Deutsch als Spritze


Nicht nur in Amerika und Europa, auch unter den Russen bildet sich derzeit eine neue Harry-Potter-Generation: Menschen, die fest an Wunder glauben. Sie sind bereit, jede Anstrengung, die von ihnen verlangt wird, durch einen Zaubertrick zu ersetzen. Auch dann, wenn ihnen der Zaubertrick letztlich noch größere Anstrengungen abverlangt. Um beispielsweise festzustellen, ob es draußen regnet, schauen sie lieber ins Internet als aus dem Fenster.

Mein Nachbar Andrej gehört auch zu diesen Leuten, obwohl er vom Alter her durchaus der Vater von Harry Potter sein könnte. Seit einem Jahr arbeitet er bei einer deutschen Internetfirma, und seine Chefs sind mit ihm sehr zufrieden, weil er fleißig ist und nie Überstunden abrechnet. Nur eines finden seine Chefs bedauerlich: dass der Mann schon so lange in Deutschland lebt und noch immer nur einen Satz auf Deutsch kann: »Tschüss, bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt: Popkonzert.« Das sagt Andrej jeden Tag zum Abschied. Seine Chefs wundern sich, aber ich finde es völlig normal. Woher soll Andrej mehr Deutsch können, wenn er die letzten Jahre vor dem Monitor verbracht hat und alle Kommunikationsprobleme hier mit seinem Schulenglisch leicht lösen kann?

Der deutsche Satz, den er aus irgendeiner Radiosendung aufgeschnappt hat, nervt seine Kollegen total. Unaufdringlich versuchten sie ihn zu überzeugen, doch noch ein paar zusätzliche Äußerungen dazu zu lernen. »Du bist intelligent, du schaffst es«, ermunterten ihn seine Chefs vor zwei Wochen und schickten ihn in unbezahlten Urlaub. Andrej fühlte sich daraufhin von den Kollegen verraten und in seiner Existenz bedroht. In eine Sprachschule zu gehen, kam für ihn nicht in Frage.

»Das ist pure Zeitverschwendung«, meinte er. »Es muss doch eine Alternative geben, die einem den Einstieg in eine Fremdsprache innerhalb kürzester Zeit ermöglicht«, sinnierte er bei uns in der Küche.

»Aber natürlich gibt es so etwas«, bestätigte ich und zeigte ihm eine Annonce in der russischsprachigen Zeitung, die bei uns seit Monaten für gute Laune sorgt: »Geheime Kreml-Medizin wird zum Gemeingut des Volkes: Erlernen Sie eine Fremdsprache in 24 Stunden. Deutsch als Spritze« stand da. In einem kleinen Werbetext erwähnt der Anbieter geheime Medikamente, die man früher zur Unterstützung des regierenden Parteiapparats in sowjetischen Forschungslaboren entwickelt hatte. Auf diese Weise lernte beispielsweise Gorbatschow Englisch, und Jelzin konnte sich dadurch mit Kohl unter vier Augen unterhalten - behauptet jedenfalls der Anbieter. Ich hielt diese Annonce schlicht für eine Verarschung. Andrej hatte auch seine Zweifel. Er glaubte nicht, dass sich Gorbatschow sein Englisch hatte einspritzen lassen: »Dafür hat er einen viel zu starken Akzent.«

In der Annonce stand zwar, dass man unmittelbar nach der Injektion eine Fremdsprache sprechen kann, aber nirgendwo war erwähnt, dass jemand sie auch verstand. Wir saßen bei mir in der Küche und amüsierten uns über all die Leichtgläubigen, die sich das Zeug schon gespritzt hatten und sich nun selbst nicht mehr verstanden. Plötzlich stieß Andrej auf eine andere kleine Annonce, die ich übersehen hatte: »Tausende danken Doktor Hoffmann! Deutsch unter Hypnose: Ohne Sprachschule und ohne besondere Vorkenntnisse lernen Sie Deutsch in 30 Stunden!«, behauptete der Doktor. Sein Kurs »Selbstlernen unter Hypnose« kostete nur 159,- Euro plus Versandkosten. Dafür bekäme man ein Buch des Autors, eine Audiokassette und ein Meditationsobjekt, um sich selbst zu hypnotisieren. Auf dem Photo sah Doktor Hoffmann sehr seriös aus. »An Ihren Wahrnehmungszentren vorbei wird die Fremdsprache direkt auf die Festplatte Ihres Unterbewusstseins gespeichert«, stand unter dem Bild.

Der wichtigste Teil des Kurses war die Audiokassette. »36 Linguisten aus der ganzen Welt haben sechs Jahre hart gearbeitet, um diese 90-Minuten-Aufnahme zu entwickeln. Und jeder, der sich diese Kassette zwölfmal unter Hypnose anhört, wird die Fremdsprache seiner Wahl beherrschen können«, behauptete Doktor Hoffmann. Ich schenkte auch dieser Annonce keinen Glauben. Besonderes merkwürdig schien mir, dass alle Zahlen, die Doktor Hoffmann verwendete, um die Einmaligkeit seines Kurses zu beweisen, durch sechs teilbar waren. Für mich war das ein eindeutiges Zeichen für den Wahnsinn des Doktors. Doch Andrejs Augen glänzten. Vielleicht war es der Vergleich seines Unterbewusstseins mit einer Festplatte, der ihn überzeugte. Im Nu war er fest entschlossen, diese Methode auszuprobieren.

»Wer sind all diese Tausende, die dem Doktor danken? Ich kenne keinen einzigen, der sein Sprachpaket gekauft hat«, appellierte ich an Andrejs Vernunft.

Er war aber nicht mehr zu retten. »Es gibt so manches, Freund Horatio«, zitierte er voller Pathos Shakespeare, »wovon du keine Ahnung hast.« Zu mir gewandt, sagte er: »Du bist ein Zyniker und viel zu misstrauisch. Doch so kommen wir nicht weiter. Ich will Doktor Hoffmann eine Chance geben. Selbst, wenn ich der Erste bin, der ihm nachher dankt.«

Am nächsten Tag überwies Andrej tatsächlich 159,- Euro an Doktor Hoffmann, und schon drei Tage später bekam er von einem Kurierdienst einen Karton ausgehändigt. Mit diesem Karton kreuzte er dann wieder bei mir auf, denn so groß war sein Vertrauen in den Doktor doch nicht. Er wollte nicht allein in hypnotisiertem Zustand in der Wohnung sitzen. Wir packten das Paket zusammen aus. Laut beiliegender Instruktion sollte der Fremdsprachenliebhaber zuerst die Broschüre lesen, dann das Meditationsobjekt - eine kleine silberne Kugel, die an einer Schaukel hing - mit Hilfe von zwei Elektrobatterien in Bewegung setzen, dann die Kassette in den Rekorder schieben, Kopfhörer aufsetzen und sich in einem Sessel entspannen. So einfach war das Ganze.

Andrej wollte wissen, wie man feststellt, ob man schon hypnotisiert war oder erst auf dem Weg dahin. Darüber konnten wir in dem Buch keine Informationen finden, dafür jedoch zahlreiche Tipps, was zu tun war, wenn die Sache schiefging. Doktor Hoffmann beschrieb ausführlich die am häufigsten auftretenden Probleme und Fragen seiner Patienten:

»Sie haben sich die Kassette zwölfmal angehört, können aber die von Ihnen gewünschte Fremdsprache noch immer nicht. Das bedeutet: Ihr Unterbewusstsein ist überlastet und kann die Informationen nicht ordnungsgemäß speichern. Machen Sie einfach eine Pause. Gehen Sie an die frische Luft, versuchen Sie, ein paar Tage nicht zu trinken und nicht zu rauchen. Schlafen Sie sich gut aus, und dann versuchen Sie es mit der Kassette erneut.«

Oder: »Sie haben sich die Kassette mehrmals angehört und nun das Gefühl, dass Sie die von Ihnen gewünschte Fremdsprache fließend können. Sie wird aber als solche von Ihrer Umwelt nicht erkannt. Keiner versteht Sie. Bewahren Sie Ruhe. Das Unterbewusstsein der meisten unserer Mitmenschen ist ebenfalls oft überlastet. Reagieren Sie nicht auf Spott. Gehen Sie an die frische Luft, versuchen Sie, ein paar Tage nicht zu trinken und nicht zu rauchen. Schlafen Sie sich gut aus, und versuchen Sie es dann mit der Kassette erneut.«

Weiter hieß es: »Sie haben sich die Kassette zwölfmal angehört und beherrschen nun eine Fremdsprache, aber nicht die, die Sie sich gewünscht haben. Sie und Ihre Mitmenschen sind überzeugt, dass es sich um eine Fremdsprache handelt, aber keiner weiß, um welche. Bewahren Sie Ruhe. Wenden Sie sich an den Hersteller. Unsere Spezialisten stehen Ihnen rund um die Uhr zu Verfügung.«

Vorsichtig erkundigte ich mich bei Andrej, ob angesichts dieser Informationen seine Opferbereitschaft in Bezug auf den Fortschritt nicht doch etwas übertrieben war.

»Stell dir mal vor«, sagte ich zu ihm, »du hörst dir die Kassette ein paarmal an und kannst anschließend gar keine Sprache mehr. Das wäre doch auch möglich. Dann kannst du dich auch nicht mehr an den Hersteller wenden, nicht mal an die Polizei oder den Notarzt, dann bist du erledigt.«

»Stimmt nicht«, sagte Andrej, »ich kann immer noch E-Mails schreiben.«

Mir wurde klar, wie ernst ihm die Sache war. Ich versprach, in der Nähe zu bleiben, für alle Fälle, und verdrückte mich in die Küche. Eine Stunde lang hörte ich Andrej im Wohnzimmer fluchen: Sein Organismus wehrte sich und wollte nicht hypnotisiert werden. Doch irgendwann wurde es still in der Wohnung. Man konnte fast hören, wie die Audiokassette im Rekorder quietschte und die gewünschte Fremdsprache in Andrejs Unterbewusstsein tropfte. Ich las - zum vierzigsten Mal - Anna Karenina und fand das Werk erneut faszinierend. Als ich das Kapitel über den ausländischen Prinzen gerade durchhatte, erschien Andrej in der Küche. Er sah müde, aber zufrieden aus.

»Na, wie geht es dir, mein Freund?«, fragte ich ihn vorsichtig.

Er zündete sich schweigend eine Zigarette an. Dann sagte er in nahezu perfektem Deutsch:

»Tschüss, bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißt: Popkonzert« - und lachte.


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