten können, ohne es allein durch die Tatsache der Beobachtung zu verändern. Die Vorgänge passen sich an. Ich war ganz vorne mit dabei, ich habe Elend und Gewalt erlebt, und wir taten nichts weiter, als darüber zu berichten. Trotzdem habe ich mich oft genug gefragt, ob wir die Wirklichkeit mit unseren Kameras nicht schon veränderten. Ob das, was ich mit eigenen Augen sah, überhaupt im umfassenden Sinne als Wirklichkeit verstanden werden konnte. Jeder macht sich seinen Ausschnitt. Auch die Menschen, die wir filmten, wussten das und versuchten, auf ganz bestimmte Weise darin zu erscheinen. Hätten sie ihren Krieg auch so geführt, wenn sie nicht gewusst hätten, dass Kameras auf sie gerichtet sind, dass die Bilder um die Welt gehen werden? Wie viele Kriege sind mittlerweile nicht über Bomben, sondern über die Medien entschieden worden, wie viel tragen wir dazu bei, ohne es zu wollen und zu wissen? Wir mussten darüber befinden, welche Bilder wir senden, aber handelten wir richtig? Sie haben vorhin gesagt, wir können mit der blanken Realität nicht umgehen, das ist wahr. Nicht mal ich konnte das. – Nun, am Ende dieses Krieges im Kosovo, den wir alle bis vor wenigen Wochen geführt haben, was wissen wir denn da? Was weiß der durchschnittliche Amerikaner, der Deutsche, der Russe über KosovoAlbaner, was über Serben? Beide sind in letzter Konsequenz Platzhalter in einer abstrakt geführten Diskussion über Menschen- und Völkerrechte. Jedermann fühlt sich bemüßigt, über die Führbarkeit von Kriegen und die Verteidigung von Werten zu diskutieren, aber hat sich auch nur einer derer, die mahnend den Zeigefinger erheben, wirklich mit der Geschichte des serbischen und des kosovarischen Volkes beschäftigt? Was haben wir, was haben die Berichterstatter erreicht? Worüber reden wir? Milosevic ist gefährlich und amoralisch, aber wenn meine Arbeit dazu führt, dass wir die Serben verteufeln, hat mein Ausschnitt der Wirklichkeit die Wirklichkeit verbogen. Und da hadern Sie mit sich, ob es richtig war, Detektiv zu spielen! Sie waren an keiner Front, Kika, aber Sie waren dennoch bereit, einer ungeheuerlichen Vorstellung Raum zu geben, nämlich dass jemand an diesem Flughafen ein Attentat verüben könnte. Wie wollen Sie da richtig handeln? Wie viel Normalität haben Sie im Schockverfahren über Bord werfen müssen? Sie haben keine Übung in diesen Dingen, es ist bemerkenswert, dass Sie überhaupt gehandelt haben, Sie und Liam, und wie es aussieht, mit Erfolg. Wäre Clinton gestorben, hätte das der Welt einen schrecklichen Schlag versetzt. Willentlich haben Sie dazu beigetragen, ein Verbrechen zu verhindern, und wenn im Zuge dessen ein anderes geschehen ist, tragen Sie keine Schuld daran. Wollen Sie das bitte begreifen?«

Wagner sah ihn an. Dann beugte sie sich zu ihm hinunter und gab ihm einen Kuss auf die Wange.

»Also sollten wir darangehen, der Wahrheit auf die Spur zu kommen«, sagte sie.

»Ich fürchte, das ist ein zu hohes Ziel«, lächelte Silberman. »Eigentlich glaube ich, dass die Welt die Wahrheit gar nicht wissen will.«

»Stimmt«, sagte O’Connor von hinten.

Er trat zu ihnen und rümpfte die Nase. »Ich stinke wie ein Schwein! Schweiß, Blut, alles. Das kann die Welt nicht wissen wollen. Was ist, Kika, fahren wir duschen?«

VIP-ZELT

Lex kam hinter dem Paravent hervor, der die Einsatzzentrale vom Besucherteil des VIP-Zelts abgrenzte. Er ging ohne Eile zu der Sitzgruppe hinüber, ließ sich in einen der ausladenden Sessel fallen und sah sie der Reihe nach an. O’Connor war eben gegangen.

»Ist er vertrauenswürdig?«, fragte er.

»Wir können nur urteilen aufgrund der Fakten«, sagte Bär. »O’Connor ist auf Herz und Nieren überprüft worden. Es finden sich eine Reihe absonderlicher Aspekte in seiner Persönlichkeit, aber er ist sauber. Und er hat uns geholfen.«

»Er könnte seine Gründe haben, uns zu helfen.«

»Ich sehe keinen Grund, ihn festzuhalten«, sagte Lavallier. »Wir haben seine Handynummer, wir können ihn notfalls überall erreichen. Gleiches gilt für Kika Wagner und Aaron Silberman.«

Lex nickte langsam.

»Die Polizei hat reichlich zu tun in diesen Stunden«, sagte er.

Lavallier wusste, worauf Lex anspielte. Parallel zur Suche nach dem Laser, die mittlerweile verstärkt durch ostdeutsche Einheiten im Gange war, liefen die Fahndungen nach Clohessy, Mahder und die Suche nach Kuhn, von der Kontrolle der Presseleute ganz zu schweigen.

»You got no dog in this fight«, sagte Lavallier lächelnd.

Lex lächelte schwach zurück.

»Ich habe einige Telefonate geführt«, sagte er. »Natürlich muss ich anmerken, dass ich lediglich der Überbringer bin. Amerika hat nicht vor, sich in deutsche Ermittlungen einzuschalten, wenn man uns nicht explizit darum bittet, aber… na ja, wir sind gebeten worden.«

»Natürlich«, sagte Brauer, der Chef der SI.

Lex schlug die Beine übereinander.

»Status ist, dass der amerikanische Präsident und der Bundeskanzler in groben Zügen informiert wurden. Die Nachricht gab das Auswärtige Amt an den Supervisor des Secret Service, die drei Bereichsleiter, also Nesbit, Drake und mich, sowie an Ihren Polizeichef Granitzka weiter. Über Einzelheiten wurde nicht gesprochen.«

Der andere PPK-Kommissar räusperte sich.

»Das BKA hat in Zusammenarbeit mit dem Secret Service eine Blitzanalyse gewagt«, sagte er. »Bloße Vermutung, versteht sich. Bevor ich weiter darauf eingehe – Kollege Lavallier hat einen sauberen Job gemacht, können wir uns dahingehend verständigen?«

»Das steht außer Zweifel«, sagte Bär.

Lex nickte.

»Ihr habt bereits…« begann Lavallier.

»Ja, sicher. Die Untersuchung der demontierten Spiegel ergab, dass wir es mit einer High-Tech-Aktion der Ausnahmeklasse zu tun haben. Etwaige Motive eines Martin Mahder oder Josef Pecek sind vernachlässigbar, sie wurden unserer Meinung nach gekauft, aber bemerkenswert scheint uns dennoch die Involvierung eines serbischstämmigen Technikers zu sein. Wenn Peceks Legende stimmt, ist er zwar in Deutschland aufgewachsen, aber die Hälfte seiner Familie lebt in Uzice.«

»Clohessys Legende stimmte auch nicht«, sagte Brauer.

»Wie gesagt, wir sind erst am Anfang. Ganz offensichtlich handelt es sich tatsächlich um den Versuch eines Laserattentats. Über diesbezügliche Experimente ist uns wenig bekannt. Militärische Projekte finden sich in den USA, wo seit Star Wars immer wieder an Laserwaffen gearbeitet wurde, aktuell an etwas, das…« Der Mann stockte, griff nach einem Faxausdruck und las den Begriff ab. »… US Air Force Airborne…«

»US Air Force Airborne Laser theater ballistic-missile defense System«, ergänzte Lex. »Laser Defense.«

»Richtig, so wird es genannt. Zur Raketenabwehr. Ferner in Israel,

Projekt NAUTILUS, ebenfalls Raketenabwehr, aktuell wiederbelebt unter der Bezeichnung THEL. In Deutschland finden seit einigen Jahren ebenfalls Forschungs- und Entwicklungsarbeiten auf dem Gebiet der Mittelenergielaserwaffen statt.« Er machte eine Pause. »Der vierte Innovator auf dem Gebiet der strategischen Laserforschung ist Russland.«

Lavallier legte die Fingerspitzen aufeinander und sah zu Boden. Er war an dieser Stelle nur noch Vertrauensperson und Zuhörer. Seine Rolle in dem Fall war abgeschlossen. Dennoch sagte er:

»Wenn als Lieferant für den Laser entweder Russland, die USA, Deutschland oder Israel in Frage kommen und wir einen deutschen, einen irischen und einen serbischen Verdächtigen haben, was schließt das BKA daraus? Oder der Secret Service?« fügte er mit einem Blick auf Lex hinzu.

»Dasselbe, was Sie daraus schließen«, sagte der PPK-Mann. »Wir machen’s wie die Schuljungen beim Bruchrechnen. Wir streichen weg. Es gab einen Krieg gegen Serbien, der den Russen nicht gefallen hat. Amerika wird in diesem Konflikt als Feind russischer und serbischer Interessen betrachtet. Israel und Amerika sind Verbündete, Deutschland in Betracht zu ziehen wäre lächerlich. Und wir haben es hier«, betonte er, »ganz augenscheinlich mit einem Fall von staatlichem Terrorismus zu tun.«

»Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte Brauer.

»High-Tech-Terrorismus ist immer das Resultat immenser finanzieller und wissenschaftlicher Ressourcen«, erklärte Lex. »Die Nummer mit dem Laser riecht nach Russland.«

»Staatlicher Terrorismus?«, schnappte Brauer. »Sind Sie wahnsinnig? Warum sollten die Russen Bill Clinton töten?«

»Nicht die Russen! Die Russen haben das Ding vielleicht geliefert, aber die Serben haben es eingesetzt.«

Eine Weile herrschte Stille in dem Zelt.

»Ein serbisches Attentat also«, sagte Lavallier schließlich.

Lex lächelte und schüttelte den Kopf.

»Gar kein Attentat.«

»Wie bitte?«

»Es hat kein Attentat gegeben. Ich sagte vorhin, der Bundeskanzler und der Präsident wurden ins Bild gesetzt, wenn auch nicht detailliert. Sie haben übereinstimmend–«

»Augenblick!« Lavallier hob die Hände. »Nur, dass ich das richtig verstehe: Sie wollen jetzt schon behaupten, die Serben–«

»Lavallier, es ist scheißegal, ob es die Serben waren«, sagte der PPK-Mann kategorisch. »Und ob sie mit einem Laser oder mit einer Wasserpistole geschossen haben, ist genauso schnuppe. Fakt ist, dass die Nato einen Krieg gewonnen hat und Stärke demonstrieren konnte. Fakt ist, dass ein kleiner Pisser vom Balkan keinen amerikanischen Präsidenten in Gefahr bringt. Fakt ist, dass Deutschland wenig Interesse hat, sich Mängel in der Personensicherung vorwerfen zu lassen.«

»Wir haben das verdammte Attentat vereitelt!«

»Und dass hier gerade ein Flughafen entsteht, der in Europa einen Spitzenrang einnehmen könnte. Das Ersuchen ging von der Stadt aus, und die Regierungsoberhäupter haben zugestimmt.«

»Die hatten doch gar keine Zeit, irgendetwas zuzustimmen.«

»So was geht schnell.«

Lavallier starrte Lex an.

»Ich bin nur der Überbringer«, sagte Lex.

»Das ist doch Blödsinn«, schnaubte Lavallier. »Wenn die es für opportun halten, dass wir die Sache unter den Tisch kehren, meinetwegen. Es ist praktisch nicht machbar. Was wollen Sie den Scharfschützen erzählen? Alle möglichen Leute waren involviert, unsere Leute, O’Connor, seine Presseagentin, Silberman, das komplette Management des Flughafens, und wir halten draußen gerade die

Presse fest. Clinton latscht aus seiner Maschine und verdrückt sich gleich wieder ins Innere, und Sie kommen hier mit Vertuschung.«

»Da war gar nichts«, sagte der PPK-Mann. »Dieser Sicherheitsknilch hat Clinton zurück ins Innere dirigiert, als er noch gar nicht richtig draußen war. Es sah aus, als sei der Präsident von selbst wieder reingegangen, vielleicht, weil er was vergessen hatte oder jemandem noch was sagen wollte.«

»Also spielen wir hier James Bond, oder was?«

»Bitte, Eric.« Bär hob mit unglücklichem Gesicht die Hände. Das Ganze war ihm offenbar peinlich. »Niemand hier zieht deine Arbeit in Zweifel.«

»Auch wenn Sie sich vertan haben«, ergänzte der Mann vom PPK.

»Vertan?«

»Sie sind nur einem Hinweis nachgegangen«, sagte Lex. »O’Connor hat sich ebenfalls geirrt. Wir hatten ein IRA-Problem am Flughafen, das uns zeitweise ein bisschen nervös gemacht hat. Richtigerweise schickten wir den Präsidenten wieder in die Maschine und schossen sicherheitshalber ein paar harmlose Überwachungskameras ab. Erster Entwurf, vielleicht ist uns bis morgen ja was Besseres eingefallen. Falls überhaupt jemand fragt, wird fleißig dementiert. Irgendwann wird sogar O’Connor zu dem Schluss gelangen, dass er Gespenster gesehen hat.«

Lavallier war sprachlos. Er sah zu Brauer hinüber, aber der SI- Leiter zuckte nur die Schultern.

»Ich habe mich vertan?«

Lex beugte sich vor.

»Lavallier, wir verdanken Ihnen alles. Niemand wird Ihnen je vergessen, was Sie getan haben. Aber niemand möchte andererseits, dass es rauskommt. Verstehen Sie das doch! Nichts wäre schlimmer, als einem demoralisierten Feind etwas zu liefern, woran er sich wieder hochhangeln kann. Wenn der Westen sich verletzlich zeigt, wäre das ein schlimmes Signal. Für den Iran, den Irak, für die russischen Falken, für Libyen, Nordkorea und für wen sonst alles. Wir haben einen Krieg gewonnen, wir haben das Recht auf unserer Seite. Darum geht es.«

Lavallier nickte langsam.

»Das Recht«, sagte er. »Ja, natürlich.«

Lex lächelte.

»Ich wusste, dass Sie es verstehen würden.«

JANA

»Sind Sie Fotografin?«, fragte der türkische Taxifahrer.

Sie nickte.

»Ich habe gesehen wegen Kamera«, sagte der Mann. »Machen Sie Fotos für Zeitung?«

»Mhm.«

»Amerikanischer Präsident ist hier.«

»Ich weiß.«

Er lenkte den Wagen auf den Parkstreifen des Taxistandes am Crowne Plaza und schaltete den Taxameter aus.

»Alles voll Polizei«, sagte er missbilligend. »Übertreiben, die Stadt. Überall Straßen gesperrt.«

»Ist halt ‘n wichtiger Mann«, sagte Jana.

»Ja, aber hier kein Problem. Köln ist anders. In andere Städte ist viele Kriminalität. Frankfurt, sagt mir ein Kollege, ganz schlimm. Düsseldorf auch. Aber Köln? Dreizehn Mark, bitte.«

»Fünfzehn«, sagte Jana und reichte ihm einen Zwanzigmarkschein.

Der Mann kramte in seinem Portemonnaie und gab ihr das Wechselgeld zurück, lauter Einmarkstücke.

»Ist in Hyatt heute Abend«, sagte er. »Wenn Sie Foto machen wollen.«

»Wer? Clinton?«

»Ja.«

»Danke.« Sie öffnete die Tür und stieg aus. »Ich werd’s mir überlegen.«

In gemäßigtem Tempo ging sie bis zu dem Schacht, der hinunter zu den Parkebenen führte. In den Grünanlagen vor dem Hotel lungerte ein halbes Dutzend Punker mit struppigen Hunden herum. Sie tranken Bier und unterhielten sich lautstark. Einer urinierte auf den Gehsteig. Jana betrat den Aufzug und fuhr auf die zweite Ebene, wo der Audi stand. Sie verstaute die Kameras im Kofferraum, startete den Motor und fuhr den Wagen aus dem Parkhaus hinaus auf die Straße. Nach wenigen Metern kam sie vor eine rote Ampel, griff nach dem FROG und wählte Gruschkows Nummer.

»»Da«, meldete sich die Stimme des Russen.

»Negativ«, sagte Jana ohne Überleitung.

»Ich weiß. Wo sind Sie?«

»Auf dem Weg. Beim Rauskommen gab es keine Probleme. Irgendwas Bedenkliches bei Ihnen?«

»MM ist hier und will sein Geld.«

»Gibt es sonst was, worauf ich achten muss?«

»Nichts. Noch hat uns keiner aufgespürt.« Gruschkow zögerte. Dann sagte er: »Unserem Gast geht es nicht gut. Ich fürchte, ich habe ihm ein paar Rippen gebrochen. Oder sonst was.«

Jana seufzte.

Sie hatte gehofft, Gruschkow würde nie wieder die Nerven verlieren. Sie hatte die Hand über ihn gehalten unter der Bedingung, dass er sich unter Kontrolle behielt.

Andererseits – was änderte es jetzt noch?

»Brechen Sie ihm nicht noch mehr«, sagte sie. »In zehn Minuten

bin ich da, wenn nichts dazwischenkommt.«

»Es… es tut mir leid.«

»Schon gut.«

Sie beendete die Verbindung und bog auf die Hahnenstraße ein. Während sie mit der Linken steuerte, wanderte ihre Rechte zum Handschuhfach und öffnete es. Ihr Blick fiel auf das Schulterhalfter mit der Glock 17 und auf die kleine Walther PP. Der Anblick der beiden Waffen beruhigte sie. Mit leichtem Schwung ließ sie die Klappe wieder zufallen und ging die nächsten Schritte durch.

In die Spedition. Dort wieder Laura werden. Zwei Probleme lösen: Mahder. Dann Kuhn.

Für eine Nacht zurück ins Hoppers.

Abreisen am nächsten Morgen. Am liebsten hätte sie schon jetzt die Zelte abgebrochen, aber die Polizei würde jeder Unregelmäßigkeit nachgehen. Sie würden sämtliche Hotels checken, um herauszufinden, wer an diesem Abend überstürzt aufgebrochen war.

Sie und Gruschkow würden abreisen, wie es sich gehörte. Nach dem Frühstück. Die Rechnung bezahlen und losfahren. Über die Grenze in die Schweiz. Von dort auf verschlungenen Wegen weiter. Gruschkow in seine Richtung, Jana in die ihre.

Nein, dachte sie, Jana wird nirgendwohin fahren. Jana wird es dann nicht mehr geben.

Wie sollte sie sich nennen?

Wer sollte sie sein?

Wer konnte sie sein?

WAGNER

Sie nahm Silberman an Bord, der andernfalls auf den nächsten Shuttlebus hätte warten müssen. Wagner lenkte den Golf durch den Frachtflughafen bis zum Checkpoint, der den flughafeninternen Teil der Heinrich-Steinmann-Straße vom offiziell befahrbaren trennte. Die Beamten des Checkpoints waren informiert. Sie warfen einen kurzen Blick auf das Nummernschild und ließen den Wagen passieren.

Dahinter begann das Straßengewirr der Riesenbaustelle. Während Wagner versuchte, sich nicht zu verfahren, berichtete O’Connor in kurzen Zügen von den Ereignissen der letzten Stunden.

Silberman hörte mit wissendem Lächeln zu und sagte nichts.

»Bär und dieser Muffel vom PPK haben mir übrigens eingeschärft, den Mund zu halten«, schloss O’Connor. »Das gilt auch für euch. Wie im Krimi.«

»Nix wie. Wir sind in einem Krimi«, bemerkte Wagner.

»Na ja, eigentlich sind wir fast schon wieder draußen.« O’Connor seufzte. »Der arme Kuhn. Das ist jetzt unser Krimi.«

»Wenn das Attentat ohnehin misslungen ist«, sagte Silberman, »lassen sie ihn vielleicht laufen.«

»Wenn es misslungen ist«, sagte O‘Connor.

»Was heißt das?«

»Es könnte irgendwo in Köln ein zweites Spiegelsystem geben. Solange der höchste Punkt nicht gefunden ist, gibt es keinen Grund zur Entwarnung. Bär muss den Laser finden, um den Fall abzuschließen.«

»Du bist der Experte«, sagte Wagner. »Die werden dich nicht das letzte Mal bemüht haben.«

Er sah sie von der Seite an und krauste die Nase.

»Ich hoffe, Frau Wagner, Sie werden mich auch nicht das letzte

Mal bemüht haben.«

Sie lachte leise. Der Wagen näherte sich der Autobahnauffahrt.

»Wie geht’s dir?«, fragte sie. »Schmerzen?«

»Kaum.« O’Connor hielt seine bandagierten Hände vor sich und betrachtete sie beinahe mit Stolz. »Gefallen fürs Vaterland. Wenn deutsche Regisseure in den Staaten die patriotischsten Filme drehen, kann ein Ire ja auch mal dem Präsidenten der Vereinigten Staaten das Leben retten. – Tja. Es hätte ein großer Spaß werden können, wenn nicht Kuhn…« Er stockte und sah zum Fenster hinaus. »Okay, es war kein Spaß. Vergessen wir’s. Da wir alle den Mund halten müssen, kommen wir nicht mal auf die Titelseiten mit unserer Geschichte, also können wir ebenso gut meine Tournee fortsetzen. Ein paar saubere Anzüge habe ich noch.«

»Falls sie dich lassen.«

»Papperlapapp. Ich reise, wohin ich will.«

Wagner schwieg. Da war es wieder, das Gefühl von… nein, nicht Distanziertheit. Angst, er könnte einfach aus ihrem Leben verschwinden. Ein fahrender Zug, aus dem man bei voller Fahrt hinausgeworfen wird. Und zugleich Angst davor, an Bord zu bleiben. Eine Liebe mit O’Connor wäre das Paradies, aber ein Leben?

O’Connor schien ihre Gedanken erraten zu haben.

»Ich fahre natürlich nur unter der Voraussetzung, dass du mitkommst«, fügte er hinzu. Er wedelte hilflos mit seinen Händen und grinste. »Du musst die Seiten wenden, wenn ich lese. Es, ähm… hat rein praktische Gründe.«

»Praktischen Gründen kann ich mich nicht verschließen«, erwiderte sie. Dann schüttelte sie traurig den Kopf. »Aber ich kann nicht. Ich muss hier bleiben, Liam. Bis ich weiß, was mit Kuhn ist.«

Er sah sie ernst an. Dann nickte er.

»Ja. Natürlich.«

Sie fuhren auf die Autobahn. O’Connor drehte sich zu Silberman um und wollte etwas sagen, aber er tat es nicht. Stattdessen blieb sein Mund einige Sekunden lang geöffnet, und er starrte wie paralysiert an dem Korrespondenten vorbei.

»Halt mal an«, sagte er endlich.

Wagner glaubte sich verhört zu haben.

»Ich kann hier nicht anhalten.«

»Mist! Es ist weg.« O’Connor drehte sich wieder nach vorne und machte ein nachdenkliches Gesicht. »Kannst du noch mal zurückfahren?«

»Was war denn da?«

»Vielleicht irre ich mich. Ich muss es noch mal sehen, okay?«

»Was immer du willst«, sagte Wagner. »Nur gedulde dich zwei Minuten.«

Sie steuerte die nächste Ausfahrt an, wendete und fuhr zurück. Nach kurzer Zeit näherten sie sich wieder dem Kreuz Flughafen.

»Fahr langsamer«, sagte O’Connor.

Er spähte nach draußen.

»Soll ich hier abfahren?«

»Nein. – Da! Das ist es!«

Wagner drosselte das Tempo noch mehr. Silberman hatte sich vorgebeugt. Beide folgten O’Connors ausgestrecktem Zeigefinger. Rechts vor ihnen, etwas abseits der Autobahn, ragte ein einzelner, dünner Mast in den Himmel. Das untere Ende war verdeckt von Bäumen.

»Sieht aus wie ein Strommast«, sagte Silberman.

»Ein sehr hoher Strommast«, bemerkte Wagner.

»Ja.« O’Connor wies aufgeregt nach vorne. »Nimm die nächste Abfahrt. Ich will ja nicht die Pferde scheu machen, aber das Ding könnte hoch genug sein. Komisch, wir müssen darüber hinweggeflogen sein.«

»Ihr habt nach Gebäuden Ausschau gehalten, nicht nach einzelnen Masten.«

»Wir haben nach allem Ausschau gehalten. Trotzdem, immer dasselbe. Was offensichtlich ist, übersieht man. Aber du hast Recht, alles drum herum ist flach. Weißt du, wie du hinkommst?«

»Du stellst einen vor echte Probleme.« Wagner sah den Mast im Rückspiegel kleiner werden. »Ich kenne Köln seit Jahren nur von Besuchen. In dieser Ecke war ich noch nie.«

»Du bist Kika, die Göttliche«, sagte O’Connor im Tonfall des Selbstverständnisses. »Du schaffst auch das.«

»Vielleicht sollten Sie Lavallier anrufen«, schlug Silberman vor.

»Schauen wir erst mal nach. Ich kann mich irren.«

Die nächste Ausfahrt kam nach knapp drei Kilometern, ausgewiesen als Anschlussstelle Porz-Wahn. Wagner bog zweimal rechts ab, bis sie parallel zur Autobahn zurückfuhren. Eine Weile durchquerten sie freies Feld, dann tauchten rechts und links Häuser auf.

»Porz-Urbach«, las sie auf dem Ortsschild. »Und jetzt?«

»Er war ganz dicht am Autobahnkreuz. Wir müssen in den Ort hineinfahren.«

»Wenn’s weiter nichts ist.«

Es war eine Siedlung. Nur Ein- und Mehrfamilienhäuser, eine Kirche, ein kleiner Friedhof, kaum Geschäfte und Kneipen.

»Wohngegend«, stellte Silberman fest, während sie sich im Zickzackkurs durch die Straßen bewegten. Mehrere Male wurden sie von Einbahnstraßen zur Umkehr gezwungen. Kaum jemand war unterwegs. Dann plötzlich, ohne es recht zu merken, hatten sie die Autobahn unterquert.

»Zurück«, sagte O’Connor.

»Aye, Captain.«

»Rechts.«

Sie bogen in eine schmale Straße ein, die nach wenigen hundert Metern abknickte. Flachbauten erstreckten sich dort, offenbar ein

Industriegebiet. Ein mehrere Meter hohes Gitter umgab ein größeres Areal.

Mitten heraus wuchs der Mast.

Sie fuhren bis dicht vor die Absperrung und stiegen aus. Ein Schild wies verschiedene Unternehmen sowie die Gas- und Elektrizitätswerke aus. Kein Mensch war weit und breit zu sehen. O’Connor strich mit den Fingern über das Gitter und zog die Stirn in Falten.

»Und?«, wollte Silberman wissen. »Nur ein Mast, oder müssen wir uns auf den nächsten Ärger vorbereiten?«

»Es gibt Tausende solcher Masten«, murmelte O’Connor halb zu sich selbst. »Allerdings wenige, die strategisch so günstig stehen. Ich glaube, zwischen hier und dem Flughafen liegen vornehmlich Bäume.«

»Woher willst du das so genau wissen?«, fragte Wagner.

»Ich hab’s vom Hubschrauber aus gesehen.«

»Hatten Sie nicht was von einem Fünf-Kilometer-Radius erzählt?«, sagte Silberman. »Meiner Schätzung nach sind wir hier bei weitem keine fünf Kilometer vom Flughafen entfernt.«

»Drei bis fünf Kilometer hatte ich gesagt.« O’Connor ging ein Stück am Gitter entlang. »Womöglich sogar mehr. Aber Sie haben Recht, es sind maximal drei Kilometer. Eher zwei. Das heißt, der Frachtflughafen liegt noch mal einen Kilometer weiter draußen, stimmt. Wenn man vom Flughafen spricht, hat man immer das Terminal vor Augen. Doch drei? Vier sogar?« O’Connor winkte sie mit einer Handbewegung heran. »Kommt mal her.«

Sie traten neben ihn und folgten seinem Blick nach oben.

»Dieses schöne Gitter besticht durch handliche Querstreben im oberen Bereich«, sagte O’Connor munter. »Wenn ihr mir ein bisschen hochhelft, komme ich dran.«

»Du kommst an gar nichts dran«, sagte Wagner entschieden. »Weil du nämlich nichts greifen kannst mit deinen Händen.«

O’Connor betrachtete sie gedankenverloren. Dann sprang er unvermittelt an dem Gitter hoch und bekam die unterste Strebe zu fassen. Er stöhnte leise auf, zog sich aber weiter nach oben.

»Sie haben einen spannenden Freund«, sagte Silberman zu Wagner.

»Ja«, nickte sie düster. »So kann man’s auch betrachten.«

JANA

Jana wollte ihren Augen nicht trauen.

Sie hatte den Audi unter der Autobahnbrücke geparkt und die Kameras im Kofferraum gelassen. Ihr Blouson verbarg das Halfter mit der Glock und die Walther PP hinten in ihrem Hosenbund. Dann war sie das kurze Stück zu Fuß gegangen. Mit allem hatte sie gerechnet, schlimmstenfalls damit, die Spedition umstellt zu sehen. Nun musste sie voller Verblüffung feststellen, wer sich dort am Gitter des GEW-Geländes herumtrieb.

Sie erkannte O’Connor auf den ersten Blick. Nachdem Gruschkow die Homepage des Physikers im Internet aufgestöbert hatte, hatte Jana sein Bild genauest ens studiert. Der Doktor war eitel, augenscheinlich zu Recht. Nicht zufrieden damit, dem Nobelpreis entgegenzusehen und die Bestsellerlisten anzuführen, hatte er offenbar beschlossen, sich nun auch noch zu Janas persönlicher Geißel zu entwickeln.

Rasch drückte sie sich in eine Einfahrt und spähte die Straße hinunter.

Die Frau musste Kika Wagner sein. Kuhn und Gruschkow hatten sie als sehr groß beschrieben. Den Schwarzen kannte sie nicht.

Voller Zorn pirschte sie sich näher heran. Unter anderen Umständen hätte sie die Spedition mit aller Selbstverständlichkeit betreten. Die Mitglieder des Kommandos waren mehrfach ein und aus gegangen in den letzten Monaten, wenn Leute oder Fahrzeuge unterwegs gewesen waren. Die beste Tarnung war, sich öffentlich zu zeigen. O’Connors Hiersein jedoch änderte die Parameter. Es verhieß nichts Gutes, dass er da oben im Gitter hing und offensichtliches Interesse an dem Mast bekundete. Sie brauchte keine langen Erklärungen, um zu begreifen, was er da tat.

Und was er herausgefunden hatte.

Ungewollt empfand sie Bewunderung.

Während sie der Gruppe näher kam, überlegte sie fieberhaft, was zu tun sei. Viel Zeit blieb ihr nicht. Mittlerweile konnte sie Fetzen von dem aufschnappen, was sie untereinander besprachen. Niemand sah zu ihr herüber, und wer es getan hätte, dem wäre nichts weiter aufgefallen. Jana hätte sich noch auf freiem Feld unsichtbar machen können. Es gab unzählige Möglichkeiten, sich zu verbergen, wo Stromkästen, Einfahrten und Bäume das Straßenbild unterbrachen. Die Menschen waren blind.

Aber leider nicht dumm.

Es war nicht auszuschließen, dass sie bereits die Polizei verständigt hatten. Jana wusste, dass sie zum Handeln gezwungen war. Sie hoffte inständig, die drei würden wieder verschwinden. Fünf Minuten, mehr brauchte sie nicht, um Cordula Malik in der Spedition zu begraben und als Laura Firidolfi hier herauszuspazieren, Gruschkow im Schlepptau.

Aber O’Connor kletterte noch höher.

Und dann reckte er den Kopf und sah über die Autobahn hinweg dorthin, wo der Flughafen war.

WAGNER

»He!«, rief O’Connor ihnen zu. Er hing wie ein Affe in den Streben und winkte mit der Hand. Es sah aus, als bettele er um Nüsse. Wenn er fallen würde, wären es mindestens fünf Meter.

»Kannst du bitte ein bisschen aufpassen«, rief sie zurück. »Ich meine, wegen der Lesungen. Es hat rein praktische Gründe.«

»Keine Sorge. Ihr würdet platzen vor Neid, dass ich mal wieder draufgekommen bin. Ich kann über die Autobahn hinwegsehen, und wisst ihr, was ich noch sehe?« Er lachte zufrieden. »Den Flughafen!«

»Was ist mit dem Mast?«

»Hoch genug ist er. Glatter Schuss bis zum Vorfeld möglich. Stabil ist das Ding ebenfalls, sieht massiver aus, als ich dachte. Wartet, ich komme runter.«

»Ich kann nicht hinsehen«, sagte Wagner leise zu Silberman, als sie den Physiker mit seinen verbundenen Händen mehr rutschen als klettern sah.

»Ob ein Spiegel da oben ist, kann von hier kein Mensch erkennen«, sagte O’Connor, als er wieder vor ihnen stand. »Aber der Mast wäre geeignet. Er ist gut genug nach allen Seiten abgestützt, um in der Spitze nicht zu schwanken. Ein, zwei Zentimeter allenfalls, wenn es wie der Teufel stürmt, und das gleicht die adaptive Optik aus.«

Silberman sah skeptisch zu dem Mast hin.

»Trotzdem eine Chance von eins zu tausend, würde ich sagen.«

»Nicht unbedingt. Ich hatte Stroh im Kopf, als wir mit dem Hubschrauber rumgeknattert sind. Irgendwie ging es mir da oben nicht besonders gut.« O’Connor wies in die Richtung, in welcher der Flughafen lag. »Der Strahl wurde vom UPS-Gebäude zur Lärmschutzhalle geleitet, und die Lärmschutzhalle ist uns am nächsten. Wisst ihr, was mich bei Kuhns Nachricht so in Atem gehalten hat? Es war die intuitive Gewissheit, dass ich den Text entschlüsseln könnte, wenn ich nur den richtigen Einstieg fände. Ich wusste, dass irgendwas daran nicht stimmte, nur nicht, was. Hier ist es genauso. Ich habe diese Laseraufbauten im Kopf, in jeder nur erdenklichen Form. Ich habe x-mal damit gearbeitet. Versteht ihr, ich muss nicht nachdenken, dieser Mast ist mir nicht aufgefallen, weil er hoch war, sondern weil er dort stand, wo er steht. Im Moment, als ich ihn sah, erkannte ich das Muster eines Aufbaus, um ein Vielfaches überdimensioniert, verglichen mit den Laboraufbauten, aber im Prinzip gleich.«

Wagner kniff die Augen zusammen.

»Und dieser Platz wäre ideal?«

»Er ist es! Von hier aus könnte der Impuls zum UPS-Gebäude geschickt und in spitzem Winkel zurückreflektiert worden sein, geradewegs aufs Vorfeld.«

Wagner sah sich unwillkürlich um. Es war immer noch ziemlich hell, aber hier und da brannten die ersten Lichter. Das GEW-Gelände war nicht groß, es erstreckte sich jenseits des Knickes, den die Straße machte, über die Länge von ein- bis zweihundert Metern. Einige Leuchtstoffröhren erhellten die Gebäude, aber soweit man durch die Fenster sehen konnte, war niemand mehr dort. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lagen kleinere Gewerbebauten, flache Hallen und Container, zum Teil hinter Mauern und Toren verborgen. Die Giebel der Wohnhäuser begannen erst ein ganzes Stück weiter.

»Mir ist nicht wohl bei dem, was wir hier tun«, sagte sie.

Dann sah sie die Begeisterung in O’Connors Augen, und ihr wurde klar, dass der Spieler wieder die Oberhand gewonnen hatte.

»Rufen Sie Lavallier an«, drängte Silberman.

»Natürlich.« O’Connor blickte versonnen zu den Bauten auf der anderen Seite hinüber und dann wieder zum Mast. »Lasst mich nur eine Sekunde noch überlegen.«

»Sie können später überlegen.«

»Später ist das Jetzt der Toten. Wenn da oben ein Spiegel ist, muss er leicht schräg zu uns stehen. Der Impuls sollte ihn im Idealfall ebenfalls in einem spitzen Winkel treffen, aber in diesem Fall reichen vierzig bis fünfzig Grad.« Sein Blick suchte die Phalanx der Gewerbebauten ab. Dann ging er hinüber und ein Stück die Straße entlang. Wagner folgte ihm. Vor einer Mauer mit einer Einfahrt blieb er stehen. Sie trat neben ihn und sah, dass das stählerne Tor in einer Schiene ruhte. Eines von denen, die sich zur Seite wegschieben ließen. In der Mauer war ein Schild eingelassen.

»Eine Spedition«, sagte sie.

»Ich würde drauf wetten«, sagte O’Connor beinahe ehrfürchtig.

»Liam, du spinnst.«

Er wandte ihr sein Gesicht zu. Seine Augen glühten.

»Kika, ich spinne nicht, Herrgott noch mal! Ich arbeite seit Jahren mit derartigen Aufbauten, das ist der perfekte mathematische Punkt.«

Sie ließ langsam die Luft entweichen und sah auf das Tor.

»Dann unternimm was.«

O’Connor nickte. Er begann, in den Taschen seines Anzugs nach Lavalliers Karte zu kramen. Wagner verspürte Erleichterung und wandte sich zu Silberman um.

»Er ist endlich vernünftig geworden«, rief sie.

Ihre Augen fielen auf den Berichterstatter.

»Liam«, flüsterte sie.

»Was…?«

Er drehte sich gleichfalls um und hörte auf, nach der Karte zu suchen.

Schräg hinter Silberman stand eine junge Frau. Sie sah aus wie ein Girlie, aber sie hielt eine Waffe auf den Hinterkopf des Korrespondenten gerichtet. Ihre Linke umfasste ein Handy. Langsam schüttelte sie den Kopf.

Das Tor begann sich zu öffnen.

DRAKE

Ein anthrazitfarbener Chrysler Voyager mit abgedunkelten Scheiben parkte zwei Straßen weiter am Rand einer Wiese. Er stand dort seit etwa einer halben Stunde. Im Innern fassten sich vier Männer in Geduld. Sie trugen Anzüge und dezent gemusterte Krawatten auf weißen Hemden, die typische Kluft des Secret Service. Einer von ihnen hatte einen Knopf im Ohr, der über Kabel mit einem Handy verbunden war.

Die vergangenen Minuten hatte er mit halb geschlossenen Lidern einfach nur gewartet und gelauscht. Jetzt richtete er sich kerzengerade auf.

»Da!«, sagte der Russe in seinem Ohr.

Drake drückte den Knopf ein wenig tiefer in den Gehörgang. Die anderen Männer sahen ihn aufmerksam an.

»Wir haben sie«, sagte er leise.

»Ich bin hier«, antwortete Janas Stimme auf Italienisch. »Öffnen Sie.«

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Gruschkow.

»Nein. Ich bringe Besuch mit.«

»Was? Wen?«

»Den Mann, der alles versaut hat. Keine Zeit für Erklärungen. Offnen Sie.«

Drake stutzte. Die Verbindung brach ab.

»Sie hat O’Connor dabei, wie es aussieht«, sagte er.

»Was heißt das?«, fragte einer der Secret-Service-Männer. »Was machen wir mit ihm?«

»Er ist einer von den Guten«, sagte Drake nachdenklich. »Genau wie Kuhn. Egal. Es läuft alles wie besprochen. Haltet auf Jana. Wir haben die Überraschung auf unserer Seite. Wenn wir sie erledigt haben, ist der Rest ein Kinderspiel. Erst sie, dann Gruschkow, zuletzt

Mahder, in der Reihenfolge ihrer Gefährlichkeit. Ich will, dass das in drei Sekunden erledigt ist, und passt auf, dass die Geiseln nichts abbekommen.«

»Schon klar.«

Drake nahm den Knopf aus seinem Ohr.

»Danach«, sagte er. »gibt’s dann eben ein bisschen mehr zu tun.« Er überprüfte den Sitz des Halfters mit den beiden Colt-1911- Pistolen unter den Achseln und nickte den anderen zu.

»Dann mal los.«

JANA

Während das Tor zur Seite glitt, trieb sie den dicken Schwarzen vor sich her auf die andere Straßenseite. O’Connor und die Frau bewegten sich nicht. Sie starrten Jana an, als sei sie ein Gespenst.

In gewisser Hinsicht war sie das auch. Es musste den anderen vorgekommen sein, als sei sie geradewegs aus dem Boden gewachsen.

Wohl oder übel hatten sie nun ein paar Geiseln mehr. Aus den Augenwinkeln suchte sie die Straße ab, aber kein Mensch und kein Fahrzeug zeigte sich. Wenn jetzt jemand kam, war es aus. Sie konnte sich den Weg freischießen, aber was dann? Wen sollte sie noch alles töten?

Sie hatte es satt.

Mit leisem Rumpeln kam das Tor zum Stillstand. Jana ließ das FROG in ihren Blouson gleiten und deutete mit der Waffe ins Innere der Spedition.

»Da rein«, sagte sie. »Schnell.«

O’Connor starrte sie an.

»Sie können uns jetzt nicht entführen«, sagte er. »Wir müssen dringend duschen und haben Hunger und–«

»Ich werde schießen«, sagte sie ruhig.

Es verfehlte seine Wirkung nicht. Die drei betraten den Hof. Jana folgte ihnen. Sie hörte, wie sich das Tor hinter ihr schloss, dann öffnete sich die Tür zur Halle, und Gruschkow kam zum Vorschein. In seiner Rechten ruhte eine Glock, wie sie selbst eine trug.

»Gleich drei?«, sagte er auf Italienisch. »Ließ sich das nicht vermeiden?«

»Nein.«

Sie dirigierte O’Connor, Wagner und den Schwarzen hinein. Gruschkow trat zur Seite und ließ sie durch. Jana sondierte die Lage. Der YAG war eingefahren, allerdings ein gutes Stück von seinem ursprünglichen Platz entfernt. Der Testaufbau stand immer noch. Kuhn lag regungslos am Boden. Aus der Hallenmitte kam ihnen Mahder entgegen.

»Jana«, rief er. »Endlich!«

Beim Anblick des Lektors ließ Wagner alle Vorsicht fahren und lief zu ihm hinüber. Er drehte ihr den Kopf zu und ließ ein Ächzen hören. O’Connor bedachte Jana mit einem Blick, als wolle er ihr im nächsten Moment an die Gurgel springen, und Gruschkow hob drohend seine Waffe. Jana hielt ihn zurück. Sie deutete mit dem Pistolenlauf zur Wand, wo Wagner neben Kuhn auf die Knie gesunken war.

»Alle da rüber«, sagte sie.

»Jana«, flehte Mahder. »Bitte geben Sie mir das Geld. Ich muss weg, ich kann keine Sekunde länger hier bleiben.«

Jana schenkte ihm keine Beachtung.

»Warum mussten Sie die ganze Bande mitbringen?«, flüsterte Gruschkow. »Hier wird alles außer Kontrolle geraten, wenn wir nicht augenblicklich verschwinden.«

»Weil die ganze Bande drauf und dran war, uns reinzureiten«, antwortete sie leise. »In fünf Minuten hätten wir hier die halbe

Kölner Kripo gehabt, und auf offener Straße konnte ich sie ja wohl schlecht erschießen.«

»Dann erschießen Sie sie jetzt!«

»Jana!«

Mahder trat vor sie hin. Er wirkte nervös und aggressiv. Über den falschen Zähnen sträubte sich sein blonder Schnurrbart.

»Halten Sie den Mund«, sagte Jana.

»Ich werde meinen Mund halten, sobald ich mein Geld bekommen habe. Sie haben alles vermasselt, Sie blöde Kuh.«

»Ich sagte, Sie sollen schweigen.«

»Ich will keine Minute länger hier bleiben als unbedingt nötig, hören Sie?«

»Sie bleiben exakt so lange hier, wie ich es für richtig halte.«

»Scheiße!«, schrie Mahder. »Einen Scheißdreck werde ich tun, ich habe Angst, verstehen Sie? Herrgott, die suchen mich! Ich will hier raus!«

»Mahder!«

»Lecken Sie mich am Arsch! Geben Sie mir endlich, was mir zusteht.«

»Sie bekommen, was Ihnen zusteht«, sagte Jana.

Mit einer schnellen Bewegung richtete sie die Pistole auf den Abteilungsleiter und drückte ab. Der Schuss traf Mahder zwischen die Augen. Er wurde nach hinten geschleudert, schlug auf und blieb regungslos liegen.

Jana starrte einen Moment lang auf die Leiche. Sie fühlte sich seltsam unbeteiligt.

Dann richtete sie die Waffe auf die Gruppe an der Wand.

DRAKE

Mittlerweile herrschte dämmriges Zwielicht.

Die vier Männer näherten sich der Spedition von der rückwärtig gelegenen Straße. Sie liefen an der Mauer entlang, bis ihnen Drake mit einer Handbewegung gebot, stehen zu bleiben.

»Hier«, sagte er leise.

Vor seinem geistigen Auge entstand der Grundriss des Geländes. Er kannte die Anlage bis ins letzte Detail. Die Fläche der Spedition war annähernd quadratisch und maß etwa vierzig mal vierzig Meter, die Halle lag von der Einfahrt gesehen rechts hinten, also ihnen zugewandt, und war in die umgebende Mauer hineingebaut worden; Rückseite und rechte Längswand bildeten zugleich die Begrenzung zur Straße und zum Nachbargrundstück. Der größte Teil der hofzu- gewandten Seite ließ sich über Rolltore öffnen, an der Vorderseite gab es eine Tür, das einzige Fenster lag im hinteren Bereich zur Mauer hin. Es gehörte zu einem der drei Räume, die von der Halle abgeteilt waren. Früher war da ein Büro gewesen, jetzt barg es Feldbetten, Kaffeemaschine, Kochmöglichkeit, Kühlschrank und diverse Gegenstände, die Jana für ihre Metamorphosen benötigte. Im zweiten Raum lag Gruschkows Zentrale, dahinter die Toilette.

Drake gestattete sich ein dünnes Lächeln. Sie würden ganz schön überrascht sein. Aber wahrscheinlich würde ihnen nicht mal dazu Zeit bleiben. Alles würde blitzschnell gehen.

Er sah an der Mauer hoch. Annähernd drei Meter fünfzig. Ein Kinderspiel. Natürlich hätten sie ebenso gut durch den Haupteingang hineinmarschieren können. Drake besaß eine Fernbedienung für das Rolltor, aber Jana hätte den Lärm gehört.

Also von hinten über die Mauer.

»Noch mal in Kurzfassung«, sagte er. »Wenn wir drüben sind – geräuschlos! –, begebt ihr euch zur Vordertür. Sprengsatz anbringen, zünden, rein und draufhalten. Es kann allenfalls O’Connor im Weg rumstehen, Kuhn ist an die Wand gekettet, aber ihr dürft keinen von beiden erwischen. Wenn wir die anderen erledigt haben«, er machte eine Pause, um die Genialität des Plans noch ein wenig auszukosten, »kommt der Rest.«

Den Handschuh überstreifen. Jana die Waffe aus den erstarrten Fingern nehmen.

O’Connor und Kuhn erschießen.

Verstärkung anfordern. Secret Service, deutsche Polizei.

Perfekt.

»Wir gehen rein«, sagte er.

WAGNER

Im Fernsehen sah es irgendwie spektakulärer aus, dachte sie. Es wurde eindrucksvoller gestorben, und es klang ganz anders, wenn jemand schoss. Die Waffe der Frau hatte lediglich einen seltsam trockenen Knall von sich gegeben, und der blonde Mann war umgefallen. Kein Schrei, nichts, einfach so. Er hatte sie angebrüllt, sie hatte die Pistole auf ihn gerichtet, er hatte aufgehört zu brüllen.

Sie starrte, Kuhns Kopf in ihren Schoß gebettet, auf die Terroristin. Wie in Trance registrierte sie, dass die Waffe nun auf sie gerichtet war. Silberman neben ihr schnappte nach Luft. Seine Lippen bebten. Die Frau kam mit raschen Schritten näher, die Waffe gezückt, gefolgt von dem Kahlköpfigen. O’Connor trat ihr in den Weg und hob beschwörend die Hände.

»In Ordnung«, sagte er. »Alles in Ordnung. Okay? Wir tun, was Sie verlangen.«

Wagner fühlte den unbändigen Drang zu schreien. Zugleich war ihr, als pressten eiserne Klammern den letzten Atem aus ihr heraus.

Schlagartig wurde ihr klar, was überhaupt geschehen war. Ihr Blick fiel auf die merkwürdige Konstruktion auf der anderen Seite der Halle. Das Ding ruhte auf Schienen und war riesig. Wie ein flacher Güterwagon mit quer gestellten Rädern sah es aus, und unvermittelt begriff sie, was es wirklich war.

Sie hatten den Laser gefunden.

Sie würden alle sterben.

Die Frau musterte sie finster.

»Rührt euch nicht«, zischte sie. »Keiner von euch.«

Sie sagte etwas zu dem Mann mit der Glatze. Er nickte und machte eine unmissverständliche Gebärde des Halsdurchschneidens, während er weiter die Waffe auf sie gerichtet hielt.

»Kika«, stöhnte Kuhn. Er schlug die Augen auf und hustete. Wagner stellte fest, dass ein stechender Geruch von ihm ausging. Urin, Blut, Ausdünstungen der Angst. Es machte alles nur noch schrecklicher.

Sie wartete auf weitere Plops, darauf, auch O’Connor umfallen zu sehen und Silberman, und auf den Moment, da das Projektil auf sie zufliegen würde, aber nichts dergleichen geschah. Sie sah die Frau ihre Waffe senken und an ihr vorübergehen, den Blick auf Kuhn gerichtet. Eine seltsame Traurigkeit lag plötzlich auf ihren Zügen. Kuhns Augen weiteten sich. Er hob unter Mühen den Kopf und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.

»Nett, dich wiederzusehen, Jana«, sagte er.

Die Frau betrachtete ihn.

»Ich habe das nicht gewollt«, sagte sie. »Das kannst du mir glauben.«

Kuhn kicherte.

»Hast du wenigstens bekommen, was du gewollt hast?«

Sie zögerte. Dann wandte sie sich ab und ging weiter in den hinteren Bereich der Halle.

Im selben Moment explodierte die Tür.

60 SEKUNDEN

Der Lauf der Zeit verlangsamte sich.

Im Blitz der Detonation erschienen Jana, Gruschkow, Silberman, O’Connor und Kuhn wie Figuren auf einem Foto. Der Knall hallte in Wagners Schädel wider, dann kippte seine Frequenz nach unten weg und verwandelte sich in hohles, dumpfes Dröhnen. Die Bruchstücke der Tür flogen nicht in den Raum, sondern schoben sich herein, kamen inmitten von Skulpturen aus feurigem Rauch herangekrochen, schwarz und zerdehnt.

Alles stagnierte für die Dauer einer hundertstel Sekunde.

Stillstand.

Dann hatte Wagners Rezeptionsvermögen die Realität wieder eingeholt, und die Ereignisse vollzogen sich umso schneller. Es krachte, splitterte, barst. Kuhn bäumte sich auf und rutschte neben sie. Stimmen schrien durcheinander, Teile der Tür prasselten zu Boden. Von einem Augenblick auf den anderen brach die Hölle los.

Mit aufgerissenen Augen sah sie die Männer aus dem Rauch auftauchen und mit erhobenen Waffen in die Halle stürmen.

Wir werden befreit, dachte sie. Sie holen uns hier raus.

Sie sprang auf.

Der vorderste Eindringling hatte O’Connors Bild genau vor Augen. Er sah den Doktor zu sich herüberstarren, und sein inneres Programm sonderte ihn ohne Zeitverzug aus, ebenso den angeketteten Mann, der am Boden lag. Der Agent wusste, dass er auf jede andere Person schießen konnte, weil jede andere Person entweder Jana, Gruschkow oder Mahder war.

Er brachte die Waffe in Anschlag.

Und stockte.

Verwirrung bemächtigte sich seiner. Der Raum war voller Leute. Eine Frau schien aus dem Boden zu wachsen. O’Connor stand seitlich vor ihr, neben ihm ein weiterer Mann, ein Schwarzer, der entsetzt zurückwich.

Irgendwo dahinter Gruschkow und Jana.

Die langjährige Ausbildung des Secret Service, Jahre unerbittlichen Trainings, in denen neben seinen körperlichen auch seine geistigen Fähigkeiten, seine Sinneswahrnehmung und sein Reaktionsvermögen geschult worden waren, befähigten ihn zu einer blitzartigen Analyse, noch während er durch die Rauchschwaden weiterlief. Die unbekannten Personen konnten Geiseln sein. Mit Sicherheit gehörten sie nicht zu Janas Kommando. Ganz gleich, wer sie waren, er durfte sie auf keinen Fall treffen, aber es wurde unweigerlich geschehen, wenn er jetzt schoss, weil sie ihm den Blick verstellten.

Einen Herzschlag lang fühlte er sich hilflos und überfordert, dann sprang er zur Seite, um bessere Sicht zu erlangen.

Der kaum messbare Moment des Zögerns besiegelte sein Schicksal.

Jana wirbelte herum, noch während die Trümmer der Detonation umhersausten. Sie sah den Agenten mit ausgestrecktem Arm seitlich von O’Connor auftauchen, während Silberman mit panischem Blick an ihr vorbeirannte, und feuerte mehrmals schnell hintereinander.

Der Agent prallte mit zerfetzter Brust zurück und stürzte in den Rauch. Zwei weitere Männer erschienen und liefen in die Halle hinein. Das Donnern ihrer Waffen wurde von den Wänden zurückgeworfen und zu einem rollenden Echo verstärkt, durchbrochen vom schrapnellartigen Zischen der Einschläge.

Jana vollführte einen Satz. Ohne im Feuern innezuhalten, hechtete sie zu dem Schaltkasten in der Mitte der Halle und schlug mit der freien Hand auf den grünen Knopf.

Von der gegenüberliegenden Wand erklang dumpfes Grollen.

Langsam setzte sich der tonnenschwere Untersatz des YAG in Bewegung.

Gruschkow reagierte bei weitem langsamer als Jana. Er war im Schießen nicht geübt. Seine Schnelligkeit lag im Programmieren und Knacken von Codes, seine Gedanken eilten den meisten Menschen davon, aber dieser Situation war er nicht gewachsen. Es war sein Glück und sein Verhängnis zugleich, dass O’Connor und die Frau, die vor seinen Augen aufsprang, den Agenten die Sicht nahmen. Er sah den ersten der Angreifer fallen, riss die Frau zu sich heran und hob die Waffe.

Etwas prallte schmerzhaft gegen seinen Unterarm. Die Pistole entglitt seinen Fingern.

Der zweite Agent rannte auf Gruschkow zu und versuchte, den Russen ins Visier zu nehmen. Vor seinen Augen spielte sich ein heilloses Durcheinander ab. Jana schien durch die Halle zu fliegen, während Gruschkow plötzlich Mittelpunkt eines Getümmels war. Einen Moment lang hielt der Russe die große Frau als lebenden Schutzschild vor sich, dann wurde er von O’Connor attackiert.

Unmöglich, Gruschkow zu treffen.

Der Agent fuhr herum und zielte auf Jana.

Sie sah es aus den Augenwinkeln, pirouettierte um den Schaltkasten herum und drückte ab. Der Agent schrie auf und schlug in vollem Lauf hin, dann spürte sie einen brennenden Schmerz am rechten Oberarm.

Sie war getroffen worden!

Ein Streifschuss. Es war nur oberflächlich. Sie rannte weiter.

O’Connor holte aus.

Er hatte nicht die mindeste Ahnung, wer die Eindringlinge waren, aber sie schossen auf die Terroristen, also konnten sie keine Gegner sein. Nachdem es ihm gelungen war, Gruschkow die Waffe aus der Hand zu schlagen, flog seine Faust ein weiteres Mal heran. Er war im

Prügeln nicht unerfahren. Der Schlag hätte dem Russen das Nasenbein zertrümmert, aber diesmal war Gruschkow schneller. Er stieß Wagner von sich weg und begann, mit langen Schritten von ihnen fortzulaufen.

O’Connor kam ins Wanken, als sie gegen ihn fiel. Jemand schrie. Es war einer der Männer, die zur Befreiung gekommen waren. Er wälzte sich am Boden und schoss wahllos um sich.

Befreiung? Was zum Teufel war das für eine Befreiung?

Etwas pfiff dicht an seinem Ohr vorbei.

»Kuhn«, heulte Wagner auf. »Wir müssen Kuhn–«

Er packte sie bei den Schultern und begann, mit ihr nach hinten zu laufen.

»Kuhn!«

»Nein!«

Silberman hatte gelernt, dass es keine Feigheit war, die Flucht zu ergreifen, wenn die Kugeln flogen. Dennoch rannte sein schlechtes Gewissen mit. Fürchterliche Angst hielt ihn gepackt, und zugleich schalt er sich einen Narren, nicht überlegter und mutiger zu handeln. Er war Kriegsberichterstatter gewesen. Er hatte so etwas schon mehrfach erlebt.

Nein, Unsinn! Er hatte so etwas noch nie erlebt.

Die Kugeln waren in sicherem Abstand geflogen in Bosnien, die Raketen am Horizont eingeschlagen in Kuwait. Sie hatten gefilmt, was man filmen konnte, ohne jeden Augenblick befürchten zu müssen, Opfer eines Krieges zu werden, den andere gegeneinander führten. Sie waren auch nie weggelaufen, sondern hatten allenfalls überstürzt die Zelte abgebrochen, und immer hatte ein Wagen bereitgestanden, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen.

Nie zuvor war er mit einem halben Dutzend Menschen in einer Halle eingesperrt gewesen, die wie die Wahnsinnigen aufeinander schossen. Die Eindringlinge sahen aus wie Agenten des Secret Service, aber sie trugen nicht eben dazu bei, die Atmosphäre erträglicher zu machen.

Es war entschieden zu viel für seinen Geschmack, was in diesen Sekunden passierte.

Er musste raus hier!

Er hastete auf die Türen zu, die er schon beim Eintreten bemerkt hatte. Offenbar führten sie zu Räumen im hinteren Teil der Halle. Ein Rumpeln und Poltern mischte sich plötzlich in das Schreien und Schießen. Mit halbem Blick sah er das riesige Ding näher kommen, das an der Längswand gestanden hatte, lief weiter, riss eine der Türen auf und stolperte in den dahinter liegenden Raum.

Der Zusammenprall warf ihn zurück.

Entsetzt registrierte er, dass er mit jemandem zusammengestoßen war. Ein Mann starrte ihn verdattert an, taumelte. Er trug einen dunklen Anzug wie die anderen Angreifer und eine Pistole. Hinter ihm zeichnete sich das Karree eines Fensters ab. Auch diesmal erkannte Silberman die Kluft des Secret Service. Es war ihm gleich. Ohne nachzudenken drängte er weiter vorwärts, versuchte, den Mann zur Seite zu schieben, um zum Fenster zu gelangen.

Der andere packte ihn wortlos. Silberman fand sich in eiserner Umklammerung und griff nach dem Gesicht des Mannes, aber es war zwecklos.

Mit einem Aufschrei flog er zurück in die Halle.

O’Connor sah Silberman in der Tür verschwinden und fast im selben Moment wieder zum Vorschein kommen. Die Art und Weise, wie dies geschah, ließ keinen Zweifel daran, dass man den Raum besser nicht betrat.

Er riss die Tür daneben auf.

Der Raum sah aus wie eine Schaltzentrale. Computer, Laptops und laufende Fernseher.

»Kika…«

»Wir müssen zurück, Liam. Wir können ihn nicht da liegen lassen.«

»Du bist wahnsinnig. Rein mit dir, um Himmels willen!«

Ihr Blick war ein einziges Flehen.

»Kuhn«, sagte sie.

O’Connor nickte mit zusammengekniffenen Lippen. Während sie sich rückwärts in den Raum hineinbewegte, zog er die Tür zu und rannte geduckt zurück zu dem Lektor.

Er hoffte inständig, dass niemand sie in dem Raum suchen würde.

Gruschkow sah den YAG heranrollen und Jana an sich vorbeilaufen. Sie blutete am rechten Oberarm.

»Wir nehmen ihn in die Zange«, rief sie.

Er sah sich um. Zwei der Angreifer waren ausgeschaltet, der dritte nicht auszumachen. Auch Jana verschwand auf der anderen Seite des YAG. Fluchend sprang er zurück, bevor das Ding ihn über den Haufen fahren konnte.

Der Plan war gut, aber er hatte keine Waffe.

Gleichgültig. Jana würde ihm Feuerschutz geben. Er würde für die nötige Überraschung sorgen.

Der dritte Agent schickte hektische Blicke nach rechts und links. Der Koloss, der sich mit einem Mal in Bewegung gesetzt hatte, brachte alles restlos durcheinander, aber wenigstens bot er ihm Schutz.

Der Verschluss seiner Waffe stand offen, das Magazin war leer geschossen. Atemlos klickte er es heraus und lud nach. Das Schießen hatte aufgehört. Nur das schleifende Geräusch der schwarz glänzenden Räder in ihren Schienen erfüllte die Halle. Mit klopfendem Herzen bewegte er sich mit dem YAG, die auseinander gesprengte Tür in seinem Rücken, wohl wissend, dass auf der anderen Seite des dahinrollenden Lasers sein Tod wartete, wenn er nicht schneller reagierte als die verdammte serbische Killerin.

Er hatte sie erwischt. Er war ganz sicher, dass er sie erwischt hatte, aber ebenso sicher wusste er, dass sie nicht tot war.

Schreckliche Angst erfasste ihn.

Nichts von dem, was Drake gesagt hatte, stimmte. Innerhalb weniger Sekunden hatte es seine beiden Kameraden erwischt, kaum dass sie durch die zerborstene Tür ins Innere gestürmt waren. Einer war tot, der andere wälzte sich stöhnend am Boden. Es hatte ein Kinderspiel werden sollen, aber wie es aussah, entwickelte sich die Operation zu einem Desaster.

Dann hörte er die Schritte. Sie kamen von zwei Seiten.

Mit beiden Händen packte er die Waffe.

Der Mann, der sich Drake nannte, zählte zwei und zwei zusammen.

Sie hatten sich verschätzt.

Er hatte keine Ahnung, wer der dicke Schwarze war, den er gerade durch die Tür gestoßen hatte, und drinnen war schon viel zu viel geschossen worden. Es war nicht so gelaufen, wie er es geplant hatte.

Ohne ein Geräusch betrat er die Halle, gerade rechtzeitig, um O’Connor zu dem angeketteten Lektor laufen zu sehen.

Er starrte auf den YAG. Der Pritschenwagen rollte langsam in die Mitte der Halle. Jemand bewegte sich seitlich daran vorbei.

Sein Blick suchte Jana.

Mit einem Satz war sie aus dem Schutz des YAG heraus und Auge in Auge mit dem dritten Agenten.

Er schoss, als habe er nur auf sie gewartet. Jana wirbelte zur Seite und kam zu Fall. Gleichzeitig feuerte der verletzte Agent am Boden auf sie. Mit aller Kraft stieß sie sich ab. Im Herumrollen drückte sie den Abzug durch, immer wieder, entleerte das Magazin. Die Projektile schossen dicht über dem Boden dahin und schlugen in Kopf,

Schultern und Oberkörper des Mannes, der herumgerissen wurde und endgültig still dalag.

Ihr verletzter Arm schmerzte höllisch, als sie hochkam. Ihre Hand fuhr nach hinten, wo die Walther PP in ihrem Gürtel steckte.

Der dritte Agent hatte auf sie angelegt.

Seine Augen glühten.

Gruschkow war hinter ihm und rammte ihm seine Faust zwischen die Schulterblätter. Der Agent taumelte. Die Waffe schlug auf den Boden und rutschte unter den YAG.

Gruschkows nächster Schlag streckte ihn zu Boden.

Der Agent sah seine Waffe auf der anderen Seite der Schiene liegen. Der Russe stand schreiend über ihm. Aus irgendeinem Grund, an dessen Natur er keinen Gedanken verschwendete, schoss Jana nicht auf ihn, sondern starrte wie paralysiert an Gruschkow vorbei.

Er würde keine zweite Chance mehr bekommen. Erst der Russe, dann die Frau. Blitzschnell rollte er sich auf die Seite, griff nach der Waffe und umfasste den Griff.

Das schwere, eiserne Rad des Pritschenwagens trennte ihm die Hand direkt am Gelenk ab, als rolle es durch Butter.

Gruschkow jubelte auf. Er riss die Arme hoch und mischte seinen Freudengesang in das markerschütternde Gebrüll des Mannes unter ihm.

»Nein!« schrie Jana.

Der Russe verstummte. Schrecken trat in seine Augen.

Er versuchte sich umzudrehen.

Das Krachen von Munition zerriss die Luft. Gruschkow wurde nach vorne geschleudert und fiel als blutiges Bündel auf den Körper des schreienden Agenten. Seine polierten Brillengläser zersplitterten.

Er spürte, wie das Leben ihn verließ, fühlte alles in sich erkalten. Die Gewissheit, sterben zu müssen, war schrecklich. Ihm war danach, etwas zu sagen, aber kein Laut kam von seinen Lippen. Seine Mundwinkel zuckten, und ein Ausdruck gelinden Erstaunens legte sich auf seine Züge.

»Nein«, flüsterte Jana.

Hinter Gruschkows Leiche wurde die Gestalt des vierten Agenten sichtbar.

»Jana«, sagte er lächelnd.

Sie starrte ihn an, fassungslos und voller Hass.

»Mirko.«

O’CONNOR

Kuhn atmete schwer. In seiner Brust rasselte es, als sei dort alles in Stücke gegangen.

»Aufhören«, flüsterte er mit geschlossenen Augen. »Aufhören!«

Im Gewitter der Schüsse hatte er unablässig gezuckt, als werde er selbst getroffen, aber O’Connor wusste es besser. Er lag halb neben, halb auf dem Lektor und schirmte ihn ab. Etwas Besseres war ihm nicht eingefallen, als er von Kikas Versteck zurückgelaufen war. Vielleicht konnte er den hilflosen Lektor so vor Querschlägern bewahren. Gezielte Schüsse würden sie beide nicht überleben. O’Connor hatte nicht die mindeste Ahnung, wer in dem Inferno welche Absichten verfolgte, also hielt er die Arme um Kuhn geschlungen und zog die Schultern hoch, als könne das etwas gegen den Kugelhagel nützen.

»Ruhig«, sagte er. »Es ist ein Spiel, Franz. Alles nur ein Spiel.«

»Ein Scheißspiel«, keuchte Kuhn.

»Ja, ich weiß. Aber wir werden gewinnen. Wir werden gewinnen!«

Er war ein bisschen erstaunt über das Maß an Altruismus, das ihn veranlasste, sein Leben für diesen Mann zu riskieren. Seltsamerweise empfand er wenig Angst. Beinahe gelassen registrierte er, dass die Aussicht zu sterben eine neue, interessante Erfahrung verhieß, über die man trefflich würde plaudern können bei Tee und Gebäck oder einer Flasche gekühlten Champagners. Und selbst wenn er sterben müsste, jetzt und hier – wäre es nicht der würdige Abschluss eines ebenso sinnlich vollkommenen wie vollkommen sinnlosen Daseins, tragisch umflort von Laster, Genialität und Trunkenheit?

Seltsame Gedanken für einen Showdown.

Seine Grabredner würden ihm Großes unterstellen, die Kirchenwände widerhallen vom Stahl schöner Worte. Er habe das Licht domestizieren gelehrt und Menschen zu Millionen in fiktive Universen gelockt. Viel getrunken habe er auch, um das Profane aus seinem Geist zu spülen. Geringere als er selbst habe er trefflich beleidigt und auf die Plätze verwiesen. Er sei ganz allgemein ein begnadeter, genialer, gedankenloser, egoistischer, undisziplinierter und arroganter Scheißkerl gewesen.

Es war ein Spiel. So viel wirklicher als das Leben. Nur, dass er den Einsatz diesmal nicht erhöhen konnte.

Kuhn sah ihn an.

»Ich will hier nicht verrecken«, sagte er.

Wurden Prominente aufgebahrt? Vor aller Augen? Wie grauenhaft. Was sollte er anziehen? Sie würden die falsche Krawatte zum Anzug aussuchen, den Ton des Hemdes verfehlen. Alles würde hinten und vorne nicht stimmen. Er würde sich noch im Tode unsterblich blamieren.

»Nein«, flüsterte O’Connor. »Ich auch nicht.«

MIRKO

Auge in Auge, unfähig zum Handeln.

Keiner von ihnen konnte gewinnen, so wie sie da standen. Sie waren einander ebenbürtig, beide gleich gut, gleich schnell. Wer immer zuerst schoss, würde vom anderen getroffen werden. Sie würden beide sterben, versetzt um ein Minimum an Lebenszeit.

Es lohnte nicht.

Mirko sprang zurück hinter den YAG, gleichzeitig verschwand Jana auf der anderen Seite. Das tonnenschwere Gerät rollte gemächlich auf ihn zu. Mirko trat einen Schritt zurück, und der YAG kam mit dem Geräusch eines Gongschlags zum Stehen.

Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie viel Lärm das Ding gemacht hatte. In der plötzlich eintretenden Stille war nur das unterdrückte Stöhnen des Agenten zu hören, der langsam auf das Loch zukroch, wo die Tür gewesen war, den blutigen Stumpf mit der anderen Hand umklammert. Er hatte es geschafft, Gruschkows Körper wegzustemmen. Mirko schenkte ihm keine Beachtung. Er stand vor der mächtigen Flanke des Lasers und versuchte, irgendein Geräusch auszumachen, das Janas Position verriet.

Aber Jana war wie er. Sie machte keine Geräusche. Er musste sich auf seine Intuition verlassen, und die besagte nur, dass sie rechts, links, oben oder unten auftauchen konnte.

Schnell ließ er sich zu Boden fallen und sprang sofort wieder auf. Der kurze Moment hatte gereicht, um unter dem Pritschenwagen hindurchzusehen. Janas Füße hätten dort irgendwo sein müssen, aber da war nichts. Augenblicklich begriff er, was sie vorhatte. Ohne Verzug feuerte er über die Kante des YAG hinweg, während er rückwärts durch die Halle lief. Mit zunehmender Entfernung von dem Laser sah er Jana darauf liegen – eine Sekunde später, und sie hätte ihn gehabt. Er feuerte mit solcher Frequenz, dass ihr nichts anderes übrig blieb, als sich mit einem Sprung jenseits des YAG in Sicherheit zu bringen, dann war er aus der Halle heraus und im Innenhof.

JANA

Sie hörte Mirko entkommen und widerstand dem Impuls, ihm hinterherzulaufen. Er würde sie erwischen, sobald sie die Halle verließ. Draußen war er in der besseren Position.

Jana schenkte dem Streifschuss an ihrem Oberarm keine weitere Beachtung. Ohne den Griff um die Pistole zu lockern, trat sie hinter dem YAG hervor. Die Halle bot einen schrecklichen Anblick. Innerhalb einer Minute war ein Sturm der Vernichtung hindurchgefegt. Gruschkow war tot. Im vorderen Bereich lagen Mahder und die erschossenen Agenten. An der Wand gewahrte sie O’Connor, der sich langsam aufrichtete, ebenso wie der Schwarze weiter hinten. Kuhn versuchte, sich gleichfalls hochzustemmen, und knickte wieder ein. Von der Frau war nichts zu sehen.

Jana steckte die Walther PP zurück in ihren Gürtel und schob ein neues Magazin in die Glock. Sie sah zu dem Büro hinüber, durch das Mirko eingedrungen war. Es stand offen. Mit schnellen Schritten war sie dort und zog die Tür zu. Mirko konnte auf die Idee verfallen, ein zweites Mal das Fenster zu benutzen. Sie rechnete nicht wirklich mit einem solchen Dacapo, aber sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass er ein doppeltes Spiel trieb.

Irgendwie musste sie den Ausgang blockieren.

Sie stieß die Tür zum Computerraum auf und sah sich Kika Wagner gegenüber.

»Raus«, fuhr sie die Frau an. »Zu den anderen.« Dann kam ihr eine Idee. Während sie versuchte, alles gleichzeitig im Blick zu behalten, Wagner, O‘Connor und den gesprengten Eingang, gab sie der Frau den Befehl, einen Stuhl mit herauszubringen und den Zugang zum Büro zu blockieren.

Ihr Blick fiel auf den langen Holztisch.

»O’Connor!«

Er sah zu ihr herüber und rappelte sich hoch. Mit seinen weiß bandagierten Händen glich er auf bizarre Weise einem Butler. Sie fragte sich, ob er in der Lage war zuzupacken, aber er hatte auch die Absperrung des GEW-Geländes hinaufklettern können. Ohne die Türöffnung aus den Augen zu lassen, ging sie zu dem Schwarzen und zerrte ihn hoch. Der Mann ließ einen Schmerzenslaut hören. Sie bemerkte Blut auf seinem Oberschenkel und sah, dass er angeschossen worden war. Eigentlich ein Wunder, dass überhaupt jemand in der Halle überlebt hatte bei Hunderten herumpfeifender Projektile.

»Ihr beide«, sagte sie barsch, »du und O’Connor. Rüber zu dem Tisch.«

Der Schwarze blinzelte verständnislos mit schmerzverzerrter Miene. Sie wiederholte die Anordnung auf Englisch. Diesmal reagierte er, aber er humpelte auf O’Connor zu.

»Stopp!«

Er verharrte.

»Zum Tisch, habe ich gesagt«, schrie Jana. »Schnappt euch das Ding und verstellt die Tür damit. Los, beeilt euch.«

»Er ist verletzt«, sagte O’Connor. Sein Brustkorb hob und senkte sich. Er funkelte Jana zornig an.

»Dann mach es allein!«

Den Blick unverwandt auf Jana gerichtet, machte sich der Physiker an dem Tisch zu schaffen und begann, ihn über den Hallenboden zu schleifen. Das Geräusch war enervierend. Sie sah abwechselnd zu ihm und Wagner. Die Frau hatte den Stuhl unter der Klinke verkeilt und kam langsam herüber.

»Hilf ihm«, sagte Jana.

Wagner gehorchte. Zu zweit schafften sie es schneller. Aus irgendeinem Grund schätzte Jana, dass Mirko nicht auf die Frau oder O’Connor schießen würde. Noch nicht. Er hatte es ganz klar auf das Kommando abgesehen, aber ganz offensichtlich war ihm ebenso wenig an der Befreiung der Geiseln gelegen. Welche Pläne auch immer er verfolgte, er würde an allen Verrat üben, die noch in diesem Raum waren.

Voller Bitterkeit machte sie sich klar, dass das Trojanische Pferd zu keiner Zeit beabsichtigt hatte, das Kommando entkommen zu lassen. In ohnmächtiger Wut presste sie die Kiefer aufeinander. Nie zuvor in ihrem Leben war sie auf so perfide Weise getäuscht worden. Nie hatte sie sich selbst so schrecklich getäuscht! Wie eine Fata Morgana manifestierte sich die Zukunft vor ihr, das andere Leben, friedlich, unspektakulär, möglicherweise langweilig – aber was hätte sie alles gegeben für ein bisschen Langeweile am richtigen Ort! –, und verging, als hätte es die Vision niemals gegeben. Alles schien verloren. So kurz vor dem Ziel war sie ihrem Frieden ferner denn je, gefangen in dieser Halle, umdünstet von Blut und Angst. Übel konnte einem werden. Sie hasste Massaker. Massaker hatten nichts gemein mit einem sauber ausgeführten Mord, einer professionellen Tötung. Sie hatte die Gemetzel an den Krajina-Serben gehasst, an den Bosniern, an den Kosovaren, die Menschenverachtung eines Karadzic, die willkürlichen Hinrichtungsorgien von Arkan, all die Überfälle auf Bauernhäuser in der Nacht, das Hervorzerren von Menschen, das dumpfe Johlen der Horde, wenn Dutzende von Frauen und Kindern in Gruben gestoßen und Handgranaten hinterhergeworfen wurden, die Geräusche menschlichen Leids. Niemand, den sie je getötet hatte, hatte leiden müssen. Selbst der amerikanische Präsident, dessen Arroganz sich wie Säure ins Herz des Balkans gefressen hatte, der Mann, dem in wenigen Wochen gelungen war, was der monströse Apparat kommunistischer Propaganda in einem halben Jahrhundert nicht hatte zuwege bringen können, nämlich den Hass der Serben auf Amerika zu entfachen, sogar er wäre einen gnädigen, schnellen Tod gestorben, er hätte einfach aufgehört zu existieren, ein Symbol der Macht in diesem und des Scheiterns im nächsten Moment.

Ungeduldig sah sie zu, wie Wagner und O’Connor den Tisch vor die geschwärzte Öffnung wuchteten und zurückkehrten. Silberman war auf Händen und Knien zu Kuhn gekrochen und redete leise mit dem Lektor.

Was, wenn das Attentat gelungen wäre? Hätten Mirkos Männer auch dann die Spedition gestürmt? Wollte das Trojanische Pferd auf diese Weise alle Spuren tilgen? Aber dann stellten sie es grundverkehrt an, denn so legten sie die Spuren erst recht, die unweigerlich nach Belgrad führen würden oder nach Moskau. Man würde die Leichen identifizieren und herausfinden, wer sie waren. Sie und Gruschkow. Eine serbische Nationalistin und ein russischer Schwerverbrecher.

Es ergab keinen Sinn!

Es sei denn – dass sie genau dies beabsichtigten!

Jana konnte es nicht glauben. Warum sollten Mirko und seine Auftraggeber so etwas tun?

Sie musste dahinterkommen, was er vorhatte. Viel Zeit würde ihr nicht bleiben, und solange Mirko die Halle belagerte, konnte sie nicht fliehen. Sie überlegte, was sie an seiner Stelle tun würde. Es bestand kein Zweifel daran, dass Mirko sich verschätzt hatte. Würde er Verstärkung anfordern? Wenn ihm daran gelegen war, Tabula rasa zu machen, stand auch er unter enormem Zeitdruck. Im Umkreis einiger hundert Meter gab es zwar keine Wohnhäuser, aber die Explosion oder die Schießerei konnte dennoch jemanden auf den Plan gerufen haben. Irgendwann würde die Polizei die Spedition ohnehin ausfindig machen. Jeder würde gegen jeden stehen.

Sie musste hier raus und Mirko zur Strecke bringen, bevor es so weit war.

Ihr Blick fiel auf den verletzten Angreifer, der sich mit der unversehrten Hand vom Boden hochstemmte. Einen Moment lang erwog sie, ihn zu töten.

Dann kam ihr eine bessere Idee.

O’CONNOR

»Wir könnten fliehen«, flüsterte Wagner, während sie die zerborstene Öffnung mit dem Tisch blockierten. »Du könntest fliehen, und ich bleibe bei Kuhn. Vielleicht sind noch einige von denen draußen.«

»Du meinst, die sollten uns hier rausholen?«, fragte er leise.

»Du nicht?«

»Ich weiß nicht. Wo sind die so schnell hergekommen? Vielleicht sollten sie die Terroristen fertig machen, aber wir schienen eher im Weg gestanden zu haben. Silberman ist getroffen worden.«

»Warum sonst sollten sie die Halle gestürmt haben?«

»Gute Frage. Ich weiß es nicht, aber wegen uns kann es nicht gewesen sein. Und warum dann nicht die Polizei? Ich glaube, wenn wir rausgehen, ist es noch unsicherer als hier drinnen.«

Tapsende Geräusche erklangen dicht hinter ihnen. Sie fuhren herum und sahen einen der Angreifer auf sich zutaumeln. Er sah schrecklich aus. Sein Gesicht war eine Grimasse der Qual.

Jana sprang auf und hob die Waffe.

»Weg von der Tür!«

Der Mann blieb stehen. Er hob die Arme. Dort, wo die rechte Hand hätte sein müssen, war ein blutiger Stumpf, den er mit der Linken abdrückte. Ein Stöhnen kam über seine Lippen. Er tapste ein paar Schritte rückwärts, verdrehte die Augen und fiel auf die Knie.

»Mein Gott«, sagte Wagner.

Sie lief zu ihm.

»O’Connor«, rief Jana. »Können Sie die Blutung stoppen?«

Der Mann war gegen Wagner gesunken, die ihn an den Schultern festhielt. O’Connor sah zu dem Verletzten herab. Mit schnellen Bewegungen löste er seine Krawatte. Der Mann war verzweifelt bemüht, mit der gesunden Hand die Arterie abzuklemmen und dem Spritzen des Blutes Einhalt zu gebieten, aber es würde nicht reichen, ihn vor dem Verbluten zu bewahren.

»Bitte«, wimmerte er auf Englisch. »Helfen Sie mir.«

Wagner hielt den Mann weiterhin aufrecht, während O’Connor seinen Arm abzubinden begann. Er fühlte eine schreckliche Ernüchterung, als er dem anderen in die Augen blickte.

Das war kein Spiel mehr.

Ausgespielt, dachte er. Und die Krawatte war auch zum Teufel. Armani, Einzelstück.

Game over.

WAGNER

Sie brachten den Verletzten zu Kuhn und Silberman, wo er sich mit dem Rücken gegen die Wand sinken ließ. Seine Brust hob und senkte sich unter tiefen, kontrollierten Atemzügen. Es war offensichtlich, dass er unter Schock stand, dennoch schien er bestrebt, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Er lehnte es ab, sich zu setzen, bat aber um Wasser. Die Terroristin wies Wagner an, eine Flasche aus dem Computerraum zu holen, und der Mann trank wie ein Verdurstender. Allmählich wich das Glasige aus seinem Blick. Der Schock milderte die körperlichen Schmerzen, womöglich auch die der

Erkenntnis, was ihm widerfahren war.

Wagner versuchte, Mitleid mit ihm zu empfinden. Aber der Fundus ihrer Emotionen war den Bedarfsanforderungen entweder nicht gewachsen oder brachte sie schlicht durcheinander. Hätte man ihr die Situation a priori geschildert, wäre sie zu der unabdingbaren Überzeugung gelangt, keine Minute davon durchstehen zu können – jetzt ließ sie die schreckliche Verwundung des Mannes merkwürdig kalt. Eine Ahnung dämmerte in ihr empor, wie Soldaten empfinden mochten, die längere Zeit Bildern des Grauens und des Elends ausgeliefert waren. Natürliche Schutzmechanismen waren gut, solange sie sich nicht zu unüberwindbaren Traumata auftürmten, die der Schrecken ebenso wenig überwinden konnte wie die Seele.

Sie kniete neben Kuhn und strich ihm beruhigend übers Haar. Der Lektor schien in Katatonie verfallen zu sein. Während sich Silbermans Verletzung als oberflächlicher Streifschuss herausgestellt hatte, ging es Kuhn zusehends schlechter. Er schnappte nach Luft und hielt die Augen halb geschlossen, so dass nur das Weiße zum Vorschein kam. Wagner sah hoch zu O’Connor.

»Er muss in ein Krankenhaus«, sagte sie.

O’Connor schüttelte grimmig den Kopf. »Erst mal muss er überhaupt hier raus«, sagte er mit einem Blick auf die Terroristin. »Und das geht wohl nicht so einfach, habe ich Recht?«

Die Frau starrte an ihm vorbei auf den verwundeten Angreifer.

»Das wird er uns verraten«, sagte sie. Sie trat dicht an den Mann heran und drückte den Pistolenlauf gegen seine Schläfe. Er zuckte zurück. Seine Lippen bewegten sich.

»Bitte nicht.« Seine Stimme war kaum mehr als ein Keuchen. »Erschießen Sie mich nicht, bitte.«

Die Frau reagierte, als sei sie geohrfeigt worden. Sie prallte zurück und sah ihn ungläubig an.

»Du bist Amerikaner«, rief sie.

Er schwieg, aber sein Gesicht verzerrte sich nur noch mehr.

»Du bist Amerikaner«, wiederholte sie leise und eindringlich. In plötzlicher Wut packte sie seine Kehle und drückte ihn gegen die Wand. Er stöhnte auf und versuchte, sie abzuwehren. Sie schien vor Zorn förmlich in Flammen zu stehen. Die Waffe in ihrer Hand fuhr hoch über ihren Kopf, als wolle sie ihm damit den Schädel einschlagen. Für einen Moment ließ sie sich hinreißen, achtete nicht mehr auf die anderen, verlor die Kontrolle.

O’Connor sprang sie an.

Die Terroristin stolperte rückwärts, und er setzte nach, holte aus und schlug ihr ins Gesicht. Sie taumelte, fiel über Kuhns Füße und prallte hart auf den Rücken.

»Liam!«, schrie Wagner.

Mit einem Satz war sie auf den Beinen und stürzte zu ihm. Er machte Anstalten, sich auf die am Boden liegende Terroristin zu werfen. Wagner fiel ihm in den Arm und riss ihn zurück.

»Sie tötet dich!«, flehte sie. »Hör auf! Du hast keine Chance, sie erschießt dich, sie erschießt uns alle.«

O’Connor zitterte am ganzen Leib. Schwer atmend stand er über der Frau, die ihre Waffe auf ihn gerichtet hielt. Die Mullbinden um die geballte Faust, mit der er sie getroffen hatte, verfärbten sich an zwei Stellen rot.

»Na los«, keuchte er. »Mach schon. Warum legst du uns nicht einfach alle um, du Miststück? Wäre doch viel einfacher. Bumm, weg!«

»Ich warne Sie«, zischte die Terroristin.

»Du warnst mich? Wovor? Davor, dass ich sterben könnte? Davor muss mich keiner warnen, das weiß ich schon lange! Das Problem ist, dass du sterben wirst!«

»Zurück mit Ihnen.«

»Wenn du da rausgehst«, schrie O’Connor, »wirst du sterben! Ist es nicht so? Du bist mit deinem Latein am Ende, du wirst abkratzen!«

»Ich sagte, Sie sollen zurück an die Wand gehen!« Sie robbte über den Boden nach hinten, die Pistole starr von sich gestreckt. Dann kam sie mit plötzlichem Schwung auf die Beine. Ein Zucken ihrer Schulterblätter hatte genügt, um sie wieder in die Senkrechte zu katapultieren.

»Jana«, flüsterte Kuhn.

Alle Köpfe fuhren zu ihm herum.

Der Lektor hatte sich auf den Ellbogen gestützt. Sein angeketteter Arm stand in unnatürlichem Winkel ab. Er wirkte wie zerbrochen, aber sein Blick war klar. Die wässrigen Augen ruhten gelassen auf der Terroristin. Ohne ihre Körperspannung zu verlieren oder die Position zu verändern, erwiderte sie den Blick.

»Ich habe dir gesagt, dass sie den Preis für dich ausgehandelt haben.« Er hustete und spuckte aus. In dem Speichel, der vor ihn hinfiel, waren Blutfäden zu sehen. »Du wolltest nicht hören. Es ist immer dasselbe mit euch Nationalisten, Patrioten, Traumtänzern. Du hast verloren, Jana. Warum fragst du den armen Kerl nicht, weswegen er überhaupt gekommen ist?«

»Das hatte ich vor«, sagte Jana zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Dein idiotischer Freund ist mir dazwischengekommen.«

»Lass den Mann, er ist Schriftsteller.« Kuhn gluckste. Offenbar hatte er in den Stunden seiner Gefangenschaft ein merkwürdig entspanntes Verhältnis zu der Terroristin entwickelt. »Er kann nicht anders als übertreiben. Sorry, Liam, das war prima, aber völlig unnötig. Sie hat gar nicht vor, uns zu töten. Es ist nicht ihr… Stil. Stimmt’s, Jana? Du glaubst immer noch an die Moral des Mordens, dein Verständnis von Gerechtigkeit ist guillotinesk. Prozessieren, verurteilen, töten, das von Rechts wegen verurteilte Opfer. Wie altmodisch. Du wirst ebenso enden wie Robbespierre, an deiner eigenen Gerechtigkeit.«

»Halt den Mund, Kuhn.«

»Jana, hör zu, das hat alles keinen Sinn hier, wir…« Er schüttelte heftig den Kopf. »Du begreifst einfach nicht, was passiert. Wenn die Typen uns befreien wollten, in Ordnung, aber falls nicht… Ich meine, wir sind immer noch innerhalb des hermetischen Denkens, wir müssen den Gegebenheiten mehr Raum schaffen…«

Wagner sah langsam von Kuhn zu der Terroristin. Jana hatte sich etwas entspannt. Sie heftete ihren Blick auf den verstümmelten Killer.

»Rede endlich«, sagte sie.

»Ich weiß nichts«, stammelte der Mann. »Wirklich, ich…«

Jana feuerte.

Silberman warf sich zu Boden, O’Connor wich zurück. Der Mann schrie auf und schlug schützend die Arme über dem Kopf zusammen. Es sah schrecklich aus mit dem blutigen Stumpf. Wagner fühlte ihr Herz im Halse schlagen, dann sah sie, dass Jana vorbeigeschossen hatte.

»Wir sollten euch alle töten«, heulte der Killer. »Alle, ihr solltet sterben, das war der Auftrag, Sie, Gruschkow, Mahder, o Gott…«

»Mahder habe ich selbst erledigt«, sagte Jana. »Was noch?«

»Es war nicht meine Idee, nicht meine Idee! Wir sollten euch töten, und dann… dann .«

»Die Geiseln«, ergänzte Silberman tonlos.

Kuhn sah zu ihm hinüber und nickte matt.

»Ja, Aaron, guck mal an«, sagte er. »Prima Befreiungsaktion.«

»Wir sollten es mit euren Waffen machen, es sollte aussehen, als hättet ihr sie getötet, bevor wir kamen«, sprudelte der Mann atemlos hervor. »Das war der Plan, ich schwöre, das ist die Wahrheit!«

»Wer – seid – ihr?«, flüsterte Jana.

Der Mann nahm die Arme langsam wieder runter. Er zitterte am ganzen Körper.

»Sie wissen es doch schon.«

»Sag es.«

»Das Trojanische Pferd. Wir… wir sind das Trojanische Pferd.«

»Ihr?«, sagte Jana fassungslos. »Mirko ist…«

»Nein. Ja. Die Leute, die den Auftrag erteilt haben. Uns und Drake.«

»Drake? Wer ist Drake?«

»Drake. Drakovic. Mirko. Wie… wie immer Sie ihn nennen wollen.«

Sie starrte ihn ungläubig an.

»Aber… ihr seid Amerikaner!«

»Ja.« Er ließ ein kurzes, gepeinigtes Lachen hören. »Sie merken aber auch alles.«

MIRKO

Vom Dach der Halle aus hatte er den gesamten Innenhof im Blickfeld.

Wenn Jana es wagen sollte, sich herauszutrauen, würde sie nicht einmal Zeit finden, es zu bedauern.

Aber Mirko wusste, dass sie nicht kommen würde.

Es wurde Zeit, dass er sich etwas einfallen ließ. In die Halle hereinzugelangen stellte kein Problem dar, es zu überleben, schon. Er konnte die provisorische Blockade des Eingangs ebenso wegsprengen wie die Tür, aber diesmal würde Jana vorbereitet sein.

Mirko grinste ohne Freude. Im Grunde hätte er stolz auf sich sein müssen. Er hatte die Richtige ausgesucht.

Zum wiederholten Male überlegte er, was schief gelaufen war. Sein Fehler war es gewesen, daran gab es nichts zu beschönigen! Der vielleicht einzige und zugleich dümmste Fehler, der ihm je unterlaufen war. Sich darauf zu verlassen, dass Jana nur O’Connor und weiter niemanden gemeint hatte, als sie Gruschkow Besuch ankündigte.

Nie durfte man sicher sein.

Er hatte seine Männer in den Tod geschickt. Es waren gute Männer gewesen, aber es gab andere, die nicht weniger gut waren. Das Problem bestand darin, dass zwar ein Anruf genügte, um kraft seiner Autorität Dutzende weiterer Agenten herzubeordern, die binnen weniger Minuten hier sein würden. Er war der Bereichsleiter Wohnen des Secret Service. Nur dass sie sämtlich einem ehrenvollen Ruf folgen würden, nämlich den Präsidenten der Vereinigten Staaten zu schützen und nicht, ihn zu ermorden. Niemand außer den Dreien, die er verloren hatte, wusste, dass Karel Zeman Drakovic alias Carl Seamus Drake – einer Anwandlung von Sentimentalität folgend hatte er diesen Namen vor langer Zeit gewählt, als die Amerikaner ihm den Gebrauch eines englisch klingenden empfohlen hatten – identisch war mit einem phantomgleichen Terminator namens Mirko, der auf der schwarzen Liste der CIA stand und etwas anderen amerikanischen Interessen diente.

Er legte sich auf den Rücken und sah hinauf in den dämmrig werdenden Himmel. Dies war ein Industriegebiet. Die Explosion musste für die Gefangenen im Innern der Halle geklungen haben wie ein Donnerschlag, aber hier draußen hatten die Bewegungen der Luft den Schall rasch zerstreut, und die nächsten Wohnhäuser lagen eine ganze Strecke weit entfernt. Gleiches galt für die Schusswechsel. Dennoch durfte er sich nicht darauf verlassen, hier noch lange allein zu bleiben. Es war und blieb ein Dilemma. Allein konnte er gegen Jana wenig unternehmen, solange sie sich nicht zeigte, und jede Art von Verstärkung würde den Geiseln das Leben retten, was genauso schlecht war.

In jedem Fall wäre es das Ende für Carl Seamus Drake und alle seine synonymen Erscheinungen. Bedauerlich im Angesicht des Reichtums, den das Trojanische Pferd ihm offerierte. Selbst jetzt noch, nachdem das Attentat misslungen war, gab es eine gute Chance, den Plänen der Verschwörer Geltung zu verschaffen, wenigstens zu Teilen.

Wenn Jana nicht bald kam, würde er sie herauslocken müssen.

Oder hineingehen. Am Ende doch.

HALLE

»Wieso die Amerikaner?«

Jana sah den Agenten an, als habe er eine Erklärung für ihr persönliches Scheitern zur Hand. Sie konnte nicht glauben, dass sie für die Amerikaner gearbeitet hatte. Sie hatte die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Mirko sie mit der Nase auf Belgrad gestoßen hatte, weil in Wirklichkeit jemand anderer dahintersteckte. Moskau schien involviert, vielleicht aber auch der Nahe Osten. So viele Regimes hassten die Amerikaner und ihren Präsidenten. Selbst an Kuba hatte sie für kurze Zeit gedacht. Alle die Länder auf Amerikas schwarzer Liste. Und wenn nicht die offiziellen Machthabenden, dann doch einflussreiche und zahlungskräftige Investoren in einer Ökonomie des Terrors, die aus dem Sturm, mit dem sie die Welt überzogen, Nutzen schöpften.

Dann wieder war sie überzeugt gewesen, Mirko habe ihr diese Gedankengänge einzugeben gesucht, weil der Auftrag eben doch aus Belgrad kam! Warum hätte eine andere Nation, die Auftragsterroristen suchte, ein derartiges Fintenspiel veranstalten sollen, diesen verstohlenen Appell an ihren Patriotismus? Vielleicht, weil sie befürchteten, niemanden dafür zu gewinnen, Bill Clinton zu ermorden?

Darum eine Patriotin?

Lächerlich! Indiskutabel! Alle möglichen Leute hätten nichts lieber getan, als den Herrn des Präventivschlags unter die Erde zu

bringen. Die religiösen Fundamentalisten in der ganzen Welt, allein sie rekrutierten ein kaum überschaubares Potential von Attentätern, die in dem Vorhaben eine sakramentöse Handlung erblickt hätten. Jemand von Janas Fähigkeiten war selten in der Szene, aber er hätte sich dennoch auftreiben lassen in den Lagern der algerischen GIA, der libanesischen Hisbollah, selbst in den Reihen ultraorthodoxer jüdischer Siedlerblöcke wurde man fündig.

Sie hatte sich im Kreis gedreht. Jede Spur, die nicht nach Serbien führte, ergab keinen rechten Sinn. Zum Schluss war sie allzu bereit gewesen, der serbischen Variante Vorrang einzuräumen.

Jede Spur, die nicht nach Serbien führte…

Und welchen Sinn ergaben Spuren, die nach Serbien führten? Oder nach Moskau, woher der Laser stammte?

Mirko hatte alles über den Gipfel gewusst. Interna der Amerikaner. So, wie man es von einem Meisterspion erwarten konnte. Jetzt erschien sein Wissen in völlig neuem Licht.

Eine Ahnung dämmerte in ihr hoch. Eine ungeheuerliche Vorstellung.

»Wieso nicht die Amerikaner?«, ächzte Kuhn. »Die Welt ist konzernisiert. Schon gehört, dass die PLO vom Mossad gekauft wurde? Die IRA gehört jetzt zur Disney-Gruppe. Aufwachen, Jana. Frühstück!«

Sie hörte nicht hin. Die Gedanken jagten einander.

»Wer sind Mirkos Hintermänner?«, fuhr sie den Agenten an. »Was verbirgt sich hinter dem Trojanischen Pferd?«

»Im Trojanischen Pferd, Jana«, korrigierte sie Kuhn fröhlich. »Es war hohl. Dich haben sie nicht mit reingenommen, du solltest den Gaul nur vor die Tore ziehen.«

Der Agent schüttelte den Kopf. Er schien langsam an Kraft zu verlieren. Seine Gesichtsfarbe hatte sich von wachsweiß zu grau entwickelt.

»Weiß es nicht«, antwortete er matt. »Wirklich nicht, ich… schwöre. Drake weiß es… Mirko.«

»Mirko war mein Auftraggeber«, schrie Jana ihn an. »Und jetzt versucht er uns alle umzubringen, also soll ich rausgehen und ihn fragen?«

»Mirko… Er…«

»Wer ist Mirko, verdammt? Wer ist dieses Arschloch, dem ich vertraut habe?«

»Dra… Drakovfc.« Die Aussprache des Agenten wurde immer undeutlicher. Er machte längere Pausen, wenn er sprach. »Sein richtiger Name… Serbien geboren… aufgewachsen USA. Mehr weiß… nicht. Heißt, er war… Doppelagent. Für Russen spioniert. Die Fronten gewechselt. Irgendwann, lange her. Er… Sie sagen, er hat der CIA ein paar Geheimnisse verraten… Seine Karriere… CIA, dann… Secret Service.«

»He, Jana, was höre ich da?«, ächzte Kuhn. »Du arbeitest für den Secret Service? Donnerwetter!«

»Sei endlich still!«, fuhr sie ihn an.

»Machen Sie sich nichts draus«, sagte Silberman. Es war das erste Mal, dass er sich vernehmen ließ seit der Schießerei. Unbeholfen humpelte er näher und sah den Agenten an. »Leute wie Mirko täuschen noch ganz andere. Es gibt ein paar brisante Personalentscheidungen in der Geschichte der CIA, und beim Secret Service auch, nicht wahr? Fachleute für Terrorismus, ehemalige Agenten der Gegenseite, Ausländer. Wertvoll. Oft die besseren Amerikaner. Uns selbst können wir ja kaum noch trauen. Anfang der Neunziger wurde der höchste Agent der CIA als Doppelagent entlarvt, und der stammte – glaube ich – aus Chicago. Er hat Reagan und Bush jahrelang weisgemacht, die Sowjetunion sei viel mächtiger, als sie in Wirklichkeit war, und alle sind drauf reingefallen. Wir haben Milliarden investiert in die Protektion gegen ein Reich des Bösen, das eines schönen Tages wie ein morscher Schuppen auseinander fiel.«

Der Agent bäumte sich auf und sackte in sich zusammen.

»Wenn Sie eine Antwort wollen, Jana«, sagte Silberman, während er zusah, wie der Körper des Mannes an der Wand nach unten rutschte, »schauen Sie in mein Land. Wir haben eine lange Tradition in der Ermordung unserer Präsidenten. Was überrascht Sie also?« Er drehte sich zu ihr um und breitete die Arme aus. »Allerdings muss ich zugeben, dass wir den rituellen Königsmord lieber selbst begehen, als es Ausländern zu überlassen. Ihr treibt zu viel Aufwand, und am Ende geht es schief.«

»Und was ist mit dem hier?«, fragte Wagner mit Blick auf den bewusstlosen Agenten. »Warum wollen diese Leute ihren Präsidenten töten?«

»Der arme Hund da, der noch nicht begriffen hat, dass er sich mit rechts nicht mehr am Hintern kratzen kann? Schwer zu sagen. Ich schätze, er gehört zu einer Seilschaft. Die offiziellen staatlichen Organe sind infiltriert davon. Von Extremisten, Nationalisten, Rassisten. Oder einfach nur Killer, die ihr mageres Staatssalär aufbessern. Die Frage ist, wer am Ende des Seils ist. Das hier ist Mirkos Truppe, aber Mirko hat sich auch nur instrumentalisieren lassen. Wenn Sie die politischen Verhältnisse in den USA besser kennen würden, könnten Sie darauf tausend mögliche Antworten finden, ohne es am Ende zu wissen.«

»Ich will es aber wissen«, sagte Jana heftig. »Ich will wissen, wem ich diesen Verrat verdanke!«

»Du würdest es doch gar nicht verstehen«, sagte Kuhn gepresst.

»Was?«

»Selbst wenn du es wüsstest, könntest du nichts damit anfangen.« Er keuchte und sog unter Schmerzen Luft in seine Lungen. »Amerika ist dir ebenso unbekannt wie Serbien dem amerikanischen Präsidenten. Ihr unterscheidet euch durch gar nichts. Wie willst du den Bösen finden, wenn du nicht mal die Guten kennst? Geh, koch uns einen Kaffee, der Kaffee heute war gut, aber lass die Politik in Ruhe, ja?«

»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte Jana mühsam beherrscht. Kuhn tat ihr wider Willen leid, sie hatte nicht gewollt, dass Gruschkow ihn halb tot trat, aber er begann ihr auf die Nerven zu gehen.

»Nein, er hat Recht«, sagte Silberman. Seine Stimme war fest, nur das gelegentliche Zucken seiner Gesichtsmuskeln verriet, dass er Schmerzen hatte. »Und das ist das Traurige. Wir sitzen in dieser Halle aufgrund tragischer Irrtümer. Ihr Irrtum, Jana, beginnt vor vielen hundert Jahren und findet sein vorläufiges Ende im Scheitern eines despotischen Nationalisten, der sein Volk fortgesetzt mit seiner eigenen Geschichte vergewaltigt. Unser Irrtum besteht darin, dass wir die Weltgesellschaft mit der Mediengesellschaft verwechseln. Wir sind ernsthaft der Meinung, Menschen unsere Werte verordnen zu können, ohne uns über ihr Leben, ihre Besonderheiten, ihre Kultur und ihre Geschichte kundig machen zu müssen, und wenn Sie genauer hinschauen, stellen Sie fest, dass wir selbst gar keine klar umrissenen Werte haben. Amerika ist in tiefem Zwiespalt, der Amerikaner selbst sein größter Feind. Das müssen Sie begreifen, wenn Sie nach Verrätern suchen.«

»Sagen Sie mir, wer hinter Mirko steht.«

»Ich weiß es nicht.« Der Berichterstatter schüttelte den Kopf. »In meinem Land gibt es zwei Lager. Kaum ein Präsident hat das so deutlich zutage gefördert wie Clinton. Mit jedem Schritt, den er in Richtung Liberalisierung gegangen ist, hat er sich den Hass der Reaktionäre umso mehr zugezogen. Die meisten Republikaner halten nichts von einem Präsidenten, der Schwule zum Militär zulässt, wo doch ein nach wie vor gültiges texanisches Gesetz Homosexuelle als geistig verwirrt einstuft und der Oralverkehr zwischen Ehepartnern in jedem dritten Bundesstaat gesetzlich verboten ist. Ihrer Meinung nach nimmt der Präsident dem amerikanischen Mann jede Würde.

Er beleidigt sein Anstandsgefühl durch Sex-Skandale und will die Waffengesetzgebung umkrempeln. Die Löhne sinken, die Arbeiter bekommen ihre alten Jobs nicht wieder, ihre Frauen müssen härter arbeiten. Das wurmt die Jungs im tiefen Innern von Tennessee, Georgia, Mississippi, Oklahoma, Arkansas, Wisconsin, wenn die Frauen das Geld nach Hause bringen, und dann will Clinton ihnen auch noch die Kanone wegnehmen, so einer muss verschwinden!«

»Als ob Schröder den deutschen Männern das Vögeln verbieten wollte«, kicherte Kuhn. »Viel schlimmer, die Erektion.«

»Sie wollen behaupten«, sagte Jana lauernd, »die Republikaner hätten Mirko beauftragt? Und damit mich?«

»So einfach ist das nicht, Jana. Es ist verdammt schwer zu sagen, aus welcher Ecke Mirko kommt. Ich kann Ihnen eine ganze Jagdgesellschaft bieten! Clinton ist auf eine Weise gehetzt worden wie kein anderer vor ihm, und Kenneth Starr ist nur der Hund, den andere von der Leine gelassen haben. In seinem Gefolge findet sich eine korrumpierte Justiz, die sich politisch hat missbrauchen lassen. Faschistoide Richter. Ultrakonservative Anwälte, InternetSchmierfinken, religiöse Extremisten, fanatische Fernsehprediger, die zu öffentlichem Widerstand aufrufen und Clinton mit dem Teufel gleichsetzen, das Böse im White House exorzieren wollen – stellen Sie sich das in Deutschland vor, Schröder als inkarnierter Luzifer auf allen Kanälen! Dann Paula Jones, die Frau, der Clinton angeblich vor Jahren unaufgefordert sein bestes Stück gezeigt haben soll, seit Jahren führt sie einen hanebüchenen Kleinkrieg gegen ihn, den sie gar nicht finanzieren könnte, wenn nicht auf geheimnisvolle Weise immer wieder Geld und Staranwälte auftauchen würden. Auch sie wird instrumentalisiert von den wahren Clintonhassern, ebenso wie die einfachen, enttäuschten Arbeiter, die gewaltbereiten Suprematisten, die ganze rechtsextreme Szene.«

»Alles Splittergruppen«, sagte Jana zornig. »Ich kenne diese Szene.

Niemand hätte einen solchen Auftrag vergeben können.«

»Es geht nicht darum, was die können, Jana. Es geht darum, wer sie manipuliert. Wo kommt das Geld her, um diese Leute zu finanzieren? Wer finanziert Sie?«

Jana schwieg.

»Das Problem mit unserer extremen Szene ist nicht, dass es viele sind«, fuhr Silberman fort. »Im Gesamtvergleich zur Bevölkerung sind es immer noch wenige. Die meisten Amerikaner sind anständige und gute Menschen. Ich bin sicher, in Serbien ist das nicht anders. Die Skins in Deutschland müssen uns keine Sorgen bereiten. Be- sorglich ist, wer all diese Leute kontrolliert und benutzt, und es ist das Kapital. Aber vor dem Kapital haben wir einen Heidenrespekt, also doktern wir lieber an den Symptomen rum. Auch Sie, Jana, sind nicht das Problem. Sie wissen ja nicht mal, für wen Sie arbeiten. Das Problem ist, dass Auftraggeber wie jene, die hinter Ihrer Operation stehen, vor allem Geldgeber sind, das heißt, sie haben genug davon. Also repräsentieren sie den entscheidenden Faktor in der Ideologie des Kapitals, der wir folgen, genießen Respekt, haben Macht und Einfluss, verdiente Leute, die gar nicht Unrecht haben können, sonst wären sie ja arm. Jedes Land wird auf die Dauer Probleme mit seinen Extremisten bekommen, wenn es nur Sündenböcke jagt und sich weigert, die wahren Ungeheuer in seinen eigenen etablierten Kreisen zu suchen und die Allmacht des Kapitals zu überdenken. Wie Sie sehen, kann man sogar den Tod des amerikanischen Präsidenten kaufen. Man kauft Mirko, und der kauft Sie.«

»Tausend Gründe, eurem sauberen Amerika einen Denkzettel zu verpassen.«

Silberman hatte sich in Rage geredet. Nun stand er still da. Plötzlich wirkte er sehr niedergeschlagen.

»Glauben Sie das wirklich?«, sagte er.

»Ja. Euer verdammter, arroganter Westen!«

»Und wie viele Gründe hatte jemand, der in den letzten Monaten und Jahren ferngesehen hat, Bomben auf Ihr Land zu werfen?«

Eine kurze Stille trat ein.

»Hören diese Irrtümer niemals auf?«, seufzte Silberman. »Nicht die Amerikaner sind die Feinde der Serben, nicht die Kosovaren, nicht die Bosnier, und ihr seid nicht unsere. Nicht die Russen waren die Feinde der Deutschen, nicht die Franzosen. Der Feind ist immer die Verblendung im eigenen Land, unser Nichthinsehen, die allzu schnelle Akzeptanz fadenscheiniger Ideologien. Haben Sie je von Vince Henrik gehört?«

»Henrik?«

»Ein Multimilliardär aus Knoxville. Verleger einiger radikaler Law-and-Order-Blätter. Geheimnisvoller Erbe aus dem Clan einer berühmten Industriellenfamilie. Er gilt als Pate des amerikanischen Konservativismus und großzügigster Förderer der Republikaner. Sein Vermögen wird auf zehn Milliarden Dollar geschätzt, und seine Verbindungen reichen bis ganz oben, wahrscheinlich aber auch bis ganz unten, mitten in den Sumpf. Bei genauerem Hinsehen stellen sie plötzlich fest, wer die Anwälte der Clintonhasser bezahlt. Wer Kenneth Starr finanziert. Henrik. Der freundliche alte Herr mit den Knitterfalten um die blauen Augen und dem weißen Märchenonkelhaar. Sein Lebenswerk ist es, Clinton zu vernichten.« Silberman machte eine Pause. Er wirkte erschöpft. »Henrik ist der Chefprediger des Hasses, und er bewegt sich im Zirkel anderer, deren Vermögen ähnlich dimensioniert sind. Die Rüstungsindustrie ist gar nicht gut zu sprechen auf einen Präsidenten, der den Kalten Krieg abschaffen will–«

»Die amerikanische Rüstung dürfte ganz gut daran verdient haben, mein Land zu bombardieren!«

»Und darum wollen Sie Clinton töten? Er hatte keine Lust auf diesen Krieg. Nicht wirklich, und das weiß die Rüstungsindustrie verdammt genau. Auch die Waffenlobby ist sauer, weil Clinton keinen Respekt vor dem Pioniergeist seiner Vorväter hat. Und die Kohle- und Stahlbarone aus Pennsylvania, die den Sozialstaat abschaffen wollen, mit dem er sie drangsaliert, sie alle würden ihn am liebsten umbringen. Nicht zu vergessen die Tabaklobby, die sich übrigens gleich den richtigen Anwalt genommen hat, nämlich Kenneth Starr, der – wir erinnern uns – von Henrik bezahlt wird. Henrik hier, Henrik da! Clinton hat sich mit den fundamentalistischen Werten Amerikas angelegt und, viel schlimmer noch, mit dem Kapital.«

Jana hatte die Waffen sinken lassen. Plötzlich fühlte sie, wie aller Mut von ihr wich.

»Warum sollten diese Leute ein serbisches Kommando vorschieben?«, sagte sie tonlos.

»Ich weiß es nicht«, sagte Silberman.

O’Connor räusperte sich.

»Ich verstehe ja nichts von Politik«, sagte er gedehnt.

»Nicht so genant, Liam«, presste Kuhn hervor. »Machen Sie uns glücklich.«

»Es ist nur eine Theorie, die mir gerade ein bisschen aufdringlich kommt«, sagte O’Connor. »Also, wenn Geld keine Rolle spielt, um Clinton loszuwerden, gibt man es eben aus. Ist er tot, ist er weg, aber wem könnte man es in die Schuhe schieben? Zufälligerweise geht es auf dem Balkan gerade zur Sache. Die Nato hat angedroht zu intervenieren. Wunderbar. Dann waren es eben die Serben. Im Zweifel waren es dann nämlich auch die Russen, was den Interessen der Mörder noch mehr entgegenkäme. Sie können sich öffentlich entrüsten, es gibt wieder Argumente für den Kalten Krieg und für die generelle Notwendigkeit, sich zu schützen, heiße Strafmaßnahmen mit eingeschlossen. Gut für die Waffenlobby, für die Rüstungsindustrie, für die Republikaner. Das Timing ist ideal gewählt, weil Al Gore nicht genügend Zeit bliebe, sich zu profilieren. Er würde in die aufgepflanzten Bajonette der Republikaner rennen – irgendetwas würden sie schon finden, um ihn kleinzukriegen. Also wäre der nächste Präsident ein Republikaner.«

»Man engagiert ein serbisches Kommando«, ergänzte Silberman, »lässt sie den Präsidenten killen, bringt sie hinterher um und präsentiert sie dem Westen auf dem silbernen Tablett. Die Spuren führen nach Serbien.«

»Und alle haben, was sie wollten«, schloss O’Connor. »Die Rüstung einen neuen Kalten Krieg, die Republikaner einen neuen Präsidenten.«

Jana wollte das nicht hören. Angewidert, voller Abscheu und zugleich fasziniert von der Möglichkeit lauschte sie trotzdem.

Die Ahnung, die vorhin in ihr aufgestiegen war.

So würde alles einen Sinn ergeben.

»Das klingt furchtbar«, sagte Wagner.

O’Connor zuckte die Achseln. »Nur eine Theorie.«

»Geben Sie auf, Jana«, sagte Silberman sanft. »Sie haben sich mit den Falschen angelegt. Die Verschwörung der Rechten ist eine Verschwörung der Reichen. Letztlich geht es nur darum, wer der nächste Präsident wird. Dafür müssen die nicht nur Clinton vernichten, sondern auch sein Amt. Sie müssen die einzige nationale Institution schwächen, die der Allgewalt des Kapitals noch Grenzen setzen kann. Stecken Sie Ihre Waffen weg. Lassen Sie uns frei und bringen Sie sich in Sicherheit, bevor noch mehr Unheil geschieht.«

O’Connor trat neben ihn.

»Sie kann uns nicht laufen lassen«, sagte er grimmig. »Ihr amerikanischer Freund da draußen wird seinen Humor eingebüßt haben, er muss handeln. Sie kann nicht raus und er nicht rein, ist es nicht so?«

Jana schüttelte den Kopf.

»Ihr könnt auch nicht raus«, sagte sie. »Mirko steht unter Zeitdruck. Er wird euch töten, notfalls mit seiner eigenen Waffe.«

»Und wenn wir einfach die Polizei rufen?«, schlug Wagner vor. »Wir haben Telefone im Dutzend. Was will er dagegen unternehmen?«

»Das wäre nicht in meinem Interesse«, gab Jana trocken zurück.

»Welch ein Dilemma«, bemerkte O’Connor. »Ein etwas fader Abschluss nach einer an sich schönen und gelungenen Entführung.« Er legte den Zeigefinger auf die Nasenwurzel. Dann sagte er: »Es gibt dennoch eine Möglichkeit, mit der wir alle irgendwie leben können.«

»Welche wäre das?«, fragte Wagner.

»Nun ja.« O’Connor begann auf und ab zu gehen. »Wir haben keinen Grund mehr, uns hier drinnen zu beharken. Das Problem heißt Mirko, und dieses Problem hat hier jeder auf seine Weise, richtig?«

Jana nickte langsam. »Richtig.«

»Du willst entkommen. Wir wollen leben.« O’Connor blieb vor ihr stehen. Jana sah ihm in die Augen und wusste, was er meinte.

»Gut«, sagte sie. »Holen wir uns den Scheißkerl. Gemeinsam.«

MALZMÜHLE

Schon dreimal war Guterson auf die Toilette gegangen, ohne sie ein einziges Mal zu benutzen.

Lommerzheim, wie das ominöse Etablissement hieß, in dem van der Ree zufolge Menschen auf Kisten saßen und monströse Koteletts verzehrten, hatte sich selbst ins Aus geschossen. Tatsächlich hatten sie blitzartig Informationen über das Lokal zusammengetragen, das offenbar eine Legende in der Domstadt darstellte, und schließlich den Chef des deutschen Protokollstabs dort anfragen lassen, ob ein Tisch für zwanzig Personen frei sei.

Der Mann am anderen Ende der Leitung war schlecht zu verstehen gewesen. Er hatte grummelige Antworten gegeben, denen zu entnehmen war, dass der Laden voll sei. Daraufhin hatten sie den Zauberspruch gebracht, der normalerweise jedes Eis brach:

»Wir kommen aber mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten.«

Die Antwort erfolgte prompt.

»Und ich bin der Kaiser von China.«

Dann Stille. Die taube, unangenehme Stille im Hörer, nachdem jemand kommentarlos aufgelegt hatte. Guterson war nicht traurig darüber. Die Malzmühle wenigstens hatten Drake und Nesbit schon am Vortag inspizieren lassen und dem Wirt hinterlassen, er werde am folgenden Tag einen stressigen Abend haben. Also hatte sich die Kolonne erneut in Bewegung gesetzt, diesmal reduziert auf die Präsidentenlimousine und einige gepanzerte Vans, voll besetzt mit Agenten des Secret Service und des FBI, gefolgt von den Audi-8- Limousinen des BKA. Da der Zufall in Präsidentenkreisen etwas weniger zufällig funktionierte als anderswo, waren jegliche Vorkehrungen bereits getroffen und die Deutzer Brücke für die Überfahrt gesperrt worden. Auch der Schiffsverkehr hatte für eine kurze Weile stillgestanden. In den kommenden Tagen würde es nicht anders sein. Wann immer Clinton aus protokollarischen oder persönlichen Gründen wünschte, den Rhein zu überqueren, würde sich kein Schiff der Brücke nähern dürfen. Regeln, die Amerika machte.

Vor einer Viertelstunde waren sie in der Malzmühle aufgekreuzt, Clinton in Begleitung von John Kornblum, einen vergleichsweise abgespeckten Tross im Gefolge. Der Präsident hatte sich im Hyatt umgezogen, grünes Polohemd, dunkelbraunes Jackett. Er wirkte darin noch jugendlicher als sonst, war bester Laune und schüttelte unablässig Hände.

Guterson hasste es.

Gleich nachdem sie eingetroffen waren, hatten BKA und Secret Service die Brauerei abgesperrt. Wäre es nach Guterson gegangen, hätten sämtliche Gäste das Lokal räumen müssen, aber Clinton hatte darauf bestanden, dass dies nicht geschah. Zumindest durfte nun niemand mehr hinein. Mittlerweile hatten sich einige hundert Schaulustige vor den Türen eingefunden nebst größeren Kontingenten Polizei, die das Gelände sicherten. Die Kneipe war rappelvoll. Clinton, Kornblum und Guterson saßen an einem Ecktisch, umgeben von Gutersons Getreuen, die es verstanden hatten, sämtliche Nachbartische in Beschlag zu nehmen. Dennoch waren sie von den nächsten regulären Gästen nicht weiter entfernt als maximal fünf Meter. Seltsamerweise hatte anfangs kaum jemand die Ankunft des Präsidenten richtig registriert, bis einige Damen einer amerikanischen Reisegruppe im Nebenraum aus der Toilette gekommen und »ihren« Präsidenten erkannt hatten – von da an war es mit der Beschaulichkeit vorbei. Clinton drehte eine Runde durch den Laden, sagte jedem Hallo und signierte Bierdeckel. Guterson folgte ihm auf Schritt und Tritt. Er hörte Tuscheln und Lachen und merkte, dass es ihm und seiner grimmigen Miene galt. Fortan versuchte er zu lächeln, ohne dass ihm wirklich danach zumute war, aber Clinton liebte fröhliche Menschen, also sollte er welche bekommen.

Dreimal war er auf der verdammten Toilette gewesen, weil sich dort üblicherweise das meiste Unheil zusammenbraute. In der Malzmühle allerdings wurde nur Bier gebraut, wie es aussah, und eine Treppe tiefer dem ewigen Kreislauf zurückgegeben.

Dann war dieser Mann gekommen, den man hierzulande »Köbes« nannte, und hatte eine Frage von Shakespeare’scher Wucht gestellt.

Two beer or not to beer?

Sie hatten Humor, die Kölner, wenngleich merkwürdigen. Clinton war begeistert. Der Kellner fragte ihn, was er essen wolle, und der

Präsident bestellte rheinischen Sauerbraten. Guterson enthielt sich und nippte an seinem Wasser. Kornblum, obwohl hungrig, mochte sich Clinton nicht anschließen und missdeutete eine weitere Spezialität der Stadt als Himmel auf Erden. Tatsächlich erhielt er ein zusammengematschtes Etwas aus Äpfeln und Kartoffeln, gekrönt von einer schwarzbraunen Masse, die aussah, als habe ein Dobermann reger Darmtätigkeit Ausdruck verliehen. Entsprechend ratlos stocherte Kornblum in der eigenartigen Komposition herum.

»Dieses Bier schmeckt gut«, sagte Clinton zu Kornblum. »Ich find’s hier ziemlich prima, Sie nicht?«

»Warum importieren Sie es nicht?«, schlug Kornblum vor.

»Gute Idee, John.«

Sie redeten über alles Mögliche und erzählten einander Witze. Als Kornblum sich lachend auf die Toilette empfahl, sagte Clinton zu Guterson: »Sie haben doch dafür gesorgt, dass die Sache unterm Tisch bleibt, oder? Der Kanzler und ich legen allergrößten Wert darauf.«

Guterson nickte. Clintons Telefonat mit Schröder hatte kein weiteres Licht in die Angelegenheit gebracht, aber die Staatsmänner waren übereinstimmend der Meinung gewesen, den Vorfall nicht öffentlich thematisieren zu wollen. Er selbst hatte sich einige weitere Male mit Lex kurzgeschlossen. Inzwischen stand die IRA- Komponente auf wackligen Füßen. Eher sah es so aus, als sei Serbien in das Attentat verwickelt, möglicherweise sogar die serbische Regierung. Eine fieberhafte Suche nach dem Laser war im Gange.

»Was haben eigentlich die Deutschen ihren Leuten erzählt?«, fragte Clinton. »Sie müssen ihnen doch einen Grund gesagt haben.«

»Nichts«, sagte Guterson. »Sie suchen einen Laser. Die Hintergründe hat man ihnen nicht verraten.«

»Ist das realistisch?«, fragte Clinton stirnrunzelnd.

»So etwas geheim zu halten?« Guterson zuckte die Achseln. »Wir können alles geheim halten.«

»Haben nicht irgendwelche Akademiker das mit dem Laser herausgefunden?«, fragte Clinton. »So ein Professor?«

»Unwichtig. Wir können eine Million Menschen auf Trab halten und dafür sorgen, dass keiner von denen das Maul aufmacht. Meine Sorge gilt anderen Dingen.«

»Klären Sie mich auf.«

»Ein zweiter Versuch«, sagte Guterson gedämpft. »Solange dieser Laser irgendwo herumsteht, kann er Ihnen gefährlich werden.«

»Möglich.« Clinton trank den Rest seines Kölsch. »Sehen Sie, Norman, dazu fällt mir ein schönes Zitat ein. Kennen Sie Tschaikowsky?«

»Nein.«

»Russischer Komponist. Boris hört ihn gern.« Clinton grinste. »Wissen Sie, was er gesagt hat?«

Natürlich nicht, dachte Guterson. Woher soll ich das wissen?

»Was hat er denn gesagt?«

»Man kann nicht aus Angst vor dem Tod auf Zehenspitzen durchs Leben gehen. Gut, was? Gefällt mir sehr.« Der Präsident säbelte ein großes Stück von einer Scheibe Fleisch ab und steckte es in den Mund. »Also«, sagte er kauend, »seien Sie so freundlich und tun Sie alles Erforderliche, damit ich nicht auf den Zehen laufen muss.«

WAGNER

Sie brauchten größere Mengen Wasser, um den Agenten wieder wachzubekommen. Einen Moment lang fürchtete Wagner, sein Herz könnte zum Stillstand gekommen sein, aber dann schlug er die Augen auf. Sie gaben ihm zu trinken, und Jana wartete, bis er einigermaßen bei Kräften war.

»Kannst du stehen?«, fragte sie.

Er schüttelte den Kopf.

»Du wirst stehen«, sagte sie. »Du wirst sogar gehen können. Ein paar Schritte nur, weil wir dich andernfalls erschießen werden. Hast du das verstanden?«

»Ich brauche einen Arzt«, stöhnte er.

»Du bekommst einen Arzt. Die Frage, ob du weiterleben wirst oder nicht, kannst du dir selbst beantworten. Du hast verloren, so oder so. Mirko hat dich verraten, er hat dich in die Hölle geschickt. Wir hier sind deine einzige Hoffnung.« Sie machte eine Pause. »Oder dein Tod. Du kannst es dir aussuchen. Wirst du uns helfen?«

Der Mann zögerte. Er sah auf die Stelle, wo seine Hand gewesen war, und schluckte heftig. Dann nickte er.

»Gut. Versuche aufzustehen.«

In den letzten Minuten hatten sich die Verhältnisse in der Halle auf absonderliche Weise verändert. Jana hielt die Gruppe nicht länger mit ihren Waffen in Schach. Wagner versuchte, ihren Abscheu darüber zu verhehlen, mit der Terroristin gemeinsame Sache machen zu müssen, aber es verhieß die einzige Lösung. Natürlich hätten sie warten können, bis irgendwann die Polizei auf die Spedition stieß. Das Gedröhne und Geknalle des Überfalls hatte sie jedenfalls nicht herbeigerufen. Aber bis überhaupt jemand kam, konnte dieser Teufel Mirko ihnen allen das Lebenslicht ausgepustet haben. Sie wussten nicht einmal, ob er über weitere Verstärkung gebot, ob er allein oder mit einem neuen Kommando darangehen würde, seine Probleme zu lösen.

Sie mussten handeln! Es gab keine Alternative zu dem abstrusen Bündnis, das sie geschlossen hatten.

Jana würde dabei entkommen, wenn alles glatt lief. Sie und O’Connor hatten den Plan skizziert, und er war irrsinnig genug, dass er funktionieren konnte. Der Gedanke, sie laufen zu lassen, bereitete Wagner beinahe körperliche Schmerzen. Sie sah Kuhn am Boden liegen, der das Bewusstsein verloren hatte, und dachte daran, wie sie ihn zugerichtet hatten. Allein schon seinetwegen konnten sie nicht länger warten. Er musste so schnell wie möglich in ein Krankenhaus. Es war offensichtlich, dass er innere Verletzungen davongetragen hatte. Wenn er nicht bald behandelt würde, würde er sterben. Sie war sich dessen bewusst, ohne dass sie seinen Zustand medizinisch hätte deuten können. Es war einfach ein Gefühl. Auch Silberman brauchte ärztliche Hilfe, aber er war wenigstens bei Kräften und würde so schnell nicht schlappmachen.

Sie sah, wie sich O’Connor und der Korrespondent hektisch an den Vorbereitungen zu schaffen machten, und dachte an die Aufgabe, die ihr bevorstand.

Ein Teil des Plans gründete darauf, dass Mirko wahrscheinlich nicht wusste, wer tatsächlich alles in der Halle war. Sie hatten die Ereignisse kurz rekonstruiert. Er konnte Wagner nicht gesehen haben. Daraus entwickelten sie ein Vorgehen, das ihr noch mehr Widerwillen einflößte als Jana selbst, aber sie willigte ein. Nur die Umstände waren abscheulich. Der Plan war gut und Mirko auszuschalten das einzig Richtige.

Falls sie es schafften.

Es war riskant und lebensgefährlich. Erneut staunte Wagner, wie wenig sie angesichts dessen empfand. Anstatt vor Angst den Verstand zu verlieren, dachte sie über Kleinigkeiten nach. Über die Abschürfungen an Kuhns Handgelenk, die von den Handschellen herrührten. Jana hatte ihn endlich von dem Rohr befreit, das Einzige, wofür Wagner ihr dankbar war, zumindest der Sache wegen. Über Details grübelte sie nach. Ob sie alles verstehen würde, was Jana ihr zu erklären beabsichtigte, und ob sie schnell genug sein würden. Seit dem Überfall war eine Viertelstunde vergangen. Würde Mirko noch lange genug in seiner Lauerstellung verharren?

Dann, mittendrin, kam ihr ein neuer Gedanke.

War er überhaupt noch da draußen?

Die ganze Zeit über waren sie davon ausgegangen, weil Jana es gesagt hatte. Aber was, wenn Jana sich irrte? Seit Mirko aus der Spedition geflohen war, hatten sie nichts von ihm gehört oder gesehen. Es gab keinen Beweis für seine Anwesenheit.

Sie sah auf ihre Uhr. Es war erschreckend, wie viel in so kurzer Zeit geschehen war und wie wenig tief es ging.

Es ist gut so, dachte sie.

»Kika«, sagte die Terroristin. Sie benutzte ihren Vornamen. Nicht einmal dazu besaß sie das Recht, aber Wagner hatte keine Lust, sich deswegen mit ihr anzulegen. »Komm mit nach hinten.«

Sie zögerte. Dann sah sie zu O’Connor herüber.

Er hob den Kopf und lächelte. Sein Lächeln erwärmte sie und versprach ihr Schutz. Und noch etwas glaubte sie darin zu erkennen. Für eine Sekunde fühlte sie sich glücklich und leicht. Alles würde gut werden.

Sie ging mit Jana in den Computerraum. Immer noch liefen die Fernseher ohne Ton, während die Radioempfänger leise dazwischenplärrten. Jana wies sie mit kurzen, präzisen Worten ein, und plötzlich verlor das, was sie Wagner sagte, seinen Schrecken. Eigentlich schien es ziemlich leicht zu sein.

»Täusch dich nicht«, sagte Jana. »Du musst sehr genau hinschauen.«

»Und wenn es nicht klappt?«

»Dann klappt die Variante.«

Sie nickte.

Einem plötzlichen Drang nachgebend, sagte Wagner:

»Warum tun Sie so etwas?«

Jana sah von Gruschkows Arbeitstisch auf und blickte ihr in die Augen.

»Was? Töten?«

»Wenn Sie es geschafft hätten, Clinton zu töten, was hätten Sie damit erreicht? Noch mehr Mord und Gewalt? Sie nehmen sich das Recht heraus, Leben auszulöschen, Sie misshandeln Menschen, die Ihnen nichts getan haben, warum? Ich will wissen, was Sie für ein Mensch sind, Jana!«

»Das willst du nicht wissen«, sagte Jana kühl. »Du möchtest wissen, was für eine Bestie ich bin. Welche Sorte Monster. Du hast dein Urteil gefällt, jede Erklärung wäre Zeitverschwendung, also lassen wir’s.«

Sie ging zur Tür.

»Mehr haben Sie nicht zu bieten?«, sagte Kika.

Jana blieb stehen und drehte sich zu ihr um.

»Was soll das werden?«, fragte sie spöttisch. »Ein Gespräch von Frau zu Frau?«

»Ich will wissen, warum Sie Kuhn so zugerichtet haben.«

»Gruschkow hat Kuhn so zugerichtet. Vielleicht hätte ich Kuhns Leben geopfert, um meines zu retten. Das gebe ich zu. Aber ich hatte niemals vor, ihm das anzutun, ich hasse es, Menschen zu quälen. Sie können es glauben oder nicht.«

»Nein«, sagte Wagner. »Sie haben Recht, das kaufe ich Ihnen tatsächlich nicht ab. Leben ist Ihnen doch vollkommen gleichgültig.«

Die Frau sah sie aus ihren großen, dunklen Augen an. Wagner hätte erwartet, Zorn darin zu entdecken, aber sie las nichts, was sie kannte. Sie blickte auf die Oberfläche einer anderen Welt.

»Ich bin in Belgrad aufgewachsen«, sagte die Terroristin. »Eine sehr schöne Stadt. Warst du mal dort? Wenn du von den Brücken auf die Häuser siehst im Spätsommer, liegt ein ganz eigenartiges Licht darauf. Aber die Brücken sind ja wohl zerstört. Wir haben immer nur gelernt, wer wir nicht sind, bis Milosevic kam. Davor waren wir ein Rippenstück des sowjetischen Torsos. Danach haben wir erfahren, wer wir sein könnten, wenn man uns nicht immer alles weggenommen hätte. Meine Eltern interessierten sich nicht für Mythologie, dafür habe ich sie verachtet. Ich wollte etwas tun. Kämpfen. Nicht gegen, sondern für die Menschen. Also ließ ich mich ausbilden, Waffenkunde, Kampftechniken, Schießtraining, all das. Ich wollte nicht töten, verstehst du, nur stark sein und gewappnet, weil ich mein Land geliebt habe. Als Kind war ich oft bei meinen Großeltern in der Krajina – kennst du die Krajina?«

Wagner schwieg.

»Natürlich nicht. Du weißt nichts über mein Land. Das waren die schönsten Jahre. Meine Großeltern haben sich nie Gedanken darüber gemacht, ob es richtig oder verkehrt ist, irgendwo zu leben. Serbien hatte die alten angestammten Gebiete besetzt, Westslawonien und die Krajina, und da lebten sie halt. Aber die Kroaten erhoben Anspruch darauf, also sind sie ‘95 dort eingefallen. Sie haben die Serben aus dem Land gejagt. Die Welt hat flüchtig hingesehen und nicht mit Bombardierung gedroht, obwohl zweihunderttausend Menschen wie Vieh vertrieben und viele abgeschlachtet wurden. Meine Mutter weilte zu der Zeit dort. Sie und meine Großmutter sind von kroatischen Militärs erschossen worden.« Sie machte eine Pause. »Ich konnte nichts tun. Ich konnte mich bei meiner Mutter nicht für meine Verachtung entschuldigen, und mein Vater hatte sich aufgehängt, weil er damit nicht fertig wurde.«

Jana schien in sich hineinzublicken.

»Ich dachte, wenn ich im Kosovo verhindere, was in der Krajina passiert ist, mache ich was gut. Die haben mich gern genommen bei den Paramilitärs, mit meinem Studium und meiner militärischen Ausbildung. Aber sie taten da auch nichts anderes als die Kroaten. Ich wollte Gerechtigkeit, keine Säuberungen. Wir lebten wie die Fürsten und handelten wie die Barbaren. Also beschloss ich, eine bewaffnete Opposition aufzubauen, die alles besser macht. So etwas wie eine gemäßigte PLO oder IRA, die gezielt kämpft, ohne Massenmord zu begehen. Dazu brauchte ich Geld. Ich war eine ausgezeichnete Schützin und dachte, wenn ich ein paar Aufträge annehme, irgendwas, dann kann ich die Sache finanzieren. Ich erledigte einen Job für den Mossad, tötete in Syrien einen Industriellen für einen Konzern, liquidierte in Russland einen General. Dieser dritte Auftrag war, als hätte ich eine Tür aufgestoßen. Das Geschäft begann lukrativ zu werden, ich wurde reich, und Milosevic fing einen Krieg an. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte ich mein Land geliebt, und nun verlor ich jeden Glauben. Ich tat nichts. Was hätte ich noch ändern sollen mit meiner kleinen Armee?«

Wagner hörte ihr zu und war wider Willen gefesselt.

»Also sind Sie geblieben, was Sie waren«, sagte sie verächtlich. »Eine Killerin.«

»Die beste. Weltklasse. Im Ideal gescheitert, aber auf sehr erlesenem Standard. Ich bin steinreich, Mädchen. Das Leben war nicht nur schlecht. Aber dafür ziemlich sinnlos.«

»Und Clintons Tod hätte das geändert?«

»Es hätte mich befreit.«

»Mein Gott!« Wagner schüttelte den Kopf. »Sie glauben das wirklich. Warum haben Sie mir das alles erzählt?«

»Ich habe es nicht dir erzählt.« Jana schien kurz nachzudenken. Ein Lächeln zog über ihr Gesicht. »Übrigens, ich heiße Sonja. Sonja Cosic. Das ist mein Name.«

»Es interessiert mich nicht, wie Sie heißen«, sagte Wagner voller Trotz, obschon ihr andere Worte auf der Zunge lagen.

Jana zuckte die Achseln.

»Mag sein«, sagte sie im Hinausgehen. »Aber mich.«

MIRKO

Fliehen.

Natürlich konnte er sich einfach aus dem Staub machen. Es war unkomfortabel auf dem Dach. Idiotisch.

Aber fliehen? Mit welchem Resultat? Abhauen, obwohl die einzigen Menschen, die ihm gefährlich werden konnten, in dieser Halle saßen und wahrscheinlich verwirrt und demoralisiert waren?

Die Amerikaner würden ihn jagen. Man würde ihn zum meistge- suchten Verbrecher der USA erklären. Mit seiner Entlarvung wurde er auch für das Trojanische Pferd zum untragbaren Risiko. Sofern ihn die CIA oder Interpol nicht erwischten, würden ihm die Leute des Alten eben den Fangschuss verpassen. Es mochte ein paar Winkel auf der Welt geben, wo er in Sicherheit würde leben können. Aber was sollte er in Grönland, in Ecuador oder im Senegal ohne einen Cent?

Berauschende Aussichten.

Mitunter drangen aus der Halle gedämpfte Stimmen und Geräusche an sein Ohr. Es war unmöglich auszumachen, was dort vor sich ging. Der Himmel hatte sich verdunkelt. Wo die Sonne untergegangen war, verteilte sich noch milchiges Licht. Mehrfach waren Helikopter in unmittelbarer Nähe vorbeigeflogen. Bisher hatten sie ihn nicht entdeckt, aber der Ring zog sich zu. Mit jeder Sekunde, die verstrich, verringerte sich seine Chance, das Problem zu lösen. Er durfte nicht länger warten.

Wieder und wieder wälzte er den Gedanken, wie er am besten hineingelangte, ohne sofort von Jana liquidiert zu werden. Es half alles nichts, er würde ins Innere stürmen müssen und niederschießen, wer und was sich ihm in den Weg stellte. Es war geradezu peinlich, grob und unelegant. Vor allem hatte es zur Konsequenz, dass er mit seiner Waffe auf die Geiseln schießen musste. Aber gut, auch das ließ sich hinterher korrigieren. Ein bisschen mühsam halt, seine Fingerabdrücke abzuwischen und Janas auf der Waffe zu platzieren. Die Ballisti- ker würden herausfinden, dass es seine Waffe war, aber dann konnte er immer noch zu Protokoll geben, er habe sie an Jana verloren während der Schießerei. Irgendetwas würde ihm einfallen, das plausibel klang. Letzten Endes würden alle einfach nur froh sein, dass er den Laser gefunden und das Kommando ausgeschaltet hatte.

Vielleicht würde der Präsident ihm danken. Persönlich.

Amüsanter Gedanke.

Mitten in seine Überlegungen hinein fiel in der Halle ein Schuss.

Er hielt den Atem an.

Etwas war dort unten im Gange.

Besser, noch ein paar Minuten zu investieren. Es trieb ihn, hineinzugehen. Dennoch. Fünf Minuten würde er der Entwicklung geben, die sich in der Halle vollzog, was immer es war.

Flach auf dem Dach liegend, die Augen geschlossen, wartete er.

Keine drei Minuten waren vergangen, als zwei weitere Schüsse fielen. Erregt sah er auf. Wer sollte da unten noch aufeinander schießen?

Seine Leute?

Aber seine Leute waren tot. Zwei zumindest, und der dritte war schwer verletzt gewesen, soweit er das auf die Schnelle hatte erkennen können. Er hatte neben dem YAG gelegen und geschrien und dann begonnen, zur Tür zu kriechen, den Arm voller Blut.

Unten begann sich jemand am Eingang zu schaffen zu machen, dann ertönte ein lautes Poltern.

»Drake!«

Mirko erstarrte. Das war Francis. Die Stimme des Mannes, der unter den YAG gekommen war.

»Drake, wo bist du? Hilf mir!«

Wie ein Reptil robbte Mirko an den Rand des Daches. Er zückte eine der Waffen und spähte vorsichtig nach unten. Der Innenhof war leer. Dort, wo der gesprengte Eingang war, fiel ein lang gezogenes Rechteck aus Licht auf den Asphalt.

»Drake!« Die Stimme des Agenten erklang unmittelbar unter ihm. »Verdammt, du kannst mich hier nicht allein lassen. Ich habe das Miststück erledigt, wo bist du?«

Die Schüsse.

Francis hatte Jana erschossen?

»Komm raus«, rief Mirko.

»Ich… ich kann nicht, ich kann nicht mehr. Drake! Meine Hand, ich… ich bin verletzt!«

Konnte das sein?

Mirko kam auf die Beine und lief über das Dach zum hinteren Teil der Halle. Auf dem letzten Drittel sprang er herunter. Vier oder fünf Meter waren kein Problem, wenn man Springen gelernt hatte. Er kam auf, ging in die Knie und federte wieder hoch. Dicht an der Wand entlang lief er bis zur vorderen Ecke.

»Drake!«

Er trat vor den Eingang und zielte hinein, während sein Hirn synchron alle Daten verarbeitete, die es erhielt, beurteilte und Schlussfolgerungen ableitete. Francis hockte neben dem Tisch, mit dem sie die Tür zugestellt hatten. Offenbar war es ihm gelungen, ihn von dort wegzuschieben und umzukippen. Seine rechte Hand fehlte, die linke hielt die Pistole umklammert. Sein Anzug war voller Blut. Überall in der Halle lagen reglose Körper.

»Was ist passiert?«, fragte er.

»Ich kann nicht mehr. Bitte, Drake…«

»Alles in Ordnung, Francis«, sagte Mirko in beruhigendem Tonfall. »Hab keine Angst, ich hol dich hier raus. Was ist passiert, wo ist Jana?«

»Hinten.« Der Agent keuchte und richtete sich auf. »Sie… hat

O’Connor erschossen, der Schwarze war schon tot, wir… müssen ihn… getroffen haben. Jana… sie dachte, ich… auch tot… tot gestellt… sie ging nach hinten… umziehen.«

»Du hast sie erwischt, als sie sich umgezogen hat?«

»Als… rauskam. Fertig.« Es schien Francis große Mühe zu bereiten, sich auf das Sprechen zu konzentrieren. Wahrscheinlich litt er fürchterliche Schmerzen. Mit zusammengebissenen Zähnen kam er ganz hoch und ließ die Waffe fallen. Sie schepperte zu Boden. Mirko trat langsam über die Schwelle. Links und rechts von ihm lagen die Leichen seiner Männer. Vor dem YAG konnte er Gruschkow sehen, mitten im Raum Mahder. An der Wand zwei Körper. Kuhn, halb über ihn gestreckt O’Connor.

Mit schnellen Schritten war er bei Francis, fasste ihn mit dem freien Arm unter den Achseln und zog ihn zu sich heran. Der Agent würde ihn abschirmen, falls aus dem hinteren Teil der Halle ein Angriff erfolgte. Er würde Francis ohnehin töten müssen. Mit Janas Waffe, damit das Bild in allen Einzelheiten stimmte.

»Komm«, sagte er. »Gehen wir nachsehen.«

»Kann… nicht mehr«, flüsterte der Agent.

»Das war sehr gut, Francis. Du warst klasse. Wirklich. Halt dich aufrecht, gleich haben wir es hinter uns.«

Er schob den verletzten Agenten vor sich her, während sein Blick den hinteren Teil der Halle absuchte. Schräg hinter dem YAG war Janas Oberkörper zu sehen. Sie trug wieder den dunklen Blazer von Laura Firidolfi und Lauras Langhaarperücke. Er wusste, dass sie sich für die Rolle der Cordula Malik von ihren echten Haaren hatte trennen müssen. Sie lag auf der Seite und kehrte ihm den Rücken zu. Von dem Schwarzen sah er nur die ausgestreckten Beine ein Stück weiter.

»Tot?«, sagte er. »Bist du sicher?«

Francis nickte kaum merklich.

Mirko feuerte dreimal kurz hintereinander in Janas liegenden Körper. Die Geschosse schlugen ein, ohne dass sie zuckte.

Sie war tot.

»Durchhalten, Francis«, sagte er wie jemand, der seinen besten Mann unter Lebensgefahr durch den feindlichen Dschungel schleppt. »Wir gehen weiter.«

WAGNER

Es würde nicht klappen.

Vorhin, als Liam noch einmal zu ihr in den Raum mit den Fernsehern und Computern gekommen war, hatte sie Zuversicht empfunden. Sie hatte nie in ihrem Leben eine Waffe in der Hand gehalten, aber sie war eine gute Fotografin mit einem guten Auge, und die Nikon war nicht schwer zu bedienen.

Wenige Sekunden hatten sie sich in den Armen gelegen. Er hatte kaum etwas gesagt. Keine geistreiche Bemerkung, kein falsches Aufmuntern. Nur ein paar Worte.

»Shannonbridge. Wenn das hier vorbei ist.«

Whiskytrinken im Lebensmittelladen zwischen Toilettenreiniger und Würstchen. Welch seltsame Dinge einem Menschen Kraft gaben!

Dann hatte er gesagt, was sie sich gewünscht hatte zu hören.

Im selben Moment war ihr klar geworden, dass sie seine Liebeserklärung keinen Moment früher hätte ertragen können. Sie war verliebt, aber es hätte sie vertrieben. Wie eine Überdosis von dem Zeug, das er in rauen Mengen konsumierte. Bis vor einer Stunde, trotz der Ungewissheit, was Kuhn passiert sein mochte und was am Flughafen vor sich ging, hatte sie jeden Gedanken an die Zukunft noch einem inneren Gesetzbuch unterworfen, auf dessen Vorderseite in schmucklosen Buchstaben das Wort »Normalität« prangte. Sie wäre ins Grübeln verfallen über die Frage, welches Leben man an der Seite eines Mannes führte, der unablässig trank und sein exzessives Leben ganz sicher nicht für eine Beziehung aufgeben würde, sie hätte sich hinter tausend Wenns und Abers verschanzt und die Vernunft vorgeschoben, die einem das Jetzt verdarb, weil sie ständig ein mäkeliges Morgen und Übermorgen einbrachte.

Aber ein Ja war für den Augenblick geschaffen. Man konnte nicht ja sagen zur Zukunft, nur zu einer Vorstellung von der Zukunft. Die Zeit war eine Aufeinanderfolge von Augenblicken. Zukunft entstand einzig aus dem, was der Geist zuließ.

Ein Lied der isländischen Sängerin Björk sagte: Am Morgen, wenn du gehst, kommt mein Herz zum Stillstand, und der Teufel rollt unsere Liebe mit einem Grinsen auf ein großes Garnknäuel und gibt sie nie wieder her. Darum müssen wir sie jeden Abend neu erfinden.

Die Frage war, ob sie noch einen weiteren Abend erleben würden.

Sie hatte sich so stark und sicher gefühlt nach Janas kurzer Einweisung. Bereit, die schreckliche Aufgabe zu übernehmen. Der YAG stand wieder an seinem Platz, die Akkus waren aufgeladen. Das System war intakt, weil Jana und Gruschkow den Testaufbau nicht verändert hatten, und es gab eine zweite Kamera. Jana musste über eine außergewöhnlich perfide Phantasie verfügen, aber was Wagner tatsächlich frappierte, war, dass es nicht bei einer Phantasie geblieben war. Als sie durch den Sucher der Nikon geblickt und die Menschen in der Halle gesehen hatte, wissend, dass ein leichter Druck ihres Zeigefingers ein Leben auslöschen würde, hatte sie plötzlich den Rausch begriffen, der sich einstellen musste, wenn man über ein so machtvolles Instrument wie den YAG verfügte. Sie hatte nicht versucht, gegen die Faszination anzukämpfen, wenngleich sich ihr der Magen herumdrehte.

Du drehst am Objektiv, bis du das Ziel im Fadenkreuz hast, hatte die Terroristin gesagt. Dann drückst du ab. Stell dir einfach vor, es sei ein Videospiel.

Es hatte tatsächlich mehr von einem Videospiel als von einer Waffe.

Zielen, schießen, Freispiel.

Jetzt, da Wagner – hinter der verschlossenen Tür des Computerraums – Mirko im Sucher der Nikon erblickte, überkam sie plötzlich fürchterliche Angst. Sie versuchte, ihn ins Visier zu nehmen, aber er verschanzte sich hinter dem Agenten. Wann immer das Fadenkreuz ihn erfasste, veränderte er seine Position, und sie musste befürchten, an seiner Statt den falschen Mann zu treffen.

Dann schoss Mirko, ohne dass sie sehen konnte, auf was oder wen.

Ihr wurde übel vor Entsetzen. Hatte er jemanden getötet? Oder war er auf Janas Trick hereingefallen?

Immer noch hielt er den Agenten fest.

Komm schon, dachte sie, lass ihn los.

Sie wollte den Agenten nicht treffen. Aber ihr blieb keine Wahl. Es entsetzte sie, so zu denken, aber vielleicht würde der plötzliche Tod des anderen die nötige Verwirrung stiften.

Jemanden opfern für ein Ziel. So ging das also.

Dann sah sie, wie eine Veränderung in Mirkos Zügen vorging.

MIRKO

Etwas war seltsam. Eine ganze Menge Dinge waren seltsam, obschon alles zu stimmen schien. Jana war tot. Alle waren tot außer ihm und Francis und vielleicht Kuhn, der sich unter O’Connors dahingestrecktem Körper nicht rührte.

Sein Blick fiel auf den verstümmelten Arm des Agenten. Etwas hing aus dem blutgetränkten Ärmel, baumelte heraus.

Eine Krawatte?

Der Arm war abgebunden. Wie konnte sein Arm abgebunden sein, wenn Francis sich tot gestellt hatte?

Sie hatten ihn reingelegt.

In plötzlichem Begreifen starrte er auf Janas Leiche. Das vertraute lange Haar. Die Jacke. Die Schultern, die bei näherem Hinsehen irgendwie zu breit waren, so dass es wahrscheinlich gar nicht Jana war, die dort lag, sondern…

Er stieß Francis von sich weg und sprang zurück.

COMPUTERRAUM

Wagner drückte den Auslöser.

Sie hatte keine Vorstellung von dem, was passieren würde. Vielleicht, dass der Laser einfach nur ein Loch in ihn brannte. Oder dass sein Körper zerplatzen würde wie eine reife Frucht. Vor allem davor graute ihr, dass es scheußlich sein würde und sie es anschauen müsste, weil sie anders nicht zielen konnte.

Stattdessen geschah gar nichts.

Eben noch hatte sie Mirko vor Augen gehabt, ungeschützt, und jetzt war er verschwunden.

Sie hatte ihn verfehlt!

Wagner fluchte.

In panischer Hast versuchte sie, ihn wieder in den Fokus zu bekommen.

HALLE

Mirko hörte das Knallen der Akkus im Moment, als sie sich entluden. Er wusste, dass der Sprung nach hinten sein Leben gerettet hatte. Aber er wusste auch, dass die Akkus noch einen zweiten Schuss hergaben. Jana musste im Büro oder im Computerraum sein.

Verdammte, schlaue Jana!

Aber nicht schlau genug für Mirko. So einfach ließ er sich nicht hereinlegen von dem Miststück.

Im Augenblick, da seine Füße den Boden berührten, wirbelte er herum und zielte auf das Objektiv unter der Decke. Er sah, wie es sich drehte, ihn suchte, sah den Spiegel aufblitzen und schoss.

Mit einem Knallen flog der Mechanismus auseinander.

Mirko konnte einen Triumphschrei nicht unterdrücken. Jana, verdammte Jana! Sie war so gut wie tot! Er drehte sich herum, um zum hinteren Teil der Halle zu laufen.

Vor ihm stand einer der toten Agenten.

Der Mann hatte rechts vom Eingang gelegen, blutüberströmt in seinem zerschossenen schwarzen Anzug. Aber jetzt lebte er, und er hatte Janas Gesicht und eine Pistole in der Rechten, die auf Mirko gerichtet war.

Aus der Pistole kam der Tod.

Das Letzte, was Mirko empfand, war eine Mischung aus grenzenloser Bewunderung und namenlosem Entsetzen.

Dann endete alles.

MALZMÜHLE

»Das war schön. Wirklich schön. Vielen Dank.«

Der Präsident strahlte. Guterson strahlte auch. Innerlich, weil der Abend endlich vorbei war. Um ein Haar wäre es noch zum improvisierten Gipfeltreffen gekommen, nachdem das BKA in der Kneipe angerufen und Gerhard Schröder avisiert hatte. Schröder kam dann doch nicht. Stattdessen verlieh der Wirt Clinton irgendeinen Orden, und der Präsident schrieb ins Gästebuch, wie ausgezeichnet das Essen gewesen sei, und signierte mit William J. Clinton. Ihm war die Begeisterung abzukaufen. John Kornblum sah nicht so aus, als wolle er sich zu den dargebotenen Speisen in ähnlicher Weise äußern, aber er wurde auch nicht darum gebeten.

Sie beglichen die Zeche. Überwiegend hatte Clinton Afri Cola getrunken, eine deutsche Variante der guten alten Coke. Vielleicht war es besser so. Ein Kölsch hatte gereicht, ihn in Kennedys Fußstapfen treten zu lassen. Es war unüberhörbar gewesen, vorgetragen mit dem Lächeln, das Geschichte schreibt:

»Ich bin ein Kölsch.«

Guterson sprach nur wenige Brocken Deutsch, aber selbst ihm war nicht entgangen, wo der Fehler lag. Dass Kennedy sich seinerzeit als Berliner geoutet hatte, Historie! Dass er den Kölnern vor dem Rathaus 1963 bei seinem Besuch in der Domstadt ein markiges »Kölle Alaaf« entgegengeschmettert hatte, legendär. Clintons verspätetes Eingeständnis, dass er eigentlich ein Bier sei, nahm sich dagegen rührend und blässlich aus.

Es war der kleine Schönheitsfehler, der vieles zunichte machte. Clinton hätte so gut und über jeden Zweifel erhaben sein können, dachte Guterson, ohne diese ständige Nacheiferei seines Jugendidols. Ganz klar war die Zuneigung, die Köln dem Präsidenten jetzt schon entgegenbrachte, auch auf die offensichtlichen Parallelen zu JFK zurückzuführen. Seit Kennedy hatte kein Politiker in den USA das höchste Amt im Staat so kontinuierlich angestrebt und auch gewonnen wie Bill Clinton. Ebenso wie Kennedy war der Präsident ein Berechner, der sich auf dem schmalen Grat zwischen dem Verbotenen und Nochvertretbaren bewegte. Er hatte Amerika aus der Isolation befreit, ein Hoffnungsträger, der einen langen amoralischen Schatten warf und darum jeden potentiellen Sünder faszinieren musste. Wie Kennedy war auch Clinton ein unbändiger Optimist, der automatisch davon ausging, man könne sich immer irgendwo treffen, und gerade darum hatten beide sich so gut verkauft. Clinton war überzeugt, dass insgeheim sogar republikanische Hardliner wie Newt Gingrich oder Pat Buchanan eine Basis mit ihm wollten – von Leuten wie Jassir Arafat oder Hafez al-Assad ganz zu schweigen –, die man nur entdecken müsse. Impulsiv neigte er zu Toleranz und Ausgleich, was ihm Stimmen einbrachte, zugleich aber auch sein größtes Problem darstellte. Wenn Bill Clinton eines nicht konnte, und auch darin glich er Kennedy, dann seine Gegner richtig einschätzen. Beide waren Kämpfer und zugleich Spieler, populistische Grenzgänger, die alles auf eine Karte setzten, ohne recht zu wissen, wer ihnen gegenübersaß.

Der eine hatte am Ende verloren. Alles, das Leben. Dafür war er in den Olymp der Unantastbarkeit entstiegen, den er mit den Größten der Geschichte teilte. Wenn die Laserattacke wirklich Clinton gegolten hatte, wäre ihm der arme Aufsteiger aus Arkansas womöglich in eine Art Vorzimmer gefolgt. Trotz des Lewinsky-Skandals betrachteten die meisten Amerikaner das Vorgehen Starrs gegen den Präsidenten mit Skepsis und Widerwillen. Sie fanden, es sei seine Sache, was er mit seinen Zigarren tat. JFKs Liebeleien hatten den Präsidenten nicht daran gehindert, die Kubakrise zu meistern, warum also sollten Clintons eher harmlose Abenteuer ihn davon abhalten, die USA aus dem psychologischen Black Hole herauszuführen, in das die

Weltmacht nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gestürzt war?

Wie bei Kennedy waren es – trotz oder gerade wegen seiner offen zur Schau gestellten Triebhaftigkeit – gerade die Frauen, die Clinton die Stange hielten. Ihnen verdankte er die Wiederwahl. Sie hätten vermutlich am meisten um ihn getrauert, wenn er dem Anschlag zum Opfer gefallen wäre, weil sie wesentlich mehr Akzeptanz für Clintons Seitensprünge aufbrachten als für Starrs Sittenpolizei, die sie zurückzwingen wollte in die finsteren Abgründe des Kolonialismus, zurück an den Herd und ins puritanische Abseits. Im Grunde war es nur logisch, dass Clinton den Rummel um seine Person in der Malzmühle nicht den Kölnern verdankte, sondern einer weiblichen amerikanischen Reisegruppe.

Vielleicht, im Falle der Katastrophe an diesem Tag, hätte Clinton posthum sogar von seinen Gegnern so etwas wie Liebe erfahren. Nur, Verehrung blieb Kennedy vorbehalten. Hier endete die Parallele. Clinton träumte den historischen Traum. Von Friedensschlüssen unter seinem Patronat, von der Lösung der Nahostfrage, von der Unsterblichkeit. Kennedy hatte diesen Traum verkörpert. Geschichte war nicht wiederholbar, sosehr man sich auch darum bemühen mochte.

Es war 23.00 Uhr, als sie hinaus auf die Straße traten. Der Präsident winkte in die Menge, verschwand in seinem Lincoln, und sie fuhren zurück, während ein weiteres Mal die Deutzer Brücke gesperrt und die Schifffahrt eingestellt wurde.

Wenn schon, dachte Guterson.

Auf diese Weise würden sich die Kölner wenigstens daran gewöhnen, was ihnen in den nächsten Tagen noch bevorstand. Wenn sie Clinton wollten, mussten sie den Secret Service, die CIA und das FBI eben mit in Kauf nehmen. Und sie konnten sich dabei noch glücklich schätzen. So entspannt und freundschaftlich die Zusammenarbeit mit dem BKA im Wesentlichen verlaufen war, hatten einige Gespräche weitaus weniger freundliche Züge getragen. Die Reibereien etwa mit dem FBI, das sich – zugegeben – um fremde Hoheitsrechte wenig scherte. Oder als sie verlangt hatten, für Clinton die komplette Innenstadt räumen zu lassen oder wenigstens einen eigenen Weg vom Rathaus zum Römisch-Germanischen Museum festzulegen. Das BKA war fuchsteufelswild geworden. Jeder gehe diesen Weg, der Franzose, der Italiener, der Kanzler, der Japaner, warum nicht Clinton? Sie hatten versucht, den Deutschen klar zu machen, dass Clinton der Präsident der Vereinigten Staaten und nicht der Franzose oder der Italiener war, aber die Gegenseite war hart geblieben. Zeitweise war es zugegangen wie auf dem Basar. Zugeständnis gegen Forderung. Der Secret Service hatte sich darin behauptet, dass während des G-8-Gipfelfotos auf dem Heinrich-Böll-Platz Eisenbahnwaggons als Sichtblende auf die Hohenzollernbrücke gerollt werden würden, dass Clinton nie über Kabel schreiten dürfe oder darunter hindurch, was bei achttausend Journalisten und zig Kilometern verlegten Leitungsnetzes alptraumhafte Züge für die Organisatoren annahm, dass Clintons Limousine grundsätzlich nur auf der rechten Seite einer Straße oder Zufahrt zu parken habe – und dass der Secret Service, wenn es ihm gefiel, all dies binnen weniger Stunden über den Haufen werfen und neue Regeln aufstellen konnte.

Dafür waren sie bekannt, ihren Gastgebern so etwas zuzumuten. Sie galten als arrogant und gefühllos. Der Punkt war, dass sie es wussten und dass es ihnen gleich war. Andere Nationen wollten nicht begreifen, dass der Secret Service an einem Trauma litt, obwohl er definitiv nichts für das gekonnt hatte, was damals in Dallas geschehen war. Guterson war klar, dass sie sich allzu oft im Ton vergriffen. Wann immer dies in den vergangenen Wochen geschehen war, hatte das BKA kalt lächelnd mit »Ingelheim« gekontert. »Ingelheim« war als Argument ein Totschläger. Dort hatten sich Clinton und Schröder unlängst getroffen. Schröder hatte dort gestanden, wo er eben stehen musste, um den Präsidenten zu begrüßen, und eine amerikanische Protokollbeamtin hatte ihn angeherrscht, er solle unverzüglich seinen Arsch einpacken und auf die Seite gehen. Sie hatte es nicht ganz so harsch formuliert, aber den deutschen Kanzler darauf hinzuweisen, er dürfe dort nicht stehen, hatte auch so für einen Sack Probleme gereicht.

Es war eines der seltenen Male gewesen, dass der Secret Service wirklichen Ärger bekommen hatte.

Auch das war ihnen egal.

Guterson sah aus dem Fenster. Die Kolonne fuhr über den Rhein, und einen Moment lang berührten ihn der angestrahlte Dom und die kleinere Kirche davor auf eigenartige Weise.

Er führte ein kurzes Gespräch mit dem Präsidenten, während sie auf die lange, gewundene Auffahrt zum Hyatt einbogen.

Es hatte kein Attentat gegeben. Jeder wollte die rückhaltlose Aufklärung mit allen Mitteln, um die Auftraggeber zu ermitteln, und jeder hatte zugleich Angst davor, es herauszufinden. Sollte sich der Verdacht einer serbischen oder gar russischen Beteiligung bewahrheiten, würden die Konsequenzen schauerlich sein. Aber zugleich wollte niemand, dass überhaupt etwas passiert war. Nicht in der Friedensstadt Köln. Keine Risse im Gefüge.

Wie immer blieb es sein Problem. Seines und das der deutschen Kollegen.

Sie würden es lösen.

WAGNER

»Ja. Nein. Nein. Ja.«

Wagner hatte das Gefühl, immer wieder die gleichen Fragen zu beantworten, aber vielleicht lag es auch einfach nur an ihrer Unfähigkeit, das Geschehene zu erklären.

Vor allem fühlte sie sich müde, schrecklich müde. Sie saßen auf der Pritsche eines offenen Mannschaftswagens und halfen den Polizisten zu verstehen, was sie in der Halle vorgefunden hatten. Die meiste Zeit redete ohnehin O’Connor. Die Männer, die sie vernahmen, waren schließlich zu der Überzeugung gekommen, dass er ihnen die präziseren Informationen lieferte, und behelligten Wagner nur sporadisch. Einer von ihnen war Bär, der Hauptkommissar vom Flughafen, den anderen kannte sie nicht. Sie waren höflich und rücksichtsvoll, offenbar aber fest entschlossen, in wenigen Minuten umfassendes Wissen zu erlangen.

Wagner konnte es ihnen nicht verdenken. Sie suchten Jana.

Und Jana war verschwunden.

Wieder frei zu sein und außer Gefahr, hinterließ gemischte Empfindungen in Wagner. Zum einen kaum zu beschreibende Erleichterung, andererseits bleierne Gleichgültigkeit. Es ist normal, dachte sie, wahrscheinlich haben die Nerven abgeschaltet oder irgendwas. Geist und Körper wollen ihre Ruhe. Selbstschutz. Wovon man so las. An O’Connor gelehnt, hörte sie teilnahmslos zu, wie er den Plan schilderte, den er gemeinsam mit der Terroristin entwickelt hatte, wie sie den kleineren der beiden erschossenen Agenten in ihre Kluft gesteckt und ihm die Perücke übergezogen hatten, während sich Jana mit Blut beschmierte und in die Kluft des Toten schlüpfte. Die Maskerade war beinahe lächerlich in ihrer Unbeholfenheit gewesen, eine makabre Travestie. Mirko hatte es nur darum nicht sofort erkannt, weil er nichts anderes zu sehen erwartet hatte. In seiner Erinnerung lagen die beiden Agenten dort, wo er sie auch vorfand. Seine Aufmerksamkeit hatte anderen Dingen gegolten, nicht einem blutigen Bündel, das verdreht dalag, mit einem Arm den halben Kopf verdeckend, ganz offensichtlich einer seiner Männer.

Wagners Blick wanderte hinüber auf die andere Straßenseite.

Zwanzig Minuten nachdem O’Connor Lavallier angerufen hatte, glich die Spedition einem Testgelände für Polizeieinsätze. Auf der Straße parkten mehrere Mannschaftswagen. Flutlichtstrahler waren herbeigeschafft worden. Das Rolltor stand weit offen und gab den Blick frei auf hektische Aktivitäten im Innenhof und in der Halle. Uniformierte liefen ein und aus, Teams der Spurensicherung untersuchten die beiden Lastwagen, den YAG und überhaupt alles. Zwischen den Polizeifahrzeugen parkten quer über den Gehsteig zwei Notarztwagen. Die Ärzte und Sanitäter waren in der Halle verschwunden und noch nicht wieder zum Vorschein gekommen. Das Letzte, was sie gehört hatte, war, dass es offenbar Schwierigkeiten gab, Kuhn zu transportieren. Er litt an inneren Verletzungen und Knochenbrüchen und hatte das Bewusstsein verloren. Sie konnten nicht genau sagen, wie sein Körper reagieren würde, wenn man ihn bewegte. Sie kämpften um ihn. Das war alles. Silberman war bei ihm, dessen Streifschuss sich unproblematisch hatte versorgen lassen. Der überlebende Agent befand sich bereits im Innern eines der Notarztwagen. Wagner wusste nicht, ob sie ihn verhörten oder ob er überhaupt in der Lage war, zuzuhören und Fragen zu beantworten.

Es war ihr gleich.

Sie fragte sich, ob sie den Anblick der Halle je würde vergessen können. Zumindest weit genug zurückdrängen, dass die Bilder sie nicht in ihren Träumen heimsuchten. In einer Anwandlung von Selbstquälerei versuchte sie, sich in Erinnerung zu rufen, wie viele Leichen da drinnen herumlagen, aber es gelang ihr nicht. Ihr Verstand weigerte sich, darüber nachzudenken, und sie ließ ihn

dankbar seine Barrieren errichten.

Das Einzige, was sie wirklich glücklich machte, war, dass sie Mirko nicht hatte töten müssen. Es war misslungen. Die Gewissheit, versagt zu haben, hatte ihr Schauer des Entsetzens und der Angst über den Rücken gejagt, aber im Nachhinein erwies sich der Fehlschuss als Segen. Vielleicht würde sie in Zukunft schweißnass und schreiend aufwachen, aber wenigstens nicht wegen eines Menschen, dessen Leben sie genommen hatte. Auch wenn er Mirko hieß und eine Bestie gewesen war.

»Wann können wir nach Hause?«, fragte sie.

Bär lächelte.

»Sobald wir hier fertig sind«, sagte er. »Es tut mir leid, aber so lange müssen wir Sie bitten, uns zur Verfügung zu stehen.«

»Wir haben doch schon alles drei Mal erzählt.«

Er machte eine Notiz in einem Buch, ohne darauf einzugehen. »Mir ist immer noch nicht klar, wohin Jana… nein, Sie sagten, ihr Name sei Sonja. Sonja… helfen Sie mir auf die Sprünge.«

»Irgendwas mit K. Ich erinnere mich nicht mehr. Sie hat den Namen nur einmal genannt.«

»Ja, richtig. Was mich wundert, ist, dass niemand von Ihnen gesehen hat, wie sie die Halle verließ.«

»Wir hatten genug anderes zu sehen«, sagte O’Connor.

»Obwohl sie gerade einen Mann erschossen hatte?«

»Es war ein schreckliches Durcheinander danach«, sagte Wagner. »Wir wussten nicht, ob er wirklich tot war und–«

»Mit einem Loch in der Stirn? Sie wussten es nicht?«

»Wir mussten uns überzeugen. Was erwarten Sie? Wir hatten Angst, da war Kuhn, der sich nicht mehr rührte, dieser verletzte Agent .«

»Jana hatte immerhin Zeit, die Perücke mitgehen zu lassen.«

»Dann wird es ja kein Problem sein, sie zu finden«, sagte O’Connor, Erleichterung simulierend. »Wenn Ihre Leute jede Frau an den Haaren ziehen…«

Der andere Kommissar beugte sich vor.

»Ich möchte Ihnen nichts unterstellen, Dr. O’Connor. Ihre Kooperation am Flughafen ist sehr positiv zu Buche geschlagen, trotzdem ist Ihre Rolle aus unserer Sicht nicht hinreichend geklärt. Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass es den guten Eindruck verderben könnte, wenn Sie Informationen zurückhalten.«

»Ich habe bis jetzt noch jeden guten Eindruck von mir verdorben«, sagte O’Connor höflich. »Ich gebe mir alle Mühe.«

»Das ist schön.«

»Dafür halte ich es mit der Wahrheit. Zum Teufel mit Ihrem berufsmäßigen Misstrauen, warum sollten wir diese Frau decken? Ihre Unterstellungen sind idiotisch.«

»Niemand sagt, dass Sie Jana decken«, beeilte sich Bär zu versichern. »Bitte verstehen Sie uns. Sie haben in diesem Fall unglaubliche Hilfe geleistet. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, wie dankbar wir Ihnen sind. Aber Sie wissen auch, was es bedeutet, wenn die Frau in der augenblicklichen Situation durch Köln läuft. Es ist Gipfel.«

O’Connor schüttelte den Kopf.

»Sie wird keinen zweiten Versuch unternehmen, Clinton zu töten.«

»Was macht Sie da so sicher?«

»Wir haben den Laser gefunden. Das Ding ist nicht mehr einsatzfähig. Was würden Sie an Janas Stelle tun? Ins Hyatt marschieren und Clinton im Schlaf mit dem Kissen ersticken?«

»Hat sie gesagt, dass sie fliehen will?«

»Darüber haben wir uns nicht unterhalten. Sie ist weg. Wenn wir wüssten, wo sie ist, würden wir es Ihnen sagen.«

Bär kaute an seinem Kugelschreiber.

»Ich glaube«, sagte Wagner, »sie wird fliehen.«

»Warum glauben Sie das?«

Sie wollte darauf antworten, als sie Silberman aus der Spedition humpeln sah. Er kam langsam zu ihnen herüber. Dahinter schob das Team des Notarztwagens eine Bahre heraus.

»Kuhn«, rief sie aus, als er näher kam. »Wie geht es ihm?«

Plötzlich sah sie, dass der Korrespondent geweint hatte. Seine Augen waren verquollen und gerötet.

Er schüttelte den Kopf und ging an ihnen vorbei.

Wagner versuchte, Trauer zu empfinden. Es gelang ihr nicht. Der Tag würde kommen, irgendwann. Jetzt wollte sie nur noch ins Bett und einschlafen, während O’Connor ihre Hand hielt, sie festhielt, damit sie nicht zurückgleiten konnte in den Alptraum der letzten Stunde.

Bär lächelte wieder.

»Wir lassen Sie erst mal in Ruhe«, sagte er leise.

O’Connor legte den Arm um ihre Schultern und begann sie sanft zu wiegen. Wie zwei Kinder saßen sie in dem offenen Wagen, ließen die Beine herausbaumeln und sahen den Polizisten bei der Arbeit zu.

»Sind wir schuld?«, flüsterte sie nach einer Weile.

Er ließ ein kurzes Schweigen verstreichen.

»Wir sind alle schuld«, sagte er. »An allem.«

20. JUNI. MARITIM

Die Sonne schien. Das Thermometer verzeichnete siebenundzwanzig Grad Celsius. Durch das geöffnete Fenster ging ein leichter Wind und bauschte die weißleinenen Vorhänge.

O’Connor lag auf dem Bett und las in einer Illustrierten, als Wagner aus der Dusche kam. Sie warf das Handtuch auf den Boden, nahm ihm die Zeitschrift weg und küsste ihn.

»Mhmm«, machte O’Connor.

»Ich bringe dir alles durcheinander«, sagte sie. »Ich bin nicht so besonders ordentlich.«

»Ist das eine Warnung?«

»So ungefähr.«

»Zieht nicht«, murmelte er. »Unordnung ist sexy.«

»Was du nicht sagst.«

»Liebe war noch nie ordentlich und Sex schon gar nicht. Du weißt doch, man verlegt seine Grundsätze und Zurückhaltung und gibt sich im Folgenden alle Mühe, sie nicht wiederzufinden.«

Er zog sie an sich. Sie lachte und sprang vom Bett herunter.

»Keine Zeit für Sex«, sagte sie, während sie in einem Haufen Wäsche herumstocherte. »Wir sind verabredet.«

»Du lieber Gott! Pünktlichkeit…«

»…stiehlt einem die Zeit. Schon klar. Lass dir was Besseres einfallen.«

Seit drei Tagen hatte O’Connor so gut wie keinen Alkohol getrunken. Sobald er wirkliche Probleme hatte, schien sein Interesse an Alkohol zu erlahmen, und derzeit hatte er Probleme. Er durfte Köln nicht verlassen. Vorläufig, wie es hieß, aber vorläufig entwickelte sich zum dehnbaren Begriff. Theoretisch konnte er hingehen, wohin er wollte, praktisch war er in Köln festgesetzt. Der Gipfel war noch nicht vorüber. Das Interesse des BKA wie auch der Amerikaner war überaus groß, den Fall bis ins Detail aufzuklären, und O’Connor wurde als Experte zwangsrekrutiert.

Wagner empfand Erleichterung darüber, dass er auch ohne seinen geliebten Whisky zurechtkam. Zugleich hatte sie die bemerkenswerte Entdeckung gemacht, dass er ihr als Abstinenzler auf die Dauer dubios und unvollständig erschienen wäre. Sie fragte sich, ob am Ende auch der Alkoholiker O’Connor nur eine Rolle in der Posse war, die er spielte. Im Augenblick war ihnen beiden nicht nach

Trinken. Dafür liebten sie sich mit einer Intensität, deren Skala nach oben offen schien, und sie war abwechselnd euphorisiert, glücklich über jede Minute, die sie miteinander verbrachten, und niedergeschlagen, wenn sie an Kuhn dachte. Nicht allein sein Tod stimmte sie traurig. Auch, dass es ihr nach drei Tagen nicht gelungen war, das Maß an Trauer zu empfinden, das ihm ihrer Meinung nach zugestanden hätte. Sie fühlte sich schuldig und verwirrt. Das Ausbleiben von Schmerz verunsicherte und beschämte sie. Eine Weile trug sie das Problem mit sich herum, dann erzählte sie O’Connor davon.

Er schwieg eine Weile. Dann sagte er:

»Trauer ist ein ungebetener Gast. Sie kommt und geht, wann sie will, nicht, wann du willst. Ich schätze, das ist ihre beste Eigenschaft.«

Hin und wieder dachte sie an Jana, die ihre Familie verloren hatte. Ebenso wenig, wie sich das heulende Elend für Kuhn einstellen wollte, vermochte sie Wut oder gar Hass zu empfinden. Sie fragte sich, wann Janas Schmerz eingesetzt hatte und ob er je enden würde. Aber wahrscheinlich ließ sich der Vergleich nicht ziehen. Kuhn war kein Freund und schon gar kein Verwandter gewesen, eher ein guter Bekannter, den man mochte, ohne es zu merken. Sie stellte sich vor, wie er zur Tür hereinkam und eine blöde Bemerkung über ihre Größe machte, und dann dachte sie an die Art, wie er mit der Terroristin umgegangen war, als hätte eine geheime Verbindung zwischen ihnen bestanden. Erst im Nachhinein fiel ihr auf, dass der Lektor seiner Peinigerin offenbar nicht richtig böse gewesen war. Ob es daran gelegen hatte, dass er ihr vertraute und hoffte, sie würde ihn gehen lassen, oder ob einfach eine bizarre Sympathie zwischen ihnen entstanden war, blieb auf ewig ein Geheimnis. Etwas musste vorgefallen sein, dass sie ihm all den Spott verzieh, mit dem er sie bedacht hatte. Auf Wagner hatte es den Eindruck gemacht, als hätte er alles zu ihr sagen können, und sie hätte ihm nur weiterhin halbherzig den

Mund verboten und ansonsten zugehört.

Opfer und Täter entwickelten oft merkwürdige Abhängigkeiten. Eine Abhängigkeit war es sicher nicht gewesen, aber vielleicht hatte er ihr zu denken gegeben. Durch eine Äußerung, eine Geste.

Eine Warnung.

Er hatte sie gewarnt.

Ich habe dir gesagt, dass sie den Preis für dich ausgehandelt haben. Du wolltest nicht hören.

War Kuhn am Ende von tieferen Einsichten geprägt gewesen als sie alle zusammen?

Dort angekommen, begannen sich Wagners Gedanken für gewöhnlich im Kreise zu drehen, und sie dachte an etwas anderes. O’Connor, der nichts zu tun hatte, war begierig, Köln kennen zu lernen. Seine Lesereise war geplatzt, offiziell wegen Erkrankung. Dafür, dass man ihn als Experten in der Stadt festhielt, zeigte die Polizei erstaunlich wenig Interesse an ihm. Wagner schleppte ihn durch Museen, Galerien und Clubs. Sie genoss es, sich nach den Jahren der Kasteiung wieder auf eine Stadt einzulassen, die ihre war und in der es Neues zu entdecken gab und keine abgestandenen Ängste und Irrtümer. Der Gipfel überstrahlte das Kölner Selbstverständnis wie ein Glorienschein, während den Bürgern allmählich das Interesse an dem ganzen Theater abhanden kam. Der Himmel über ihnen hallte wider vom Geknatter der Hubschrauber. Die Allgegenwart der Polizei und die Absperrungen ängstigten und beruhigten sie abwechselnd, konfrontierten sie immer wieder mit dem, was sie durchgemacht hatte – doch ganz allmählich, kaum dass es ihr auffiel, fand sie zu ihrem inneren Gleichgewicht zurück.

Sie lebte. Sie hatte allen Grund, dankbar zu sein.

Merkwürdigerweise schlief sie ausgezeichnet. Vielleicht lag es an O’Connor. Der Einfachheit halber war sie in seine Suite gezogen. Auch Wagner hatte man dazu verdonnert, die Stadt fürs Erste nicht zu verlassen, ebenso wie Silberman, der argwöhnte, nicht nur aufgrund seiner Verletzung von seinen Pflichten als Korrespondent entbunden worden zu sein. Sie hatten sich angewöhnt, zusammen zu frühstücken, abwechselnd im Hyatt und im Maritim, wo sie andere Gesprächsgegenstände zu finden suchten als das Attentat und die Stunde in der Halle. Irgendwie schien jeder von ihnen bestrebt, das Thema zu ignorieren wie einen unliebsamen Zeitgenossen, den man einfach so lange nicht beachtet, bis er vom Tisch aufsteht und geht.

Kuhns Leichnam war zügig nach Hamburg überführt worden. Der Befund hatte einen hypovolämischen Schock ergeben. Kuhn war an einem Milzriss gestorben, innerlich verblutet. Einzig wenn Wagner darüber nachgrübelte, wie Gruschkow den Lektor zusammengetreten haben mochte, entstand wirkliches Grauen vor ihrem geistigen Auge, und sie lenkte sich mit irgendetwas ab, bis die Bilder wichen.

An diesem Morgen war Silberman aufgebracht gewesen. Er hatte wütend in seinen Kaffee geblasen und seinem Unmut Luft gemacht.

»Ich soll Stillschweigen bewahren! Maul halten. Das trichtern sie mir jetzt seit Donnerstagabend ein, ich kann es nachbeten, aber gestern sind sie massiv geworden.«

»Wer sind sie? Die Polizei?«

»Nein. Doch, auch die, aber ich hatte Besuch von unseren eigenen Leuten. Völlig verrückt. Sie haben mir nahe gelegt, die Angelegenheit als nicht geschehen zu betrachten!«

»Was soll das heißen? Sie sollen nicht darüber reden?«

»Ich soll gar nicht dabei gewesen sein.«

»Unverständlich.«

»Ich versteh’s ja selbst nicht. Ich glaube, Sie würden mich am liebsten in meinem Zimmer einschließen, damit ich bloß mit niemandem rede.«

»Na schön, gewissermaßen haben sie ja Recht. Sie wollen für die

Dauer des Gipfels eben keine schlechte Presse. Vielleicht möchten sie auch die Ermittlungen nicht gefährden und keinen Wirbel machen. Uns haben sie das Gleiche ans Herz gelegt.«

»Was? Ihr Gehirn waschen zu lassen?«

»Verschwiegenheit. Die Polizei in diesem Fall.« O’Connor hatte gelacht und achselzuckend Fatalismus bekundet. »Und das, wo ich verschwiegene Leute auf den Tod nicht ausstehen kann. Man findet nie heraus, ob sie interessant sind oder einfach dämlich.«

»Es hat nichts in den Zeitungen gestanden. Kein Wort von einem Attentat, nur was von verschärften Pressekontrollen. Es war alles voller Journalisten auf dem Vorfeld, die müssen was gemerkt haben. Clinton kam zu spät, verschwand wieder im Flieger, kam erneut raus, das ist doch nicht normal. Aber nichts! Nichts!«

»Doch. Es stand zu lesen, er hätte sich entschuldigt. Weltpolitisches Allerlei, das ihn an Bord festgehalten hatte, und so weiter.«

»Ich weiß nicht.«

»Ach, Aaron, die machen auch nur ihren Job. Warten Sie bis nach dem Gipfel. Wahrscheinlich ist der erste Leitartikel Ihrer.«

Silberman war nicht überzeugt gewesen.

Aber mehr gab es darüber nicht zu sagen, also hatten sie das Thema gewechselt und sich über Wirtschaftshilfe und Schuldenerlasse für die Dritte Welt unterhalten. Irgendwie war Köln politisiert. Ein großes Theater, an dem Politik gegeben wurde, und man diskutierte das Programm.

Wagner betrachtete sich prüfend in dem großen, frei stehenden Spiegel neben dem Bett.

»Ich find’s nett, dass er uns besuchen kommt«, sagte sie, während sie die Knöpfe ihrer Levi’s schloss.

»Ja, ich komischerweise auch«, rief O’Connor aus dem Bad. »Dabei konnte ich ihn anfangs nicht besonders leiden.«

»Ich glaube schon, dass du ihn leiden konntest. Du konntest lediglich nicht leiden, dass er nicht gleich vor dir in die Knie gegangen ist.«

Sie fuhr sich mit den Fingern durch das lange, honigfarbene Haar und überlegte, ob sie es zum Pferdeschwanz binden sollte. Dann beschloss sie, es zu lassen, wie es war. Lang und liebevoll in Unordnung gebracht. Neuerdings gefiel es ihr so besser als die glatt gekämmte, kontrollierte Variante.

»Wenn du so weitermachst, werde ich ihn noch richtig lieb gewinnen«, spottete O’Connor. Er kam aus dem Bad. Immer noch kündeten kleinere Verbände und Pflaster an den Händen von seinem Sturz durch das Glasdach des Terminals, aber es störte das Gesamtbild nicht. Er trug sandfarbene Jeans und ein schwarzes Poloshirt und sah blendend aus. Sie gingen über den Flur zum Aufzug und fuhren nach unten in die Lobby.

Die mehrstöckige Halle des Maritim unter dem gigantischen Glasgiebeldach war angelegt wie eine Straße, mit Geschäften, Restaurants und Cafes. Im hinteren Teil des Basements lag ein Bistro. Die Tische nahe der gläsernen Rückfront boten einen schönen Blick auf den Rhein.

Lavallier erhob sich, als er sie kommen sah.

»Sie sehen beide sehr gut aus«, sagte er.

»Danke«, sagte O’Connor.

Sie schüttelten einander die Hände und nahmen Platz.

»Sie wissen ja, wir haben Urlaub«, sagte Wagner. »Wenn auch keinen ganz freiwilligen.«

»Ja, ich weiß.« Lavallier lächelte. »Genießen Sie das schöne Wetter. Wir haben nicht so viel davon in Köln. Oh, bevor ich es vergesse…« Er griff in eine Tüte neben seinem Stuhl und förderte eine Flasche zutage. »Man sagte mir, dass Sie so was mögen, Doktor. Ich hoffe, es entspricht einigermaßen dem Niveau, auf dem Sie sich zu ruinieren gedenken.«

O’Connor nahm die Flasche in Empfang und betrachtete mit hochgezogenen Brauen das Etikett.

»Glenfarclas!« Er grinste. »Sie sind ein Experte, Monsieur le Com- missaire! Wie hätte ich das ahnen können?«

»Gar nicht. Der Mann im Spirituosenladen hat mir gesagt, was ich kaufen soll. Ich dachte, da Sie in naher Zukunft ja wohl keine Flüge und Stürze mehr zu erwarten haben .«

Sie bestellten Kaffee und Sandwiches. O’Connor bestand darauf, den Inhalt der Flasche unverzüglich einer ausgiebigen Prüfung zu unterziehen, aber Lavallier war im Dienst, also blieb es bei Kaffee.

»Wir werden sie leeren und Ihrer gedenken«, sagte O’Connor herzlich.

Immerhin.

Es ging wieder los.

»Erzählen Sie schon, wie geht es Ihnen?«, sagte Wagner. »Noch viel um die Ohren wegen der… Geschichte?«

Lavallier zuckte die Achseln.

»Nein, eigentlich nicht. Es ist nicht mehr mein Fall.«

»Warum? Die falschen Fragen gestellt?«

Er lachte.

»Ich bin nicht suspendiert, wenn Sie das meinen. Nein, es ist schlicht eine Frage der Kompetenzen. Mein Einsatzbereich ist der Flughafen. Die Sache ist über Bundesebene hinausgegangen, das heißt, die Jungs vom BKA kümmern sich drum, Europol, Interpol, die Amerikaner. Bär leitet jetzt die Ermittlungen und ein paar andere über ihm. Ich bin nicht unglücklich damit.« Er ließ ein kurzes Schweigen verstreichen. »Es tut mir sehr leid um Ihren Freund. Das wollte ich Ihnen sagen.«

Wagner nickte. Plötzlich verspürte sie wieder diese Traurigkeit. Um Kuhn. Und darum, dass sie nicht wirklich trauern konnte.

»Danke, dass Sie gekommen sind.«

Lavallier zögerte.

»Na ja«, sagte er. »Ich glaube, ich bin nicht nur deswegen gekommen.«

O’Connor betrachtete ihn aufmerksam.

»Irgendetwas Neues?«

»Ja und nein. Die Ermittlungen sind in vollem Gange.«

»Und Jana?«

»Keine Spur. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass wir sie jemals finden werden.«

»Warum so pessimistisch?«

»Bin ich nicht. Es ist einfach nur unwahrscheinlich. Das heißt, wir haben sie ja sogar gefunden.«

Wagner sah auf. Unbehagen beschlich sie.

»Also doch.«

»Es sieht ganz danach aus. Sie war in einem Hotel in der Kölner Innenstadt abgestiegen. Herausgefunden haben wir es über Gruschkow. Der Mann mit der Glatze, Sie erinnern sich, der bei der Schießerei ums Leben gekommen ist. An der Rezeption haben sie ihn eindeutig als denjenigen identifiziert, in dessen Begleitung sie vor vierzehn Tagen angereist war.«

»Das klingt doch gut«, sagte O’Connor.

»Klingt.« Lavallier nippte an seinem Kaffee. »Sie war unter anderem Namen abgestiegen. Geschäftsfrau mit einem Unternehmen im Piemont. Hatte übrigens die Frechheit, gleich nach ihrer Flucht in aller Seelenruhe ihre Zimmerrechnung zu bezahlen und ihr Gepäck abzuholen. Die italienischen Behörden haben ihre Identität bestätigt. Sehr gesunder Laden, den sie da hatte, es bestand nicht der geringste Grund, ihn zu liquidieren.«

»Und das ist geschehen?«

»Vor drei Tagen. Ihr Finanzdirektor hat sich ebenfalls abgesetzt,

er hatte die Liquidation vorbereitet.«

»Und Mirko?«

»Noch undurchsichtiger.«

O’Connor runzelte die Stirn. »Hat Bär Ihnen von meiner kleinen Theorie erzählt?«

»Kleine Theorie? Ach so, der amerikanische Hintergrund der Sache. Ja, hat er. Ich hörte, sie quetschen den verletzten Agenten aus wie eine Zitrone, aber er weiß auch nicht alles. Die Amerikaner sind auf das Äußerste besorgt. Es stimmt sie nicht gerade glücklich, dass einer ihrer ranghöchsten Beamten in diese Geschichte verwickelt ist, zu allem Überfluss auch noch der Mann, der im Hyatt für Clintons Sicherheit sorgen sollte.«

»Was? Das war Mirko?«

Lavallier tat, als habe er nicht richtig hingehört.

»Was meinen Sie?«, fragte er.

»Sie sagten gerade–«

»Ich habe gar nichts gesagt.«

O’Connor drehte sein Sandwich um und um und legte es zurück auf den Teller.

»Der Kerl hat uns fast umgebracht«, sagte er missmutig. »Ich wüsste wirklich gern, wer der Schweinehund war.«

»Möglicherweise ein Kontaktmann zur rechtsextremen Szene in den Staaten. Die ganz großen Kaliber. Vorgestern hörte ich, er sei Amerikaner serbischer Herkunft. Gestern, dass wahrscheinlich nicht mal das stimmt. Sie wissen nicht, woher er stammt und wie er heißt.« Er machte eine Pause. »Und welches seine Ziele waren.«

Wagner betrachtete den Hauptkommissar. Sie mochte ihn. Lavallier war ein netter Kerl, und er versuchte, ihnen Verschiedenes zu sagen. Vielleicht würde er noch mehr erzählen, wenn sie ihrerseits offener zu ihm waren.

Sie dachte zurück an den Moment, als sie um Mirkos Leiche herumgestanden hatten.

Die Sorge um Kuhn. Silberman bei dem Lektor. Alarmiert, weil er keinen Puls mehr fühlte.

Sie in O’Connors Arm.

Ihr Blick hatte auf Jana geruht. Einen Moment lang war sie wieder in der Halle. Sah, wie die Terroristin dem maskierten Agenten die Perücke herunterzog und zur Tür ging. Dort stehen blieb, sich noch einmal umdrehte. Niemand, der ihr Beachtung schenkte in diesen Sekunden.

Sie hatten sich in die Augen geblickt.

Es war der seltsamste Teil ihrer Erfahrung gewesen.

Seltsam, zu wollen, dass sie entkam.

Nur einer sentimentalen Geschichte wegen?

Das Leben ist ein Buch, in dem du noch nach Jahren lesen kannst, dachte sie. Lass es ruhen. Verständnis reift.

»Was glauben Sie?«, fragte sie in unbekümmertem Tonfall. »Wie lange werden wir noch zur Verfügung stehen müssen?«

Lavallier hob lächelnd die Hände.

»Ich weiß es nicht. Wirklich nicht.« Er sah auf die Uhr. »Tja. Schade. Ich muss Sie leider verlassen. Das Programm geht weiter. Landungen, Abflüge, die ganze Routine.«

»Morgen hat es sich ausgegipfelt«, bemerkte O’Connor. »Ich schätze, dann haben wir es überstanden.«

Lavallier erhob sich.

»Bär hat Ihnen gesagt, dass Sie mit niemandem reden sollen, nicht wahr?«

Wagner nickte.

»Tun Sie es nicht. Er wird Ihnen noch andere Dinge sagen. Meine Quelle an Information ist hiermit versiegt.« Er lächelte erneut, ohne dabei besonders glücklich auszusehen. »Wissen Sie, vielleicht wäre es am besten, Sie wachen morgen früh auf und kommen zu dem

Schluss, alles geträumt zu haben. Träume verblassen. Das ist praktisch. Meiner verblasst auch.«

»Das soll ein Traum gewesen sein?«, sagte Wagner ungläubig.

»Warum nicht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wie lange werden wir hier bleiben?«, fragte O’Connor noch einmal, drängender diesmal.

Lavallier sah ihn an.

»Versuchen Sie, es wie Bär zu sehen«, sagte er. »Und alle, die über ihm stehen. Überzeugen Sie ihn.«

»Wovon?«, rief O’Connor.

Lavallier antwortete nicht. Er sah durch die gläserne Front hinaus auf den Rhein.

Über dem Fluss hing regungslos ein großes Insekt. Es war ein Hubschrauber. Seine Scheiben reflektierten das Sonnenlicht.

Eine Weile verharrte er über dem Wasser.

Dann entschwand er ihren Blicken.

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