All das, was sich in der Pension in der letzten Zeit ereignet hat, vergällt mir das Leben. Ich habe hier Zuflucht gesucht, um die Ruhe zu genießen, die ich in meinen alten Tagen brauche, auch um mich mit angenehmen Erinnerungen über die bittere Enttäuschung hinwegzutrösten, die ich am Ende meines Arbeitslebens erfahren mußte. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, daß sich die Pension Miramar in eine Bühne für brutale Schlägereien verwandeln könnte, die schließlich mit einem Mord enden.
Aber heute spüre ich wieder etwas Unternehmungslust, verlasse das Zimmer und setze mich zu Mariana und Tolba Marzuq zu unserem gewohnten Beisammensein im Entree. Ich würde Zuchra gern bei uns sehen, aber Mariana ist dermaßen erregt und Tolba schaut so finster drein, daß ich davon Abstand nehme, sie zu uns zu bitten. Diese Atmosphäre würde ihren Kummer nur steigern, sie braucht jetzt vor allem Schonung.
Ich erfahre, daß Husni Allam die Pension fast auf die Minute zu seiner üblichen Zeit verlassen hat. Er war eine Weile lang sehr erregt über die Nachricht von der Bluttat, dann machte er sich auf den Weg wie immer. Mansur Bahi hat gegen seine sonstige Gewohnheit sehr lange geschlafen.
Mariana seufzt: »Da haben wir nun den letzten Tag des Jahres. Und der hat ihm das schrecklichste Ende beschert, das man sich vorstellen kann! Was uns das neue Jahr wohl bringen wird?«
Tolba Marzuq fragt nervös und verdrossen: »Welcher Ärger wird uns hier bevorstehen?«
»Solange wir unschuldig sind…«, murmle ich.
»Sie können sich immer auf Ihr hohes Alter berufen«, unterbricht er mich scharf. »Sie ficht nichts mehr an!«
Da hören wir, wie sich Mansurs Tür öffnet. Er geht ins Bad. Nach einer halben Stunde kehrt er in sein Zimmer zurück.
Kurz darauf erscheint er hinter dem Wandschirm, schon in Anzug und Mantel, sehr bleich, mit düsterem Blick und versteinerten Gesichtszügen.
Madame weist ihn darauf hin, daß sein Frühstück bereitsteht, aber er lehnt es mit einem Kopf schütteln ab und sagt weiter nichts. Sein Anblick beunruhigt uns. Natürlich ist Madame die erste, die nach einer Erklärung für sein Aussehen forscht.
»Setzen Sie sich doch zu uns, Monsieur Mansur! Fühlen Sie sich wohl?«
»Mir geht es hervorragend«, sagt er, ohne Platz zu nehmen, »ich habe nur länger geschlafen als gewöhnlich, das ist alles!«
Sie weist auf die Zeitung, die aufgeschlagen auf dem Sofa liegt, und fragt ihn: »Haben Sie das Neueste schon gehört?«
Er zeigt keinerlei Interesse, sie fährt fort: »Sarhan al-Buheri… Man hat ihn tot auf dem Weg zum Palma gefunden!«
Er schaut sie lange an, ist gar nicht erstaunt, nicht aufgestört. Aber er schaut ihr weiter in die Augen, als habe er ihre Worte gar nicht gehört oder sie nicht richtig verstanden, oder aber als litte er unter einer Krankheit, die ernster ist, als wir vermuten. Mariana fordert ihn auf, sich die Zeitung anzusehen. Er wirft einen ruhigen, bedächtigen Blick auf die Meldung, während wir ihn mustern. Dann hebt er den Kopf und sagt: »Ja…, er wurde tot aufgefunden!«
Mitleidig fordere ich ihn auf: »Sie sind überanstrengt. Setzen Sie sich doch!«
Kühl oder vielleicht auch nur gleichgültig wehrt er ab: »Mir geht es wirklich gut!«
»Wie Sie sehen, sind wir höchst beunruhigt«, erklärt Mariana.
»Aber warum denn?« fragt er und läßt den Blick von einem Gesicht zum anderen schweifen.
»Wir erwarten, daß die Polizei hierherkommt und uns unsere Ruhe nimmt.«
»Sie wird bestimmt nicht kommen!«
»Aber die Polizei ist, wie Sie wissen…«, will Tolba Marzuq sagen.
»Ich bin der Mörder von Sarhan al-Buheri!« unterbricht er ihn ruhig.
Er geht zur Tür, bevor wir überhaupt begriffen haben, was er gesagt hat, öffnet sie, schaut uns an und erklärt: »Ich gehe selbst zur Polizei!« Dann schließt er die Tür hinter sich.
Wir schauen uns betroffen an, eine ganze Weile schauen wir uns schweigend und bestürzt an.
»Er hat den Verstand verloren«, ruft Mariana dann ängstlich.
»Nein, er ist krank«, widerspreche ich.
»Vielleicht ist er aber wirklich der Mörder«, vermutet Tolba Marzuq. »Aber doch nicht dieser zurückhaltende, höfliche junge Mann«, protestiert Mariana.
»Kein Zweifel, er ist krank«, wiederhole ich mitleidig. »Warum sollte er ihn denn ermordet haben?« fragt Mariana. »Und warum sollte er freiwillig gestehen, daß er der Mörder ist?« stellt Tolba Marzuq die Gegenfrage.
»Ich sehe immer noch sein Gesicht vor mir«, sagt Mariana, »irgend etwas hat ihn aus dem Gleichgewicht gebracht.«
»Er hat jedenfalls noch zu allerletzt hier eine Auseinandersetzung mit ihm gehabt«, bekräftigt Tolba Marzuq seine Meinung. »Aber hier hatte jeder mit ihm Streit«, wende ich ein. Er weist auf das Zimmer von Zuchra und sagt: »Dort liegt die Ursache!«
»Er war aber doch der einzige, der ihr keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat«, protestiere ich.
»Das heißt doch nicht, daß er sie nicht geliebt hat oder daß er nicht den Wunsch verspürt hätte, an einem Nebenbuhler Rache zu nehmen.«
»Mein Herr, Sarhan al-Buheri hatte sie verlassen!«
»Aber er hatte ihr Herz in Besitz genommen, wie er ihr ihre Ehre geraubt hat!«
»Pst, verleumden Sie die Leute nicht, solange Sie nichts Genaues wissen!«
»Ob er wirklich zur Polizei gegangen ist?« fragt Mariana. Wir reden erhitzt weiter, bis zur Erschöpfung.
Schließlich gebiete ich Einhalt: »Wir wollen aufhören! Es reicht jetzt! Warten wir darauf, was uns das Schicksal beschert!«
Und die Taten der Ungläubigen sind
Wie Finsternisse in tiefstem Meeresgrund,
Bedeckt von einer Woge,
Über der eine Woge,
Über der Wolken von Dunkelheiten,
Eine über der anderen.
Wenn er seine Hand hervorholt aus ihnen,
Sieht er sie kaum vor Finsternis.
Wem Gott kein Licht gesetzt,
Der besitzt kein Licht.
Sahst du nicht, daß Gott alles preist,
Was im Himmel und auf Erden?
Auch die Vögel, dort im Fluge oben,
Jeder kennt sein Gebet und weiß ihn zu loben.
Und Gott weiß sehr wohl, was sie tun!
Gott ist der König des Himmels und der Erden
Und zu Gott ist unser Werden![66]
Meine Augen ermüden schnell beim Lesen. Ich verlasse das Zimmer und gehe in die Diele, als die Uhr gerade vier schlägt. Mariana finde ich in eine Lektüre vertieft. Sie ruft mir zu: »Das ist meine erste Silvesternacht, die verläuft wie ein Leichenbegängnis!«
»Redet doch um Gottes willen nicht schon wieder von Kummer und Sorgen!« fordert Tolba Marzuq energisch.
Ärgerlich gibt Madame zurück: »Die Pension ist von einem Fluch betroffen, darüber bin ich mir nun im klaren. Und Zuchra muß gehen! Soll sie sich irgendwo anders eine Stelle suchen!«
Ihr Zorn schneidet mir ins Herz, und ich versuche zu begütigen: »Mariana, sie ist unschuldig an all dem. Sie ist vom Pech verfolgt und hat bei Ihnen Zuflucht gesucht.«
»Allmählich betrachte ich sie als ein unglückliches Omen!«
Tolba Marzuq schnipst mit den Fingern, als sei ihm ein neuer Gedanke gekommen: »Was hindert uns denn eigentlich daran, die Silvesternacht richtig zu feiern?«
»Was hindert uns denn eigentlich…!« wiederhole ich bestürzt. »Das ist doch wirklich der Gipfel!«
Er ignoriert meinen Einwurf und sagt zu Mariana: »Machen Sie sich fertig, meine Liebe! Wir werden den Abend gemeinsam verbringen, wie wir es beschlossen hatten!«
»Ach, meine Nerven, meine Nerven, Monsieur Tolba!« klagt sie.
»Eben deswegen lade ich Sie ja ein, diese Nacht zu feiern!«
Die Atmosphäre ist plötzlich verändert. Jedenfalls für die beiden. Ganz ernsthaft besprechen sie Tolbas Vorschlag. Da kommt Husni Allam von draußen und verkündet seinen Entschluß, er wolle aus der Pension ausziehen. Madame erzählt ihm die seltsame Geschichte von Mansur Bahi. Er hört sie mit großer Bestürzung und redet eine Weile darüber. Schließlich zuckt er die breiten Schultern, als wolle er die Geschichte von sich abschütteln. Er packt seine Sachen zusammen, verabschiedet sich von uns und geht.
Nachdem er uns verlassen hat, stellt Madame traurig fest: »Nun sind wir wieder allein wie zuvor!«
»Danken wir Gott dafür!« äußert Tolba seine Freude.
Beide sind plötzlich von einer emsigen Geschäftigkeit, die ihre Unruhe und ihren Kummer vertrieben hat.
Madame hat sich zurechtgemacht wie in vergangenen Zeiten. Sie trägt ein braunes Abendkleid, das ihre zarte weiße Haut zur Geltung bringt, und darüber einen schwarzen Mantel mit Naturpelzkragen, goldfarbene Schuhe an den Füßen, hat Brillantohrringe und ein Perlenkollier angelegt. Sie ist wieder eine attraktive Schönheit aus der Oberschicht und hat die Spuren des Alterns unter einer Maske aus Schminke verborgen. Wir mustern uns eine Weile, während sie, sichtlich, um sich zur Schau zu stellen, an der Wohnungstür stehengeblieben ist.
Sie lacht fröhlich wie ein Backfisch und sagt im Hinausgehen zu Tolba: »Ich erwarte Sie dann beim Friseur!«
Ich bin allein, habe keinen anderen Gefährten als den wild heulenden Sturm. Ich rufe nach Zuchra und muß dreimal rufen, bis sie hinter dem Wandschirm erscheint. Sie steht da, traurig, niedergeschlagen, gebrochen, wirkt, als sei sie kleiner geworden und als habe ihr Rücken sich gekrümmt.
Ich weise auf das Kanapee, sie geht schweigend hinüber und setzt sich unter das Bild der Jungfrau. Mit über der Brust verschränkten Armen blickt sie zu Boden. Mir schnürt sich vor Mitleid und Zärtlichkeit das Herz zusammen, und ich spüre, wie mir Tränen in die Augen treten, die heute nicht mehr zu einem erlösenden Weinen werden können.
»Warum ziehst du dich auf dich selbst zurück, als hättest du keinen Freund?« schelte ich sie sanft. »Hör mir zu! Ich bin, wie du siehst, ein sehr alter Mann oder richtiger ein Greis. Drei- oder viermal in meinem Leben habe ich Schicksalsschläge erlebt, die mich so weit brachten, daß ich mir am liebsten das Leben genommen hätte. Jedesmal rief ich aus wundem Herzen: >Nun ist alles zu Ende!< Und jetzt siehst du mich in einem Alter, das nur sehr wenige erreichen. An die Anfälle tiefer Verzweiflung in meinem Leben habe ich heute nur noch sehr verschwommene Erinnerungen, Erinnerungen ohne jeden bitteren Beigeschmack, bedeutungslos für mich, als seien sie die eines anderen.«
Sie hört mir lustlos, aber auch nicht ganz desinteressiert zu.
»Lassen wir unsere Traurigkeiten, Zuchra, die Zeit heilt alle Wunden! Du mußt jetzt an deine Zukunft denken. Tatsache ist, daß die Dame dich hier nicht mehr haben will…«
»Das kümmert mich nicht!« unterbricht sie mich heftig.
»Und was hast du vor?«
»Dasselbe wie vorher«, entgegnet sie und schaut immer noch zu Boden, »bis ich erreicht habe, was ich will.«
Aus ihren Worten spricht eine Entschlußkraft, die mir meinen Mut zurückgibt. »Gut!« sage ich, »gut, daß du weiterlernen und dich auf einen Beruf vorbereiten willst! Aber wie gedenkst du deinen Lebensunterhalt zu sichern?«
Mit ebensoviel Zuversicht wie Trotz entgegnet sie: »Ich treffe jetzt auf Schritt und Tritt jemanden, der mir eine Arbeitsstelle anbietet.«
Sanft versuche ich sie zu überreden: »Und das Dorf… Willst du nicht dahin zurückkehren?«
»Nein! Sie denken dort schlecht von mir!«
Fast bittend frage ich: »Und Machmud Abul-Abbas? Er hat sicher seine Fehler. Aber du bist doch stark, kannst ihn dir zurechtbiegen und zum Besseren führen!«
»Er denkt genauso schlecht von mir wie meine Angehörigen!«
Ich seufze traurig und ergeben: »Ich möchte mich nur ruhig fühlen können deinetwegen, Zuchra. Ich mag dich, und ich glaube, das beruht auf Gegenseitigkeit. Und im Namen Gottes bitte ich dich, daß du zu mir kommst, wenn du in irgendwelchen Schwierigkeiten bist!«
Da sie mich dankbar und liebevoll ansieht, fahre ich fort: »So bitter auch die Erfahrung war, die du gerade hinter dir hast, sie ändert nichts an der Natur der Dinge. Dein Ziel wird es immer noch bleiben, einen anständigen jungen Mann zu finden, den du heiraten kannst.«
Sie senkt den Kopf und seufzt.
»Du wirst den jungen Mann, der deiner würdig ist, mit Sicherheit treffen. Es gibt ihn irgendwo, und vielleicht hält er schon nach dem geeigneten Moment Ausschau!«
Sie sagt leise etwas vor sich hin, was ich nicht verstehe, aber mein Herz versichert mir, daß es gute Worte sind.
»Die Welt ist immer noch schön«, fahre ich fort, »und sie wird es bleiben!«
Wir sitzen noch eine Weile beieinander, einmal schweigend, dann wieder miteinander redend. Aber nach geraumer Zeit entschuldigt sie sich und geht in ihr Zimmer.
Ich bleibe lange Zeit allein, bis ich — ich bin eingeschlafen, ohne es zu merken — vom Geräusch der aufgehenden Tür aufwache.
Mariana und Tolba Marzuq kommen angetrunken und singend herein.
Der Mann ruft mir zu: »Was, Sie sitzen immer noch hier, Alter?«
Ich gähne überrascht und frage, wie spät es ist.
Mariana antwortet mit alkoholschwerer Zunge: »Es ist zwei Stunden nach Mitternacht!«
Da küßt der Mann sie und will sie in sein Zimmer schieben. Sie fügt sich ihm nach kaum nennenswertem Widerstand. Dann schließt sich die Tür hinter ihnen. Ich schaue ihnen nach und habe das Gefühl zu träumen.
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Wir sitzen am Frühstückstisch allein zusammen. Mariana ist noch nicht erschienen, während Zuchra gegangen ist, nachdem sie den Tisch gedeckt hat.
Ich sehe ihn an und finde, daß er mitgenommen, ja krank aussieht.
Scherzend rufe ich ihm zu: »Einen gesegneten Hochzeitsmorgen!«
Zunächst ignoriert er mich, dann murmelt er: »Sie müssen es gewesen sein, der mich verhext hat!«
Als ich ihn neugierig anschaue, muß er lachen und bekennt: »Es war ein Fiasko, blamabel und lächerlich gleichermaßen!«
»Wovon reden Sie?« frage ich, mich dumm stellend.
»Sie wissen genau, wovon ich rede, Sie Schlaumeier!«
»Von Mariana?«
Noch einmal muß er lachen, dann berichtet er: »Wir versuchten das Unmögliche, taten alles, was man sich nur vorstellen kann, aber ohne Erfolg. Als sie sich ausgezogen hatte, sah sie aus wie eine zerschmelzende Figur aus einem Wachsfigurenkabinett. Und ich war entsetzt.«
»Sie sind verrückt!«
»Dann bekam sie eine Nierenkolik. Stellen Sie sich das vor! Sie fing an zu weinen und beschuldigte mich, ich sei herzlos zu ihr.«
Nach dem Frühstück kommt er mit mir auf mein Zimmer, setzt sich auf einen Stuhl unmittelbar vor mich hin und erklärt: »Mir schwebt vor, demnächst nach Kuwait zu fliegen. Der Verstorbene erteilte mir ein Fetwa[67] darüber!«
»Der Verstorbene?«
»Sarhan al-Buheri!« Er lacht kurz auf und sagt dann ohne den geringsten äußeren Bezug zum Vorhergehenden: »Er wollte mich mit einer seltsamen Logik von der Revolution überzeugen!«
Da ich ihn fragend anschaue, fährt er fort: »Er versicherte mir, es gebe keinen Ersatz für die Revolution als entweder die Kommunisten oder die Muslimbrüder! Und glaubte, mich damit in die Enge getrieben zu haben.«
»Aber das ist vollkommen richtig«, bekräftige ich überzeugt.
Er lacht spöttisch und meint: »Nein, es gibt noch eine dritte Lösung!«
»Und die wäre?«
»Amerika!«
Zornig protestiere ich: »Amerika soll uns regieren!«
»Warum nicht?« entgegnet er mit verträumter Ruhe. »Über die liberale Rechte!«
Verärgert über seine Utopien, fordere ich ihn auf: »Gehen Sie lieber nach Kuwait, bevor Sie den Verstand verlieren!«
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Die Zeitungen liefern uns jetzt Nachrichten über das Verbrechen. Seltsame und widersprüchliche Nachrichten. Mansur Bahi hat zwar den Mord gestanden, aber er hat niemanden von seinem Motiv überzeugen können. Er hat gesagt, er habe Sarhan al-Buheri getötet, weil der — seiner Meinung nach — es verdiente, getötet zu werden. Und warum er es verdiente? Aufgrund niederträchtiger Eigenschaften und Verhaltensweisen, die jedoch nicht auf ihn beschränkt seien. Und warum er gerade ihn ausgewählt habe? Rein zufällig. Er hätte auch genausogut jemanden anders wählen können. So gab er zur Antwort. Wer hat sich davon schon überzeugen lassen! Hat der junge Mann den Verstand verloren? Oder gibt er vor, den Verstand verloren zu haben?
Der gerichtsmedizinische Bericht hat festgestellt, daß der Tod durch das Offnen der Schlagader des linken Arms mit einem Rasiermesser eingetreten sei, nicht durch Fußtritte, wie der vorgebliche Mörder gestanden hat. So ist es wahrscheinlich, daß der Tod durch Selbstmord erfolgt ist, nicht durch einen Mord.
Schließlich wird auch die Beziehung des Toten zu einem großangelegten Versuch, Garn zu schmuggeln, aufgedeckt. Das bestätigt den Selbstmordverdacht.
Wir fragen uns, welche Strafe Mansur Bahi wohl verdient. Ja, es kann wirklich nur eine leichte Strafe sein. Er wird sein Leben weiterleben können. Aber wie muß ihm ums Herz sein? Was wird er denken?
Traurig sage ich: »Er ist ein hervorragender junger Mann. Aber er leidet an einer uns unbekannten Krankheit. Er muß sich von ihr kurieren lassen!«
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Da steht Zuchra vor mir, wie ich sie bei der ersten Begegnung gesehen habe, aber viel trauriger. Die letzten Tage haben mehr zu ihrer Reifung beigetragen als all die Jahre vorher. Ich nehme ihr die Tasse aus der Hand und verberge meine Beklommenheit hinter einem Lächeln.
»Ich gehe morgen früh«, sagt sie, als sei das ganz natürlich.
Ich hatte versucht, Mariana dazu zu bewegen, ihre Meinung zu ändern, aber sie blieb hartnäckig. Andererseits hatte mir Zuchra gesagt, daß sie selbst dann nicht geblieben wäre, wenn Madame ihre Ansicht geändert hätte.
Wieder bekräftigt sie zuversichtlich: »Ich werde es besser haben, als ich es hier hatte!«
»Gott sei Dank!« entgegne ich herzlich.
Sie lächelt sanft und verspricht mir: »Ich werde Sie nie vergessen!«
Ich bedeute ihr, sie möge näher zu mir kommen, küsse sie dankbar auf die Wange und sage: »Ich danke dir, Zuchra!«
Dann flüstere ich ihr zu: »Du kannst sicher sein, daß deine Zeit hier nicht verloren war. Denn wer erkennt, wer nicht für ihn taugt, weiß wie durch ein Wunder, was für ihn richtig und wünschenswert ist!«
Wie immer, wenn ich erregt bin, flüchte ich mich zur Sure »Der Allerbarmer« und lese:
Der Allerbarmer lehrte dich
Den Koran zum Vortrage.
Den Menschen erschuf er
Und lehrte ihn die klare Sprache.
Sonne und Mond hieß er halten die Bahn.
Sterne und Bäume beten ihn an.
Er hob den Himmel und setzt ein die Waage,
Daß Ihr recht haltet das Gewicht
und nicht verkürzt die Waage!
Die Erde setzt er um des Menschen willen,
Fruchtbäume drauf und Palmen mit Fruchthüllen
Und Korn auf Halmen und duftende Basilien.
Ihr Menschen und Ihr Genien!
Welche Gnade Eures Herrn wollt Ihr verkennen?[68]