Ein ungewöhnliches Konzert


Mein Nachbar Andrej hatte Besuch. Sein Vater war aus St. Petersburg angereist, um den Sohn zu kontrollieren. Ich staunte nicht schlecht, wie ein Vaterbesuch einen beinahe Dreißigjährigen dermaßen in Aufregung versetzen konnte. Andrej rasierte seinen coolen Dreitagebart ab, zog sich ein Hemd statt eines Pullovers an und hörte vorübergehend auf zu rauchen. Mich lud er zum gemeinsamen Abendessen mit Papa ein und schilderte kurz den Kreis der Themen, die in Anwesenheit des Vaters nicht erwähnt werden durften. Dazu gehörte Andrejs Privatleben, seine berufliche und finanzielle Situation, sein kaputtes Auto, seine alltäglichen Gewohnheiten sowie auch so ziemlich alles, was in irgendeiner Weise etwas mit ihm zu tun haben konnte.

»Worüber sollen wir denn stattdessen sprechen?«, wunderte ich mich.

»Frag ihn nach seinem Saxophon, alles andere ergibt sich von alleine«, meinte Andrej.

Ich dachte, sein Vater wäre Mathematiker von Beruf, ein Programmierer oder etwas Ähnliches. Ich hätte nie auf Musiker getippt, nie im Leben.

Das Abendessen verlief langweilig. Andrejs Vater sah mit seinen sechzig Jahren noch sehr frisch aus, vor allem aber seinem Sohn erstaunlich ähnlich. Er trug einen Dreitagebart, einen Pullover, trank Whisky aus einem großen Glas, schimpfte auf Deutschland und die Welt und benahm sich auch sonst wie sein Sohn, wenn er gerade keinen Vaterbesuch hatte. Die Flasche zwölf Jahre alten Bowmore hatte Andrej sehr preiswert bei einem Vietnamesen gekauft, der Whisky musste noch unter den Kommunisten gebrannt worden sein. Es war ein Experiment. Wir versuchten nach Möglichkeit, vorsichtig damit umzugehen, denn die Erinnerung an den mongolischen Whisky vom letzten Jahr war noch frisch.

Die Situation am Tisch eskalierte langsam. Aus Mangel an Themen fragte ich Andrejs Vater über seine musikalische Karriere aus. Er hatte anscheinend nichts Aufregendes zu berichten. Drei Jahrzehnte lang hatte er in einer ganzen Reihe von Popkollektiven, Gruppen und Bands gespielt, von denen wir nie etwas gehört hatten. Auch war er mit vielen berühmten Persönlichkeiten auf einer Bühne gestanden, die wir nicht kannten. Über zeitgenössische Musik schimpfte der Vater heftig, besonders Rapper schienen bei ihm in Missgunst gefallen zu sein. Sie waren seiner Meinung nach allesamt Pfeifen, die weder singen noch spielen konnten und diesen Mangel an musikalischem Talent mit Aggressivität und dummen Sprüchen kaschierten. Grundsätzlich mangele es der modernen Musik an Inspiration, klagte Andrejs Vater. Die jungen Musiker würden nur noch ans Geld denken, sie hätten nichts vorzuweisen außer dem Wunsch, schnell reich und berühmt zu werden. Doch der Ruhm halte heutzutage nicht länger als fünfzehn Sekunden, und wirklich reich werden nur die Manager, die sowieso immer alle Fäden in der Hand halten.

»Alles Arschlöcher!«, beendete Andrejs Vater seine Tirade, als würde er einen Toast ausbringen. »Was auch immer sie tun, der letzte wahre Rock’n’Roller wird John Lennon bleiben. Ich bin stolz, mit diesem Mann auf einer Bühne gestanden zu haben.«

Nach diesem Geständnis breitete sich Schweigen aus. Zu diesem Zeitpunkt hatten wir bereits zwei Flaschen Bowmore geleert und eine dritte angebrochen. Keine Überdosis also, die erwachsene Menschen auf eine Bühne mit John Lennon bringen konnte.

»Dieses ungewöhnliche Konzert war eine der eindringlichsten Erfahrungen in meiner beruflichen Karriere«, fuhr der Vater weiter fort.

»Du hast mir früher nie etwas davon erzählt, Papa«, mischte sich der Sohn ein. »Wer hat noch mitgespielt? Vielleicht Mick Jagger? Bob Dylan? Elvis Presley?«

»Arschloch!«, regte sich sein Papa auf. »Von solchen Arschlöchern wurde John Lennon ermordet. Er hatte eine sehr große Anziehungskraft auf die Menschen, und ich habe schon damals zu ihm gesagt, John, sie werden dich killen, wenn du so weiter machst. Ich sollte euch darüber lieber nichts erzählen. Ihr glaubt, ihr kennt alle Geschichten, weil ihr ein Mal im Leben ein dickes Buch gelesen habt. Aber die Geschichte lebt nicht in dicken Büchern, sie lebt in den Herzen und der Erinnerung der Menschen!«

Andrejs Vater trank seinen Whisky aus. Wir waren verwirrt. Alle Welt wusste doch, dass John Lennon nie in seinem Leben die Sowjetunion besucht hatte. Andrejs Vater hatte wiederum die Sowjetunion niemals verlassen, die beiden konnten also unmöglich gemeinsam auf der Bühne gestanden haben. Als wir ihn mit diesen Tatsachen konfrontierten, bekamen wir seine Version zu hören.

Andrejs Vater behauptete im Ernst, 1966 in der Hauptstadt der usbekischen Republik im dortigen Café Flamingo während einer Hochzeit mit John Lennon persönlich »All you need is love« gesungen zu haben. Anfang der Sechzigerjahre hatte er sein Studium als Klarinettist an der Musikakademie in St. Petersburg abgeschlossen und wurde für fünf Jahre nach Taschkent in die dortige Philharmonie abkommandiert. Er hatte da zehn Pflichtkonzerte im Monat abzuleisten, den Rest der Zeit versuchte Andrejs Vater seine Finanzen mit Restaurantauftritten aufzubessern. Mit drei Philharmonie-Kollegen gründete er eine Band und »hackte die Kohle«, wie es damals hieß, auf Hochzeiten, Geburtstagen oder einfach auf den bekannten Tanzflächen der usbekischen Hauptstadt. Unter anderem in dem seinerzeit berüchtigten Café Flamingo.

Dort fand einmal eine stinknormale Hochzeit mit dreihundert Gästen statt. Die Band von Andrejs Vater galt in der Stadt als sehr progressiv, sie spielten schon damals Cliff Richard, Paul Anka und auch die Beatles: »Can’t buy me love« zum Beispiel. Zum Zeitpunkt der Hochzeit flogen die Beatles gerade aus Indien nach London zurück mit einer Zwischenlandung in Taschkent. Die kurze Pause, die zum Auftanken vorgesehen war, wollten die Beatles nicht am Flughafen verbringen. Sie bekamen ein Kurzvisum für drei Stunden und fuhren in Begleitung eines Polizeiwagens in die Stadt. Als sie am Café Flamingo vorbeikamen, uferte die Hochzeit dort bereits aus zu einem wilden Konzert mit Tanzen auf dem Hof. John und Co. wurden von dem Brautpaar sofort aufgefordert, auf ihr Wohl zu trinken, wie vermutlich jeder andere, der dort um diese Zeit vorbeikam.

Die Hochzeit und vor allem die Band sollen John sehr gut gefallen haben, besonders beeindruckt war er von dem Saxophonisten. Andrejs Vater spielte zu Ehren des ausländischen Gastes die Marseillaise, und John wurde auf die Bühne gezerrt. Er musste nach alter usbekischer Sitte dem Brautpaar ein Gedicht oder ein Lied widmen. Lennon nahm die Gitarre, griff die letzten Akkorde der Marseillaise auf und sang dazu »All you need is love«. Er hätte beinahe sein Flugzeug verpasst, erzählte uns der Vater.

»Ein Jahr später wurde dieser Song überall auf der Welt zu einem Riesenhit, und alle dachten, John hat dieses Lied geschrieben, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren. In Wirklichkeit hatte er damit nur ein Brautpaar in Taschkent begrüßt, und ich spielte als Erster das Solo auf dem Saxophon«, beendete Andrejs Vater stolz seine Erzählung.

»Warum hast du dich denn nicht mit Lennon fotografieren oder ihn etwas signieren lassen?«, fragte Andrej, der dabei wahrscheinlich an eBay und seine finanziellen Probleme dachte.

Der Vater machte eine Pause und nahm einen Schluck.

»Natürlich habe ich das gemacht«, sagte er. »Ich habe ihn sogar um ein Autogramm gebeten, hier auf dem Arm.« Der Vater zeigte auf seinen linken Arm. »Nur habe ich das Autogramm noch in der gleichen Nacht weggeschwitzt. John fuhr zum Flughafen, wir hatten aber noch die ganze Nacht zu spielen. Der Film in der Kamera war defekt, und dieses Hochzeitspaar trennte sich schon im darauffolgenden Jahr.«

Die Ausreden des Vaters, warum er kein Stück von John Lennon behalten habe, klangen kindisch. Am nächsten Tag hatten alle Kopfschmerzen. Wir teilten uns eine Packung Aspirin, und nachdenklich verglich Andrej dabei seinen Vater mit dem guten zwölfjährigen Whisky. Auch wenn er hundert Jahre in einem vietnamesischen Geschäft auf einem Regal steht, bleibt er trotzdem für immer zwölf.


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