Wer ist Deutschland?


Als ich zusammen mit meiner Frau und den Kindern vor drei Jahren die deutsche Staatsangehörigkeit samt Personalausweis errang, bekamen wir mehrere Merkblätter mit auf den Weg, deren Empfang wir quittieren mussten. Das erste Merkblatt hieß Über den Verlust der deutschen Staatsangehörigkeit. Warum sollen wir sie verlieren, wenn wir sie gerade erst bekommen hatten?, wunderte ich mich. Weil in Deutschland keine doppelte Staatsangehörigkeit geduldet wird. Meine Frau und ich sind aus der Sowjetunion nach Deutschland ausgewandert. Unsere sowjetischen Pässe wurden uns noch von der letzten DDR-Regierung, die uns aufgenommen hatte, entzogen. Wir haben seitdem zwar nie wieder einen russischen Pass angestrebt, waren aber juristisch gesehen russische Bürger geblieben. Deswegen mussten wir, um in Deutschland eingebürgert zu werden, den Austritt aus der russischen Staatsangehörigkeit beantragen, die wir de facto nicht mehr besaßen. Die Botschaft der russischen Föderation sagt den Betroffenen in solchen Fällen, sie sollen »nach Hause fahren« und sich dort an das russische Innenministerium wenden. Die meisten haben jedoch längst kein Zuhause in der alten Heimat mehr. Sie haben ihre Wohnungen verschenkt, verkauft oder an den Staat verloren.

Dabei geht es nicht um Einzelfälle, sondern um Zehntausende. Das deutsche Staatsangehörigkeitsrecht hat natürlich eine Ausnahme für diese Fälle vorgesehen. Diejenigen, die hier als Kontingentflüchtlinge anerkannt wurden, können sich die Mühe sparen, einen Nachweis ihrer Staatenlosigkeit zu erbringen. Sie werden a priori als Staatenlose behandelt und können in Deutschland nach Erfüllung einiger anderer notwendiger Kriterien eingebürgert werden. Dazu bekommen sie das Merkblatt Über den Fortbestand der bisherigen Staatsangehörigkeit. Wenn Sie im Ausland jemals in Schwierigkeiten geraten, sollten Sie sich nicht an die deutschen Behörden wenden, sondern an die Ihres ursprünglichen Heimatlandes.

Sie müssen unterschreiben: »Wenn mir mein Recht auf Wiederausreise verwehrt wird, sind die deutschen Auslandsvertretungen nicht in der Lage, wirksamen deutschen Rechtsschutz zu leisten.« Und so weiter. Sie werden also gleich am ersten Tag als Bürger zweiter Klasse abgetan, der nicht einmal mit dem deutschen Rechtsschutz im Ausland rechnen darf.

Noch schlimmer sind die Kinder dieser unfreiwilligen Doppelbürger dran, denn sie kommen nicht als Kontingentflüchtlinge auf die Welt, sondern als ganz normale Kinder und bekommen deswegen die ursprüngliche Staatsangehörigkeit ihrer Eltern. Selbst wenn die Eltern aufgrund ihres besonderen Status längst Deutsche geworden sind, ihre Kinder sind es deswegen noch lange nicht. Sie werden einem Land zugeschrieben, in dem sie nie gelebt haben. In unserem Fall wurde eine Ausnahme gemacht - wegen meines Bekanntheitsgrades, wie mir unsere nette Sachbearbeiterin im Rathaus erklärte. Deswegen haben meine Kinder die deutschen Pässe bekommen, allerdings unter Vorbehalt, genauer gesagt: nur bis zum Erreichen der Volljährigkeit. Danach werden sie ausgebürgert, wenn sie nicht nachweisen, dass sie keine Esel sind, Entschuldigung, ich meine, dass sie keine andere Staatsangehörigkeit besitzen.

Als deutscher Bürger schäme ich mich ein wenig für diese Gesetzgebung, die jedes Maß an krümelkackerischer Bürokratie und rücksichtsloser Unmenschlichkeit sprengt. Natürlich hören sich diese Merkblätter nur so bedrohlich an, in Wirklichkeit kann man mit ruhigem Gewissen auf sie pfeifen und sie einfach vergessen. Ich werde ja sowieso nie wieder zu diesem Staatsangehörigkeitsamt gehen müssen, so dachte ich. Dann musste ich aber doch wieder hin, als mein Vater eingebürgert wurde. Nachdem er fünfzehn Jahre in Deutschland und Europa mit einem blauen »Alienpass« für Staatenlose gelebt hatte, einem Pass, auf den die Grenzbeamten aller Länder wie Fliegen auf Scheiße reagieren, beschloss mein Vater, sich mit vierundsiebzig Jahren einbürgern zu lassen. Er bildete sich ein, mit dem deutschen Dokument seine Reisefreiheit, sein Lebensgefühl, letztendlich seine Sicherheit auf diesem Planeten zu steigern.

Weil er behindert war, musste ich ihm bei diesem Abenteuer helfen. Wir sammelten alle notwendigen Papiere, füllten die Formulare aus, machten die biometrischen Photos in einem sprechenden Spezialautomaten, beantragten die Pässe und zahlten für alles zusammen ungefähr 400,- Euro. Die Einbürgerung verlief schnell und unbürokratisch. Nach fünf Wochen bekam mein Vater seinen Reisepass, aber groß verreisen stand erst einmal nicht auf dem Plan. Merkblätter studieren war angesagt. Der neuerliche Besuch der Einbürgerungsstelle hat mich dann zum Verfassen dieses Textes bewegt. Die Sache war nämlich: Ein paar Tage später traf ich mich mit Wolfgang Schäuble zu einem Gespräch zum Thema »Wer ist Deutschland«, organisiert von einer christlichen Zeitschrift. Hätte ich ihm diese Geschichte erzählt, hätte er wahrscheinlich gelächelt und gesagt:

»Wir leben in einer Demokratie. Es gibt hier eine Verfassung, ein Grund- und jede Menge andere Gesetze und alle haben diesen Gesetzen zu gehorchen, auch wenn manche von ihnen besser sein könnten. Diese Gesetze sind doch nicht von bösen Menschen ausgedacht, um den Guten das Leben zu erschweren! Diese Gesetze sind Deutschland, in ihnen wurde der Wille des Volkes formuliert. Auch wenn sie nicht immer an der richtigen Stelle greifen, ist es noch lange kein Grund zu meckern, und wenn es dir nicht gefällt, mein Junge, geh doch nach Russland. Da handhabt es Medwedjev bestimmt besser. Hehe.«

Vielleicht hätte er aber auch etwas ganz anderes gesagt. Aus diesen Politikern werde ich nie schlau …

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