Väter und Söhne


Es mag nicht besonders glaubwürdig klingen, aber auch mein Leben besteht nicht nur aus Spaß. Niemand ist allein auf der Welt, und so habe ich wie jeder andere gewisse Pflichten meinen Mitmenschen gegenüber. Ich muss zum Beispiel jeden Tag unseren Hauscomputer für die ganze Familie ein- und ausschalten, neue Telefonspiele aufladen, einmal im Jahr mit den Kindern den neuen Harry Potter ankucken, mit ihnen Kicker und Billard spielen, mit meiner Frau zwischendurch ein alkoholisches Erfrischungsgetränk zu mir nehmen, meiner Mutter regelmäßig neue russische Fernsehserien besorgen und die Gedichte meines Vaters ins Deutsche übersetzen.

Letzteres ist mit Abstand die lästigste Pflicht. Ich mag Poesie nicht, schon gar nicht, wenn sie aus dem engeren Familienkreis stammt. Mehrmals habe ich die Gedichte meines Vaters schon in Geschichten eingebaut, bei denen sich das Publikum dann amüsierte. Sie hatten gut lachen, sie haben die Originale nicht gelesen. Deswegen suche ich stets nach passenden Ausreden, wenn mein Vater mit seinen Gedichten bei mir aufkreuzt. Er aber erfindet laufend neue Gründe, um mich mit seiner Kunst zu konfrontieren.

Vor einiger Zeit zogen meine Eltern in eine neue Wohnung um. Der Umzug inspirierte meinen Vater sofort zu einer kleinen gemeinen Dichtung, und schon einen Tag nach dem Umzug stand er mit einem DIN-A4-Blatt Papier in der Hand in meinem Arbeitszimmer und schaute mich traurig an.

»Ich muss mit dir etwas sehr Wichtiges besprechen.«

»Gedichte!«, dachte ich sofort.

Er fing aber anders an. »Mein vorletzter Umzug«, seufzte er. »Der Tod naht, bald geht es ab in Richtung Himmel.«

»Wem sagst du das, geht mir doch genauso«, beruhigte ich ihn.

»Ich habe schon mein Testament geschrieben. Alles wird dir gehören, mein Werkzeugkasten, meine Fotos, meine Elektrosäge, meine Pflanzen und mein neuer Fernseher.«

»Das freut mich natürlich sehr«, erwiderte ich diplomatisch.

»Ich muss dir noch erzählen, wo meine Ersparnisse versteckt sind«, fuhr er fort.

»Wo denn?«, fragte ich aus purer Höflichkeit.

»Später«, wiegelte mein Vater ab. »Zuerst möchte ich dich fragen, ob du mir meinen letzten Willen erfüllen könntest.«

»Sicher, klar«, versicherte ich.

»Du musst das hier übersetzen«, er legte mit das Blatt auf den Tisch. »Das ist mein Epitaph. Ich möchte diese Zeilen auf meinen Grabstein gemeißelt haben. Du wirst mir doch einen spendieren, oder?«

Kurz zuvor hatte ich in der Zeitung gelesen, dass man neuerdings großartige Grabstätten für seine Verwandtschaft im Internet einrichten konnte: auf einer sonnigen Internetseite, deren Ruhe niemals von zufälligen Besuchern gestört wurde. Man konnte sie sich sogar automatisch einmal im Jahr zum Auffrischen der Erinnerung auf den Bildschirm holen. Ich wollte meinen Vater mit dieser virtuellen Realität jedoch nicht vorzeitig konfrontieren. Und bei seinem Epitaph dachte ich nur an ein paar Zeilen. Das Werk meines Vaters hatte jedoch sechzehn Zeilen und einen Refrain.

»Das ist kein Epitaph, Papa, das ist ein ganzes Lied«, meinte ich zu ihm. »Dazu braucht es Grabsteine von solcher Größe wie sie in unserem Jahrhundert nur noch blutrünstige Diktatoren bekommen haben - Lenin, Stalin, Mao Tse-tung. Auf ein herkömmliches Grabmal wird dieses Werk niemals passen.«

Vor allem irritierte mich, dass sein Epitaph mit meiner Adresse und Telefonnummer endete.

»Vielleicht würde der Text jemandem gefallen«, erklärte mein Vater, »alle Rechte werden dir gehören.« Wegen der Länge, sagte er, soll ich ihm Kürzungsvorschläge machen.

Ich vertiefte mich in den Text. Das Epitaph klang etwa so:

Der letzte Flug, der letzte Umzug,

Schon ruft nach mir die hohe Macht,

Sie holt mich. Wie , egal - Prostata oder Gicht.

Und weiter nur stille Kälte,

Es führt kein Weg zurück ins Licht,

Ob Krieger bist du, König oder Rentner.

Wo ist dein Thron und wo der Heimat Lohn

Für deine Arbeit, Liebe und Hingabe?

Die Heimat schweigt, wenn ich diese Fragen habe,

Es dringt nicht ein Geräusch aus der Heimat Bauch,

Sie schweigt wie Stein, dann schweige ich jetzt auch.

Mein Kürzungsvorschlag, das Ganze auf die letzte Hälfte des letzten Satzes »Dann schweige ich jetzt auch« zu reduzieren, wurde von meinem Vater entsetzt abgelehnt. Ich verwies ihn vorsichtig auf den Vater meines Nachbarn Andrej, der überhaupt nicht an den Tod denkt - im Gegenteil. Er schreibt auch keine Gedichte. Er fühlt sich noch jung, allerdings ist er auch jünger als mein Vater. Aber manchmal fühlt er sich sogar zu jung. Von meinem Vater weiß ich zumindest, worauf man sich gefasst machen muss. Der Vater von Andrej ist unberechenbar. Ich kann ihn nicht richtig einschätzen. Ein Teil von mir sagt, der Vater von Andrej ist ein grandioser Mensch mit bunter Vergangenheit, und es macht mir große Freude, ihm zuzuhören. Seine Geschichten erscheinen zunächst glaubwürdig und tiefsinnig, enden aber oft als krasse Klamotte. Ein anderer Teil von mir flüstert deswegen, dass der Vater von Andrej ein Spinner ist. Wahrscheinlich stimmt beides. Mit dieser geteilten Meinung kann ich gut leben.

Im Grunde habe ich zu jedem Mensch und jedem Ereignis geteilte Meinungen, die sich oft ausschließen. Diese Fähigkeit hat mein sechsjähriger Sohn, der sich schon jetzt nicht mehr festlegen kann, wahrscheinlich von mir geerbt. Neulich hat er deswegen beinahe geweint.

»Was soll ich tun, Papa?«, fragte er unter Tränen. »Es ist so, als würden zwei verschiedene Menschen in mir stecken. Der eine sagt, geh sofort Computer spielen, geh sofort Computer spielen. Aber der andere sagt, geh Fernsehen kucken, geh Fernsehen kucken!«

Von einer solchen Problematik fasziniert, versuchte ich meinem Sohn zu helfen.

»Das kriegen wir schon hin, mein Junge«, sagte ich. »Wir erledigen das - eins nach dem anderen.«

»Ist da nicht noch einer in dir, der sagt, geh Hausaufgaben machen?«, erkundigte sich meine Frau.

Sebastian blickte tief in sich hinein und fand diesen dritten tatsächlich, der aber ganz klein, leise und unbedeutend war.

Zurück zu Andrejs Vater: Während seines letzten Besuchs bei seinem Sohn ging er auf die Schönhauser Allee, um einzukaufen und kam mit einer neuen Reggae-Jeansjacke wieder, die eigentlich nur Minderjährige tragen. Uns erzählte er, wie es zu diesem Kauf gekommen war. Er war zufällig an dem coolen Geschäft Fuck Mode, mit orangefarbenen Guantanamo-T-Shirts in den Schaufenstern vorbeigegangen. Dort hat ihn plötzlich der Jugendwahn erfasst.

»Wie oft habe ich von solchen Klamotten geträumt, damals in den Siebzigern«, erzählte er. »Besonders hatte es mir eine Jacke mit Jimi Hendrix auf dem Rücken angetan. So eine hatte unser Schlagzeuger von seiner Tante aus England geschenkt bekommen. Ich wollte ihm die Jacke damals abkaufen, er verlangte aber fünfhundert Rubel dafür, eine Unsumme, so viel hatte ich nicht. Nun stand ich plötzlich vor diesem Laden und sah sie, die Jacke meiner Träume - dort im Schaufenster. Sie war nicht einmal teuer. Da dachte ich, was soll’s, ich habe jetzt Geld, ich habe jetzt Mumm, und ich bin noch immer ein großer Fan von Jimi Hendrix. Ich kaufe sie mir einfach. Bin rein in den Laden und habe die Jacke sofort angezogen. Die gepiercten Verkäufer haben mich komisch angesehen, und eine Frau auf der Straße hat mich angelächelt. Sie dachten wahrscheinlich, dieser alte Sack, jetzt ist er fällig geworden. Doch mir ist egal, was sie denken. Ich habe in dieser Jacke das Gefühl, endlich ich selbst zu sein! Das hat mir in den letzten Jahren so gefehlt. Ich wurde so oft von meinen Mitmenschen missverstanden, nur weil ich in falschen Klamotten steckte. Jetzt aber kann ich mein wahres Gesicht zeigen. Ja, Jimi Hendrix war ein Gott, seine Musik zeigte mir den Weg und erwärmte mein Herz«, beendete der Vater seine Erzählung.

Andrej und ich betrachteten seinen Kauf mit Erstaunen.

»Eins verstehe ich nicht«, sagte Andrej schließlich. »Wenn du ein so großer Fan von Jimi Hendrix bist, warum kaufst du dir dann eine Jacke mit Bob Marley auf dem Rücken?«

Für seinen Vater war diese Bemerkung ein harter Schlag, ein K.O. Er zog die Jacke aus, setzte die Brille auf und studierte aufmerksam das Porträt. Kein Zweifel, ein Fehlkauf.

»Ein Glück, dass er nicht Che Guevara erwischt hat«, meinte Andrej trocken.


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