Nagib Machfus - Miramar

I. Amir Wagdi

Alexandria. Endlich!

Alexandria, ein Tropfen hellen Taus, Speichel weißer Wolken. Die Stadt des Sonnenlichts, von Himmelswasser glänzend rein gewaschen, das Herz von Erinnerungen, voll der Süße des Honigs und der Bitternis von Tränen.

Das riesige, hohe Gebäude sieht dich an wie ein altvertrautes Gesicht, das sich in dein Gedächtnis eingegraben hat und dir gut bekannt ist. Aber es schaut gleichgültig ins Nichts, scheint dich nicht wiederzuerkennen. Düster die Wände, deren Farbe durch die viele Feuchtigkeit abgeblättert ist. Sie blicken auf die von Palmen und Dattelpalmen umsäumte Landzunge, die sich weit hinaus ins Mittelmeer erstreckt bis dahin, wo in der Saison die peitschenden Schüsse der Jagdflinten ertönen. Der starke, erfrischende Wind weht meinen schmalen, gebeugten Körper fast um. Er stößt nicht mehr — wie früher — auf ernsthaften Widerstand.

Mariana, meine liebe Mariana! Ob ich dich wiederfinde in deiner Zufluchtsstätte? Ich vermute, daß du dort bist, hoffe es. Wenn nicht, so sage ich besser mir und meiner Welt ade. Denn es ist nur noch wenig geblieben, und das Leben dreht sich seltsam im Kreis für Augen wie meine, die matt geworden sind und wimpernlos unter den weißen Brauen.

So bin ich endlich wieder bei dir, Alexandria.

Ich drückte den Klingelknopf vor der Wohnung im vierten Stock. Das Guckloch in der Tür wurde aufgeschoben, und ich sah das Gesicht von Mariana. Du hast dich sehr verändert, meine Liebe, und erkennst mich nicht im dunklen Gang. Aber deine klare weiße Haut und dein blondes Haar schimmern im Licht, das durch ein Fenster im Inneren der Wohnung fällt.

»Ist das die Pension Miramar?«[1]

»Ja, mein Herr!«

»Ich möchte ein Zimmer.«

Nun wurde mir die Tür geöffnet. Das bronzene Jungfrauenbild empfing mich. Und da war irgendein Duft, der mir doch hin und wieder gefehlt hatte. Wir standen da und sahen uns an. Groß und schlank bist du wie früher, und dein Haar ist blond, und gesund siehst du aus. Aber deine Schultern sind gebeugt, und dein Haar ist sicherlich gefärbt. Die Adern auf deiner Hand und die Fältchen um deine Mundwinkel zeigen mir, daß du alt geworden bist. Du bist jetzt etwa fünfundsechzig, meine Liebe, aber die Schönheit hat dich noch nicht ganz verlassen. Erinnerst du dich denn noch an mich?

Zuerst blicktest du mich mit rein geschäftlichem Interesse an, dann sahst du genauer hin. Die Lider über deinen blauen Augen zuckten. Ja, jetzt erinnerst du dich, und ich gewinne mein verloren geglaubtes Leben zurück.

»Ist das möglich — Sie?«

»Madame!«

Wir schüttelten uns herzlich die Hände. Die Rührung überfiel sie so, daß sie laut auflachte, laut lachte wie die Frauen der Anfuschi. Doch sie fing sich sofort wieder. »Ist denn das die Möglichkeit, Amir Bey, Ustas Amir!«[2]

Wir setzten uns auf das schwarze Kanapee unter das Jungfrauenbild, und unsere beiden Schatten zeichneten sich schemenhaft in der Scheibe des Bücherschranks ab, der nur zur Zierde dastand.

Ich schaute mich um und sagte: »Das Entree ist so geblieben, wie es war!«

»Aber nein, es ist schon einige Male renoviert und verändert worden!« protestierte sie und zeigte stolz: »Sehen Sie denn nicht den Kronleuchter und den Wandschirm und dort das Radio?«

»Ich bin ganz einfach glücklich, Mariana, Gott sei Dank sind Sie bei guter Gesundheit!«

»Und Sie hoffentlich auch, Monsieur Amir, toi, toi, toi!«

»Der Dickdarm und die Prostata machen mir zu schaffen, aber trotzdem, ich kann nicht klagen!«

»Sie kommen zur Nachsaison?«

»Nein, ich bin gekommen, um für immer zu bleiben!« sagte ich ernst. »Wann haben wir uns eigentlich zum letzten Mal gesehen?«

»Das war vor… Sagten Sie, um für immer zu bleiben?«

»Ja, meine Liebe! Ich habe Sie das letzte Mal vor etwa zwanzig Jahren gesehen.«

»Und Sie haben sich dieses ganze Leben lang nicht hier blicken lassen!«

»Ich hatte viel zu tun und eine Menge Sorgen.«

»Ich bin sicher, daß Sie in all diesen Jahren immer wieder in Alexandria gewesen sind.«

»Manchmal schon, aber ich hatte sehr viel zu tun. Sie wissen doch, wie es mit den Journalisten ist.«

»Sicher, aber ich kenne auch die Männer und ihre Ausflüchte.«

»Mariana, meine Liebe, Sie sind für mich Alexandria, nur Sie!«

»Natürlich haben Sie geheiratet?«

»Nein, noch nicht.«

»Und wann werden Sie endlich Ihre Absicht in die Tat umsetzen?« fragte sie lachend.

»Ich will weder eine Ehe noch Kinder«, entgegnete ich leicht verstimmt, »ich habe mich zur Ruhe gesetzt. Dies wird mein Lebensabend, Mariana!«

Sie machte eine ermunternde Handbewegung, so fuhr ich fort: »Und nun zieht es mich wieder nach Alexandria, meiner Geburtsstadt. Da von meinen Verwandten hier niemand mehr lebt, habe ich den einzigen Freund aufgesucht, der mir in meiner Welt noch geblieben ist.«

»Es ist schön, wenn der Mensch einen Freund findet, der seine Einsamkeit teilt!«

»Erinnern Sie sich noch an die guten alten Zeiten?«

»Sie sind vergangen, wie alles, was schön ist!« sagte sie in theatralischem Ton und murmelte dann vor sich hin: »Aber wir müssen weiterleben.«

Dann kam das Berechnen und Feilschen. Sie betonte, daß die Pension ihre letzte Einnahmequelle sei. So freue sie sich über jeden Gast zur Winterszeit, selbst über die sonst so lästigen Studenten. Um sie ausfindig zu machen, nehme sie Makler und auch Angestellte einiger Hotels zu Hilfe. Sie sagte das mit der stolzen Traurigkeit eines Menschen, dem es früher einmal besserging.

Sie gab mir das Zimmer Nummer 6 auf der dem Meer abgewandten Seite. Wir einigten uns auf eine angemessene Miete für das ganze Jahr außer den Sommermonaten und darauf, daß ich den Sommer über bleiben könne, wenn ich dann dieselbe Miete zahlte wie die übrigen Sommergäste. Wir einigten uns über alles, auch über das obligatorische Frühstück. Madame bewies, daß sie durchaus in der Lage war, im geeigneten Moment ihr Herz von Erinnerungen freizuhalten, um unbelastet rechnen und planen zu können.

Sie fragte nach meinen Koffern, und ich sagte ihr, ich hätte sie bei der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof gelassen. Lachend meinte sie: »Sie waren sich also nicht sicher, daß es Mariana noch gibt?« und fuhr dann herzlich fort: »Möge es ein Aufenthalt auf Dauer sein!«

Ich schaute auf meine Hände, die mich an die Mumien im Ägyptischen Museum erinnerten.


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Mein Zimmer war nicht schlechter möbliert als die, die zum Meer gelegen waren. Es hatte die gleichen Möbel und bequemen Sessel älteren Stils. So mußten die Bücher in ihrer Kiste bleiben bis auf die wenigen, in denen ich gelegentlich blättern würde. Die hatten Platz auf dem Tisch oder dem Toilettentisch. Störend war nur, daß ständiges Halbdunkel herrschte, denn das Zimmer ging auf einen großen Lichthof, an dessen einer Wand die Dienstbotentreppe nach oben führte und in dem die Katzen miauten und Arbeiter sich laut unterhielten. Ich sah mir die übrigen Zimmer an, das rosa- und das veilchenfarbene und das himmelblaue. Alle standen sie leer. In jedem von ihnen hatte ich früher einen Sommer oder auch länger gewohnt. Und obwohl die alten Spiegel, die kostbaren Teppiche, die silbernen Leuchter und die Kerzenhalter aus Kristall verschwunden waren, ging von den tapezierten Wänden und den hohen Decken mit ihren Stuckengeln ein Hauch verblichener Pracht aus. Sie seufzte, und zum ersten Mal sah ich, daß sie ein Gebiß trug: »Es war einmal eine vornehme Pension!«

»Nur Gott ist von ewiger Dauer!« versuchte ich zu trösten.

Verächtlich schürzte sie die Lippen: »Im Winter sind die meisten Gäste Studenten, und im Sommer nehme ich alles, was hier kreucht und fleucht.«


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»Amir Bey, legen Sie doch bitte ein gutes Wort für mich bei seiner Exzellenz, dem Pascha, ein!«[3]

»Exzellenz!« verwandte ich mich beim Pascha, »der Mann hat zwar nicht gerade hervorragende Zeugnisse, aber er hat seinen Sohn im Krieg verloren, und man sollte ihn deswegen für den Bezirk kandidieren lassen.« Er stimmte meinem Vorschlag zu, Gott gebe ihm dafür den schönsten Platz in seinem Paradies.

Er mochte mich und las meine Artikel mit aufrichtigem Interesse. Einmal sagte er zu mir: »Sie sind wirklich das Gewissen der Nation!« — er sprach es aber, Gott hab ihn selig, mit seinem Nuscheln so undeutlich aus, daß es sich anhörte wie: »Das Gebiß der Nation.« Einige ehemalige Kollegen von der Nationalen Partei hörten das, und immer, wenn sie mich sahen, rief mir einer zu: »Ein herzliches Willkommen dem Gebiß der Nation!«

Dennoch, es waren die Tage des Ruhms, des kämpferischen Geistes, die Tage des Heldentums.

Amir Wagdi war damals eine Persönlichkeit. Er war so einflußreich, daß Freunde zu ihm kamen, wenn es etwas zu bitten galt, Feinde ihn mieden, wo es etwas zu fürchten gab.


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Im Zimmer hänge ich meinen Erinnerungen nach, lese oder überlasse mich einem Schläfchen. Im Entree ist Gelegenheit, Radio zu hören und mit Mariana zu plaudern. Wenn ich eine andere Art des Zeitvertreibs suche, so ist im Erdgeschoß das Cafe Miramar. Es ist höchst unwahrscheinlich, daß ich irgendwo jemanden treffe, den ich kenne oder der mich kennt, nicht einmal im Trianon.[4]

Die Freunde von früher sind nicht mehr da, diese Zeiten sind vorbei. Ich weiß, wie du im Winter bist, Alexandria. Bei Sonnenuntergang kehrst du deine Straßen und Plätze leer, und nur noch der Wind, der Regen und die Einsamkeit treiben ihr Spiel in ihnen. Aber in deinen Zimmern pflegt man trauliche Zwiegespräche und plaudert des Abends und nachts miteinander.


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»Dieser Greis, diese Mumie im schwarzen Anzug, ist wohl ein Überlebender der Arche Noah!«

Derjenige, den die Zeit, diese Komödiantin, zum Chefredakteur gemacht hatte, meinte: »Diese altarabische Rhetorik, die Sie verwenden, ist passe. Können Sie denn nicht im Stil des Düsenzeitalters schreiben?«

Düsenzeitalter! O du Marionette, die vor Fett und Dummheit birst! Die Feder wurde für Menschen erfunden, die Verstand und Geschmack besitzen, nicht für verrückte Randalierer, die als Dauergäste in Spielklubs und Nachtbars fungieren. Aber das Schicksal hat uns dazu verdammt, zeit unseres Lebens im Gefolge von Kollegen zu arbeiten, die neu sind im Gewerbe. Sie haben ihr Wissen im Zirkus aufgeschnappt und sind nun in die Redaktionen eingefallen, um in der Rolle von Seiltänzern zu brillieren.


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Ich saß im Morgenmantel im Sessel, während Mariana es sich auf dem schwarzen Kanapee bequem gemacht hatte. Aus dem Radio erklang Tanzmusik von einem französischen Sender. Ich hätte lieber etwas anderes gehört, aber ich wollte sie nicht stören. Sie hielt die Augen geschlossen, als ob sie träume, und wiegte den Kopf im Takt wie früher.

»Wir waren Freunde und sind es noch immer, meine Liebe.«

»Ein ganzes Leben lang.«

»Aber wir haben uns nicht ein einziges Mal geliebt.« Sie lachte auf und sagte dann: »Sie haben doch einen Hang zur Provinz, bestreiten Sie es nicht!«

»Bis auf ein einziges Mal, erinnern Sie sich noch?« Diesmal lachte sie lange und bestätigte dann: »Ja, einmal kamen Sie mit einer Khawagijja[5], und ich habe von Ihnen verlangt, daß Sie sich als >Amir Wagdi und Frau< eintrügen.«

»Noch etwas anderes hat mich Ihnen fern gehalten: Sie waren eine Luxusfrau. Das Monopol auf Sie hatten die Spitzen der Gesellschaft.«

Sie strahlte in vollkommenem Glück. Mariana, für mich ist es sehr wichtig, daß du mich überlebst, und sei es nur um einen einzigen Tag, damit ich mir nicht noch eine andere Bleibe suchen muß. Mariana, du bist ein lebendiges Zeugnis dafür, daß die Vergangenheit keine Einbildung ist, von der Zeit des Imams Mohammed Abduh[6] bis heute.


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»Leben Sie wohl, Ustas!«

Er warf mir einen verdrießlichen Blick zu, denn er ärgerte sich jedesmal, wenn er mich sah.

»Es ist an der Zeit, daß ich mich verabschiede!« fuhr ich fort.

»Ein schwerer Verlust für mich«, sagte er und verbarg seine Erleichterung, »aber ich wünsche Ihnen alles Gute!«

Damit war alles zu Ende. Eine Seite der Geschichte wurde umgeschlagen, ohne ein Abschiedswort, geschweige denn eine ehrende Abschiedsfeier oder vielleicht auch nur eine kleine Meldung im Stil des Düscnzeitalters. O ihr Feiglinge, ihr Patrioten, habt ihr keine Helden außer Fußballspielern?


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Ich schaute sie unverwandt an, wie sie da unter dem Jungfrauenbild saß, und sagte dann: »Nicht einmal die schöne Helena in ihrer besten Zeit war so attraktiv!«

»Bevor Sie kamen, saß ich hier immer allein«, lachte sie, »ich erwartete niemanden mehr, war ständig von einer Nierenkolik bedroht.«

»Das kommt hoffentlich so bald nicht wieder! Aber was ist aus Ihren Leuten geworden?«

»Sie sind alle ausgewandert«, seufzte sie, verzog den faltigen Mund und fuhr dann fort: »Ich wußte nicht, wohin ich gehen sollte. Athen habe ich niemals in meinem Leben gesehen. Ich bin hier geboren. Die kleinen Pensionen werden jedenfalls nicht verstaatlicht.«


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Wahrhaftigkeit der Rede, Hingabe zur Arbeit und Zuneigung unter den Menschen anstelle von Gesetzen — dafür stehe ich ein… Wie gut hast du damals gesprochen! Gott hat dich geehrt, daß er dich zur rechten Zeit sterben ließ und mit zwei Statuen zu deinem Andenken.


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»Ägypten ist doch Ihre Heimat, und Alexandria hat nicht seinesgleichen!«

Draußen heulte der Wind. Langsam senkte sich die Dunkelheit hernieder. Sie stand auf und zündete drei Kerzen eines Kronleuchters an, der unten in eine Art Weintraube auslief. Dann ging sie wieder zu ihrem Platz zurück und sagte: »Ich war eine Dame, eine wirkliche Dame.«

»Sie sind heute noch eine Dame, meine Liebe.«

»Trinken Sie noch wie in früheren Zeiten?«

»Ein Gläschen am Abend. Ich nehme nur noch ganz leichte Kost zu mir. Darum bin ich trotz meines hohen Alters noch so rüstig.«

»Oh, Monsieur Amir. Sie sagten, Alexandria habe nicht seinesgleichen. Nein, die Stadt ist nicht mehr so, wie wir sie früher kannten. Heute sieht man hier den Abfall auf den Straßen liegen.«

»Meine Liebe«, erklärte ich mitfühlend, »sie muß eben ihren eigentlichen Bewohnern wiedergegeben werden!«

»Aber wir sind es, die sie geschaffen haben!« protestierte sie erregt.

»Liebe Mariana, trinken Sie denn wie in früheren Zeiten?«

»Nein, nicht ein einziges Glas mehr. Ich leide unter Bluthochdruck wegen meiner Nieren.«

»Am besten wäre, man stellte uns nebeneinander ins Museum. Aber versprechen Sie mir bitte, daß Sie nicht vor mir sterben!«

»Monsieur Amir, die erste Revolution hat mir meinen ersten Mann genommen, die zweite hat mich um mein Geld und meine Leute gebracht. Warum das alles?«

»Sie leben doch, Gott sei Dank, in gesicherten materiellen Verhältnissen, und heute sind wir Ihre Leute. Dergleichen passiert in der Welt jeden Tag von neuem.«

»Was ist das nur für eine Welt!«

»Wollen wir nicht von dem französischen auf einen arabischen Sender umstellen?«

»Nur an dem Abend, wo die Lieder von Umm Kulthum[7] gespielt werden. Sonst gibt es für mich keinen anderen Sender!«

»Wie Sie wünschen, meine Liebe.«

»Sagen Sie mir doch, warum quälen Menschen sich gegenseitig? Und warum werden wir immer älter?«

Ich lachte, ohne etwas darauf zu antworten. Dann ließ ich den Blick über die Wände schweifen, auf die Marianas Vergangenheit ihre Spuren gezeichnet hatte. Da hing das Bild des Kapitäns in Uniform mit hoher Mütze und dickem Schnurrbart, ihr erster Mann, vielleicht auch ihr erster und letzter Geliebter, der in der Revolution von 1919[8] getötet worden war. An der gegenüberliegenden Wand über dem Schreibtisch das Bild ihrer alten Mutter. Sie war Lehrerin gewesen. Im Blickfeld im Saal hinter dem Wandschirm hing das Foto ihres zweiten Mannes, des Kaviarkönigs und Besitzers des Ibrahimijja-Palais[9]. Er hatte eines Tages Bankrott gemacht und Selbstmord begangen.

»Wann haben Sie eigentlich die Pension eröffnet?«

»Fragen Sie mich bitte lieber, wann ich sie eröffnen mußte!«

»Im Jahre 1925«, sagte sie dann.

Im Jahr des Unglücks und der Ärgernisse.[10]


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»Da sitze ich wie ein Gefangener im eigenen Hause, und dem König werden die Unterstützungsschreiben zugesandt!«

»Das ist doch alles nur Lüge und Erfindung, Exzellenz.«

»Und ich dachte immer, die Revolution hätte die Menschen von ihren Schwächen geläutert.«

»Die Substanz ist Gott sei Dank immer noch in Ordnung. Ich lese Ihnen den Artikel von morgen vor, Euer Gnaden.«


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Sie rieb sich das Gesicht mit Zitronensaft ein und sagte: »Ich war eine Dame, Monsieur Amir. Ich liebte das süße Leben, liebte Licht und Pracht und Luxus, liebte elegante Kleider und vornehme Salons. Ich überstrahlte alle anderen Gäste wie die Sonne.«

»Das habe ich mit eigenen Augen gesehen.«

»Aber Sie haben nur die Pensionsinhaberin kennengelernt.«

»Auch sie leuchtete wie die Sonne.«

»Die Gäste waren vornehme Leute, aber das war kein Trost für meinen sozialen Abstieg.«

»Sie sind immer noch eine richtige Dame!«

Sie nickte mit dem Kopf und fragte dann: »Und Ihre Freunde von früher, was ist aus ihnen geworden?«

»Was das Schicksal über sie verhängt hat.«

»Warum haben Sie nicht geheiratet, Monsieur Amir?«

»Ich hatte Pech. Hätten wir wenigstens Kinder!«

»Oh…, keiner meiner beiden Ehemänner war fähig, ein Kind zu zeugen!«

Ich bin ziemlich sicher, daß du diejenige bist, die nicht fähig war, ein Kind zu bekommen. Das ist schon deswegen bedauerlich, weil wir nur in der Welt sind, um Kinder in sie zu setzen.


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Jenes große Haus, das später in ein Hotel umgewandelt wurde und das jedem, der über den Gaafar-Khan[11] geht, wie eine alte Festung vorkommt, sein alter Hof, durch den dann ein Weg zum Khan al-Khalili[12] angelegt wurde, sie sind eingemeißelt in meinem Herzen, sie und die alten Häuser darum herum und der uralte Club. Sie prägen meine Erinnerung an den Rausch der ersten Liebe, die zur Hoffnungslosigkeit verurteilt war. Der Turban und der weiße Bart und harte Lippen, die »Nein« sagten, die in blindem Fanatismus das Todesurteil über die Liebe verhängten, über die Liebe, die Millionen Jahre vor jeder Religion auf diese Welt kam.

»Maulaja[13], ich möchte nach dem Brauch Gottes und seines Gesandten ein Mitglied Eurer Familie werden.«

Er schwieg. Eine Tasse Kaffee stand unberührt zwischen uns. Ich fuhr fort: »Ich bin Journalist, habe einiges Vermögen, bin der Sohn eines Scheichs, der Diener in der Moschee unseres Herrn Abul Abbas al-Mursi war.«

»Gott erbarme sich seiner«, entgegnete er, »er war ein frommer, gottesfürchtiger Mann.« Die Gebetskette fest umklammernd, fuhr er fort: »Mein Sohn, du warst einer von uns. Du warst eine Zeitlang Stipendiat der Azhar[14].« Wann würde das jemals vergessen sein, diese alte Geschichte!

»Dann wurdest du von der Azhar gewiesen. Du erinnerst dich?«

»Maulaja, das ist doch längst vorbei. Damals konnte man wegen der geringsten Lappalie verwiesen werden. Wenn sich zum Beispiel einer in jugendlichem Temperament dazu verleiten ließ, einmal abends auf das Podium eines Musikanten zu steigen. Es reichte auch, eine freimütige Frage zu stellen.«

»Kluge Leute haben ihn dann verurteilt, weil er abscheulicher Dinge bezichtigt wurde«, sagte er eisig.

»Maulaja, wer kann einen Menschen der Ketzerei bezichtigen, wo doch niemand als Gott das menschliche Herz kennt?«

»Das kann der sehr wohl, dem Gott die rechte Leitung zuteil werdenläßt!«

Verdammt, wer will von sich behaupten, daß er sich im Glauben wirklich auskennt? Gott hat sich den Propheten offenbart, wir aber sind solcher Offenbarungen weitaus bedürftiger als sie. Denn wenn wir tastend nach dem rechten Platz in dem großen Haus suchen, das man die Welt nennt, muß uns der Schwindel befallen.


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Wir wollen uns vor Trägheit hüten. An einem sonnigen Morgen spazierenzugehen, ist erquicklich. Wie schön sind die warmen Tage im Palma[15] und im Pelikan! Selbst wenn du ganz allein zwischen mehreren Generationen einer Familie sitzt. Der Vater liest die Zeitung, die Mutter stickt, und die Söhne spielen. Wenn doch einfallsreiche Leute für Alleinstehende ein Gerät erfunden hätten, das sich mit ihnen unterhält, oder einen Roboter, der mit ihnen Tricktrack spielt. Oder wenn man ihnen neue Augen einsetzte, mit denen sie sich noch einmal in die Blumen dieser Erde und in alle Farben des Himmels verlieben könnten!

Wir lebten ein langes Leben voller Ereignisse und Gedanken. Mehr als einmal wollten wir sie in Tagebüchern aufzeichnen, wie es unser alter Freund Achmed Schafiq Pascha[16] getan hat. Aber wir haben diesen Vorsatz nie in die Tat umgesetzt, und dann verlor er sich irgendwo zwischen dem Aufschieben und dem Hoffen auf später. Heute ist von diesem alten Vorsatz nur noch die Wehmut über das geblieben, was nun endgültig verloren ist, denn meine Hand ist zittrig geworden, mein Gedächtnis schwach, meine Kräfte sind geschwunden. Heimgegangen zur ewigen Ruhe sind für mich heute meine Erinnerungen an die Azhar, ist meine Freundschaft mit dem Scheich Ali Machmud, mit Zakarija Achmed und Sajjid Darwisch[17], ist die Volks-Partei mit dem, was mir an ihr gefiel und was mich an ihr störte, ist die Nationale Partei mit ihren Aufschwüngen und ihren Torheiten, ist die Wafd-Partei[18] mit ihrem die Zeit überdauernden internationalen revolutionären Denken, ist das Parteiengezänk, das mich im Schneckenhaus kühler, wirkungsloser Neutralität Zuflucht suchen ließ, sind die Muslimbrüder, die ich nicht mochte, die Kommunisten, die ich nicht verstand, ist die Revolution mit ihrer Tragweite und ihrer Absorptionsfähigkeit für alle politischen Strömungen, die es vorher gab, vorbei sind auch meine Liebesabenteuer und die Mohammed-Ali-Straße[19] mit ihren Lokalen, ist schließlich gar mein Widerwille gegen die Ehe. Wenn meinen Erinnerungen beschieden gewesen wäre, niedergeschrieben zu werden, es wären wirklich Denkwürdigkeiten.

Voller Wehmut ging ich zum Atheneus, zu Pastroudis und in den Antoniadis-Garten[20]. Ich setzte mich eine Weile in die Halle des Windsor- und des Cecil-Hotels, wo sich in früheren Zeiten die Paschas und die ausländischen Spitze trafen, damals der beste Platz, um Neuigkeiten zu hören und Ereignisse zu verfolgen. Aber ich sah nur wenige Ausländer, Orientalen sowohl als Europäer. Als ich zurückkam, erfüllten mich zwei Gebete zu Gott, das eine, daß er mir gnädig bestimmen möge, meine Glaubensprobleme zu lösen, und das andere, daß er mir keine Krankheit schicken möge, die mir die Fähigkeit nahm, mich zu bewegen, ohne daß ich jemanden fände, der mich dann an der Hand führte.


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Wie reizend war dieses Bild, das so viel Jugendlichkeit ausstrahlte: Sie stand mit dem linken Bein auf dem Boden, hatte das rechte Knie auf den Sitz gelegt und lehnte sich an die Stuhllehne, sich mit den Handgelenken aufstützend. Sichtlich stolz auf ihre Schönheit, lächelte sie in die Kamera. Der Ausschnitt des klassischen weiten Kleides gab den langen, schlanken Hals und ein marmorgleiches Dekollete frei.

Jetzt hatte sie ihren schwarzen Mantel angezogen und einen blauen Schal umgelegt. Sie wollte zum Arzt gehen, hatte sich aber noch einmal hingesetzt, denn es war noch zu früh, um loszugehen.

»Sagten Sie nicht, die Revolution hätte Sie um Ihr Vermögen gebracht?« fragte ich sie.

Sie hob die Augenbrauen hinter den Brillengläsern und fragte zurück: »Ja, haben Sie denn nicht von der Aktienkatastrophe damals gehört?« Vielleicht sah sie die Wißbegier in meinem Blick und konnte sich vorstellen, was mir durch den Kopf ging, denn sie erklärte: »Alles, was ich während des Zweiten Weltkrieges erworben hatte, ging damals verloren. Glauben Sie mir, ich habe es nur durch meinen Mut verdient, als ich nämlich beschloß, in Alexandria zu bleiben, während es die meisten anderen aus Furcht vor deutschen Angriffen verließen und nach Kairo oder aufs Land gingen. Ich strich einfach die Fensterscheiben blau an und zog die Vorhänge zu. Getanzt wurde bei Kerzenschein. Großzügiger und spendierfreudiger als damals die Offiziere des Empire ist gewiß niemand.«

Ich fand mich allein, nachdem sie fortgegangen war, und blickte ihrem ersten Mann in die Augen, so, wie er auch mich ansah. Wer mag dich wohl getötet haben und mit welcher Waffe? Wie viele von unserer Generation hast du umgebracht, bevor man dich umbrachte? Von unserer guten alten Generation, die so viele Opfer bringen mußte wie keine andere.


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Immer noch ertönte französische Musik. Was das Schicksal mir in meiner Einsamkeit zumutet, ist wirklich grausam. Mariana hatte ein heißes Bad genommen, als sie vom Arzt zurückkam. Jetzt saß sie da, in einen weißen Burnus gehüllt, das gefärbte Haar geflochten und mit Dutzenden von weißen Haarnadeln hochgesteckt.

Sie stellte das Radio auf Flüsterton, um selbst auf Sendung zu gehen, und fragte: »Monsieur Amir, Sie haben sicher viel Geld?«

»Warum, haben Sie irgendwelche Projekte?« fragte ich vorsichtig zurück.

»Nein, aber in Ihrem Alter — selbst in meinem, obwohl ich viel jünger bin als Sie — ist nichts so schlimm wie Armut und Krankheit.«

Immer noch vorsichtig, erklärte ich: »Ich habe in gesicherten materiellen Verhältnissen gelebt und hoffe, bis zu meinem Tod so leben zu können.«

»Ich kann mich nicht erinnern, daß Sie je das Geld mit vollen Händen ausgegeben hätten.«

Zögernd erwiderte ich: »Ich hoffe, daß meine Ersparnisse mich überleben.«

Sie winkte desinteressiert ab: »Der Arzt hat mir diesmal Mut gemacht, und ich habe ihm versprochen, mir keine Sorgen zu machen.«

»Es tut nicht gut, sich mit Sorgen zu belasten!«

»Wir wollen fröhlich sein und uns vergnügen, wenn die Silvesternacht kommt!«

»Ja!« gab ich lachend zurück, »so, wie es uns unsere Herzen erlauben.«

Sie wiegte genießerisch den Kopf und flüsterte vor sich hin: »O ihr Silvesternächte, wie schön ihr wart!«

»Sie wurden ja favorisiert von höchstrangigen Männern!« murmelte ich, in Erinnerungen versunken.

»Aber nur ein einziges Mal habe ich wahre Liebe erlebt.« Sie zeigte auf das Foto des Kapitäns und fuhr dann fort: »Einer von den Studenten, die ich heute bediene, hat ihn umgebracht.« Stolz betonte sie: »Es war eine Pension für vornehme Leute. Ich hatte einen Koch, einen Küchenjungen, einen Kellner, eine Waschfrau und zwei Stubendiener. Heute kommt nur noch einmal die Woche eine Waschfrau.«

»Viele aus der alten Oberschicht beneiden Sie darum, wie es Ihnen heute geht.«

»Aber ist das Gerechtigkeit, Monsieur Amir?«

»Jedenfalls ist es normal, Madame.«

Ich lachte begütigend, als ich sah, wie ihr Gesicht sich verfinsterte.


Der Allerbarmer lehrte dich

Den Koran zum Vortrage.

Den Menschen schuf er an dem Schöpfungstage,

Und lehrte ihn, was klar er sage.

Bahn halten Sonn' und Mond bei Nacht und Tage;

Und Stern und Baum sind in Anbetungslage.

Er hob den Himmel und setzt' ein die Waage.[21]


Ich las weiter in der Sure »Der Allerbarmer«, die ich liebte, seit ich auf der Azhar gewesen war. Ich hatte es mir in einem großen Sessel bequem gemacht und die Füße auf ein Kissen gelegt. Es regnete in Strömen. Die Wasserfluten klatschten auf die Stufen der Eisentreppe im Lichthof.


Was auf der Erd' ist, muß vergehn,

Und nur das Antlitz deines Herrn wird bestehn,

Das herrlich ist zu nennen.[22]


Plötzlich brachen von draußen Stimmen in die Stille. Ich hob den Kopf vom Koran und lauschte. War das ein Gast oder ein Neuankömmling? Marianas Stimme war von einer Herzlichkeit, die nur der Begrüßung eines guten, alten Freundes gelten konnte. Da wurde auch gelacht. Der harte Tonfall einer hohlen Stimme kristallisierte sich heraus. Wer konnte das sein? Es war später Nachmittag, und es regnete heftig. Die Wolken am Himmel tauchten das Zimmer in nächtliches Dunkel. Ich knipste die Lampe an, als durch die Jalousien hindurch das zuckende Licht eines Blitzes drang und das permanente Donnergrollen kurzzeitig besiegte.


Ihr Heer der Genien und Menschen,

Wenn ihr entrinnen könnt den Grenzen

Des Himmels und der Erd', entrinnt nur!

Ihr werdet ohne Vollmacht nicht entrinnen![23]


Er war ziemlich klein und dick, hatte Pausbacken, ein Doppelkinn und trotz seiner dunklen Gesichtsfarbe blaue Augen. Sein unverkennbar aristokratisches Gepräge ergab sich aus dem Stolz seines Schweigens, wenn er einmal schwieg, und den ausgewogenen, wohlbedachten Bewegungen seines Kopfes und seiner Hände, die seine Worte begleiteten, wenn er sprach.

Madame nannte mir am Abend seinen Namen: Tolba Bey Marzuq, und erklärte mir: »Er war stellvertretender Minister für religiöse Stiftungen und eine hochbedeutende Persönlichkeit.« Mehr brauchte sie mir nicht zu sagen, denn ich hatte ihn durch meinen Beruf während der Zeit der politischen und Parteienkämpfe von weitem kennengelernt. Er gehörte zu den Anhängern des Hofes und war so von Haus aus ein Feind der Wafd-Partei. Ich entsann mich auch, daß sein Besitz und Vermögen vor einem Jahr oder auch schon vor längerer Zeit sequestriert worden waren und daß man ihm seine Einkünfte bis auf einen festgesetzten Betrag genommen hatte. Madame zeigte sich so glücklich und gefühlvoll, wie sie nur konnte. Immer wieder pries sie ihre alte Freundschaft zu Tolba Bey. Ihre überströmende Begeisterung ging so weit, daß sie ihn als eine alte Liebe bezeichnete.

Als wir dann miteinander sprachen, sagte mir der Mann: »Ich habe früher viel von Ihnen gelesen.« Ich lachte vielsagend, und er lachte seinerseits: »Sie waren für mich ein Paradebeispiel für die Macht einer Rhetorik, die es sich zur Aufgabe gesetzt hat, Lappalien zu verteidigen.« Er brach in ein langes Gelächter aus, aber ich hatte keine Lust, mich mit ihm zu streiten.

Madame wandte sich schadenfroh an mich: »Tolba Bey ist ein alter Schüler der Jesuiten. Wir werden von jetzt an gemeinsam französische Schlager hören und Sie alleine leiden lassen.«

»Er ist gekommen, um bei uns zu wohnen«, sagte sie dann und streckte ihm beide Hände zum Willkommen entgegen. Ich hieß ihn meinerseits willkommen, und sie fuhr voller Bedauern fort: »Er besaß tausend Feddan[24] Land. Er konnte mit Geld nur so um sich werfen.«

»Die Zeit, da man mit Geld um sich warf, ist vorbei«, setzte der Mann widerwillig entgegen.

»Wo ist jetzt eigentlich Ihre Tochter, Tolba Bey?«

»In Kuwait, zusammen mit ihrem Mann, dem Bauunternehmer.«

Ich wußte, daß sein Vermögen sequestriert worden war, weil man ihn des illegalen Geldtransfers ins Ausland beschuldigt hatte, aber er erklärte sein Unglück so: »Ich habe mein gesamtes Vermögen wegen eines kleinen Scherzes verloren.«

»Wurde eigentlich ein Ermittlungsverfahren gegen Sie eingeleitet?« fragte ich ihn.

»Es war ganz einfach so, daß sie mein Geld brauchten«, erwiderte er verächtlich.

Die Frau sah ihn prüfend an und meinte dann: »Sie haben sich sehr verändert, Tolba Bey.«

Sein kleiner Mund zwischen den Pausbacken lächelte. »Ich hatte einen Schlaganfall, der mich fast das Leben gekostet hätte.« Als wolle er sich selbst trösten, fuhr er fort: »Aber ich darf wieder in mäßigen Mengen Whisky trinken.«

Er tauchte das Croissant in Tee mit Sahne und aß dann so vorsichtig, wie es jemand tut, der seinem neuen Gebiß noch nicht traut. Nur wir beide saßen am Frühstückstisch. Die wenigen Tage, die vergangen waren, hatten uns einander näher gebracht, hatten die Schranken der Vorsicht zwischen uns beseitigt. Das Gefühl, ein und derselben Generation anzugehören, hatte die alten Gegensätze besiegt, auch wenn wir nach wie vor unterschiedliche, einander entgegengesetzte Temperamente hatten. Aber es gab Zeiten, da brachen die verdrängten Widersprüche hervor, gewannen an Bedeutung, führten zu Spannungen.

So fragte er mich einmal ohne jeden Anlaß: »Wissen Sie eigentlich, was die Ursache all des Unglücks ist, das uns betroffen hat?«

»Welches Unglück meinen Sie?« gab ich erstaunt zurück.

»Sie alter Schlaumeier, Sie wissen sehr gut, was ich meine.«

»Mich hat kein Unglück irgendwelcher Art betroffen!«

Er hob die grauen Augenbrauen und erklärte: »Sie haben euch als Volksbewegung und eure Beliebtheit beim Volk ebenso konfisziert, wie sie unser Vermögen eingezogen haben.«

»Vielleicht erinnern Sie sich daran, daß ich aus der Wafd-Partei ausgetreten bin, ja, daß ich mich seit den Ereignissen vom 4. Februar[25] allen Parteien ferngehalten habe?«

»Und wenn schon! Das war ein Schlag, der den Stolz dieser ganzen Generation hinweggefegt hat.«

Um jeden Streit zu vermeiden, wollte ich eine Frage stellen: »Einmal abgesehen von meinem Standpunkt dazu, wüßte ich gern Ihre Meinung zu…«

»Es gibt einen Grund, der weit zurückliegt, für den Strick, den man uns um den Hals gelegt hat«, meinte er mit ebensoviel Ruhe wie Verachtung, »einen Mann, an den sich kaum einer zu erinnern scheint.«

»Wen meinen Sie?«

»Saad Zaghlul.«[26]

Ich mußte lachen, aber er sagte scharf: »Ja doch, als er hartnäckig Haß zwischen den Menschen stiftete, den König angriff, die Volksmassen umbuhlte, hat er eine böse Saat gelegt. Sie hat gekeimt, ist gewachsen und hat sich ausgedehnt wie ein Krebsgeschwür, das uns schließlich den Garaus macht.«


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Es waren nur wenige Menschen im Palma. Tolba Marzuq schaute gern in das fast stehende Nilwasser im Machmudijja-Kanal[27], während ich die Beine ausstreckte und es mir im Liegestuhl bequem machte, als wollte ich im warmen, reinen Sonnenschein ein Schläfchen machen. Wir waren in die Außenbezirke von Alexandria geflohen, dahin, wo es viele Bäume und Blumen gab und an klaren Tagen Wärme und Frieden. Wir hatten in einem segensreichen Winkel des Paradieses Zuflucht gesucht.

Wie nervös mein Freund auch war, wie sehr er übertrieb, er verdiente Mitleid. Jenseits der Sechzig hatte er ein neues, bitteres Leben beginnen müssen. Er beneidete seine Tochter im Exil und hatte seltsame Träume. Er konnte es nicht ertragen, einer Theorie zuzuhören, die die Tragödien seiner Vergangenheit in irgendeiner Weise zu rechtfertigen suchte, und glaubte fest, daß der Anschlag gegen sein Vermögen ein Anschlag gegen die Existenz Gottes, gegen Seine Weisheit und ein gottgefälliges Leben war.

»Als ich hörte, daß Sie in der Pension wohnen, hätte ich beinah davon Abstand genommen, auch einzuziehen.«

Ich konnte das kaum glauben, so fragte ich ihn, warum er denn überhaupt dort hatte einziehen wollen.

»Ich hatte mir die Pension Miramar in der Hoffnung ausgesucht, dort nur noch ihre Besitzerin vorzufinden, die schließlich europäischer Abstammung ist.«

Was denn seine schlechte Meinung über mich am Ende ausgeräumt habe, fragte ich ihn.

»Ich habe nachgedacht und kam schließlich zu der Überzeugung, daß die Geschichte keinen Spitzel kennt, der über achtzig war.«

Ich lachte lange und wollte dann wissen: »Und warum haben Sie Angst vor Spitzeln?«

»Im Grunde habe ich gar keine, aber manchmal mache ich mir Luft, indem ich offene Reden führe.« Nervös fuhr er fort: »Im Rif[28] gab es keinen Platz mehr für mich, und die Atmosphäre in Kairo läßt mich meine Erniedrigung ständig spüren. Da fiel mir meine frühere Geliebte ein. Ich sagte mir: Sie hat in einer Revolution ihren Gatten verloren und in der nächsten ihr Vermögen. So sprechen wir beide dieselbe Sprache.«

Er lobte mich, weil ich trotz meines hohen Alters noch so rüstig war, und verführte mich dazu, mit ihm Filme zu besuchen und in die Cafes zu gehen, die im Winter geöffnet hatten.

Einmal fragte er: »Warum wohl hat Gott von der Politik der Stärke Abstand genommen?« Ich verstand nicht, worauf er hinauswollte, so erklärte er: »Ich meine die Sintflut, Stürme und ähnliches.«

»Ja, glauben Sie denn, daß die Sintflut mehr Menschen vernichtet hat als die Bombe von Hiroshima?« erwiderte ich.

Er fuchtelte zornig mit den Händen und brauste auf: »Ja, bedienen Sie sich nur der Propagandalosungen der Kommunisten, Sie Schlaumeier. Die größte Sünde an der Menschheit begingen die USA, als sie sich weigerten, die Weltherrschaft anzutreten, solange nur sie allein im Besitz der Atombombe waren.«

»Sagen Sie mir lieber, wollen Sie Ihr Verhältnis mit Mariana wieder aufnehmen?«

Er mußte lachen: »Was für eine verrückte Idee! Ich bin ein alter Mann, den das Leben und die politischen Verhältnisse arg zugerichtet haben. Mich wird auch ein Wunder nicht mehr aufrichten. Und ihr sind von ihrer Weiblichkeit nur die künstlichen Farben geblieben.« Noch einmal lachte er auf und fragte dann: »Und Sie, haben Sie Ihre Vergangenheit so ganz vergessen? Ich habe damals in der Zeitschrift >al-Kaschkul< von Ihren Skandalaffären gelesen, zum Beispiel davon, wie Sie in der Mohammed-Ali-Straße Frauen nachgestiegen sind, die ganz in ihre Milaja[29] gehüllt waren.«

Ich lachte, ohne mich dazu zu äußern, so fragte er: »Sind Sie schließlich zur Religion und ihren Satzungen zurückgekehrt?«

»Und Sie? Manchmal kommt es mir so vor, als ob Sie an gar nichts glauben.«

Ärgerlich gab er zurück: »Wie sollte ich nicht an Gott glauben, da ich in seiner Hölle schmore!«


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»Menschen wie Sie sind für die Hölle erschaffen! Gott wird Ihnen keinerlei Segnungen zuteil werden lassen! Verlassen Sie diese Stätte der Reinheit, so wie Satan aus dem Gnadenreich Gottes verjagt wurde!«


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Die große Uhr im Salon schlug Mitternacht. Der Wind pfiff durch den Lichtschacht. Ich saß in den großen Sessel versunken, und Trägheit und Wärme hinderten mich daran, ins Bett zu gehen. Einsamkeit bedrückte mich, als ich so allein im Zimmer saß, aber ich sagte mir: Was nützt die Reue, wenn man die achtzig hinter sich hat!

Plötzlich öffnete sich die Tür, ohne daß jemand angeklopft hätte. Tolba Marzuq stand auf der Schwelle und sagte: »Entschuldigung, ich habe am Licht in Ihrem Zimmer gemerkt, daß Sie noch nicht schlafen.«

Ich sah ihn erstaunt an. Er hatte an diesem Abend mehr getrunken als sonst.

Voller Selbstironie fragte er mich, wobei er seinen Worten mit Kopfbewegungen eine besondere Bedeutung zu verleihen suchte: »Können Sie sich überhaupt vorstellen, was ich gewohnheitsmäßig jeden Monat für Medikamente, Vitamine, Hormone, Duftwässerchen, Salben und so weiter ausgegeben habe?«

Ich wartete darauf, daß er weiterspräche, aber er senkte die Augenlider, als ob die Anstrengung ihn erschöpft hätte, drehte sich um, schloß die Tür hinter sich und ging.


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Das Zelt war übervoll von Menschen, und auf dem Platz, wo der Maulid[30] gefeiert wurde, wimmelte es, als sei dies der Tag der Auferstehung. Leuchtraketen explodierten in der Luft, und ihr aufflammendes Licht durchschnitt die Dunkelheit, denn es war Maulid, der Geburtstag des Propheten. Der Rolls-Royce verlangsamte seine Fahrt und kam vor dem Zelt zum Stehen. Ihm entstieg Tolba Marzuq, und Scharen von Angehörigen der Dimirdaschijja-Sekte[31] eilten herzu, ihn zu begrüßen. Das war die Glaubensrichtung derer, die die Liebe zum Propheten mit der zum britischen Hochkommissar gleichermaßen im Herzen trugen. Der Besitzer des Rolls-Royce warf mir einen flüchtigen Blick zu und wandte sich dann stolz von mir ab. Damals sagte man, du seist betrunken dorthin gekommen, betrunken, ebenso, wie du heute bei mir erschienen bist. Der Vorsänger wurde aufgefordert, in die Mitte des Zeltes zu treten und anzustimmen: »O allerhöchster Himmel.«In den letzten Stunden der Nacht sang er: »Oh, könnte ich dich sehen!« und versetzte die Gläubigen in einen Wahnsinnstaumel des Entzückens.

Wann war nur jene seltsame Nacht gewesen? Genau wußte ich es nicht mehr, aber gewiß vor dem Tod des verehrten Mannes, sonst wäre mir der Gesang nicht in dieser Schönheit im Gedächtnis geblieben.


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Ich saß allein im Entree der Pension, niemand außer mir war da, als es an der Tür läutete. Ich öffnete das Guckloch, so wie Madame es stets tat, und sah ein Gesicht vor mir, dessen Anblick mich sofort froh stimmte. Es war das braunhäutige Gesicht eines Fellachenmädchens, von einem schwarzen Tuch umrahmt, gut geschnitten, sehr natürlich in seinem Ausdruck und beeindruckend durch den hübschen, wachen Blick seiner Augen. »Wer bist du?«

»Ich bin Zuchra«, sagte sie mit einer Selbstverständlichkeit, als nenne sie den Namen einer hochberühmten Persönlichkeit.

Lächelnd fragte ich sie: »Und was willst du, Zuchra?«

»Ich möchte Madame Mariana sprechen.« Ich öffnete ihr die Tür, und sie trat ein, mit einem kleinen Bündel in der Hand. »Wo ist Madame?« fragte sie und schaute sich suchend um.

»Sie wird bald kommen. Nimm doch Platz!« Sie setzte sich auf einen Sessel und nahm ihr Bündel auf den Schoß. Ich kehrte voll frischer Energie zu meinem Platz zurück. Dann schaute ich sie an, ihren kräftigen, anmutigen Körper, ihre Jugendfrische, ihre außergewöhnliche Schönheit, und war sehr glücklich.

Um mit ihr in ein Gespräch zu kommen, fragte ich: »Du sagtest, du heißt Zuchra?«

»Zuchra Salama.«

»Woher stammst du, Zuchra?«

»Aus al-Zijadijrja in der Provinz Buhera[32] im Nordwesten.«

»Bist du mit Madame verabredet?«

»Nein.«

»Dann willst du…«

»Ich bin gekommen, um mit ihr zu sprechen.«

»Sie kennt dich natürlich?«

»Ja.«

Ihre Jugend und ihre Schönheit erfüllten mich mit einem Glück, wie ich es schon lange nicht mehr verspürt hatte. Ich fragte sie weiter: »Lebst du schon lange in Alexandria?«

»Ich habe nie hier gelebt, aber ich bin oft mit meinem verstorbenen Vater hier zu Besuch gewesen.«

»Und woher kennst du Madame?«

»Mein Vater brachte ihr immer Käse, Butter, Butterschmalz und frische Hühnchen ins Haus, und ich habe ihn manchmal begleitet.«

»Aha, ich verstehe. Und jetzt möchtest du übernehmen, was dein Vater vorher besorgt hat?«

»Nein.« Sie schaute zum Wandschirm, als wolle sie nicht mehr preisgeben, und ich respektierte ihr Geheimnis und mochte sie deswegen nur noch mehr. Mit all meiner Zärtlichkeit wünschte ich ihr insgeheim, daß Gott sie beschützen möge.


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Ich küßte ihre magere Hand, deren Haut wie gegerbtes Leder wirkte, und sagte: »Durch den Segen deiner Gebete bin ich zu einem Mann geworden, wie es ihrer nicht viele gibt. Komm doch mit mir nach Kairo!«

Sie sah mich voller Zärtlichkeit an und entgegnete: »So gebe dir Gott noch mehr von seinen Wohltaten und Segnungen. Aber ich werde dieses Haus nicht verlassen. Es ist mein ganzes Leben.«

Ein enges Haus mit Wänden, von denen die Farbe abblättert, das die Winde ohrfeigen und an dessen Wänden sich das Salz des Meeres abgelagert hat, das der Geruch der Fische erfüllt, die am Ufer der Anfuschi-Bucht zuhauf liegen.

»Aber du wirst hier ganz allein leben«, warnte ich sie.

»Mit mir ist der, der die Nacht und den Tag erschaffen hat«, entgegnete sie.


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Es klingelte, und Zuchra stand auf, um die Tür zu öffnen. Madame sah sie erstaunt an und rief dann: »Zuchra! Das ist doch nicht möglich!« Strahlend über die herzliche Begrüßung küßte ihr das Mädchen die Hand.

»Schön, dich hier zu sehen! Gott hab deinen Vater selig. Hast du geheiratet, Zuchra?«

»Nein.«

»Nicht möglich!« Sie lachte laut und wandte sich dann zu mir: »Zuchra ist die Tochter eines ehrenhaften Mannes, Monsieur Amir.« Sie gingen zusammen hinein, und ich war bewegt von väterlicher Zärtlichkeit.

Als wir uns zum allabendlichen Beisammensein eingefunden hatten, Tolba, Mariana und ich, erklärte Madame: »Endlich kann ich mich ein bißchen ausruhen.« Sie schwieg einen Augenblick und fuhr dann fort: »Zuchra wird bei mir arbeiten.«

Ein seltsames Gefühl, gemischt aus Freude und Beklommenheit, bemächtigte sich meiner, und ich fragte: »Ist sie denn hierhergekommen, um als Hausmädchen zu arbeiten?«

»Ja, warum nicht? Jedenfalls wird sie sich in einer hervorragenden Position befinden.«

»Aber was…?«

»Sie hatte einen halben Feddan Land gepachtet und hat den selbst bestellt. Wie finden Sie das?«

»Sehr schön, aber warum hat sie ihren Grund und Boden verlassen?«

»Sie ist geflohen.«

»Geflohen?«

»Man hat sie für eine Feudalherrin gehalten«, spöttelte Tolba Marzuq.

»Ihr Großvater wollte sie mit einem Greis in seinem Alter verheiraten, damit sie bei ihm Hausdienste verrichtet. Den Rest können Sie sich denken.«

Traurig warf ich ein: »Das ist gefährlich. So etwas nimmt man im Dorf nicht hin.«

»Sie hat außer ihrem Großvater niemanden als ihre ältere Schwester und deren Mann.«

»Und wenn die herausbekommen, daß sie hier ist?«

»Das ist möglich, aber was macht es schon?«

»Fürchten Sie sich denn nicht?«

»Sie ist schließlich kein Kind mehr. Und ich habe nichts weiter getan, als ihr eine Zuflucht und eine ehrenhafte Arbeit zu bieten.« Dann nachdrücklich: »Monsieur Amir, ich werde sie nicht im Stich lassen!«


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Ich werde meine Aufgaben nicht im Stich lassen, solange Blut in meinen Adern ist, möge die Staatsmacht mit uns tun, was immer sie will.


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Sie unterwies sie, und Zuchra lernte mit überraschender Schnelligkeit. Mariana sagte froh: »Das Mädchen ist erstaunlich, Amir Bey, ganz erstaunlich, klug und stark. Sie begreift sofort, worum es geht. Mein Glück ist perfekt!«

Ein andermal fragte sie mich: »Was meinen Sie, soll ich ihr fünf Pfund geben zusätzlich zu Essen und Kleidung?«

Ich äußerte meine Zustimmung und bat dann: »Stecken Sie sie nicht in moderne Kleider europäischen Zuschnitts!«

»Ja, soll sie sich denn weiterhin anziehen wie ein Fellachenmädchen?«

»Meine Liebe, das Mädchen ist hübsch. Denken Sie darüber nach!«

»Ich halte die Augen schon offen. Das Mädchen ist anständig, Monsieur Amir!«

So tänzelte Zuchra in einem Baumwollkleid durchs Haus, das ihr wie auf den Leib geschnitten war und die Schönheiten ihres Körpers betonte. Das geschah sicher zum ersten Mal, denn bis jetzt war er unter einem weiten, knöchellangen Gilbab[33] verborgen gewesen. Ihr Haar war mit Kerosin gewaschen worden und nun hübsch in der Mitte des Kopfes gescheitelt und in zwei dicken Zöpfen zusammengefaßt, die ihr hinter den Ohren hinabhingen.

Tolba Marzuq sah sie prüfend an, wandte sich dann zu mir, als sie gegangen war, und flüsterte mir ins Ohr: »Im nächsten Sommer werden wir sie im Genevoise[34] oder im Monte Carlo bewundern können!«

»Das liegt in Gottes, nicht in Ihrer Hand!« wies ich ihn zurecht. Auf dem Weg hinaus ging er an ihr vorbei und fragte sie scherzhaft: »Hast du ausländische Vorfahren, Zuchra?«

Sie maß ihn mit einem fragenden Blick. Es war deutlich, daß sie ihn nicht sympathisch fand.

Dann schaute sie zu mir, und ich versuchte sie zu begütigen: »Er macht nur Spaß, Zuchra. Betrachte seine Worte als eine Art Lob.« Lächelnd fuhr ich fort: »Auch ich gehöre zu deinen Verehrern, Zuchra.«

Sie lächelte unschuldig, und ich zweifelte nicht daran, daß sie mich ebenso mochte wie ich sie, und war sehr froh darüber. Immer, wenn sie mit ihrer Arbeit fertig war, lud Madame sie ein, sich zu uns ins Entree zum Radio zu setzen. Sie suchte sich stets einen Platz etwas abseits von uns, in der Nähe des Wandschirms, und verfolgte unsere Gespräche mit dem ernsthaften Wunsch, uns zu verstehen und sich zu bilden. Zu mir gewann sie Zutrauen, weil sie spürte, daß ich sie gern hatte, und wir wurden Freunde. Wir sprachen miteinander, wann immer sich eine Gelegenheit dazu ergab. Eines Abends erzählte sie uns ihre Geschichte selbst, in der Annahme, wir hörten sie zum ersten Mal.

Sie weihte uns auch in Einzelheiten ein: »Der Mann meiner Schwester hätte mich am liebsten umgebracht, weil ich meinen Boden selbst bearbeitete.«

»Hat er dir nicht Schwierigkeiten dabei gemacht, Zuchra?«

»Nein, ich bin Gott sei Dank stark. Weder im Handel noch beim Ackerbau oder bei Marktgeschäften kann mir jemand das Wasser reichen.«

»Aber die Männer kümmern sich auch um andere Dinge«, lachte Tolba Marzuq.

»Wenn es nötig sein sollte, kann ich auftreten wie ein Mann«, setzte sie freundlich dagegen. Ich pflichtete ihr eifrig bei. Madame fügte hinzu: »Zuchra ist nicht unerfahren. Sie hat schließlich ihren Vater auf seinen Gängen begleitet, und er hat sie sehr gern gehabt.«

Zuchra sagte traurig: »Ich habe ihn mehr geliebt als mich selbst. Mein Großvater dagegen denkt nur daran, mich auszunutzen.«

»Wenn du wirklich als ein Mann hättest auftreten können, wärst du nicht zur Flucht gezwungen gewesen«, fuhr Tolba Marzuq fort, sie zu necken.

Ich verteidigte sie: »Tolba Bey, Sie kennen die Atmosphäre auf den Dörfern besser als jeder andere. Sie wissen, daß alles, was die Alten sagen, dort für heilig gehalten wird. Sie wissen um die fürchterlichen Traditionen dort. Entweder sie wäre geblieben, dann hätte sie die Ehefrau eines ungeliebten Mannes werden müssen, oder sie mußte einfach fliehen.«

Sie sah mich dankbar an und sagte dann bekümmert: »Ich habe meinen Grund und Boden verlassen müssen.«

»Sie werden dir allerhand hinterherreden als Begründung für deine Flucht«, meinte da Tolba Marzuq.

Sie wurde blaß vor Zorn, schaute ihn wütend an, spreizte Zeige - und Mittelfinger auseinander und stieß hervor: »Die werde ich dem ins Auge stoßen, der mir Böses nachsagt!«

»Aber Zuchra, verstehst du denn keinen Spaß?« rief Madame.

Mich hatte ihr Zornesausbruch betroffen gemacht, so versuchte auch ich zu begütigen: »Das war doch nur ein Scherz, Zuchra!« Dann wandte ich mich zu ihm und fragte ihn: »Wo bleibt Ihr Feingefühl, mein Lieber?«

»Es wurde sequestriert«, spottete er.


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Sie hatte braune Augen, glatte, rosige Wangen, in ihrem Kinn war ein Grübchen. Fast hätte sie meine kleine Enkelin sein können. Die, die dann ihre Großmutter wäre, stand einen flüchtigen Augenblick lang vor mir. Sie hat weder die Liebe noch die Ehe je erlebt. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie sie aussah. Bargawan, Darb al-Achmar und das Mausoleum von Sidi Abu s-Su'ud[35], dem Allheiler, jene Stätten des alten Kairo, sind alles, was mir im Gedächtnis geblieben ist.

»Wie lange werden Sie hierbleiben, Ustas Amir?« Sie hatte mir den Nachmittagskaffee ins Zimmer gebracht, und ich hatte sie gebeten, dazubleiben, damit ich mich mit ihr unterhalten konnte.

»Ich wohne für immer hier, Zuchra.«

»Haben Sie denn keine Familie?«

»Ich habe niemanden auf der Welt außer dir«, scherzte ich.

Sie lachte aus vollem Herzen vor Freude. Ihre Hände waren klein und hart, die Fingerspitzen rauh. Sie hatte große Plattfüße. Aber ihre Figur und ihr Gesicht waren wunderschön.


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Einmal flüsterte sie mir zu: »Er ist unsympathisch.« Ich wollte sie versöhnlich stimmen und sagte: »Er ist ein unglücklicher alter Mann, und außerdem ist er krank.«

»Er denkt, er ist ein Pascha, aber die Zeit der Paschas ist doch schon lange vorbei!«

Ihre Worte berührten mich seltsam, und meine Gedanken durchwanderten den Zauberkreis eines ganzen Jahrhunderts.


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»Sie weigern sich, den Justizminister zu besuchen, weil er nur ein Efendi[36] ist…«

»Aber Exzellenz, Männer der Justiz haben ihre Vorstellungen von Würde!«

»Ich bin zuerst einmal ein Fellache, sie jedoch sind Tscherkessen[37], das ist der Grund!« Dann, noch entschlossener: »Hören Sie! Diese Leute haben mir lange genug den Pöbel zum Vorwurf gemacht, und ich war ihnen gegenüber stolz darauf, der Anführer der unteren Bevölkerungsschichten zu sein, all derer, die den blauen Gilbab tragen. Hören Sie, der Besuch hat unbedingt stattzufinden, und zwar mit allem Respekt mir gegenüber!«


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Sogar die Namen der Whisky-Sorten behielt sie im Kopf, denn sie mußte sie im High-Life-Laden besorgen.

Sie sagte mir: »Jedesmal, wenn ich sie verlange, wenden sich mir die Blicke zu, und die Leute fangen an zu lachen.«

Ich wiederholte in Gedanken meinen Wunsch, daß Gott sie beschützen möge.


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Was für ein Lärm! Die Stimmen waren mir nicht fremd, aber sie waren von einer leidenschaftlichen Lautstärke. Was geschah da draußen? Ich stand aus dem Bett auf. Es war fünf Uhr nachmittags. Ich zog meinen Morgenmantel an und ging hinaus. Ich sah gerade noch Tolba Marzuq die Hände zusammenschlagend in seinem Zimmer verschwinden. Dann erblickte ich Zuchra, die mit gebeugtem Rücken, finster dreinschauend und vor Wut den Tränen nahe, dasaß. Madame stand höchst verärgert vor ihr. Was war passiert?

Madame erklärte, als sie mich sah: »Zuchra ist sehr mißtrauisch, Amir Bey!«

Ermutigt durch meine Gegenwart, sagte Zuchra schroff: »Er wollte, daß ich ihn massiere!«

Madame fiel ihr ins Wort: »Das verstehst du nicht. Er ist krank. Wir alle wissen das. Er braucht Massage. Früher fuhr er jedes Jahr nach Europa. Und wenn du es nicht tun willst, wird dich niemand dazu zwingen!«

Scharf warf Zuchra ein: »Von so etwas habe ich noch nie vorher gehört! Ich betrat sein Zimmer, nichts ahnend, und da lag er halbnackt auf dem Bauch.«

»Hör auf, Zuchra! Er ist doch ein alter Mann, älter als dein Vater! Das Ganze ist ein Mißverständnis! Steh auf, wasch dir das Gesicht, und vergiß die Angelegenheit!«

Wir saßen allein auf dem schwarzen Kanapee. Draußen heulte der Sturm, die Fenster klapperten. Bedrückendes, beklemmendes Schweigen lag über uns. Madame berichtete: »Er hat es tatsächlich von ihr verlangt. Aber ich zweifle nicht an seinen guten Absichten.«

»Aber Mariana!« warf ich leise und bedeutungsvoll ein.

»Zweifeln Sie etwa an seinen guten Absichten?« fragte sie scharf zurück.

»Frivolität kennt keine Grenzen!«

»Aber er ist ein ehrwürdiger alter Mann. Das wissen Sie doch selbst!«

»Auch ehrwürdige alte Männer können frivol sein.«

»Ich habe ihm gesagt, daß sie das Geld eher gebrauchen kann als eine andere, eine Fremde. Und sie ist doch schließlich nur ein Fellachenmädchen!«

»Und Sie hatten sich vorgenommen, sie zu beschützen!« erinnerte ich sie.


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Tolba Marzuq kam und setzte sich mit der Unbefangenheit und Gelöstheit eines Unschuldigen. Dann sagte er: »Fellache bleibt Fellache, von der Geburt bis zum Tod.«

»Lassen Sie sie leben und sterben, wie Gott sie geschaffen hat«, entgegnete ich ärgerlich.

»Sie ist eine wilde Katze«, grollte er, »lassen Sie sich nicht davon täuschen, wie hübsch sie in dem Kleid und Madames grauer Jacke aussieht. Sie ist eine wilde Katze!«

Ich bin traurig deinetwegen, Zuchra. Jetzt erst begreife ich, wie allein du bist. Die Pension ist nicht der geeignete Ort für dich. Und Madame, deine Beschützerin, wird sich nicht scheuen, bei der ersten Gelegenheit deine Unschuld aufs Spiel zu setzen.

Nach dem ersten Glas fragte Tolba Marzuq: »Wer will mir etwas über die Weisheit Gottes erzählen, die sich in seiner Schöpfung offenbare?«

Madame, froh darüber, daß das Gespräch einen anderen Lauf nahm, rief: »Vorsicht, Tolba Bey, werden Sie nicht zum Gotteslästerer!«

»Sagen Sie mir doch, Madame«, fragte er und wies auf das Jungfrauenbild, »warum war Gott damit einverstanden, daß sein Sohn gekreuzigt wurde?«

»Wenn das nicht geschehen wäre, so hätte uns der Fluch getroffen«, entgegnete sie ernst.

Er lachte lange und fragte dann: »So hat uns also der Fluch noch nicht getroffen?«

Ich tat so, als merkte ich nicht, daß er mir heimlich einen Blick zuwerfen wollte. Da stieß er mich mit dem Ellenbogen an und verlangte: »Sie müssen mich wieder mit Zuchra versöhnen, Sie Schlaumeier!«


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Ein neuer Gast? Etwas in seinem braunhäutigen Gesicht mit den klaren Zügen deutete daraufhin, daß er ein Fellache war. Er war mittelgroß, nicht dick, sein Teint von dunkler Bräune. Er trug eine starke Brille und mochte etwa dreißig sein. Madame ließ ihn am Frühstückstisch Platz nehmen und stellte ihn uns vor: »Monsieur Sarhan al-Buheri.« Dann nannte sie ihm unsere Namen und forderte ihn auf, uns mehr von sich zu erzählen, wenn er das wolle.

Er sagte mit kräftiger Stimme und mit der Klangfarbe eines Mannes vom Lande, der in die Stadt gezogen war: »Ich bin Prokurist in der Spinnerei-Gesellschaft von Alexandria.«

Nachdem er hinausgegangen war, lachte Madame vor Freude und gab bekannt: »Auch ein Gast, der länger bleiben will und zu denselben Bedingungen!«

Kaum eine Woche später kam Husni Allam, ebenfalls für einen längeren Aufenthalt. Er war ein junger Mann, nur wenig jünger als Sarhan, vierschrötig, von heller Gesichtsfarbe, mit einem kräftigen Körper, der einem Ringkämpfer gut angestanden hätte. Madame sagte, er gehöre zu den bedeutenden Persönlichkeiten der Stadt Tanta.

Schließlich stieß noch Mansur Bahi, Rundfunksprecher im Sender Alexandria, etwa fünfundzwanzig Jahre alt, zu uns. Sein zartes, schmalgeschnittenes, hübsches Gesicht gefiel mir gut. Ja, er hatte etwas Kindliches, um nicht zu sagen Feminines. Aber es war vom ersten Moment an deutlich, daß er verschlossen und introvertiert war.

So waren also nun alle Zimmer belegt, und Madame war überglücklich. Ich war froh, Menschen begrüßen, kennenlernen und meinen Hunger nach Begegnungen stillen zu können.

»Junge, hübsche fröhliche Menschen«, sagte ich zu Madame, »hoffentlich setzen sie sich zu uns Alten, wenn wir abends beisammen sind!«

Glücklich meinte sie: »Jedenfalls sind es keine Studenten!«

Bis zum ersten Abend der Umm-Kulthum-Tage waren unsere Beziehungen zueinander sehr förmlich. Aber damals erfuhr ich, daß sie die Nacht mit uns zusammen am Radio verbringen wollten, daß uns also eine angenehme Nacht mit jungen Menschen und Musik bevorstand.


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Sie hatten gemeinsam ein Abendessen mit gegrilltem Fleisch und Whisky vorbereitet. Wir waren um das Radio versammelt, und Zuchra bediente uns fleißig. Die Nacht war kühl, aber still. Kein Sturm heulte. Zuchra sagte, der Himmel sei so klar, daß man die Sterne zählen könne. Die Gläser kreisten, und Zuchra saß neben dem Wandschirm und beobachtete uns lächelnd. Nur Tolba Marzuq litt unter einer heimlichen Unruhe. Ein paar Tage zuvor hatte er mir gesagt: »Die Pension wird zur Hölle werden!« Er fürchtete sich vor Fremden, denn er zweifelte nicht daran, daß sie über seine Vergangenheit und die Sequestrierung seines Vermögens gut Bescheid wußten, wenn nicht über die Zeitungen, so über den Rundfunksprecher Mansur Bahi.

Madame in ihrer unstillbaren Neugier hatte alles Wissenswerte aus ihnen herausgelockt. »Monsieur Sarhan al-Buheri stammt aus der Familie al-Buheri!« Ich hatte von der Familie nie zuvor gehört, und selbst Tolba Marzuq schien sie nicht zu kennen.

»Ein Freund hat ihm von der Pension erzählt, als er davon hörte, wie unzufrieden er mit seiner alten Wohnung war.«

»Und Husni Allam?«

»Monsieur Husni stammt aus der Familie Allam in Tanta.«

Es kam mir so vor, als ob Tolba Marzuq sie kenne, aber er vermied nach Möglichkeit jedes Gespräch.

»Er besitzt hundert Feddan.« Sie sagte das mit einem solchen Stolz, als handle es sich um ihren eigenen Besitz. »Nicht mehr und nicht weniger, denn die Revolution hat ihn nicht angetastet.« Sie frohlockte so, als sei sie selbst der Enteignung entgangen. »Er ist nach Alexandria gekommen, um sich eine Arbeit zu suchen.«

»Warum bestellen Sie denn Ihren Boden nicht?« fragte ihn da Sarhan.

»Ist verpachtet«, antwortete er knapp.

Sarhan blickte ihn scherzhaft prüfend an und meinte: »Geben Sie nur zu, daß Sie in Ihrem ganzen Leben auch nicht eine Handbreit Boden selbst bestellt haben!«

Alle drei lachten, aber Husni lachte lauter und dröhnender als die beiden anderen. Dann zeigte Madame auf Mansur Bahi: »Und der hier ist der Bruder eines alten Freundes, eines der besten Polizeioffiziere, die Alexandria je gekannt hat.«

Tolba nutzte die Gelegenheit, daß alle zum Glas gegriffen hatten, neigte sich zu mir und flüsterte: »Wir sind hier in einem Nest von Spitzeln.«

Ich raunte ihm meinerseits zu: »Diese barbarischen Zeiten sind vorüber, seien Sie nicht albern!«

Doch da drängte sich die Politik in unser abendliches Gespräch.

Sarhan begann mit einem grenzenlosen Enthusiasmus: »Der Rif ist nicht wiederzuerkennen!« Seine Stimme klang unterschiedlich, je nachdem, ob er beim Sprechen gerade den Mund voll hatte oder nicht. »Genauso die Arbeiter. Ich bin ja in der Spinnerei-Gesellschaft täglich mit ihnen zusammen. Kommen Sie, und überzeugen Sie sich selbst!«

Mansur Bahi — er war bisher der Schweigsamste gewesen, brach aber manchmal in lautes Lachen aus, als sei er plötzlich ein anderer geworden — wollte wissen: »Sagen Sie nur, Sie befassen sich wirklich mit Politik!«

»Ich war in der Befreiungsorganisation[38] und dann in der Nationalen Union[39], und heute bin ich Mitglied im Komitee der Zwanzig[40] sowie Vertreter der Belegschaft im Verwaltungsrat.«

»Haben Sie sich vorher schon mit Politik beschäftigt?«

»Nein.«

Husni Allam erklärte: »Ich bin zutiefst überzeugt von der Revolution. Deswegen gelte ich auch als einer, der gegen seine eigene Klasse revoltiert, gegen die Klasse, die von der Revolution beseitigt werden soll.«

»Jedenfalls hat die Revolution Sie auch nicht tangiert«, warf Mansur Bahi ein.

»Das ist nicht der eigentliche Grund. Aber sogar die Armen unserer Klasse mögen die Revolution manchmal nicht.«

Mansur Bahi meinte schließlich: »Ich bin völlig davon überzeugt, daß die Revolution mit ihren Feinden mehr Erbarmen hatte, als es nötig gewesen wäre.«

Offensichtlich dachte Tolba Marzuq, wenn er weiterhin schweige, könne ihm das schaden. So sagte er: »Ich habe Nachteile gehabt, und ich müßte lügen, wenn ich sagte, daß mich das nicht schmerzt. Aber ich wäre auch ein Egoist, wenn ich leugnete, daß das, was getan wurde, getan werden mußte.«

Als ich, kurz bevor es Morgen wurde, in mein Zimmer ging, folgte er mir und fragte mich nach meiner Meinung zu seinen Äußerungen. Ich sagte mit fremder Stimme, denn ich hatte mein Gebiß herausgenommen: »Wunderbar!«

»Meinen Sie, daß mir einer geglaubt hat?«

»Das ist doch unwichtig!«

»Ich sollte mir besser eine andere Bleibe suchen.«

»Seien Sie doch nicht albern!«

»Jedesmal, wenn ich höre, wie jemand das preist, was mich umgebracht hat, bekomme ich Rheumatismus.«

»Sie müssen sich daran gewöhnen.«

»So wie Sie?«

»Wir sind grundverschieden. Das wissen Sie sehr gut«, lachte ich.

Mit den Worten: »Ich wünsche Ihnen unangenehme Träume« verließ er mich.


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Madame hatte nicht mitgetrunken, sondern nur ein Glas heiße Milch und ein Stück gegrilltes Fleisch zu sich genommen. Sie sagte: »Umm Kulthums Fehler ist, daß sie so spät anfängt.« Aber die jungen Männer verkürzten uns die Pein des Wartens.

Mansur Bahi überraschte mich mit der Bemerkung: »Ich weiß viel über Ihre Vergangenheit.« Eine jungenhafte Freude überkam mich. Mir war, als sei ich plötzlich wieder in meine Jugendzeit zurückversetzt. Er erklärte mir: »Ich habe oft alte Zeitungen durchgesehen, wenn ich Programme vorbereitete.«

Da ich ihn erwartungsvoll anschaute, um mehr von ihm zu hören, fuhr er fort: »Das ist wirklich eine lange Geschichte, und Sie haben sich in bemerkenswerter Weise an unterschiedlichen politischen Strömungen beteiligt: an der Volkspartei, an der Nationalen Partei, am Wafd, an der Revolution…«

Wie in letzter Verzweiflung nahm ich die Gelegenheit wahr, begab mich auf eine Reise in die Tiefen der Vergangenheit, sprach mich lobend über Standpunkte aus, die nicht vergessen werden dürften. Wir gingen die Parteien durch, die Volkspartei, was für und was gegen sie sprach, die Nationale Partei, ihre Vor- und ihre Nachteile, den Wafd und wie er die alten Gegensätze beseitigte, seine Basis im Volk, nämlich Studenten, Arbeiter und Bauern, warum ich mich nach der Unabhängigkeit von ihm abgewandt hatte und schließlich, warum ich die Revolution unterstützte.

»Aber Sie haben sich nie für das soziale Grundproblem interessiert?«

»Ich habe einige meiner Jugendjahre an der Azhar verbracht«, lachte ich, »so ist es ganz natürlich, daß ich mich verhalte wie ein Standesbeamter, dessen Sendung im Leben es ist, zwischen dem Orient und Europa eine statthafte und gesittete Verbindung herzustellen.«

»Aber ist es nicht seltsam, daß Sie die beiden einander verfeindeten Parteien gleichzeitig angriffen, ich meine, die Muslimbrüder und die Kommunisten?«

»Nein, es war eine Zeit der Ratlosigkeit. Dann kam die Revolution und hat das Gute, das jede Seite aufzuweisen hatte, übernommen.«

»So ist also Ihre Ratlosigkeit nun vorbei?«

Ich bejahte. Dann aber dachte ich an meine private Ratlosigkeit, die von keiner Partei oder Revolution aus der Welt geschafft werden konnte. Heimlich sprach ich wieder mein ganz persönliches Gebet, das niemand kannte außer mir.

Und schließlich kam der Augenblick, da ich mich mit all meiner Verwirrung im Meer der Melodien und der Freude treiben ließ. Ich betete zu Ihm, daß aus den sich gegenseitig abstoßenden, einander zerfleischenden Gliedern ein Körper würde, der vor Geist und Harmonie pulsierte. Ich bat Ihn, daß Er mich Übereinstimmung und Harmonie mit einer Ordnung lehre, die von der Macht der Liebe und des Friedens behütet wird. Daß Er meine Qualen in einer Melodie dahinschmelzen ließe, die meinem Herzen und meinem Verstand das Glück klarer Weitsicht schenkte. Daß Er sanfte Süße über dieses Dasein gösse, das sich uns stets widersetzen will.


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Wissen Sie schon das Neueste? Eine seltsame Nachricht! Das Kabinett hat gestern auf dem Hausboot von Munira al-Machdijja, der bekannten Sängerin, getagt!

»Was für reiche, charmante junge Männer!« Das konnte Mariana nicht oft genug wiederholen. Zuchra hatte immer mehr zu tun. Aber sie trug ihre Belastungen mit größtem Eifer.

Tolba Marzuq jedoch erklärte: »Ich traue keinem von ihnen.«

»Auch nicht Husni Allam?« fragte Mariana.

»Sarhan al-Buheri ist der Gefährlichste«, fuhr er fort. »Er hat aus der Revolution den größten Nutzen gezogen. Ganz zu schweigen von der Familie al-Buheri, die niemand kennt. Schließlich ist jeder, der aus der Provinz al-Buhera stammt, ein Buheri. Auch Zuchra ist Zuchra al-Buherejja.«

Ich mußte ebenso lachen wie Madame. Zuchra, die in der Stadt etwas erledigen mußte, ging an uns vorbei. Sie hatte sich ein blaues Tuch über das Haar gebunden, das sie sich selbst gekauft hatte, tänzelte in Madames grauer Jacke, war bezaubernd wie taufrisches Gras oder eine Feldblume.

Ich setzte das Gespräch fort: »Mansur Bahi ist ein kluger Bursche. Was meinen Sie? Er mag keine hohlen Phrasen. Es kommt mir so vor, als ob er zu denen gehöre, die in der Stille arbeiten. Und außerdem gehört er wirklich zur Generation der Revolution.«

»Was mag ihn wohl, ihn oder andere, veranlaßt haben, sich der Revolution anzuschließen?«

»Sie sprechen so, als gebe es im Land keine Fellachen, keine Arbeiter und keine jungen Leute.«

»Einige hat man ihres Vermögens beraubt. Alle hat man ihrer Freiheit beraubt.«

»Sie pflegen einen antiquierten Freiheitsbegriff«, widersprach ich sarkastisch. »Und selbst den habt ihr während der Zeit eurer Gewaltherrschaft nicht respektiert.«


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Als ich aus dem Bad kam, bemerkte ich im Gang zwei Gestalten. Zuchra und Sarhan al-Buheri flüsterten oder waren doch im vertrauten Gespräch miteinander. Vielleicht wollte er sich tarnen, als er mich sah, denn er sprach plötzlich lauter und über Dinge, die in Zuchras Verantwortungsbereich fielen. Ich ging in mein Zimmer und tat so, als hätte ich nichts gesehen und nichts gehört, aber ein Gefühl der Unruhe hatte mich befallen. Wie konnte Zuchra ihren Seelenfrieden wahren, wo das Haus von jungen Männern wimmelte?

Als sie mir den Nachmittagskaffee brachte, fragte ich sie: »Was machst du eigentlich immer am Sonntagabend, wenn du frei hast?«

»Ich gehe ins Kino.«

»Allein?«

»Mit Madame.«

Liebevoll sagte ich: »Gott beschütze dich.«

»Sie sind besorgt um mich, als wäre ich ein kleines Mädchen«, entgegnete sie lächelnd.

»Das bist du doch auch, Zuchra.«

»Nein, Sie werden feststellen, daß ich in kritischen Zeiten auftreten kann wie ein Mann!«

Ich neigte mich zu ihrem hübschen Gesicht, das ich so gern hatte, und warnte: »Zuchra, diese jungen Männer kennen keine Grenzen, wenn es um ihr Vergnügen geht, aber wenn es ernst wird…« Ich schnipste mit den Fingern.

»Mein Vater hat mich über alles belehrt«, entgegnete sie.

»Ich habe dich wirklich gern und habe Angst um dich.«

»Ich verstehe schon. Seit mein Vater tot ist, war niemand so zu mir wie Sie, und ich habe Sie auch gern.«

Nie zuvor hatte ich gehört, daß diese Worte der Zuneigung mit solch überströmender Zärtlichkeit gesagt wurden. Dabei hätte es durchaus sein können, daß mich Dutzende unschuldiger Kindermünder in gleicher Weise angesprochen hätten, die Münder meiner Kinder und Enkel nämlich, die ich heute hätte, wäre nicht damals in verstockter Dummheit ein Vorwurf gegen mich erhoben worden, eine Beschuldigung, zu der kein Mensch auf dieser Erde das Recht hat.


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Ein weißer Gesichtsschleier, der die Augen frei ließ. Die alte Frau trat aus dem Tor in die Gasse und sagte: »Komm, Mädchen, es hat aufgehört zu regnen.«

Das Mädchen mit dem weißen Schleier folgte ihr, schritt vorsichtig über den schlüpfrigen Boden und wich einer großen Pfütze aus. Von ihrer Schönheit ist mir heute nur noch der Eindruck von damals in Erinnerung geblieben.

Ich trat zur Seite und sagte bei mir: »Lob dem Schöpfer, der solche Schönheit in seiner Gnade erschaffen hat!« In meines Herzens Tiefe erzitternd, faßte ich den Vorsatz: »Ich will mein Vertrauen auf Gott setzen, und je eher, desto besser!«


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Wir waren allein im Entree. Ich saß unter dem Bild der Jungfrau, deren blaue Augen gedankenschwer dreinschauten. Seit den Mittagsstunden hatte es ununterbrochen geregnet, und hin und wieder grollte Donner durch die Wolken.

»Monsieur Amir, es liegt etwas in der Luft«, erklärte Madame. Vorsichtig fragend schaute ich sie an, da fuhr sie mißbilligend fort: »Zuchra!« Dann, nach einer kurzen Pause: »Und Sarhan al-Buheri!«

Mir wurde zwar beklommen zumute, aber ich fragte ganz naiv zurück: »Was meinen Sie damit?«

»Sie wissen sehr wohl, was ich meine!«

»Aber das Mädchen…«

»In solchen Dingen täusche ich mich nicht.«

»Das Mädchen ist anständig und weiß sich richtig zu verhalten, meine liebe Mariana.«

»Wie auch immer sie sein mag, ich habe es nicht gern, wenn sich etwas hinter meinem Rücken tut!«

Zuchra soll also entweder anständig bleiben oder tun, was dir nützt. Ich durchschaue dich, du alte Vettel!


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Ich träume — während meines Nachmittagsschläfchens — von der blutigen Demonstration, nach der die Engländer den Platz vor der Azhar stürmten. Als ich die Augen öffne, dröhnen mir die Stimmen der Demonstranten und die Schüsse durchs Hirn. Nein, das sind andere Stimmen, außerhalb meines Zimmers, die durch die Pension hallen. Ich ziehe mir den Morgenrock an und trete voller Beunruhigung auf den Gang. Alle stehen im Entree. Einige sind lediglich neugierig wie ich. Sarhan al-Buheri aber ist aufgeregt, zornig, rückt seine Krawatte und seinen Hemdenkragen zurecht. Ebenso Zuchra. Blaß vor Zorn steht sie da. Der Kragen ihres Kleides ist zerrissen. Ihre Brust hebt und senkt sich. Husni Allam im Morgenrock setzt gerade eine schreiende und schimpfende fremde Frau vor die Tür, die Sarhan al-Buheri ins Gesicht spuckt, bevor sich die Tür hinter ihr schließt.

Madame ruft: »Das ist doch unmöglich, wir sind eine angesehene Pension!«

»Das geht zu weit!« protestiert sie heftig. Dann leert sich das Entree, und nur wir drei bleiben zurück, sie, ich und Tolba Marzuq. »Was ist denn nur passiert?« frage ich, immer noch schlaftrunken. »Ich habe nicht viel mehr gesehen als Sie«, erwidert Tolba Marzuq. Madame geht in Sarhans Zimmer, offenbar, um zu hören, was geschehen war.

»Unser Freund al-Buheri scheint ein ausgesprochener Don Juan zu sein«, setzt Tolba Marzuq das Gespräch fort. »Was veranlaßt Sie zu dieser Meinung?«

»Haben Sie denn die Frau nicht gesehen, die ihn angespuckt hat?«

»Aber wer war die fremde Frau?«

»Eine Frau, irgendeine Frau!«

»Eine Frau, die ihrem abhanden gekommenen Mann hinterherlief«, fährt er lachend fort.

Dann kommt Zuchra, immer noch aufgeregt, und stößt hervor, ohne daß sie jemand gefragt hat: »Ich habe Ustas Sarhan die Tür geöffnet, da war ihm die Frau auf den Fersen, ohne daß er es merkte, und dann gab es ein heftiges Handgemenge zwischen beiden.«

Madame kehrt zurück, während Zuchra noch dasteht, und erklärt: »Das Mädchen war seine Verlobte, wenn ich es richtig verstanden habe.«

Die Angelegenheit wird nun verständlich, so meine ich, aber Tolba Marzuq fragt boshaft: »Und was hatte Zuchra damit zu tun?«

»Ich wollte zwischen ihnen vermitteln«, entgegnet Zuchra, »und dann geschah, was Sie gesehen haben.«

»Du bist wirklich eine brillante Faustkämpferin!« stellt der Mann fest. »Wollen wir doch die Geschichte als beendet ansehen!« bitte ich.


Im Namen Gottes, des Barmherzigen,

des Erbarmers

Ta-sin-mim

Dies sind die Zeichen

Des offenkundigen Buches.

Vortragen wollen wir dir von der Kunde

Moses und Pharaos, nach der Wahrheit,

Für solche, die da glauben.

Nun, Pharao war gewaltig auf der Erde,

Und er spaltete ihre Bewohner in Gruppen.

Tat dabei Unrecht einer Gruppe von ihnen,

Indem er schlachtet' ihre Söhne

Und beschämt' ihre Frauen.

Ja, er war einer von den Frevlern.

Wir aber wollen Huld erweisen

Den Unterdrückten auf der Erde,

Und sie machen zu Vorständen,

Und sie machen zu Erben.[41]


Ich höre, wie jemand an die Tür klopft. Madame kommt lächelnd herein und setzt sich vor mich auf einen Schemel, auf den ich manchmal meine Beine ausstrecke. Im Lichtschacht heult der Sturm. Ich bin noch im Morgenmantel. Das Zimmer wirkt schläfrig durch sein Halbdunkel, das die wirkliche Tageszeit verbirgt.

Ein Lachen unterdrückend, erklärt sie: »Ich komme mit einer seltsamen Nachricht zu Ihnen.«

»Einer hoffentlich erfreulichen«, murmle ich, schließe den Koran und lege ihn auf die kleine Kommode.

»Zuchra hat beschlossen, sich weiterzubilden.«

Ich schaue sie ausdruckslos an, denn ich verstehe nicht, was sie sagen will.

»Wirklich, sie hat beschlossen, sich weiterzubilden. Sie hat mir gesagt, sie würde jeden Tag eine Stunde verschwinden, um Unterricht zu nehmen.«

»Das ist tatsächlich erstaunlich!« meine ich.

»Im fünften Stock dieses Hauses wohnt eine Familie, deren eine Tochter Lehrerin ist. Mit der hat sie eine Absprache getroffen.«

»Ich kann nur wiederholen: Das ist ganz erstaunlich!«

»Ich habe von mir aus nichts dagegen eingewandt, auch wenn es mir um ihren Lohn leid tut, den die Lehrerin nun einkassieren wird.«

»Das ist nett von Ihnen, Madame! Aber ich bin verblüfft im wahrsten Sinne des Wortes.«

Als Zuchra mir den Nachmittagskaffee bringt, scherze ich: »Du verbirgst mir etwas, du kleine Geheimniskrämerin!«

»Vor Ihnen kann man doch nichts verbergen!« entgegnet sie scheu.

»Und dein Entschluß, dich weiterzubilden? Erzähl mir doch, wie bist du daraufgekommen?«

»Alle Mädchen lernen heutzutage etwas. Die Straßen sind voll von ihnen!«

»Aber du hast doch früher nicht daran gedacht?« Sie lacht fröhlich, und ich fahre fort: »Du hast dir gesagt, daß du hübscher bist als sie. Und solange sie nichts lernen, brauchst du auch nichts zu lernen, stimmt's?« Sie schaut mich glücklich an, ohne etwas zu sagen, so fahre ich fort: »Aber das ist nicht alles.«

»Was sollte denn sonst noch sein?«

Ich zögere einen Moment und sage dann: »Da ist auch noch unser Freund Sarhan al-Buheri.« Sie wird rot und senkt den Blick. Voller Mitgefühl versuche ich, auf sie einzuwirken: »Daß du dich weiterbilden willst, ist eine gute Idee, Sarhan aber…«

Ich zögere, so fragt sie: »Was ist mit ihm?«

»Diese ehrgeizigen jungen Männer!«

»Wir stammen alle von Adam und Eva ab!« entgegnet sie ärgerlich.

»Das ist richtig, aber…«

»Die Welt ist doch anders geworden!«

»Die Welt ist anders geworden, aber sie haben sich bis jetzt nicht geändert!«

Sie schaut nachdenklich vor sich hin und erzählt dann von ihren Plänen: »Wenn ich lesen und schreiben kann, lerne ich ein Handwerk, zum Beispiel Schneidern!«

Weil ich befurchte, daß ich zuviel gesagt, sie verletzt habe, frage ich: »Liebt er dich denn wirklich?«

Sie nickt bejahend mit dem Kopf, so sage ich: »Dann möge Gott dich beschützen und glücklich machen!«

Ich helfe ihr gelegentlich bei ihren ersten Schritten in dieser unbekannten Welt, der Welt der Buchstaben und Zahlen. Alle haben von ihrem Entschluß erfahren und ihn lange debattiert, aber niemand macht sich über sie lustig. Jedenfalls nicht in ihrer Gegenwart. Ich glaube, alle mögen sie, jeder auf seine Weise.

Tolba Marzuq verfolgt den Fall, denn ihm bleibt keins ihrer Geheimnisse verborgen. Er stellt mir die Frage: »Was wäre eigentlich die beste Lösung für Zuchras Problem? Daß sich eines Tages noch ein Filmproduzent bei uns einmietet? Was meinen Sie dazu?«

Blöder Kerl!

Als ich eines Nachmittags wie gewohnt zu unserem Beisammensein im Entree gehen will, sehe ich Zuchra neben einem fremden Mädchen auf dem Kanapee sitzen. Ich erkenne auf den ersten Blick, daß es die Lehrerin sein muß. Ein hübsches Mädchen vom Lande. Sie beehrt uns mit ihrer Gegenwart, weil sie Besuch in ihrer Wohnung hat. Madame hat sie, wie es ihre Art ist, bereits ausgefragt und einiges in Erfahrung gebracht, was sie wissen wollte. Sie berichtet, daß sie bei ihren Eltern wohne und daß sie einen Bruder habe, der in Saudi-Arabien arbeite. Die Lehrerin erscheint nun öfter in der Pension und ist stets des Lobes voll über den Fleiß ihrer Schülerin.

Einmal, als Zuchra mir den Nachmittagskaffee bringt, fällt mir auf, daß sie düster dreinblickt. Ich frage sie, wie es ihr geht, da antwortet sie matt: »Ich bin stark wie ein Pferd!«

»Und deine Lektionen?«

»Von der Seite gibt es nichts zu klagen.«

»So bleibt nur unser Freund al-Buheri«, meine ich beunruhigt. Wir schweigen eine Weile, als lauschten wir dem strömenden Regen, dann sage ich: »Ich ertrage es nicht, dich traurig zu sehen.«

»Das glaube ich Ihnen«, sagt sie dankbar.

»Was ist denn passiert?«

»Das Glück läßt mich im Stich.«

»Ich habe dir vorn ersten Tag an gesagt…«

»Die Angelegenheit ist nicht so einfach, wie Sie meinen.« Dann schaut sie mich niedergeschlagen an und fragt voll innerer Erregung: »Was soll ich tun? Ich liebe ihn doch! Was soll ich nur tun?«

»Ist dir klar geworden, daß er lügt?«

»Nein, er liebt mich wirklich. Aber er redet immer von Hindernissen.«

»Ein Mann, der eine Frau liebt…«

»Er liebt mich«, sagt sie nachdrücklich, »aber er redet immer von Hindernissen.«

»Für die kannst du doch nichts«, sage ich zärtlich. »Jedoch mußt du deinen Weg selbst wissen.«

»Was nützt es mir zu wissen, was ich tun muß, wenn ich es nicht tun kann!« wendet sie ein.

»Exzellenz, wie konnten Sie es übers Herz bringen…«

»Ich hatte zwischen zwei Dingen zu wählen«, unterbrach er mich, »entweder eine Anleihe bei der Agro-Kredit-Bank aufzunehmen und gleichzeitig auf deren Wunsch bekannt zu geben, daß ich von nun an gegen die Wafd-Partei antrete, oder meinen finanziellen Ruin zu erklären.«

»Viele hätten aber sicher das letztere vorgezogen!«

»Schweigen Sie!« schrie er wütend. »Sie besitzen keine Handbreit Land, haben weder Sohn noch Tochter! Ich wurde geschlagen und in die Qasr-al-Nil-Kaserne gesperrt. Aber meine Tochter ist mir lieber als alles auf der Welt!«


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»Kommen Sie mit mir!« flüstert Madame mir zu, »Zuchras Familie ist da!«

Ich folge ihr ins Entree und sehe Zuchras Schwester und ihren Mann dort sitzen. Das Mädchen steht mitten im Raum und blickt sie hart und unnachgiebig an.

»Es ist gut, daß du zu Madame gegangen bist«, sagt der Mann, »aber daß du geflohen bist, ist eine Schande!«

»Du hast uns in ganz al-Zijadijja bloß gestellt!« fügt ihre Schwester hinzu.

Zuchra entgegnet in heftigem Zorn: »Ich bin frei, und niemand hat das Recht, sich in meine Angelegenheiten zu mischen.«

»Wenn dein Großvater hätte reisen können…«

»Nach dem Tod meines Vaters habe ich niemanden mehr, der für mich da ist und dem ich Rechenschaft schuldig wäre!«

»Pfui! Ist er denn so ein schlechter Mensch, weil er dich mit einem anständigen Mann verheiraten wollte?«

»Er wollte mich verkaufen…«

»Gott verzeihe dir! Komm jetzt mit uns!«

»Ich gehe nicht mehr zurück, und wenn die Welt untergeht!« Ihr Schwager will etwas sagen, aber sie kommt ihm zuvor: »Du hast mir überhaupt nichts zu befehlen!«

»Ich führe hier ein anständiges Leben, ich lebe von meiner Hände Arbeit!« betont sie und weist auf Madame.

Ich habe den Eindruck, als wollten sie ihr offen ihre Meinung über Madame, die Pension und das Bild der Jungfrau sagen. Doch können sie das nicht in Gegenwart von Madame.

»Zuchra ist die Tochter eines Mannes, den ich verehrt habe«, greift Madame ein. »Ich behandle sie wie meine Tochter. Wenn sie hierbleiben will, so ist sie mir herzlich willkommen!«

Madame sieht mich auffordernd an, so bitte ich: »Denk nach, Zuchra, und triff deine Wahl!«

Aber sie bleibt hartnäckig: »Ich werde nicht zurückkehren, und wenn die Welt untergeht!«

Die Reise endet also mit einem Mißerfolg. Als der Mann mit seiner Frau hinausgeht, sagt er zu Zuchra: »Du hättest den Tod verdient!«

Wir debattieren über das Ganze. Dann fordert mich Zuchra auf: »Sagen Sie mir offen Ihre Meinung!«

»Ich wünschte, daß du in dein Dorf zurückgingest.«

»In die Schande soll ich zurückgehen?«

»Ich habe gesagt: >Ich wünschte<, Zuchra. Mein Wunsch wäre, daß du zurückgehst und dadurch glücklich wirst.«

»Ich liebe meinen Boden und das Dorf, aber Elend mag ich nicht!«

Als Madame hinausgeht, um irgend etwas zu erledigen, nutzt sie die Gelegenheit und sagt traurig: »Sehen Sie, hier ist die Liebe, die Möglichkeit, etwas zu lernen, hier sind Sauberkeit und Hoffnung!«

Ich verstehe ihre Traurigkeit. Wie sie war ich mit meinem Vater aus dem Dorf geflohen. Wie sie hatte ich das Dorf geliebt, aber das Leben dort als beengend empfunden. Dann bildete ich mich weiter, wie sie es tun will. Wie sie wurde ich grundlos beschuldigt, auch mir wurde von einigen Leuten gesagt, ich verdiene den Tod. Wie sie faszinierten mich die Liebe, die Möglichkeit, etwas zu lernen, die Sauberkeit und die Hoffnung.

Ich bitte zu Gott, daß er dich glücklicher werden läßt als mich, Zuchra.


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Der Herbst neigt sich seinem Ende zu, aber in Alexandria macht das Wetter, was es will. Es beglückt uns mit einem strahlenden warmen Morgen, und der Ramlah-Platz erfreut sich der Sonnenstrahlen unter einem klarblauen Himmel. Machmud Abul-Abbas[42], der Zeitungsverkäufer, lächelt mir zu, als ich vor seiner Auslage mit den bunten Umschlägen von Zeitschriften und Büchern stehe.

Er lächelt mir zu und sagt: »Mein sehr verehrter Herr!« In der Annahme, er habe sich verrechnet, sehe ich ihn fragend an, wie er da hochgewachsen und hübsch vor mir steht.

»Mein verehrter Herr, Sie wohnen in der Pension Miramar?« will er von mir wissen. Bejahend nicke ich mit dem Kopf. Er fragt weiter: »Entschuldigen Sie, gibt es in dieser Pension nicht ein Mädchen namens Zuchra?« Plötzlich interessiert, antworte ich: »Ja.«

»Wo sind ihre Angehörigen?«

»Aber warum fragen Sie?«

»Entschuldigung, ich möchte um ihre Hand anhalten.«

Ich denke kurz nach und sage dann: »Ihre Angehörigen sind im Rif, und ich glaube, sie versteht sich nicht mit ihnen. Haben Sie sie selbst schon ins Vertrauen gezogen?«

»Sie kommt manchmal und holt Zeitungen, aber sie ermutigt mich nicht gerade.«

Noch am selben Abend sucht er Madame auf und hält um Zuchras Hand an. Madame fragt Zuchra, nachdem er gegangen ist. Aber sie weist ihn sofort und ohne nachzudenken zurück.

Als Mariana uns — mir und Tolba — die Geschichte erzählt, wirft ihr der Mann vor: »Sie haben sie verdorben, Madame. Sie haben aus ihr ein adrettes Mädchen gemacht und ihr Ihre Kleider angezogen. Jetzt hat sie hier Umgang mit hervorragenden jungen Männern und bekommt Flausen im Kopf. Das wird ein böses Ende geben!«

Als sie mir den Nachmittagskaffee bringt und wir wie jeden Tag miteinander allein sind, sprechen wir über die Angelegenheit.

»Du hättest darüber nachdenken sollen!« ermahne ich sie im nachhinein.

»Aber Sie wissen doch alles!« protestiert sie.

»Es schadet nie, wenn man etwas bedenkt und sich mit jemandem berät.«

»Sie denken, ich stehe so tief, daß ich nicht nach Höherem schauen darf!« tadelt sie mich.

Ich mache eine abwehrende Handbewegung. »Ich halte ihn ganz einfach für einen geeigneten Ehemann.«

»Mit ihm würde ich ein Leben führen genau wie auf dem Dorf, vor dem ich geflohen bin.«

Mir gefällt ihr Argument nicht, aber sie fährt fort: »Ich habe einmal gehört, wie er sich mit einem Freund unterhielt, ohne daß er mich sah. Er sagte, daß Frauen zwar unterschiedlich sind, aber doch in einem übereinstimmen. Jede Frau sei ein anmutiges Tier ohne Verstand und Religion. Das einzige Mittel, sie zu zähmen, seien Fußtritte.« Sie sieht mich herausfordernd an.» Ist es denn eine Schande, wenn ich mir ein Leben wünsche, in dem ich geachtet werde?«

Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll. Obwohl ich mein Bedauern geäußert habe, fühle ich eine grenzenlose Hochachtung für sie. Ich werde dich nicht mit Altweiberweisheiten belästigen. Saad Zaghlul hörte sich zwar die Ratschläge der alten Männer durchaus an, aber er folgte meistens den Meinungen der jungen. Gott beschütze dich, Zuchra!


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»Es geschehen wichtige Dinge um Sie herum, und Sie wissen nichts davon, Alter!« sagt Tolba Marzuq und lächelt boshaft. Wir sitzen allein im Entree. Nur der unaufhörlich strömende Regen leistet uns Gesellschaft.

»Was ist passiert?« frage ich, schlimme Nachrichten erwartend.

»Der Don Juan von al-Buhera bereitet im verborgenen einen Umsturz vor.«

Die Angelegenheit interessiert mich, weil sie mit Zuchra zu tun hat, so frage ich ihn, was er meint.

»Er hat nicht mehr das alte Ziel. Er steuert jetzt geradewegs auf ein neues zu.«

»Sprechen Sie deutlicher und ohne Schadenfreude!«

»Gut, jetzt ist die Ustasa[43] an der Reihe.«

»Die Lehrerin meinen Sie?«

»Genau! Ich habe beobachtet, wie sie Blicke miteinander tauschten, und Sie wissen ja, daß ich langjährige Erfahrungen mit dieser Art der Verständigung habe.«

»Was sind Sie doch für ein Mann! Ständig nehmen Sie Ihre bösen Gedanken für die Realität!«

»Papa Amir«, spottet er schadenfroh, »ich fordere Sie auf, sich das artigste aller Dramen im Miramar nicht entgehen zu lassen!«

Ich entschließe mich, ihm keinen Glauben zu schenken, bin aber doch voller Unruhe. Da erzählt uns Husni Allam am selben Tag von einer Auseinandersetzung, die es zwischen Sarhan al-Buheri und Machmud Abul-Abbas, dem Zeitungsverkäufer am Ramlah-Platz, gegeben habe. Ich ahne, was dahintersteckt, aber was daraus geworden ist, übersteigt meine Vorstellungskraft.

»Sie schlugen so aufeinander ein, daß Passanten eingreifen mußten«, berichtet Husni.

»Haben Sie die Prügelei beobachtet?« fragt ihn Tolba Marzuq. »Nein, ich habe unmittelbar danach erfahren, was geschehen ist.«

»Wurde die Polizei gerufen?« erkundigt sich Madame teilnahmsvoll. »Nein, es endete mit einer Flut von Beschimpfungen und Drohungen.« Sarhan erwähnt den Vorfall nicht, und wir vermeiden es, davon zu reden. Mir fällt wieder ein, was Tolba von Sarhan und der Lehrerin erzählt hat, da packen mich Kummer und Sorgen.


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»Treue kennt der Seemann kaum — gebt, Augen, meinen Träumen Raum!«

Wir hatten so laut geklatscht und gerufen, daß er es wieder und wieder sang, sang bis zum Morgengrauen. Damals war ich jung, voller Kraft, aß gut und trank viel. Aber mein Herz litt unter der Last seines Kummers.


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Ich träume vom Tod meines Vaters.

Erst gegen Morgen bin ich in Schlaf gesunken. Ich sehe, wie sie ihn aus dem Säulengang der Abul-Abbas-Moschee tragen, wo ihn der Tod ereilt hat. Dann bringen sie ihn nach Hause. Ich weine. Der Aufschrei meiner Mutter klingt mir im Ohr. Ich höre ihn immer noch, als ich die Augen öffne.

O Gott, was geschieht da draußen? Ist es wie beim letzten Mal? Die Pension Miramar hat sich in eine Arena verwandelt. Aber als ich aus meinem Zimmer trete, ist alles vorbei. Mariana sieht mich und kommt zu mir, als suche sie bei mir Hilfe.

Wir gehen in mein Zimmer, und sie ruft: »Das geht zu weit, das geht zu weit, ab mit ihnen allen in die Hölle!«

Ich sehe sie schlaftrunken an, und sie erzählt mir die neue Geschichte. Sie sei von lautem Gezänk aufgewacht, habe ihr Zimmer verlassen und gesehen, wie draußen Husni Allam und Sarhan al-Buheri aufeinander einprügelten. »Husni Allam?«

»Ja. Warum nicht? Es muß doch hier jeder sein Stück von der allgemeinen Tollheit abbekommen!«

»Aber aus welchem Grund?« frage ich verärgert.

»Tja, dafür müssen Sie einen Schritt zurückgehen, bis zu einem Vorfall, den ich auch nicht miterlebt habe, weil ich schlief wir ihr alle.«

»Und sie?«

»Zuchra sagt, Husni Allam sei betrunken von draußen hereingekommen und habe versucht…«

»Nein!«

»Ich glaube ihr, Monsieur Amir.«

»Ich auch, aber bei Husni war nie zu beobachten, daß er…«

»Wir können die Augen nicht überall haben! Sarhan wachte im rechten Moment auf, und dann geschah es.«

»Wie bedauerlich!«

Sie streicht sich über den Hals, als wolle sie ihre vom vielen Schreien schmerzenden Stimmbänder beruhigen, und sagt dann: »Das geht zu weit…, sollen sie alle zur Hölle fahren!«

»Jedenfalls Husni Allam!« schränke ich ärgerlich ein.

Sie sagt nichts dazu, ereifert sich auch nicht mehr, sondern verläßt mürrisch das Zimmer.

Als Zuchra am nächsten Nachmittag zu mir kommt, blicken wir uns vielsagend an.

Ich murmle: »Es tut mir sehr leid, Zuchra!«

»Das sind Männer ohne jeden Anstand!« entgegnet sie zornig.

»Dies ist aber auch nicht der richtige Platz für dich!«

»Ich habe mich noch immer meiner Haut wehren können, und das habe ich diesmal auch getan!«

»Aber das ist nicht das ruhige Leben, das man einem lieben Mädchen wie dir wünscht!«

»Mistkerle gibt es überall«, widerspricht sie, »auch auf dem Dorf.«


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Nach Tagen verlasse ich wieder die Pension, eine beißende Kälte, tosende Stürme und heftige Regenfälle haben mich in ihr gefangengehalten. Es waren scheußliche Tage. Wir hatten uns in die Zimmer verkrochen, aber auch in unseren Schneckenhäusern ließ uns das Wetter keine Ruhe. Regen peitschte gegen die Fenster, die Wände erzitterten unter den Schlägen des Donners, Blitze flammten auf wie Warnsignale, der Sturmheulte unheimlich wie böse Geister.

Als ich die Pension verlasse, empfängt mich das andere Gesicht Alexandrias, frei von Zorn, wieder sanftmütig geworden. Dankbar spüre ich die reinen, goldenen Sonnenstrahlen, blicke auf die Wellen, die unschuldig plätschern, während in den Himmel kleine Wölkchen gezeichnet sind, die sich gegenseitig zuzupusten scheinen. Ich setze mich ins Trianon, um einen Kaffee mit Milch zu trinken, so wie ich es früher mit Garabli Pascha, dem Scheich Gawisch[44] und Madame Lapraska tat, der einzigen Französin, die ich neben einem ganzen Schwarm von Frauen ausprobiert habe, die in die Milaja gehüllt waren. Tolba Marzuq setzt sich für eine Weile zu mir, dann geht er zur Halle des Windsor-Hotels[45], um sich dort mit einem alten Freund zu treffen.

Plötzlich tritt Sarhan al-Buheri zu mir, grüßt, setzt sich und sagt dann: »Wie schön, Sie zu treffen! Gestatten Sie, daß ich mich von Ihnen verabschiede. Sie waren nicht da, als ich die Pension verließ.«

»Wollen Sie abreisen?« frage ich ihn erschrocken.

»Ja«, sagt er mit seiner dröhnenden Stimme, »mein Aufenthalt hier geht zu Ende. Wenn ich fortgegangen wäre, ohne mich von Ihnen zu verabschieden, so hätte mir das allerdings mein ganzes Leben lang leid getan!«

Ich bedanke mich für seine Liebenswürdigkeit. Mir drängen sich viele Fragen auf, aber er läßt mich nicht mehr zu Wort kommen, denn er winkt jemandem zu, schüttelt mir die Hand und geht.

Unruhig und traurig frage ich mich, was nun wohl aus Zuchra wird.


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Der Angeklagte rüttelte an den Stäben seines Käfigs, als er das Urteil hörte, und schrie, so laut er konnte, in den Gerichtssaal: »Wie wirst du dich jetzt über meine Situation freuen, Danaf[46], und du, Na'ima, du Offiziershure!«

Als ich in die Pension zurückkomme, finde ich Madame, Tolba Marzuq und Zuchra im Entree beisammen, befangen in einer Traurigkeit, die eine deutlichere Sprache spricht als laute Schmerzensschreie oder heftige Klagen. Ich setze mich schweigend zu ihnen. Mir ist inzwischen klargeworden, was ich eigentlich den anderen hatte fragen wollen.

Madame sagt: »Endlich hat dieser Sarhan seine Maske fallen gelassen!«

»Er kam vor ein paar Stunden im Trianon zu mir und sagte, daß er die Pension verlassen würde«, murmle ich.

»Die Wahrheit ist: Ich habe ihn hinausgeworfen.«

Dann, mit einer Handbewegung zu Zuchra: »Er ist schamlos über sie hergefallen, hat sie verprügelt und dann verkündet, er werde jetzt die Lehrerin heiraten.«

Ich schaue zu Tolba. Der sieht mich an und spottet: »So hat er sich schließlich doch noch fürs Heiraten entschieden!«

»Mir hat er nie gefallen«, meint Madame. »Ich habe ihn vom ersten Moment an durchschaut. Ein ausgemachter Halunke!«

»Monsieur Mansur Bahi wollte ihn zur Rede stellen«, fährt sie dann fort, »und da gab es plötzlich eine weitere Schlägerei. Ich habe ihm ins Gesicht geschrien, daß er für immer verschwinden soll.«

Mitleidig schaue ich zu Zuchra. Ich bin mir sicher, daß das Spiel zu Ende ist und der Übeltäter ungestraft entkommen. Mein Zorn ist so groß wie in jenen bitteren Tagen der Vergangenheit.

»Er ist ein hundsgemeiner Kerl«, versuche ich Zuchra zu trösten, »und hat es nicht verdient, daß du ihm nachtrauerst.«

Als ich mit Tolba Marzuq allein bin, sage ich zu ihm:

»Wenn sie doch den Heiratsantrag von Machmud Abul-Abbas angenommen hätte!«

Er entgegnet wie jemand, der seinen Gesprächspartner aus Träumen reißen möchte: »Aber Mann! Welcher Machmud denn? Haben Sie immer noch nicht begriffen, daß ihr etwas Unersetzliches verlorengegangen ist? Ihre Jungfräulichkeit!«

Ich runzle protestierend die Stirn und fühle mich gleichzeitig überrumpelt.

»Wo haben Sie denn Ihren Verstand gelassen, Alter?« spottet er. »Wo bleibt denn da Ihr Scharfsinn?«

»Zuchra ist keine von denen!«

»Gott erbarme sich Ihrer Arglosigkeit!«

Einerseits bin ich ihm böse, andererseits hege ich doch Zweifel. Tieftraurig denke ich: Das arme Mädchen!

Tolba Marzuq fährt fort: »Madame war die erste, die mich auf die Beziehung zwischen den beiden aufmerksam gemacht hat, aber ich hatte das gar nicht nötig.«

»Sie hat eine verdorbene Phantasie.«

»Wie Sie wissen, ist sie immer bereit, entweder sie zu beschützen oder aber sie auszubeuten.«

»Sie tut weder das eine noch das andere«, brause ich auf, »das kann ich beschwören.«

Dann kommt unsere Begegnung am Nachmittag, traurig, bewegend. Sie bittet mich, ich solle sie nicht an meine Ratschläge von früher erinnern, sie nicht tadeln oder schelten. Ich unterlasse das alles und empfehle ihr statt dessen, sie solle ihrer Zukunft mit dem Mut entgegensehen, der ihr so gut anstünde.

»Sag mir, Zuchra, hat dein Eifer, etwas zu lernen, nachgelassen?«

»Ich werde eine andere Lehrerin finden!« entgegnet sie entschlossen, aber ohne jede Begeisterung.

»Wenn du irgendwelche Hilfe brauchst…« Sie lehnt sich gegen mich und küßt mich leicht auf die Schulter, dann beißt sie sich auf die Lippen, um die Tränen zurückzuhalten. Ich strecke meine von dicken Adern durchzogene, wie gegerbt wirkende Hand aus, streiche ihr zärtlich über das schwarze Haar und murmle: »Gott beschütze dich, Zuchra!«


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Ich bleibe an diesem Abend in meinem Zimmer und gebe meiner völligen Erschöpfung nach. Die Müdigkeit hält mich noch einige Tage lang dort fest. Dann muntert mich Madame auf, meine Schwäche zu überwinden, um die bevorstehende Silvesternacht zu feiern.

»Wollen wir sie im Monseigneur verbringen, wie Tolba Bey vorgeschlagen hat«, fragt sie mich während dieses Gesprächs, »oder hier?«

»Hier ist es besser, meine Liebe«, murmle ich ohne große Begeisterung.

Wie oft hatte ich diese Nacht im Sault's, im Groppi, im Tausendundeiner Nacht und im Lipton-Garten[47] verbracht. Es gab aber auch ein Jahr, da erlebte ich sie als Häftling im Militärgefängnis der Zitadelle.


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Am dritten Morgen meines Rückzugs aufs Zimmer kommt Madame in höchster Aufregung hereingestürzt und ruft, ganz außer Atem: »Haben Sie schon das Neueste gehört?« Sie läßt sich in den großen Sessel fallen: »Sarhan al-Buheri ist ermordet worden!«

»Was?« rufe ich.

»Er wurde auf der Straße nach Palma ermordet aufgefunden.«

Tolba Marzuq kommt hinter ihr her, hält voller Nervosität die Zeitung in der Hand und kommentiert: »Eine höchst unangenehme Nachricht! Sie wird uns Probleme schaffen, die wir jetzt noch gar nicht absehen können!«

Ohne zu einem Ergebnis zu kommen, erörtern wir die Angelegenheit nach allen Richtungen, prüfen alle Möglichkeiten, denken an die erste Verlobte Sarhans, an Husni Allam, Mansur Bahi, Machmud Abul-Abbas. Abschließend meint Madame: »Vielleicht ist der Mörder aber auch ein ganz anderer, auf den wir nie kommen würden.«

»Warum nicht?« rätsle ich. »Schließlich wissen wir so gut wie nichts von dem jungen Mann, weder von seiner Vergangenheit noch von seinen Kontakten, noch von seinen Lebensumständen.«

Madame ist voller Unruhe: »Ich hoffe nur, daß man den Mörder so schnell wie möglich findet und daß wir absolut nichts mit ihm zu tun haben und auch, daß kein Polizistengesicht hier auftaucht!«

»Das hoffe ich ebenfalls aus ganzem Herzen!« unterstützt sie Tolba Marzuq.

Ich frage nach Zuchra, und Madame sagt seufzend: »Die Sache hat sie schwer mitgenommen. Das könnt Ihr mir glauben. Das arme Mädchen!«

»Kann ich sie nicht sehen?« frage ich bekümmert.

»Sie ist völlig verstört in ihrem Zimmer und hat die Tür hinter sich zugeschlossen.«

Noch einmal erörtern wir die Angelegenheit nach allen Seiten, ohne zu einem Ergebnis zu kommen.

Ich schließe die Augen und höre immer wieder Seine Worte:


Was auf der Erd' ist, muß vergehn,

Und nur das Antlitz deines Herrn wird bestehn,

Das herrlich ist zu nennen;

Welche Gnad' eures Herrn wollt ihr verkennen?[48]

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