Plüschtiere aus Schlobin


Bei uns im Korridor zwischen dem Schuhschrank und dem Garderobenständer steht ein rosaroter Panther, der in der Dunkelheit leuchtet: ein weißrussisches Plüschtier, das wir von unserem Nachbarn Sergej geschenkt bekommen haben und das regelmäßig Gäste erschreckt, wenn sie sich zum Beispiel die Schnürsenkel binden und der Panther ihnen plötzlich in den Rücken fällt. Viele fürchten sich vor ihm. Der weißrussische Panther sieht nämlich gar nicht niedlich aus, sondern wie ein geschlachtetes Raubtier. Genauer gesagt: wie ein echter Panther aus Afrika, der sich nach Weißrussland abgesetzt und sich in den dortigen Wäldern und Sümpfen versteckt hat, dann aber von der weißrussischen Polizei gefangen genommen und gefoltert wurde. Er verriet aber seine Identität nicht und starb schließlich einen Heldentod durch mehrfaches Erschießen und Erhängen. Anschließend stopften die Weißrussen den Kadaver aus und verkauften ihn als Plüschtier an die Touristen.

Dieser Panther ist nicht das einzige weißrussische Plüschtier in unserem Haus. Meine Nachbarn aus der Russen-WG haben noch ein Kamel und ein Eichhörnchen beide groß wie Kühlschränke, in der Wohnung stehen. Immer wenn Sergej seine weißrussische Heimat, die Stadt Gomel besucht, packt ihm seine Mutter ein Plüschtier ein.

»Nein, Mama«, wehrt sich Sergej jedes Mal vergeblich. »Ich kann diesen Löwen bzw. das Schweinchen oder Känguru unmöglich nach Berlin mitnehmen! Ein erwachsener Mann mit einem Riesenplüschtier im Arm - willst du, dass halb Europa über mich lacht?«

»Aber es ist so niedlich, so kuschelig«, lässt die Mutter nicht locker. »Du kannst das Tierchen deiner Freundin schenken. Wenn du es ins Bett legst, wird sie begeistert sein!«

»Wenn ich dieses Tierchen mit ins Bett nehme, wird dort kein Platz mehr für meine Freundin sein. Dann werde ich mein Leben lang nur mit diesem Tierchen schlafen müssen!«, regt sich Sergej auf.

»Musst du nicht«, beruhigt ihn die Mutter. »Ich schenke dir nächstes Jahr ein neues, ein anderes Tierchen. Willst du einen Eisbären?«

Natürlich sagt Sergej am Ende ja und nimmt das Tierchen mit, weil es sinnlos ist, mit seiner Mutter zu streiten. Zu Hause in Berlin versucht er, das Tier zu entsorgen, indem er es zum Beispiel an uns oder andere Bekannte weiterverschenkte. Das klappt nicht immer. Ost ist Ost, und West ist West, sie werden einander nie verstehen. Obwohl die Plüschtierbesessenheit der Weißrussen eigentlich leicht nachzuvollziehen ist. Sie erklärt sich aus der kapitalistischen Entwicklung der weißrussischen Stadt Schlobin in der Nähe von Gomel und dem Widerstand, den die Bewohner dieser Entwicklung entgegenbrachten. In Schlobin steht die berühmte Fabrik namens Schlobinskaja Fabrika für weiche Spielzeugproduktion. In der sozialistischen Planwirtschaft wurde sie dazu auserkoren, die ganze Sowjetunion - ein Sechstel der gesamten Erdoberfläche, wie uns in der in der Schule erzählt wurde - mit weichem Spielzeug zu beliefern. Die Bevölkerung von Schlobin war vollzählig in die Produktion des weichen Spielzeuges involviert.

Nach der Auflösung der Sowjetunion war von einem Sechstel der Erdoberfläche nur wenig übrig geblieben. Die Fabrik drosselte die Produktion von weichem Spielzeug soweit es ging, trotzdem produzierte sie immer noch viel mehr als sie verkaufte. Denn die frischgebackenen unabhängigen Republiken wollten ihre Unabhängigkeit weiter ausbauen und kauften ihr Spielzeug fortan nicht mehr beim Nachbarn, sondern in China. Obwohl jeder wusste, dass die Chinesen ihre Plüschtiere aus giftigen Materialien herstellen, die sich auf die zukünftige Potenz der Kinder negativ auswirken konnte. Man erzählte sich, dass die Chinesen durch dieses Spielzeug die Geburtenrate im eigenen Land bereits deutlich gesenkt hatten.

In den anderen weißrussischen Städten, die sich auf die Produktion von Dünger oder Traktoren spezialisiert hatten, in den Kolchosen, die zu Agrarfarmen umgewandelt waren, kamen und kommen die Bewohner noch irgendwie über die Runden. Aber die Arbeiter von Schlobin sahen schwarz. Der Stadt drohten die totale Arbeitslosigkeit, Elend und Not. Der Betrieb musste sich an die neue Zeit anpassen - nur wie? Die neu eingerichtete Produktionslinie für »sprechende Sexplüschtiere« konnte allein keine dauerhafte Lösung bringen. Die Fabrikleitung beriet sich mit Politikern, dann schlug sie ihren Arbeitern vor, zwei Drittel des Gehaltes künftig statt in Geld in Fabrikprodukten, das hieß in Plüschtieren, auszubezahlen. Nur so könnte die Fabrik die schweren Zeiten überleben und weitere Entlassungen vermeiden.

Die Arbeiter atmeten tief ein und stimmten dem Angebot schließlich zu.

Damals, vor zehn Jahren, konnte niemand ahnen, welche Auswirkungen diese Entscheidung auf das Stadtbild und die Lebensgewohnheiten der Einwohner haben würde. Inzwischen hat sich die halbe Stadt in einen Spielzeugmarkt verwandelt. Man kann in Schlobin um 2.00 Uhr morgens noch eine Giraffe kaufen. Viele Züge, die durch Weißrussland fahren, machen in Schlobin Halt. Die Passagiere, die zum ersten Mal die Stadt besuchen, erstarren vor Schreck, wenn ihnen plötzlich stark behaarte Löwen und orangefarben gefederte Moorhühner vom Bahnsteig entgegenspringen. Bären und Mustangs laufen über die Gleise und drücken ihre Fratzen an die Fensterscheiben. Die Arbeiter von Schlobin lassen sich nur in großkalibrigen Tieren von der Fabrik entlohnen, weil sie teurer sind und sich besser verkaufen lassen. Deswegen sieht man auf dem Bahnsteig keine Menschen, sondern nur große Plüschtiere, die auf Menschenbeinen von einem Zug zum anderen laufen. Als Verkäufer sind die Arbeiter der Spielzeugfabrik hartnäckig und lassen sich nicht mit einem einfachen Kopfschütteln oder dummen Sprüchen abschütteln. Sie sind rhetorisch gewieft, überzeugend und können praktisch jedem Rentner ein Plüschtier andrehen.

Den erwarteten Wohlstand, diesen Hauptbestandteil des Kapitalismus, vermisst man an vielen Orten in Weißrussland. Er hat sich äußerst wählerisch benommen und ist nicht in jedes Haus eingezogen. Es gibt noch viele Familien, die kein Auto besitzen, sich keinen Urlaub in der Türkei leisten können und nur einen Fernsehapparat haben. Dafür gibt es in Schlobin und Umgebung niemanden, der kein Riesenplüschtier besitzt. Es werden welche nach Russland verkauft, manche sogar privat exportiert. Eines davon landete bei uns im Korridor. Er schreckt die Gäste ab und leuchtet in der Dunkelheit, mein rosaroter Freund, der verlorene Sohn des Ostens, unter komplizierten Umständen gezeugt, aus Solidarität geboren.


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