Erdbeeren mit Sahne


Wenn in bundesdeutschem Kontext von Berlinern die Rede ist, dann heißt es fast immer, sie würden meckern. Damit wird der Zustand permanenter Unzufriedenheit und Lebensenttäuschung als einer Berliner Eigenart hervorgehoben. Anderswo sind die Menschen rundum glücklich und zufrieden. Selbst wenn ihnen eine Taube auf den Kopf kackt, lächeln sie dem Vogel dankbar hinterher und fühlen sich in die Geheimnisse der Natur eingeweiht.

Meine Erfahrung ist: Nicht die Berliner, sondern alle, die im Sozialismus aufgewachsen sind, beschweren sich dauernd über alles Mögliche. Bulgaren, Rumänen, Serben, sie alle fühlen sich verraten und verkauft, ganz zu schweigen von meinen Landsleuten, die sich selbst am stärksten bemitleiden. Man hat sie verführt, ihnen das große Glück versprochen, und das sogar zweimal: das allgemeine Glück des Kommunismus, das sich nie in ein persönliches Kleinbürgerglück verwandeln durfte und überhaupt im realen Leben nie eintraf. Und dann die linkische Lottofortune des Kapitalismus, deren einziges klares Versprechen darin bestand, die früheren Versprechungen endgültig abzulösen.

Nichts von alldem hat funktioniert. Deswegen gehen meine Landsleute nun als ewig Unzufriedene durch die Welt und meckern. Das Bett ist für sie immer zu hart, das Brot zu trocken, das Wetter zu schlecht. Für eine glückliche Zukunft, egal wie sie aussehen mag, sind sie hoffnungslos verloren. Sie wissen, alles war schon einmal da und obendrein noch besser. Dafür liebe ich sie.

Gestern in der Herbsthitze fuhr mir mein Nachbar Andrej auf dem Fahrrad über den Weg.

»Kannst du mir sagen, was das soll? Bin ich etwa nach Spanien emigriert?«, schimpft er.

Ich schüttelte nur den Kopf und sagte nichts. Es war ja sowieso eine rhetorische Frage. Spanien hätte Andrej nie Asyl gewährt.

»Ich habe doch extra Deutschland ausgewählt, wegen der ausgeglichenen Wetterverhältnisse, damit ich nach dem regnerischen und feuchten Petersburg nicht gleich in die Sonne komme. Und nun das, 32 Grad im Schatten! Mir geht dieser Klimawandel schwer auf den Geist. Soll ich jetzt etwa nach Norwegen auswandern oder nach Grönland? Ich kenne dort niemanden, was sind das für Menschen, diese Norweger? Wie leben sie, was lieben sie?«

Plötzlich donnerte und blitzte es über unseren Köpfen, die ersten Regentropfen fielen auf den grauen Asphalt. Wir verabschiedeten uns schnell. Andrej fuhr weiter, seine Unzufriedenheit blieb aber auch nach seinem Abtauchen im Regen hängen wie ein Überbleibsel aus alter Zeit, ein Appendix des Sozialismus, der sich nicht herausoperieren lässt. Egal was passiert, wir werden immer meckern. Wie in der alten sozialistischen Anekdote, in der ein Pionier seinen Lehrer fragt, was Kommunismus eigentlich ist. Der Lehrer bemüht sich, den Kommunismus in einer kindgerechten Sprache zu erklären.

»Kommunismus ist«, sagt er, »wenn du jeden Tag zum Frühstück Erdbeeren mit Sahne essen wirst.«

»Ich mag aber keine Erdbeeren mit Sahne«, erwiderte der Schüler.

»Das ist egal, du wirst sie trotzdem essen«, klärt ihn der Pädagoge auf.


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