So hat man mich also zur Haft in Alexandria verurteilt, und den Rest meines Lebens kann ich damit verbringen, mir dafür Ausreden einfallen zu lassen!«
Das sagte ich meinem Bruder zum Abschied. Dann begab ich mich geradewegs zur Pension Miramar. Durch das Guckloch in der Tür schaute mich das Gesicht einer alten Frau an, das trotz des Alters und des Berufs der Dame ausgesprochen hübsch wirkte.
»Madame Mariana?« fragte ich. Als sie bejahte, stellte ich mich vor: »Mansur Bahi.«
Bereitwillig öffnete sie mir die Tür und begrüßte mich: »Herzlich willkommen! Ihr Bruder hat mir schon am Telefon von Ihnen erzählt. Fühlen Sie sich hier wie zu Hause!«
Ich wartete an der Tür, bis der Träger meine beiden Koffer brachte. Dann forderte sie mich auf, Platz zu nehmen, und setzte sich selbst auf das Kanapee unter ein Jungfrauenbild.
»Ihr Bruder ist hoher Polizeioffizier. Er hat bei mir gewohnt, bevor er heiratete, hat sein ganzes Leben in Alexandria verbracht, und nun geht er urplötzlich nach Kairo!«
Wir schauten uns gegenseitig mit viel Sympathie an. Sie prüfte mich eingehend, dann fragte sie mich: »Sie haben mit ihm zusammengelebt?«
»Ja!«
»Was sind Sie? Student? Beamter?«
»Ich bin Rundfunksprecher bei Radio Alexandria.«
»Aber Sie stammen eigentlich aus Kairo?«
»Ja!«
»Fühlen Sie sich hier wie zu Hause, und reden Sie mir bloß nicht von Miete!«
Ich lachte abwehrend, hatte aber doch das Gefühl, daß sie tatsächlich bereit war, mich kostenlos bei sich aufzunehmen, wenn ich das gewollt hätte.
Na schön! Jeder hängt in diesem völlig korrumpierten Land sein Mäntelchen nach dem Wind! Aber wahrscheinlich tue ich ja selbst auch nichts anderes!
»Und wie lange werden Sie bei uns wohnen?«
»Das ist unbestimmt.«
»Wir werden uns auf eine angemessene Miete einigen, und ich verspreche Ihnen, sie im Sommer nicht heraufzusetzen.«
»Danke schön, aber mein Bruder hat mich instruiert, was ich zu tun habe. So will ich im Sommer durchaus soviel zahlen wie die Sommergäste.«
»Sind Sie Junggeselle?« lenkte sie geschickt zu einem anderen Thema über.
»Ja!«
»Und wann gedenken Sie zu heiraten?«
»Jedenfalls nicht jetzt!«
Sie lachte laut und setzte dann die Befragung fort: »Und was gedenken Sie dann zu tun?«
Innerlich unbeteiligt, stimmte ich in ihr Lachen ein. Es läutete. Sie stand auf, öffnete die Tür und ließ ein junges Mädchen herein, das einen großen Beutel mit Gemüse und anderen Lebensmitteln trug. Das Mädchen verschwand im Inneren der Wohnung, und ich sah auf einen Blick, daß sie das Hausmädchen sein mußte und außerdem sehr hübsch war. Als Madame sie anredete, hörte ich zudem, daß sie Zuchra hieß. Vom Alter und ihrer Erscheinung her hätte sie durchaus eine Studentin sein können.
Madame führte mich zu einem der beiden Zimmer, die auf das Meer hinaussehen, und erklärte: »Diese Seite vermiete ich normalerweise im Winter eigentlich nicht, aber das ist jetzt das einzige Zimmer, das noch frei ist.«
»Ich mag den Winter durchaus«, meinte ich unbekümmert.
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Ich stand allein auf dem Balkon. Das Meer erstreckte sich unter mir bis ins Endlose. Es dehnte sich blau, rein, wunderbar. Ruhige Wellen trieben ihr Spiel mit den glitzernden Sonnenperlen. Ein leichter Wind umhauchte mich mit belebender Zärtlichkeit. Vereinzelte Wölkchen trieben über den Himmel. Ich spürte Traurigkeit in mir aufkommen, aber dann vernahm ich eine leise Bewegung im Zimmer, drehte mich neugierig um und sah Zuchra, die das Bett mit Laken und Kissen zurechtmachte. Sie arbeitete sorgfältig und ohne zu mir hinzuschauen. So hatte ich Muße, sie zu betrachten, und ihre bezaubernde ländliche Schönheit sprang mir noch deutlicher in die Augen.
»Ich danke dir, Zuchra«, sagte ich aus dem Wunsch heraus, mich auf guten Fuß mit ihr zu stellen.
Sie lächelte mich so an, daß es mich freute. Ich bat sie um eine Tasse Kaffee, und sie brachte sie mir wenige Minuten später.
»Warte bitte, bis ich fertig bin!« bat ich sie. Ich stellte die Untertasse auf die Balkonbrüstung und schlürfte langsam meinen Kaffee aus. Sie kam näher, stand schließlich auf der Schwelle und schaute auf das Meer.
»Magst du die Natur?« fragte ich sie.
Sie gab keine Antwort, doch sie hatte meine Frage offensichtlich auch gar nicht verstanden. Was ihr wohl durch den Kopf ging? Aber zweifellos würde sie in ihrer Erdverbundenheit auf die ersten Regungen der verführerischen Natur im Frühling warten.
»In meinem großen Koffer sind Bücher«, sagte ich, »und für sie steht kein Schrank im Zimmer.«
Sie musterte die Möbelstücke und empfahl dann einfach: »Lassen Sie sie am besten im Koffer!«
Ich lächelte und fragte sie: »Arbeitest du schon lange hier?«
»Nein!«
»Und die Umgebung, ist sie dazu angetan, daß du dich hier wohl fühlst?«
»Ja.«
»Belästigen dich denn die Männer nicht, die hier wohnen und ständig aus und ein gehen?«
Sie zuckte die Achseln und sagte weder ja noch nein. So fuhr ich fort: »Manchmal sind sie schrecklich, nicht?«
Sie griff nach der Tasse und sagte schon im Hinausgehen: »Ich habe keine Angst!«
Ich wunderte mich über ihr Selbstvertrauen, und plötzlich überkam mich ein Gefühl der Traurigkeit. Wie üblich grübelte ich darüber nach, was war und was eigentlich hätte sein sollen.
Wieder einmal bedrohte mich meine Depressivität.
Ich inspizierte die Möbel und beschloß dann, ein kleines Regal für meine Bücher zu kaufen. Zum Schreiben reichte der runde Tisch, der zwischen dem Kleiderschrank und der Chaiselongue stand.
~~~~~~~~~~~~~
Ich hielt mich einige Stunden im Rundfunkgebäude auf, um das Wochenprogramm aufzuzeichnen. Das Mittagessen nahm ich im Pedro in der Safejja-Zaghlul-Straße ein. Danach setzte ich mich ins Ala Kefak[59] am zentralen Ramlah-Platz, um eine Tasse Kaffee zu trinken, und hatte meine Freude daran, den von Wolken überschatteten Platz zu beobachten. Die meisten Leute trugen ihre Regenmäntel über dem Arm. Plötzlich schlug mein Herz schneller: Jener Mann dort! Das war doch Fauzi! Ich beugte mich so weit vor, daß meine Stirn fast das Fenster berührte, um ganz sicherzugehen, daß er es wirklich war. Nein, das war nicht Fauzi, das war ganz bestimmt nicht Fauzi, aber er hatte sehr viel Ähnlichkeit mit ihm. Und da war — assoziativ, wie man das wohl nennt — mir auch Durrejja plötzlich wieder gegenwärtig, auch wenn sie durch kein anderes als ihr eigenes, ewig gültiges Gesetz mir ohnehin ständig vor Augen stand.
Wenn es nun wirklich Fauzi gewesen wäre? Wenn sich unsere Blicke getroffen hätten, was wäre dann wohl passiert? Wenn man einen alten Freund trifft, muß man ihn jedenfalls in die Arme schließen. Zudem war er fast so etwas wie dein Lehrer, so hätte es auf alle Fälle eine herzliche Umarmung sein müssen, auch wenn dir das Herz dabei geblutet hätte. Du hättest ihn zu einer Tasse Kaffee einladen müssen, das verlangt die Gastfreundschaft.
»Sei mir herzlich willkommen! Was führt dich denn zu dieser Jahreszeit nach Alexandria?«
»Ich will meine Familie besuchen.«
Das hieß, daß er in Wirklichkeit in irgendeiner Parteiaktivität hier war, die er vor mir geheimhalten wollte, wie das seine unbedingte Pflicht war.
Aber natürlich wünschte ich ihm einen guten Aufenthalt.
»Wir haben dich seit zwei Jahren nicht mehr zu sehen bekommen, genauer seitdem du dein Universitätsexamen gemacht hast.«
»Ja. Man hat mich bei Radio Alexandria eingesetzt, wie du vielleicht weißt.«
»Das heißt, du hast uns jetzt ganz verlassen?«
»Ich hatte Schwierigkeiten… Ich meine, auf mich kamen zufällig ein paar Schwierigkeiten zu.«
»Es ist sicher klug, wenn ein Mensch eine Tätigkeit aufgibt, die ihm nicht liegt.«
Mich überkam blinder Stolz, so bekräftigte ich: »Und er sollte auch nicht bei einer Tätigkeit bleiben, an die er nicht mehr glaubt.«
Er besann sich wie üblich, um seine Worte richtig zu wägen, und brachte dann vor: »Man sagt, dein Bruder…«
»Ich bin nicht mehr minderjährig«, wies ich ihn zurecht.
»Habe ich dich verärgert?« lachte er. »Entschuldige!«
Meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Durrejja… Leichter Regen tröpfelte, und ich wünschte mir einen heftigen Schauer, der die Menschen vom Platz gefegt hätte. Meine Liebe! Glaub es nicht! Ein kluger Mann hat früher einmal gesagt, daß wir manchmal lügen müssen, um andere von unserer Aufrichtigkeit zu überzeugen.
Wieder schaute ich meinen Freund an, der mir so viel Furcht einflößte.
»Kümmerst du dich denn um gar nichts mehr?« fragte er mich jetzt.
Ich mußte lachen oder besser, hätte beinah laut aufgelacht: »Solange ich lebe, muß ich mich schließlich um bestimmte Dinge kümmern«, entgegnete ich.
»Und worum zum Beispiel?«
»Ja, siehst du denn gar nicht, daß ich mich rasiert habe und einen Schlips trage?«
Ernst fragte er: »Und worum noch?«
»Hast du schon den neuen Film im Metro gesehen?«
»Das ist eine gute Idee! Sehen wir uns also einen kapitalistischen Film an!«
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Madame Mariana stattete mir in meinem Zimmer einen Höflichkeitsbesuch ab. »Fehlt Ihnen etwas? Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen? Sagen Sie es offen! Ihr Bruder hat das immer getan, und er war ein kluger Mann. Außerdem war er groß und stark, ein richtiger Riese. Sie sind zart und so ebenmäßig gebaut, aber auch Sie sind stark. Betrachten Sie die Pension Miramar als Ihr Haus und mich als Ihre mütterliche Freundin, als Ihre Freundin im vollsten Sinne des Wortes!«
Natürlich war sie nicht wegen dieser Höflichkeitsfloskeln und Schmeicheleien gekommen, oder vielmehr, sie waren für sie nur Mittel zum Zweck. Sie war zu mir gekommen, um in einem Gespräch Anerkennung und Selbstbestätigung zu finden. So erzählte sie mir aus freien Stücken die Geschichte ihres Lebens. Erzählte, wie sorglos und verwöhnt sie aufgewachsen war, erzählte von ihrer ersten Liebe und Ehe mit einem britischen Captain, ihrer zweiten Ehe mit dem Kaviar-König vom Ibrahimijja-Palais. Dann von der Zeit des sozialen Abstiegs, aber wieso eigentlich sozialer Abstieg? Schließlich war dies in den Tagen des Zweiten Weltkriegs eine Pension für feine Herren, für Paschas und Beys gewesen.
Sie forderte mich auf, ich solle ihr ebenfalls die Geheimnisse meines Lebens anvertrauen, und überhäufte mich mit Fragen. Eine fremde Frau, unterhaltsam, anstrengend, eine verblühende Frau. Ich hatte sie nie als die Königin der Salons erlebt, die sie gewesen war, aber ich konnte sie mir in dieser Rolle vorstellen, sah sie in der Gesellschaft strahlender Schönheiten und harter Tyrannen. Leider lernte ich sie jetzt erst kennen, lernte sie kennen als ein Wrack, das sich verzweifelt bemühte, an der Oberfläche zu bleiben.
Am Frühstückstisch machte ich die Bekanntschaft der übrigen Gäste. Es war eine sonderbare Familie, deren Mitglieder sich gegenseitig abstießen. Aber ich brauchte Unterhaltung. So überwand ich den Drang, mich in mein Zimmer zurückzuziehen. Vielleicht würde ich ja auf einen späteren Freund, einen künftigen Gefährten treffen? Warum eigentlich nicht? Amir Wagdi und Tolba Marzuq konnte ich allerdings getrost übergehen, die gehörten zu einer Generation, die abgetreten war. Aber was war mit Sarhan al-Buheri und Husni Allam? Sarhans Augen strahlten natürliche Anziehungskraft aus, und er war, wie mir schien, freundlich trotz seiner unangenehmen Stimme. Doch was mochte er für Interessen haben? Und der andere? Husni Allam? Der ging mir auf die Nerven, jedenfalls im ersten Moment. Sein Schweigen und seine Zurückhaltung wirkten arrogant. Sein kräftiger Körperbau, sein hocherhobener, großer Kopf und die Art, wie ein Herrscher von Gottes Gnaden auf seinem Stuhl zu thronen, ärgerten mich. Ja, ein Herrscher, aber ohne Reich und ohne allen Besitz. Vielleicht ließ er sich auch erst herbei, sich mit jemandem zu unterhalten, wenn er festgestellt hatte, daß der andere noch unbedeutender war als er selbst. Zum Trost sagte ich mir: Wer seine Mönchszelle verläßt, muß sich darauf einstellen, mit gemeinen Kerlen zusammenzuleben. Wie gewöhnlich überkam mich der Wunsch, mich von den Fremden auf mich selbst zurückzuziehen. Aber was sie dann sagen, was sie denken würden?
Früher einmal hatte ich auf diese Weise die Chance meines Lebens verpaßt.
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Ich war erstaunt, als ich Sarhan al-Buheri in mein Büro im Rundfunkgebäude kommen sah. Er strahlte, als wären wir alte Freunde. Dann schüttelte er mir herzlich die Hand und erklärte: »Ich bin hier ganz zufällig vorbeigegangen, und da habe ich mir gesagt, ich will doch einmal guten Tag sagen und ein Täßchen Kaffee mit ihm trinken.«
Ich hieß ihn willkommen und ließ Kaffee bringen. Er sagte: »Eines Tages werde ich Sie in Anspruch nehmen, um mich in die Geheimnisse des Rundfunks einweihen zu lassen.«
Mit tausend Freuden, Mann, der du mit anderen Männern auf altehrwürdigen Bänken vor dörflichen Häusern geplaudert hast, was mir nie vergönnt gewesen ist!
Kurz, er berichtete mir von seiner Arbeit in der Spinnerei-Gesellschaft von Alexandria, seiner Mitgliedschaft im Verwaltungsrat und in der Grundeinheit der Arabischen Sozialistischen Union.
»Was für lobenswerte Aktivitäten«, schmeichelte ich ihm, »durchaus ein Vorbild für alle Indifferenten!«
Er blickte mich prüfend an. »Das ist eben unsere Art, sich am Aufbau einer neuen Welt zu beteiligen.«
»Haben Sie eigentlich schon vor der Revolution an den Sozialismus geglaubt?«
»Tatsache ist, daß mein Glaube an ihn mit ihr erwuchs.«
Es hätte mich gereizt, mit ihm über seinen Glauben zu debattieren, aber ich hielt mich zurück.
Das Gespräch kam auf die Pension. Er sagte: »Das ist schon eine kuriose Familie, von der man nicht genug bekommen kann!«
»Und Husni Allam?« fragte ich zögernd.
»Auch er ist ein kluger junger Mann.«
»Er wirkt wie eine Sphinx.«
»Das ist nur äußerlich, aber eigentlich ist er charmant, und außerdem hat er eine eingefleischte Vorliebe fürs Randalieren.« Wir mußten alle beide lachen. Ihm war nicht bewußt, daß er mich mehr mit sich selbst als mit dem anderen vertraut machte.
Warnend fuhr er fort: »Er stammt aus einer angesehenen Familie, ist beschäftigungslos, und man kann sicher sagen, daß er auch keinerlei Abschlußzeugnisse für irgendeine Ausbildung besitzt. Verlieren Sie das nicht aus den Augen!«
»Er besitzt hundert Feddan Land«, sprach er in seinem vorsichtigen und allwissenden Tonfall weiter. »So stand er in vorderster Front. Und er hat keinen akademischen Abschluß. Den Rest können Sie sich denken!«
»Warum hält er sich eigentlich in Alexandria auf?«
»Er ist ein kluger Bursche und sucht nach einem einträglichen kommerziellen Projekt.«
»Erst einmal muß er seine arrogante Miene ablegen, sonst laufen ihm die potentiellen Kunden davon.« Dann kam es mir plötzlich in den Sinn, ihn danach zu fragen, warum er eigentlich in die Pension gezogen war, obwohl er Alexandria schon lange kannte.
Er gab nach kurzem Nachdenken zur Antwort: »Ich ziehe eine Pension voller Menschen einer Wohnung in der Stadt für mich allein vor.«
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Die Nacht mit den Liedern von Umm Kulthum. Eine Nacht voller Wein und Fröhlichkeit. In ihr fielen die Schleier von den verborgensten Winkeln unserer Seelen.
Sarhan al-Buheri kam das Verdienst zu, sich am intensivsten von uns allen für den Abend eingesetzt zu haben, aber er beteiligte sich wohl auch am wenigsten an den Unkosten.
Ich warf Tolba Marzuq verstohlene Blicke zu, die niemand hätte deuten können. Ja, ich war von sehr persönlichen Erinnerungen aufgewühlt, Erinnerungen an blutige Träume, an Szenen von Klassenkämpfen, an Bücher und Versammlungen. Ein ganzes festgefügtes Gedankengebäude stand mir vor Augen. Die Aufgedunsenheit und der Verfall dieses Mannes erschreckten mich, die Bewegungen seiner Bäckchen, wie er da so ergeben in seinem Sessel kauerte. Wie er sich der Revolution andiente, ohne an sie zu glauben. Als hätte er nie zu einer Familie gehört, die ihre Paläste aus Blut und Tränen anderer Menschen errichtet hatte. Jetzt war die Reihe an ihm zu heucheln, nachdem das Zerbröckeln seines früheren Ruhms eine ganze Nation von Heuchlern hervorgebracht hatte. Husni war nur ein Flügel dieses Adlers, den seine Kräfte verlassen hatten. Aber es war ein Flügel, der immer noch flattern, gelegentlich sogar fliegen konnte.
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»Ich sage, daß diese sozialen Antagonismen ganz beseitigt worden sind!«
»Nein, sie haben neue Antagonismen nach sich gezogen, und die Zukunft wird Ihnen bestätigen…«
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Sarhan al-Buheri inspirierte uns alle mit seiner lebhaften, nicht nachlassenden Fröhlichkeit. Und er war gutherzig. Und aufrichtig. Warum auch nicht? Zweifellos war er ehrgeizig. Er war die personifizierte Revolution. Rasch wurde mir klar, daß Amir Wagdi der bezauberndste und von allen der würdigste war, geliebt und verehrt zu werden. Ich war mir der Tatsache bewußt, daß es jener Amir Wagdi war, von dem ich zahlreiche Artikel durchgesehen hatte, als ich meine Sendung »Generationen der Revolution« vorbereitete. Seine wohldurchdachten, wenn auch widersprüchlichen Gedanken nahmen mich gefangen. Sein Stil, zu Beginn gereimte Prosa, später relativ schlicht, aber doch von großer Schönheit und Eleganz, faszinierte mich. Seine Freude, daß ich seine Artikel kannte, machte mir deutlich, wie sehr er unter dem allgemeinen Niedergang, dem Vergessenwordensein und der Teilnahmslosigkeit litt. Diese Erfahrung war mir sehr schmerzlich. Er griff nach dem Strohhalm, den ich ihm hingeworfen hatte, und erzählte mir die Geschichte seines langen Lebens, von seinem ständigen Bemühen um die Revolution, von den gegenläufigen Tendenzen, die ihn gebeutelt hatten, von den Helden, an die er einst geglaubt hatte.
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»Und Saad Zaghlul? Die Generation vor uns hat ihn schließlich abgöttisch verehrt!«
»Was für einen Sinn hatten diese alten Heldenmythen! Der Mann hat doch die Revolution bereits in der Wiege erwürgt!«
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Aber warum schaute mich Tolba Marzuq so vorsichtig verstohlen an? Ich konnte seine gleichzeitig argwöhnischen und widerwilligen Blicke im Spiegel der Flurgarderobe beobachten. Doch was machte das schon! Ein Mann wie er konnte auch seine eigenen Phantasievorstellungen fürchten! Ich schenkte ihm ein, und als er sich bei mir bedankte, fragte ich ihn nach seiner Meinung über die nun schon historisch gewordenen Ansichten Amir Wagdis.
Als wolle er sich entschuldigen, gab er zur Antwort: »Was vergangen ist, wollen wir ruhen lassen! Hören wir doch lieber Umm Kulthum zu!«
Ich bewunderte Zuchra, die uns zu bedienen hatte, die aber nur selten einmal über unsere Spaße lächelte. Sie saß neben dem Wandschirm, um uns aus der Ferne mit ihren schönen, rätselhaften Augen beobachten zu können.
Husni Allam fragte sie, als sie etwas vor ihn hinstellte: »Und du, Zuchra, liebst du die Revolution?«
Sie trat scheu hinter den Kreis der Lärmenden und Streitenden zurück, doch Madame gab an ihrer Statt eine befriedigende Antwort. Es schien so, als wolle er sie mit seiner Frage aus ihrer Ruhe reißen und zur Beteiligung an unserem Gespräch auffordern. Doch ich beobachtete an ihm eine Beklommenheit, die er zu verbergen trachtete. So sagte ich: »Sie liebt sie doch schon instinktiv!«
Aber er hörte mich nicht, oder — dieser gemeine Hund — er wollte mich bewußt ignorieren. Bevor unser Abend zu Ende ging, verschwand er. Zuchra wußte zu berichten, er habe die Pension verlassen. Ich bewunderte Amir Wagdi, der immer noch und bis zum Morgengrauen zuhörte und sich freute. Als wir anderen aufstanden, um uns schlafen zu legen, fragte ich ihn: »Haben Sie zu Ihrer Zeit jemals eine Stimme wie diese gehört?«
Lächelnd entgegnete er: »Sie ist wirklich das einzige, für das die Vergangenheit nichts Ebenbürtiges zu bieten hat!«
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Ich bat sie, sich zu setzen, doch sie blieb stehen, lehnte sich an den Kleiderschrank. Mit mir schaute sie durch das geschlossene Balkonfenster zum wolkenbedeckten Horizont. Sie wartete darauf, daß ich meinen Tee austrank. Ich bot ihr stets ein Stückchen Sandkuchen an, von dem ich immer etwas da hatte, und sie nahm es an als Unterpfand für eine wachsende Freundschaft. Ihr reines Herz spürte meine Sympathie, meine Verehrung und Bewunderung, und dies machte mich glücklich.
Draußen fiel Nieselregen. Seine Tropfen liefen an der Scheibe hinunter, und das Bild der Welt dahinter wurde immer verschwommener.
Ich fragte sie nach dem Dorf, in dem sie gelebt hatte, und sie antwortete mir. Doch sie erzählte mir nicht, warum sie von zu Hause weggelaufen war.
»Wenn du zu Hause geblieben wärst, hättest du längst einen anständigen Bräutigam!« sagte ich.
Da bekam ich eine schlimme Geschichte vom Großvater und einem uralten Ehemann zu hören, den er ihr ausgesucht hatte. »Deswegen bin ich geflohen«, schloß sie.
Ich war beunruhigt und meinte: »Aber du bist auch hier nicht sicher vor bösen Zungen!«
»Das ist immer noch besser als das, wovor ich geflohen bin!« gab sie geringschätzig zur Antwort.
Ich bewunderte, ja verehrte sie nun noch mehr, aber die Tatsache, daß sie so allein dastand, stimmte mich traurig. Sie jedoch war von einem unerschütterlichen Selbstvertrauen. Der Regen hatte die Fenster in Undurchsichtigkeit getaucht. Die Welt draußen war verschwunden oder jedenfalls kaum noch wahrnehmbar.
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Saust da eine Bombe vorbei, eine Rakete? Eine Horrorvision? Nein, es ist ein Auto! Dieser Idiot! Verdammt noch mal, es ist Husni Allam! Was in aller Welt veranlaßt ihn zu fliegen? Das weiß wohl nur er selber! Nein, neben ihm sitzt ein Mädchen, sieht aus wie Sonja. Ist es vielleicht Sonja? Sonja oder irgendeine andere! Zum Teufel mit ihm!
Kaum saß ich in meinem Büro, da kam mein Kollege zu mir und sagte: »Deine Freunde sind gestern festgenommen worden!«
Einen Augenblick war mir, als verlöre ich das Bewußtsein. Ich scheute mich, auch nur ein einziges Wort dazu zu sagen.
Er fuhr fort: »Der Grund ist, wie man sagt…«
»Das ist doch ganz und gar unwichtig!«
»Man munkelt auch…«
»Ich habe gesagt, daß das unwichtig ist!«
Er stützte sich mit beiden ausgestreckten Armen auf meinen Schreibtisch und meinte: »Dein Bruder war klug!«
Stolz bekräftigte ich: »Ja, mein Bruder ist klug!« Ich sagte mir: Jetzt hat Husni Allam sicher das Ende der Welt erreicht, und Sonja zittert vor Furcht und Wonne.
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»Genug geredet! Ich werde dich gewaltsam aus diesem Nest reißen!«
»Aber ich bin kein Kind mehr!«
»Bist du nicht daran schuld, daß deine Mutter so früh starb?«
»Wir waren uns doch einig, die Vergangenheit ruhen zu lassen!«
»Für mich ist sie immer noch gegenwärtig. Du wirst jetzt mit mir nach Alexandria kommen, und wenn ich dich mit Gewalt hinschleppen muß!«
»Behandle mich doch endlich wie einen Mann!«
»Du bist wirklich naiv. Ja, denkst du denn, wir merken nichts? Wir wissen alles, was hier im Land geschieht!« Er schaute mich streng und prüfend an und sagte dann: »Du bist ein dummer grüner Junge! Wofür hältst du sie denn eigentlich? Für Helden vielleicht? Ich kenne sie besser als du. Du wirst jetzt mit mir kommen, ob du willst oder nicht!«
Mir wurde die Tür geöffnet. Ich hatte Herzklopfen, eine trockene Kehle und war ziemlich durcheinander. Ihr Gesicht erschien mir im stockdunklen Korridor bleich und kränklich. Sie musterte mich mit starrem Blick. Zuerst erkannte sie mich nicht. Dann öffneten sich ihre Augen vor Überraschung und Erstaunen weit, und sie flüsterte: »Ustas Mansur!«
Sie machte mir Platz, ich trat ein und fragte sie: »Wie geht es dir, Durrejja?«
Sie führte mich in den Salon, dessen Düsterkeit und Schwermut durch ihr eigenes trauriges Aussehen noch verstärkt wurden. Wir setzten uns auf zwei Sessel nebeneinander. Von der gegenüberliegenden Wand schaute uns sein Foto aus einem schwarzen Rahmen an. Er richtete die Kamera auf uns, als ob er ein Foto von uns schießen wolle. Wir blickten uns schweigend und traurig an.
»Wann bist du in Kairo angekommen?« fragte sie dann.
»Ich bin vom Bahnhof aus geradewegs zu dir gegangen.«
»Dann hast du erfahren…«
»Ja, in meinem Büro, und dann habe ich sofort den Vierzehn-Uhr-Zug genommen.«
Ich schaute auf sein Foto und spürte den Duft des Tabaks, den er gewöhnlich rauchte, immer noch in der Luft hängen. »Hat man sie alle festgenommen?« fragte ich.
»Ich glaube, ja.«
»Und wohin hat man sie gebracht?«
»Das weiß ich nicht.«
Ihr Haar war unordentlich und zerzaust. Ihr bleicher Teint wirkte kränklich. Ihr Blick war matt und übernächtigt.
»Und du?«
»Du siehst ja…«
Sie stand jetzt allein da, ohne jedes Einkommen. Er war Assistenzprofessor an der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät gewesen, hatte aber keinerlei Ersparnisse. Es lag alles deutlich zutage, die Düsterkeit drohte die Atmosphäre zu ersticken.
»Durrejja, du bist eine alte Kommilitonin, und er ist mein Freund, mein bester Freund, trotz allem, was gewesen ist.«Ich nahm all meinen Mut zusammen und fuhr fort: »Ich bin Beamter und verdiene nicht schlecht, außerdem muß ich, wie du ja weißt, für niemanden sorgen.«
Sie schüttelte bedrückt den Kopf und murmelte: »Aber du weißt doch, daß ich nicht…«
»Ich denke schon, daß du die bescheidene Hilfe eines alten Freundes nicht zurückweisen wirst!« unterbrach ich sie heftig.
»Ich muß mir nur eine geeignete Stelle suchen.«
»Wenn das so leicht wäre. Es wird sicher eine ganze Weile dauern!«
Das Zimmer war noch immer von ihm geprägt, so, wie ich es früher kennengelernt hatte. Die Couch, die vollen Bücherregale, der Recorder, der Plattenspieler, TV-Gerät und Radio, Fotografien, Filme, Fotoalben, aber wo war das Foto, das uns gemeinsam in der Auberge de Fayyoum zeigte? Sicher hatte er es in einem Wutanfall weggeworfen. Unsere Blicke trafen sich und lösten sich vorsichtig wieder voneinander. Wir waren wohl von ähnlichen Gefühlen beherrscht und in gemeinsamen Erinnerungen befangen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmolzen zu einem Weg, dessen Richtung wir noch nicht kannten.
»Hast du bestimmte Pläne?« fragte ich sie.
»Bis jetzt konnte ich keinen klaren Gedanken fassen.«
»Hast du denn nicht daran gedacht, mir zu schreiben?« wollte ich nach kurzem Zögern wissen.
Sie verneinte nach einer kleinen Pause.
»Aber dir muß doch bewußt gewesen sein, daß ich noch da bin!«
Sie antwortete nicht, stand auf, verschwand für ein paar Minuten und brachte dann Tee. Wir zündeten uns eine Zigarette an. Da war er wieder, ein verlorener Duft aus früheren Zeiten. Aber was sein mußte, mußte sein. Ich sagte und spürte dabei plötzlich meine Qualen wiederkehren: »Ich glaube, du weißt von meinen vergeblichen Versuchen zurückzukehren?«
Da sie schwieg, fuhr ich fort: »Aber niemand ermutigte mich, um es so vorsichtig wie möglich zu sagen.« Sie bat: »Laß uns doch die Vergangenheit vergessen!«
»Nicht einmal Fauzi wollte noch etwas von mir wissen!«
»Bitte, laß die Vergangenheit endgültig vorbei sein!«
»Nein, Durrejja!«
»Ich weiß sehr wohl, was man mir nachgesagt hat«, stieß ich in wütendem Kummer hervor. »Man behauptete, ich wollte wiederkommen, um als Spitzel für meinen Bruder zu arbeiten.«
»Mir reichen jetzt meine eigenen Sorgen!« rief sie widerwillig und verärgert.
Ich fügte mich mit einem entschuldigenden Blick und sagte: »Durrejja, du kennst meine Gefühle sehr gut.«
»Ich danke dir!«
Verletzt rief ich: »Ich meine das Gefühl, daß ich jetzt eigentlich bei ihnen sein müßte.«
»Es hat doch keinen Sinn, daß du dich so quälst!« entgegnete sie traurig.
»Ich möchte… ich möchte wissen, was du denkst. Sag es ganz offen!«
Kurze Zeit herrschte drückendes Schweigen, dann erklärte sie leise: »Ich habe dich in meinem Haus empfangen, oder, wenn du so willst, in seinem Haus. Genügt dir das denn nicht?«
Sie seufzte hörbar, aber ich war immer noch nicht zufrieden, war mir vielmehr sicher, daß ich bald wieder die Höllenqualen fühlen würde, die ich vorher verspürt hatte. Doch das war nicht der Augenblick, um über Fehler zu rechten.
So versprach ich: »Ich werde dich von Zeit zu Zeit besuchen. Und du mußt mir über alles, was geschieht, schreiben!«
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Die Fahrt hatte mich angestrengt. So beschloß ich, in der Pension zu bleiben. Ich gesellte mich zu denen, die um das Radio herum saßen. Zu meinem Glück waren es ohnehin diejenigen, die ich in der Pension am liebsten mochte: Amir Wagdi, Madame und Zuchra. Ich war so in Gedanken vertieft, daß ich auf die Gespräche um mich herum nicht achtete. Aber plötzlich hörte ich, wie Madame zu mir sagte: »Sie sind immer irgendwo in Ihrer geistigen Welt, weit weg von uns.«
Amir Wagdi entgegnete ihr: »Das haben kluge Leute nun einmal so an sich« und schaute mich voller Sympathie an. Dann fragte er mich: »Haben Sie eigentlich die Absicht, aus Ihren Kulturprogrammen einmal ein Buch zusammenzustellen?« Sein umwölkter Blick ruhte immer noch auf mir.
Ohne die Wirklichkeit im Auge zu behalten, entgegnete ich: »Ich gedenke, eines Tages ein Programm über Täuschung und Betrug in Ägyptens Geschichte zu machen.«
»Täuschung und Betrug! Was für ein weites Feld!« Er lachte lange und fuhr dann fort: »Wenden Sie sich nur an mich! Ich werde Ihnen mit Quellenmaterial und mit meinen Erinnerungen zur Verfügung stehen.«
»Ich liebe dich, und du liebst mich. Laß mich doch mit ihm reden!«
»Du bist wohl verrückt!«
»Er ist schließlich klug und einsichtig. Er wird uns verstehen und verzeihen.«
»Aber er liebt mich und hält dich für seinen besten Freund. Begreif doch!«
»Er verabscheut Betrug. Ich kann ihn sehr gut verstehen.«
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»Ein Programm über Täuschung und Betrug«, sprach Amir Wagdi weiter, »was wird das wohl für ein Programm werden! Aber Sie müssen unbedingt hinterher ein Buch darüber machen, sonst werden Sie von den Leuten vergessen, so, wie es mir geschehen ist. Von denen, die ihre Gedanken nicht zu Papier gebracht haben, hat man nur Sokrates nicht vergessen.«
Madame lauschte einem griechischen Schlager, den sie sich gewünscht hatte, einem Lied von einem jungen Mädchen, das die vielen Vorzüge besang, die der Mann seiner Träume besitzen sollte. So oder ähnlich hatte Madame den Inhalt angegeben. Wie sie da mit hingebungsvoll geschlossenen Augen dem Schlager zuhörte, es war ein rührend eindrucksvoller Anblick. Sie wirkte wie die tragikomische Verkörperung der Lebensfreude.
Amir Wagdi fuhr fort: »Er lebte in seinem Schüler Plato weiter. Aber seltsam ist schon, daß er lieber Gift schluckte, als an die Möglichkeit einer Flucht zu denken.«
»Ja«, warf ich bitter ein, »und das, obwohl er nicht unter dem Gefühl litt, eine Schuld oder einen Irrtum begangen zu haben.«
»Wie viele Menschen gibt es heute, die, vergliche man sie mit Sokrates, einer ganz anderen Gattung anzugehören scheinen!«
Verbittert und außer mir vor Zorn sagte ich: »Das eben sind die Betrüger!«
»Es gibt Wahrheiten und Mythen. Das Leben, mein Lieber, ist nun einmal verwirrend!«
»Aber Sie gehören doch zur Generation derer, die noch an etwas glaubten!«
»Glaube… Zweifel…«, lachte er, »sie sind wie Tag und Nacht.«
»Was meinen Sie damit, bitte?«
Er schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Ich meine, sie sind nicht voneinander zu trennen. Und Sie, mein Sohn, welcher Generation gehören Sie an?«
Verdrossen erklärte ich: »Auf das, was wir tun, kommt es an, nicht auf das, woran wir glauben. So bin ich im Grunde bloß ein Projekt.«
»Was wir tun… was wir glauben…«, lachte Madame, »was soll's?«
Der alte Mann stimmte in das Lachen ein: »Ein schmackhaftes Essen und eine schöne Frau scheinen dem geplagten Gläubigen oft das Kostbarste im Leben.«
»Bravo!« Madame gab ihrer Freude lautstark Ausdruck.
Auch Zuchra lachte. Ich hörte sie jetzt überhaupt zum ersten Mal lachen und fühlte mich vorerst erleichtert. Minuten des Schweigens folgten, in denen wir draußen den Wind heulen und gegen die Wände in Böen anstürmen hörten, so, daß die geschlossenen Fenster klapperten. Wieder befielen mich Unruhe und Kummer, und ich sagte zu Amir Wagdi: »Daß man glaubt und arbeitet, den Glauben in die Tat umsetzt, das wäre das Ideal. Nicht zu glauben ist nur ein anderer Weg, der letztlich in den Untergang fuhrt. Zu glauben, aber nichts tun zu können, das ist die reine Hölle!«
»Ja! Sie haben Saad Zaghlul in seinen letzten Lebensjahren nicht kennengelernt, haben nicht erlebt, wie er gegen die Qualen der Verbannung und den nahenden Tod ankämpfte.«
Ich schaute zu Zuchra, der einzigen von uns, die sozusagen in der Verbannung lebte. Sie saß so voller Hoffnung und Selbstvertrauen da, daß ich mich freute, mehr noch, sie beneidete.
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Eine Woche darauf besuchte ich Durrejja erneut. Ihre Wohnung war wieder so hübsch wie eh und je. Auch auf sich selbst hatte sie wieder Sorgfalt verwandt, aber aus ihren Augen sprach immer noch Verzweiflung. Ja, schließlich stand sie jetzt allein da, ohne Arbeit, ohne Hoffnung.
»Hoffentlich störe ich dich nicht mit meinen Besuchen!« sagte ich.
»Jedenfalls gibst du mir durch sie das Gefühl, noch am Leben zu sein!« entgegnete sie mit tonloser Stimme.
Mir krampfte sich vor Kummer das Herz zusammen. Ich stellte mir ihre reale Situation vor, hart, ungeschminkt. Von meinen Gefühlen wollte ich ihr sprechen, aber das, was früher geschehen war, lahmte mir die Zunge. Wir stimmten darin überein, daß in einer geeigneten Arbeit die Rettung vor der Verzweiflung liegen könnte. Aber wie sollte sie dazu kommen? Sie war Lizentiatin in alten Sprachen, doch es würde sehr schwer für sie sein, eine Arbeitsstelle zu finden.
»Du darfst einfach nicht als Gefangene dieses Hauses leben!«
»Ich weiß es ja, aber ich bin trotzdem nicht aus dem Haus gegangen.«
»Wenn ich dich wenigstens jeden Tag besuchen könnte!«
Sie lächelte, dachte nach und meinte dann: »Es wäre schön, wenn wir uns einmal irgendwo anders treffen könnten!«
Ich war nicht dieser Meinung, aber ich tat so, als stimmte ich ihr zu: »Darüber ließe sich reden!«
So trafen wir uns beim dritten Mal im Zoo. Sie war wieder so hübsch wie früher, nur ihr Augenausdruck war anders. Er war zwar schön, aber ihm fehlte die innere Fröhlichkeit und Freude. Wir gingen den Weg an der Mauer entlang, der zur Universität führte. Es war für uns ein Weg unvergeßlicher gemeinsamer Erinnerungen.
»Du machst dir so viele Umstände«, meinte sie.
»Du weißt ja gar nicht, wie glücklich mich das macht!«
Hätte ich jetzt schreien müssen vor vermeintlichem Glück? Ich sprach weiter: »Einsamkeit, Durrejja, das ist sicherlich das Schlimmste, was den Menschen treffen kann.« Wahrscheinlich bewußt sagte ich das so, als hätte ich sehr viel Erfahrung auf diesem Gebiet.
»Ich bin seit dem Studium nicht mehr im Zoo gewesen«, gab sie zurück.
Ohne ihren Ablenkungsversuch zu beachten, fuhr ich fort: »Auch ich bin einsam und weiß, wie qualvoll es ist, allein zu sein.«
Sie wirkte verstört wie ein umzingeltes Wild. Das bedrückte mich, und meine Gefühle für sie wurden noch verworrener und komplizierter. Trotzdem rissen sie mich mit sich fort. Als sich unsere Blicke begegneten, schien es mir, als sei sie tief erschrocken.
Plötzlich klagte sie: »Es macht mich traurig, hier spazierenzugehen, während er… dort…« Sie sah meine Betroffenheit und fragte: »Was hast du denn?«
»Ich glaube, ich habe immer noch Schuldgefühle.«
»Und ich fürchte, du quälst dich jetzt auch, weil du hier mit mir zusammen bist!«
»Nein, nein, dieses teuflische Gefühl kommt nur von meiner Verzweiflung!«
»Wir müßten uns doch eigentlich gegenseitig trösten, wenn wir uns treffen!«
»Verzweiflung führt zu Unbesonnenheiten, und weil der Kranke meint, sein Leiden durch Leiden kurieren zu müssen…«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich meine…« Ich hielt inne und fuhr dann fort: »Ich meine, du solltest es mir nicht übel nehmen, wenn mich eines Tages meine Gefühle so überwältigen, daß ich dumm genug bin, dir zu sagen, daß ich dich immer noch liebe. Und zwar so sehr, wie ich es tat, als wir uns zum ersten Mal begegneten.«
Plötzlich kam ich wieder zu Bewußtsein. Was für eine Dummheit! Welcher Irrsinn! Was wollte ich eigentlich? Ich war entschieden zu weit gegangen, hatte mich benommen wie jemand, der, um seine brennenden Kleider zu löschen, ins tiefe Wasser springt, ohne schwimmen zu können.
»Aber, Mansur!« wies sie mich zurecht.
Ich zog mich in mich zurück, als hätte sie mich heftig geohrfeigt. Enttäuscht entschuldigte ich mich: »Ich weiß nicht mehr, was ich eben gesagt und wie ich es vorgebracht habe. Aber glaub mir, ich bin einfach nicht in der Lage, mir mein Glück zu erkämpfen!«
Als ich wieder im Zug nach Alexandria saß, sagte ich mir, daß es viel leichter ist, in Briefen mutig zu sein.
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Lärm hat mich aufgeweckt. War das ein Echo des Kampfes, der in mir tobt? Nein, der Kampf wird gerade in der Pension ausgetragen! Als ich hinausgehe, werde ich Zeuge der letzten Szene. Den Gesichtern ist anzusehen, daß Sarhan al-Buheri, eine mir unbekannte Frau und Zuchra die Helden wie die Opfer dieses Kampfes sind. Aber wer ist diese Frau? Und was hat Zuchra mit der Geschichte zu tun?
Später bringt mir Zuchra wie üblich meinen Tee. Sie erzählt mir, was vorgefallen ist. Eine Frau habe Sarhan verfolgt, als er in die Pension zurückkehrte. Es habe eine Schlägerei zwischen ihnen gegeben, und sie sei hineingezogen worden, als sie die beiden trennen wollte.
»Wer ist denn die Frau eigentlich, Zuchra?«
»Das weiß ich auch nicht.«
»Madame hat mir erzählt, sie sei Sarhans Verlobte gewesen.«
»Möglich«, stößt sie nach kurzer Pause hervor.
»Und warum hat sie sich auf dich gestürzt?«
»Ich habe doch schon gesagt, ich wollte sie voneinander trennen.«
»Aber das ist doch noch kein Grund dafür, daß Ihr aneinandergeraten seid!«
»Es ist eben passiert!«
Voller Zärtlichkeit und Sympathie schaue ich sie an und frage: »Ist vielleicht zwischen dir und…?«
Sie überhört meine Frage, so fahre ich fort: »Das wäre doch keine Schande! Außerdem mag ich dich. So stelle ich dir die Frage im Namen unserer freundschaftlichen Gefühle füreinander.«
Sie senkt bejahend den Kopf.
»So bist du also verlobt und hast mir das bisher nur verschwiegen?«
Nun schüttelt sie den Kopf, um zu verneinen.
»Oder ist die Verlobung nur noch nicht offiziell bekanntgegeben worden?«
»Es kommt schon alles zu seiner Zeit!« meint sie zuversichtlich.
Mich packen Bedenken. Ich will sie warnen: »Aber du siehst doch, er hat die andere sitzengelassen!«
»Er hat sie eben nicht geliebt«, verteidigt sie ihn unschuldig.
»Und warum hat er sich dann mit ihr verlobt?«
Sie sieht mich mitleidig an, nimmt dann ihren Mut zusammen und sagt: »Sie war ja gar nicht seine Verlobte. Sie ist eine Nutte!«
»Ein Vertrauensbruch bleibt in jedem Fall ein Vertrauensbruch!« Meine Worte hören sich für mich selbst seltsam an, betrüblich, und verursachen mir einen schlechten Geschmack im Mund. Ich bin ebenso wütend auf mich selbst wie auf Sarhan und verwünsche ihn in Gedanken heftig.
Neugierig blicke ich sie an, denn ich erwarte, daß sie mir mehr über ihre Beziehungen zu Sarhan erzählt. Statt dessen fährt sie fort: »Ich will etwas lernen!«
Ich verstehe überhaupt nichts und schaue sie weiter fragend an.
»Ich habe mit Sitt Alejja Mohammed, unserer Nachbarin, der Lehrerin, ausgemacht, daß sie mir Stunden gibt.«
»Ach, wirklich?« rufe ich erstaunt.
»Ja, wir haben uns über alles geeinigt.«
»Das ist ja ganz hervorragend, Zuchra! Wie bist du denn auf den Gedanken gekommen?«
Stolz entgegnet sie: »Das war ganz allein meine Idee!«
»Ja, schon, aber wer hat dich daraufgebracht?«
»Ich habe mir gesagt, daß ich nicht ein ganzes Leben lang ein dummes, kleines Mädchen bleiben will. Außerdem habe ich noch ein anderes Ziel.«
»Nämlich was für eins?«
»Ich will einen Beruf lernen.«
»Das ist ja wirklich fantastisch, Zuchra, wunderbar!« rufe ich und sehe sie voller Glück und Stolz an.
Glück und Stolz erfüllen mich immer noch, als ich später allein in meinem Zimmer sitze. Es gießt in Strömen. Das Tosen der Wellen in abgehackten Rhythmen spricht seine unbekannte Sprache. Dann ebbt meine Euphorie ab, wird allmählich zu kühler Gleichgültigkeit, und schließlich spüre ich wieder meine übliche Depressivität. Wenn man sich auf einen Höhepunkt zubewegt, denkt man daran, daß ihm das Abgleiten in das Tief folgt, und wenn man sich stark fühlt, daran, daß man bald wieder schwach sein wird. Das Gefühl der Unschuld und Freiheit gemahnt einen an Verdorbenheit und Einengung, Hoffnung läßt an Verzweiflung denken. Wieder einmal finde ich keinen, gegen den sich mein heftiger Zorn richten könnte, außer Sarhan al-Buheri!
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Wir setzen uns unter den Blaugummibaum im Casino am Nilufer. Die sinkende Sonne gießt ihre Strahlen über uns aus und bringt die beißende Kälte von Kairo allmählich zum Schmelzen.
»Ich hätte nicht kommen dürfen!« sagt sie und meidet meinen Blick.
»Aber nun bist du gekommen und hast damit deine Unschlüssigkeit überwunden«, will ich sie beruhigen.
»Nichts ist überwunden, glaub mir!«
Fest entschlossen, mich in den Abgrund zu stürzen, sehe ich sie an: »Ich bin überzeugt, daß dein Kommen…«
»Die Sache ist ganz einfach die, daß ich nicht mit deinen Briefen allein bleiben wollte.«
»Ich glaube nicht, daß meine Briefe irgend etwas Neues enthalten.«
»Aber du hast sie an jemanden gesandt, den es gar nicht mehr gibt!«
Ich greife nach ihrer Hand, die auf dem Tisch liegt, als ob ich ganz sichergehen will, daß sie wirklich hier bei mir ist. Doch sie zieht sie zurück und spricht weiter: »Du hast sie vier Jahre zu spät geschickt!«
»Sie sprechen von Tatsachen, die Zeit und Ort überdauern!«
»Siehst du denn nicht, daß ich schwach und unglücklich bin?«
»Glaubst du denn, ich bin es nicht? In den Augen unserer Freunde bin ich ein Spitzel, in meinen eigenen Augen ein Betrüger, und ich habe niemanden außer dir.«
»Was für ein Trost!«
»Wenn ich ihn nicht mehr habe, bleiben mir nur noch der Tod oder der Wahnsinn!«
Sie seufzt nervös auf und sagt leise: »Ich war im Grunde schon immer eine untreue Frau!«
»Nein, du warst ein Musterbeispiel für falsche Treue.«
»Aber das ist doch nur ein anderes Wort für die Treulosigkeit, den Betrug, die mir solche Schuldgefühle bereiten und mich fast zerrissen haben!«
»Wir haben nicht den geringsten Grund, uns innerlich zerrissen zu fühlen«, entgegne ich zornig, »das ist der Kern unserer Tragödie!«
Wir blicken auf den bleigrauen Nil und seine kaum erkennbaren Wellen. Meine Hand stiehlt sich unter dem Tisch zu ihrer, schließt sich zärtlich um sie und hält sie trotz ihres leichten Widerstands fest.
»Wir sollten uns nicht von Hirngespinsten leiten lassen!« flüstere ich ihr zu.
Traurig entgegnet sie: »Wir sinken stärker, als du denkst!«
»Aber wir werden aus dieser Prüfung geläutert hervorgehen wie reines Gold!« Ein übermächtiger Wunsch treibt mich dem Abgrund entgegen, als sei er schon um seiner selbst willen ein erstrebenswertes Ziel oder als sei die Hölle der Endpunkt der Suche nach dem Glück.
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Am Bahnhof von Kairo treffe ich einen alten Freund, einen Journalisten mit progressiven Neigungen, der sich aber nicht für Politik interessiert. Wir setzen uns ans Büffet. Ich warte auf den Triebwagen nach Alexandria. Er will jemanden abholen, der vom Suezkanal kommt.
Er sagt: »Ich freue mich über diese gute Gelegenheit. Ich wollte dich ohnehin schon seit längerem sprechen.«
Nun gut, was willst du von mir? Seitdem ich nach Alexandria versetzt worden bin, habe ich ihn nicht mehr gesehen.
»Was treibt dich denn nach Kairo?« fragt er.
Verwirrt schaue ich ihn an. Ja, er wußte im voraus, daß seine Frage mich in Verwirrung setzen würde.
»Ich frage so offen, weil wir alte Freunde sind. Es heißt, du kämst nur wegen Madame Fauzi hierher.«
Ich fühle mich nicht so betroffen, wie er das offenbar erwartet hat. Wir, Durrejja und ich, hatten früher schon unsere Zweifel, ob unsere Beziehungen verborgen bleiben würden. So entgegne ich lässig: »Sie braucht jetzt einfach jemanden, der zu ihr hält, weißt du!«
»Ich weiß aber auch…«
»Du weißt, daß ich sie schon seit langem liebe«, unterbreche ich ihn herablassend.
»Und Fauzi?« fragt er voller Anteilnahme.
»Er ist viel stärker, als alle denken.«
»Als dein Freund bin ich nicht sehr glücklich über das, was man erzählt«, meint er bekümmert.
»Und was erzählt man? Sag es mir doch!«
Doch er schweigt. So sage ich nervös: »Ich bin ein Spitzel, bin zur rechten Zeit geflohen, und nun habe ich mich in das Haus eines guten alten Freundes eingeschlichen.«
»Ich wollte nur sagen…«
»Aber du glaubst es jedenfalls auch?«
»Nein! Und ich würde dir nie verzeihen, wenn du das auch nur annähmst!«
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Während der Rückfahrt nach Alexandria frage ich mich, ob ich die Gnade zu leben überhaupt verdiene. Ich suche nach einer Lösung für verschiedene Widersprüche. Diese Lösung wird nicht einfach werden, so scheint mir. Warum kann nicht der Tod der letzte Ausweg sein? Eigentlich wollte ich mich für ein Weilchen ins Trianon setzen, aber ich sehe von draußen Sarhan al-Buheri und Husni Allam miteinander im Gespräch. Da ich Widerwillen gegen beide empfinde, gehe ich weiter.
Wolken in Farben, die aufeinander abgestimmt scheinen, treiben schnell am Himmel dahin. Windböen bringen angenehme Erfrischung. Die Wellen türmen sich so, daß das Wasser auf die Straße sprüht. Besäße ich Kostbarkeiten, ich würde sie jetzt zerstören. Nur ein gewaltiges Erdbeben kann die Dinge wieder ins Gleichgewicht bringen.
Zuchra bringt mir den Tee. Im Vertrauen darauf, daß mich alles interessiert, was sie betrifft, erklärt sie: »Meine Angehörigen waren hier, um mich zu holen. Ich habe mich jedoch geweigert mitzugehen.«
Trotz meiner generellen Gleichgültigkeit ist mein Interesse für Zuchra nicht erloschen. So unterstütze ich sie: »Das hast du vollkommen richtig gemacht!«
»Aber sogar der sympathische Amir Wagdi hat mir geraten, wieder auf mein Dorf zurückzukehren.«
»Er hat ganz einfach Angst um dich. Das ist alles!«
Prüfend schaut sie mich an und sagt dann: »Diesmal lächeln Sie aber nicht wie sonst immer.«
Ich lächle ihr gedankenlos zu.
»Ich verstehe!« meint sie.
»Du verstehst was?«
»Ihre Ausflüge nach Kairo jede Woche und daß Sie jetzt immer so in Gedanken sind.« Unwillkürlich muß ich lachen, und sie sagt glücklich: »Ich würde Ihnen so gern gratulieren!«
»Dein Wort in Gottes Ohr, Zuchra!«
Wir schauen uns gegenseitig verständnisvoll an. Sie macht eine Handbewegung, als wolle sie mich auffordern, fröhlicher zu sein.
»Es gibt jemanden, der mir Kummer bereitet«, sage ich.
»Wer ist es denn?«
»Jemand, der seinen Glauben verraten hat.«
Sie macht eine abwehrende Handbewegung.
»Jemand, der seinen Freund und Lehrer betrogen hat.«
Wieder die Handbewegung.
»Ob ihm der Fehler verziehen wird, daß er liebt?«
»Die Liebe eines Mannes, der Verrat und Betrug geübt hat, ist so schmutzig wie er selbst«, urteilt sie voll Verachtung.
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Ich stürze mich in die Arbeit. Und immer, wenn meine Nerven zum Zerreißen gespannt sind und mir die Gedanken durcheinander geraten, fahre ich nach Kairo. Dort ist das Glück der Liebe. Aber was für ein Glück ist das eigentlich? Ich war aufrichtig glücklich, als ihr Widerstand schwächer wurde und sie mir ihre Hand überließ. Aber später befiel mich eine fiebrige Unruhe. Ein seltsamer Gedanke beherrschte mich, nämlich, daß Liebe der Weg ist, der zum Tod führt. Und daß ich, da ich in allem zur Übertreibung neige, das Ende dieses Weges bald erreicht haben würde.
Einmal sagte ich zu ihr: »Ich habe dich schon vor langer Zeit geliebt. Du erinnerst dich sicher daran. Dann wurde ich plötzlich davon überrascht, daß du dich verlobt hattest.«
Traurig entgegnet sie: »Du bist immer so unschlüssig bei allem, was du tust, daß man dich leicht mißverstehen kann.«
»Ich habe mich damals für Fauzi entschieden, weil er mich charakterlich sehr beeindruckt hat. Du weißt, er verdient Verehrung und Bewunderung«, bekennt sie dann.
Um uns herum sitzen viele Pärchen, und ich frage sie: »Sind wir eigentlich glücklich?«
Sie mustert mich erstaunt und sagt dann: »Was für eine Frage, Mansur!«
»Ich meine, vielleicht kränkt es dich, daß ich dich um deinen guten Ruf gebracht habe.«
»Mich kümmert das nicht, aber Fauzi…« Offensichtlich wollte sie jetzt wiederholen, was ich so oft von Fauzis verständnisvollen Art und seiner Großherzigkeit gesagt habe, aber sie schweigt. Und ich mag die abgespielte Platte nicht noch einmal auflegen.
Dann frage ich sie: »Durrejja, zweifelst du eigentlich auch an mir wie die anderen?«
Sie verzieht mißbilligend das Gesicht, denn sie hat mich mehr als einmal gebeten, dieses Thema nicht zur Sprache zu bringen, aber ich bleibe hartnäckig: »Wenn du es tätest, fände ich es nur natürlich!«
Protestierend sieht sie mich an: »Warum mußt du dich nur immer quälen!«
»Ich habe mich schon oft gefragt, warum du dich nicht der allgemeinen Meinung anschließt«, lenke ich lächelnd ein.
Ungehalten gibt sie zurück: »Du bist doch einfach kein Betrüger oder Verräter!«
»Was heißt, ich sei kein Betrüger oder Verräter? Ich bin schwach, und daß ich mich zu sehr von meinem Bruder habe lenken lassen, war sicher auch ein Zeichen meiner Schwäche. Von allen Schwächlingen bin ich bestimmt der, der am leichtesten zu einem Betrüger werden kann!«
Sie nimmt meine Hand in ihre und bittet: »Quäl dich doch nicht so! Quäl uns beide nicht!«
Ich sage mir, daß ihr offensichtlich nicht bewußt ist, daß auch sie zu all dem gehört, was mich quält.
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Als Madame zu mir ins Zimmer kommt, bin ich mir sicher, daß es Neuigkeiten gibt. Sie flattert, wenn sie Neues mit sich herumträgt, wie eine Motte überall umher. Schön! Haben Sie schon gehört, Monsieur Mansur? Machmud Abul-Abbas, der Zeitungsverkäufer, hat um Zuchras Hand angehalten, aber sie hat ihm einen Korb gegeben!
»Immer dieselben Verrücktheiten, Monsieur Mansur!«
»Sie liebt ihn eben nicht, Madame!« entgegne ich ihr rundheraus.
»Aber ihr Herz führt sie in die Irre!« Sie blinzelt mir zu, und ich denke: Wehe, wenn Sarhan sie enttäuscht!
Plötzlich kommt mir ein seltsamer Einfall oder eher so etwas wie ein abwegiger Wunsch, nämlich daß er sie enttäuschen möge, damit ich ihm dann seine gerechte Strafe erteilen könnte.
Sie beugt sich zu mir und flüstert: »Raten Sie ihr doch zu! Sie wird das tun, was Sie für gut halten. Sie hat Sie gern!«
Dieses Gerede vom Gernhaben erbost mich, und ich muß mir alle Mühe geben, meinen Ärger zu unterdrücken.
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»Eigentlich stammt sie aus einer guten Familie, schon fast aristokratisch. Aber sie ist natürlich keine Heilige. Diese Art der Tätigkeit hat ihre unvermeidlichen Begleitumstände, wie du sicher weißt. Wenn ich nicht gewesen wäre, so hätte man ihre Wohnung längst geräumt und ihren Besitz konfisziert.«
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Der Wind peitscht den Regen gegen die Fenster. Das Brüllen der Wogen wühlt mich auf bis ins Innerste. Ich merke nicht, daß Zuchra eingetreten ist, bis sie das Tablett mit dem Tee auf den Tisch vor mich hinstellt. Froh begrüße ich sie, denn ich hoffe, sie wird mich aus meinen düsteren Gedanken reißen. Wir lächeln uns gegenseitig zu. Ich biete ihr ein Stückchen Kuchen an und sage lachend: »Da hast du nun schon dem zweiten Verehrer einen Korb gegeben!«
Sie schaut mich unsicher an, und ich fahre fort: »Willst du meine Meinung wissen, Zuchra? Ich finde Machmud besser als Sarhan!«
»Weil Sie ihn nicht kennen!« fällt sie mir ins Wort.
»Und du, kennst du denn den anderen so, wie es sein müßte?«
»Niemand will mir glauben, daß ich eine ebenbürtige Partnerin für ihn bin!« entgegnet sie heftig.
»Sag das denen, die nicht deine Freunde sind!«
»Machmud macht keinen Unterschied zwischen einer Frau und einer Sandale!«
Ich muß lachen, und sie erzählt mir eine Geschichte über sein Verhalten und seine Ansichten.
»Du bist doch aber gewitzt genug, ihm darauf die richtige Antwort zu verpassen!« rede ich ihr gut zu. Aber sie liebt nun einmal Sarhan und wird ihn lieben, bis er sie heiratet oder im Stich läßt.
»Zuchra, ich respektiere deine Meinung und alles, was du tust. Im übrigen würde ich dir wirklich gern bald zur Verlobung gratulieren.«
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Ich habe dringende und eilige Angelegenheiten zu erledigen und fahre deswegen diesmal nicht nach Kairo. Durrejja ruft mich an, damit ich sie in ihrer verzehrenden Einsamkeit tröste.
Als wir uns in der Woche darauf treffen, sagt sie nervös: »Jetzt ist die Reihe an mir, dir hinterherzulaufen.«
Nachdem wir uns in ein Chambre separee im Florida zurückgezogen haben, küsse ich ihr die Hand. Ich erkläre ihr, warum ich sie in der vorhergehenden Woche nicht habe besuchen können. Sie ist unruhig, nervös und raucht stark. Mir geht es nicht viel besser.
»Ich habe mich in der Arbeit vergraben«, erkläre ich ihr, »aber ohne daß ich es wollte, sind meine Gedanken abgeschweift, und eine unbekannte Stimme hat mir zugeflüstert, daß ich in meiner Arbeit etwas falsch gemacht oder daß ich irgend etwas Wichtiges anzuordnen versäumt hätte. Und oft entdecke ich, daß ich Wesentliches in der Pension oder im Büro habe liegenlassen.«
»Aber ich bin so einsam«, klagt sie, »und halte das Alleinsein einfach nicht mehr aus.«
»Wir lassen uns wie von einem Strudel hierhin und dorthin ziehen und tun nichts, um unsere Probleme zu lösen!«
»Und was sollten wir tun?«
Ich denke kurz nach und versuche, nur der Logik zu gehorchen. Aber welcher Logik? Für jemanden, den seine Gefühle überwältigen, existiert die Logik nicht mehr. Es ist fast so, als suche ich nach neuen Herausforderungen. »Wenn wir unseren Verstand fragen würden«, antworte ich, »so würde er uns sagen, daß wir uns entweder trennen sollten oder aber du die Scheidung verlangen müßtest.«
Ihre grauen Augen weiten sich vor Erschrecken, vielleicht eher, weil sie derselben Ansicht ist, als weil sie die Scheidung nicht will.
»Die Scheidung!«
»Dann könnten wir doch ein neues Leben beginnen«, sage ich ruhig.
»Aber das wäre unerhört!«
»Es wäre nur natürlich, und was mich angeht…«
Sie stützt den Kopf in die Hände und schweigt, damit ihre Hilflosigkeit andeutend.
»Habe ich nicht gesagt, daß wir nichts tun?« wiederhole ich.
Dann, nach einer Weile des Schweigens, frage ich sie: »Was hätte denn Fauzi an meiner Stelle getan, sag mir das!«
»Aber du weißt doch, daß er mich liebt!« entgegnet sie leise.
»Er würde dich aber bestimmt nicht zwingen, bei ihm zu bleiben, wenn er wüßte, daß du mich liebst!«
»Denkst du nicht in sehr theoretischen Kategorien?«
»Nein, ich kenne Fauzi, und das ist sehr realistisch gedacht.«
»Stell dir vor, stell dir vor, er würde sagen…«
»Du hast dich von ihm gelöst, seitdem er im Gefängnis ist, nicht wahr? Aber das ist letztlich ohne Wert für mich, denn du hast dich zwar von ihm gelöst, aber nicht von seinen Prinzipien… »
Ich stelle ihn mir vor, wie er auf der Couch im Studio liegt, mich mit seinen mandelförmigen schwarzen Augen mustert, Pfeife raucht, unzählige Probleme erörtert, aber nicht eine Sekunde lang an seinem ehelichen Glück zweifelt.
»Woran denkst du eigentlich?« fragt sie mich.
»Daran, daß das eigentliche Leben sich nur denen erschließt, die es verdienen.« Ich nehme ihre Hand und fordere sie auf: »Komm, laß uns etwas trinken, damit wir endlich aufhören nachzudenken!«
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Ich bin so in meine Gedanken versunken, daß ich nicht wahrnehme, was um mich herum geschieht. Zorn würgt mich. Seitdem ich davon erfahren habe, daß Husni Allam über Zuchra hergefallen ist, ersticke ich fast vor Zorn. Mit mir im Entree sitzen Amir Wagdi und Madame, doch von dem, worüber sie sprechen, höre ich nur ein Wispern. Auch von dem Streit zwischen Sarhan und Husni hatte ich vernommen und wünschte mir, er hätte so lange gedauert, bis sie sich gegenseitig umgebracht hätten. Ich wünsche mir auch, ich könnte Husni seine gerechte Strafe zuteil werden lassen, zweifle andererseits nicht daran, daß er kräftig genug ist, mich dabei umzubringen. So hasse ich ihn bis zur Raserei. Daß Madame aufsteht und hinausgeht, holt mich wieder in meine Umgebung zurück. Ich schaue zu Amir Wagdi und merke, daß er mich voller Fürsorge und Sympathie ansieht. Das bringt die Mordgelüste in meinem Herzen zum Abklingen. Mir kommt der absonderliche Gedanke, der alte Mann könnte vielleicht ein enger Freund meines Vaters oder Großvaters gewesen sein.
Er fragt mich, wovon ich geträumt habe, und ich entgegne kurz: »Mir scheint, für mich gibt es keine Zukunft.«
Er lächelt so, als ob er um alles wisse und als habe er meinen Zorn schon oft und in den verschiedensten Formen erlebt. Dann meint er: »Jugend will sich nie zufriedengeben! Das ist alles.«
»Die Vergangenheit hat mich so beschäftigt, daß mir der Gedanke kam, es gebe keine Zukunft.«
Er sagt ernst, nun ohne jedes Lächeln: »Es mag Erschütterungen im Leben geben, Irrtümer, Unglücksschläge. Aber Sie verdienen es zu leben, wie nur irgendeiner!«
Ich verspüre einen Widerwillen dagegen, meine Sorgen mit ihm zu besprechen, sogar die, die ganz legitim sind. So frage ich ihn ausweichend: »Was für Träume haben Sie denn so, Ustas?«
Er lacht lange und gibt dann zur Antwort: »Alte Leute schlafen so wenig, daß sich Träume erübrigen. Ich wünsche mir nur noch eins: einen sanften Tod!«
»So gibt es also mehrere Arten zu sterben?«
»Selig derjenige, der nach einem angenehmen Abend einschläft, um nie wieder aufzuwachen!«
»Glauben Sie daran, daß Sie eines Tages wiederauferstehen werden?« frage ich ihn, fasziniert davon, wie gut man sich mit ihm unterhalten kann.
Wieder lacht er und sagt dann: »Ja, und zwar dann, wenn Sie Ihre Programme in einem Buch veröffentlichen!«
Das Wetter in Alexandria sagt mir zu. Nicht wenn der Himmel klar ist und die Sonne mit ihren wärmenden Strahlen die Erde vergoldet, sondern in seinen winterlichen Zornesausbrüchen, wenn sich dicke Wolken zu Bergen türmen und der Morgen ebenso in Düsterkeit gehüllt ist wie der Abend, wenn im Himmelszelt einen Augenblick lang beunruhigendes Schweigen herrscht und dann plötzlich ein Windstoß die Leere durchbricht wie ein Warnruf oder wie das Räuspern des Predigers in der Moschee vor der Freitagspredigt. Dann neigt sich ein Zweig, oder ein Astchen bricht. Und danach jagen die Windstöße einander in trunkenem, wahnwitzigem Rausch, ihr pfeifendes Dröhnen dringt bis in ferne Horizonte. Das Meer tobt, und der Schaum der Wellen gischtet bis an den Rand der Uferstraßen. Donner poltert und bringt brodelnde Düfte aus einer fernen, unbekannten Welt. Funkelnde Blitze züngeln den Himmel entlang, blenden die Blicke und elektrisieren die Herzen. Regen strömt herab bis zur Raserei und schließt Himmel und Erde in einer nassen Umarmung zusammen. Dann vermischen sich die Elemente des Seins, wogen durcheinander, prallen aufeinander, als sollte der Schöpfungsakt von neuem beginnen.
Erst danach wird der Himmel wieder klar und rein, reißen die Dunkelheiten auf, zeigt Alexandria ein frisch gewaschenes Gesicht, leuchtendes Grün, feucht glänzende Straßen. Dann weht eine erfrischende Brise, kommen wärmende Sonnenstrahlen, folgt ein sanftes, zärtliches Erwachen.
Ich erlebe den Sturm vom Fenster aus mit, um mich der Frische danach erfreuen zu können. Irgend etwas sagt mir, daß dieses Drama von einem Mythos erzählt, der in meinem Innersten begraben liegt, daß es einen Weg vorzeichnet dessen Ziel mir noch unbekannt ist, oder in leisem Gemurmel, das mir bis jetzt unverständlich bleibt, eine Frist setzt.
Die große Standuhr schlägt, und ich halte mir die Ohren zu, um nicht hören zu müssen, wie spät es ist. Dann dringen fremde Stimmen zu mir, hartnäckig und laut. Ist das eine Auseinandersetzung? Ein Streit? Was in dieser Pension alles passiert, würde allmählich für einen ganzen Kontinent ausreichen! Mein Herz sagt mir, daß es wieder einmal um Zuchra gehen muß. Eine Tür wird heftig geöffnet, und nun sind die Stimmen ganz deutlich. Es sind die von Zuchra und Sarhan. Ich springe zur Tür und öffne sie. Sie stehen einander im Salon gegenüber wie zwei Kampfhähne, und Madame versucht, zwischen ihnen zu vermitteln.
Sarhan schreit, außer sich vor Wut: »Ich bin frei! Ich heirate, wen ich will! Alejja werde ich heiraten!«
Zuchra sprüht vor Zorn. Es tut ihr sichtlich weh, daß er mit ihr nur gespielt hat, daß ihre Hoffnungen zerstört sind, daß er sie verlassen hat und sie die Verliererin in diesem Spiel ist. So hat er also erreicht, was er von ihr wollte, und hat nun ein neues Ziel vor Augen! Ich gehe auf ihn zu, fasse ihn an der Hand und ziehe ihn in mein Zimmer. Sein Schlafanzug ist an mehreren Stellen zerrissen. Seine Lippen bluten.
Er schreit: »Sie ist außer Rand und Band, und bösartig ist sie auch!«
Ich bitte ihn, sich zu beruhigen, aber er wird nur noch wütender und stößt hervor: »Stellen Sie sich vor, das gnädige Fräulein wünscht mich zu heiraten!«
Noch einmal rate ich ihm zur Ruhe, aber er brüllt: »Sie ist eine Dirne und außerdem total verrückt geworden!«
Da er mir auf die Nerven geht, frage ich ihn: »Und warum wollte sie Sie heiraten?«
»Fragen Sie sie doch am besten selbst!«
»Nein, ich frage Sie!«
Zum ersten Mal sieht er mich jetzt aufmerksam an. Ich insistiere weiter: »Sie muß doch einen Grund für diese Forderung haben!«
Die Aufmerksamkeit in seinen Augen wird zur Vorsicht. »Was wollen Sie damit sagen?« fragt er mich.
Wütend entgegne ich: »Nichts weiter, als daß Sie ein Mistkerl sind!«
»Ustas!«
Ich spucke ihm ins Gesicht und rufe: »Das verdienen Sie und jeder andere Mistkerl und Betrüger!«
Wir geraten sofort heftig aneinander, doch Madame stürzt ins Zimmer, bevor unsere Schlägerei gefährliche Ausmaße annehmen kann. Sie stellt sich zwischen uns und versucht zu begütigen: »Aber ich bitte Sie! Ich habe das alles satt, meine Herren! Tragen Sie Ihre Streitigkeiten außerhalb meines Hauses aus, nicht bei mir!«
Sie zieht ihn aus meinem Zimmer.
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Mit sorgenvollem Herzen, befangen in düsteren, verworrenen Gedanken, gehe ich zum Rundfunkgebäude. Als ich in mein Zimmer komme, sehe ich eine Frau vor meinem Schreibtisch sitzen. Nein, nicht irgendeine Frau, es ist Durrejja! Ja, sie! Der Schreck lahmt mir die Zunge. Einige Sekunden lang bleibe ich wie erstarrt vor ihr stehen. Dann verfliegt die Düsterkeit in meinem Kopf, ich rufe: »Durrejja!«
Sie lächelt, und auch ich müßte lächeln, ja strahlen vor Freude. Ich nehme ihre Hand zwischen meine Hände und drücke sie zärtlich. Freude überwältigt mich und vertreibt die Unruhe und die Ängste, die mir das Herz zu zerreißen drohen.
»Was für eine Überraschung, Durrejja«, stoße ich hervor, »welches Glück!«
Sie sieht mich mit bleichem Gesicht an und erklärt mir: »Ich hätte zwei Tage warten können, bis wir uns wie üblich treffen, aber ich konnte es einfach nicht mehr aushalten. Ich habe versucht, dich anzurufen, habe dich aber nicht erreicht.«
Mich ergreift eine mir unerklärliche Unruhe. Ich nehme einen Stuhl, um mich ihr gegenüber zu setzen, und sage: »Hoffentlich ist es eine gute Nachricht, die dich zu mir führt, Durrejja!«
Sie senkt den Blick und entgegnet: »Ich habe über einen befreundeten Journalisten einen Brief von Fauzi erhalten.«
Mir klopft das Herz. Also dieser befreundete Journalist. Das bedeutet sicherlich nichts Gutes.
»Er läßt mir die Freiheit, nach meinem eigenen Gutdünken über meine Zukunft zu entscheiden«, fährt sie fort.
Mein Herz klopft stärker. Jetzt liegen die Dinge offen zutage, aber ich bin fest entschlossen, sie mir Punkt für Punkt erklären zu lassen. Mich hat eine solche Unruhe erfaßt, daß ich keinerlei Erleichterung oder gar Glück verspüre. Seltsam. Mir kommt es eher so vor, als sei ich unglücklich.
»Was will er damit sagen?« frage ich hartnäckig.
»Offensichtlich hat er von uns erfahren.«
»Aber wie denn nur?«
»Wie auch immer, letztlich ist das unwichtig!«
Wir sehen uns verwirrt an. Ich habe das Gefühl, mir würden eiserne Ketten angelegt. Ich sage mir, daß ich doch Glück verspüren müßte oder wenigstens Erleichterung. Was ist nur geschehen?
»Ob er böse ist?« will ich von ihr wissen.
»Er verhält sich auf alle Fälle so, wie du es erwartet hast«, antwortet sie nervös.
In ungläubiger Ergebenheit senke ich den Kopf. Sie spricht weiter: »Jedenfalls mußt du mir jetzt helfen und mir deine Meinung sagen!«
Natürlich. Jetzt muß ich den Anfang machen, damit die Dinge ihren Lauf nehmen, damit ich mir ein häusliches Glück aufbaue, so wie ich selbst es vorgeschlagen und mir schließlich auch gewünscht habe. Der Traum beginnt, Wirklichkeit zu werden. Und doch bin ich nicht glücklich. Um mir selbst gegenüber offen zu sein: Ich bin weiter als je davon entfernt, mich glücklich zu fühlen. Im Gegenteil: Ich bin unruhig und ängstlich. Es sind nicht Reue und Scham gegenüber Fauzi, die mich behindern. Es liegt nur an mir, ausschließlich an mir. Wenn ich jetzt nicht für mein Glück kämpfe, was tue ich dann?
»Immer denkst du nach und antwortest nicht«, wirft sie mir vor, »und gibst mir das Gefühl von tödlicher Einsamkeit.«
Aber ich brauche einfach eine längere Spanne des Nachdenkens. Unruhe und Furcht haben mich derart überwältigt, daß ich mich um ihre Empfindungen nicht mehr kümmern kann, nicht einmal mehr darum, höflich zu ihr zu sein. Ich bin aus der Bezauberung, in die sie mich versetzt hat, so plötzlich und schmerzhaft erwacht, als hätte mir jemand etwas mit einem Knüppel über den Kopf gegeben. Ich habe mich aus der Herrschaft, die sie über mich ausgeübt hat, befreit. Eine dunkle Woge der Abneigung, Rebellion und Härte überschwemmt mein verwirrtes, unruhiges, erschrockenes Inneres. Ich kann dafür keine andere Erklärung finden, als die, daß ich wahnsinnig geworden sein muß.
»Warum sagst du nichts?« fragt sie in scharfem Ton.
Mit einer Ruhe, die mich selbst erschreckt, entgegne ich: »Durrejja, nimm seine Großmut nicht an!«
Sie starrt mich an, ungläubig, bestürzt, voller Zorn und Trauer.
Ich steigere mich in meine Grausamkeit hinein: »Laß ihn das so schnell wie möglich wissen!«
»Du empfiehlst mir das, ausgerechnet du!«
»Ja, ich!«
»Das ist ja zum Lachen, nein, eher zum Weinen! Ich verstehe überhaupt nichts mehr!«
»Wir wollen versuchen, es später zu verstehen!« schlage ich verzweifelt vor.
»Du kannst mich doch jetzt nicht einfach verlassen, ohne mir eine Erklärung zu geben!«
»Ich finde keine, es tut mir leid!«
»Allmählich zweifle ich an deinem Verstand!« wirft sie mir vor und funkelt mich aus ihren grauen Augen zornig an.
»Das habe ich wohl auch verdient!«
»Ja, hast du denn die ganze Zeit mit mir gespielt?« ruft sie bitter.
»Aber Durrejja!«
»Sei offen zu mir: Hast du mich belogen?«
»Nein, niemals!«
»So ist also deine Liebe plötzlich gestorben?«
»Aber nein!«
»Du gefällst dir darin, mit mir zu spielen!«
»Ich weiß nichts mehr zu sagen. Ich verabscheue mich selbst. Das muß ich dir offen gestehen. Du solltest nicht die Nähe eines Mannes suchen, der sich verabscheut!«
Ihr starrer Blick zeigt, daß ihre inneren Kräfte sie verlassen. Dann schaut sie voller Ärger und Verachtung in eine andere Richtung, als wisse sie nicht, was sie mit sich anfangen soll. Schließlich sagt sie leise und wie zu sich selbst: »Mein Gott, bin ich dumm! Dafür muß ich jetzt zahlen! Du hast mich nie Vertrauen spüren lassen, mir kein Gefühl der Sicherheit gegeben. Wie konnte ich das nur übersehen? Du hast mich mit deiner verrückten Impulsivität gedemütigt. Ja, du bist verrückt!«
Ich gebe mich unterwürfig wie ein gehorsames Kind, das sich seiner Schuld voll bewußt ist, und ziehe es vor zu schweigen, um vielleicht dadurch der quälenden Situation ein Ende zu bereiten. Ich vermeide es, sie anzusehen, und ignoriere ihren Blick, das Geräusch ihrer nervös auf den Schreibtisch klopfenden Finger, ihre unruhigen Atemzüge. Ich stelle mich tot.
Laut und vorwurfsvoll dringt ihre Stimme an mein Ohr: »Hast du mir denn gar nichts mehr zu sagen?«
Ich verbleibe bei meiner Leichenstarre. Schroff steht sie auf, und ich erhebe mich gleichfalls. Sie geht hinaus, ich begleite sie bis auf die Straße. Wir überqueren sie gemeinsam. Dann vergrößert sie ihre Schritte und gibt mir so zu verstehen, daß ihr meine weitere Gegenwart unerwünscht ist. Ich bleibe stehen. Meine Blicke folgen ihr wie in einem Traum, und der Traum wächst und weitet sich aus. Die Wirklichkeit tritt hinter ihm zurück, versinkt jenseits des Horizonts. Unverwandt schaue ich ihr nach, wie sie dort dahinschreitet, folge ihrem vertrauten, von mir so geliebten Gang voll Erstaunen, voller Trauer. Auch in diesem Augenblick des Wahnsinns vergesse ich nicht, daß jenes gedemütigte Wesen, das da allmählich in der Ferne verschwindet, im Strom der Passanten aufgeht, daß jenes Wesen meine erste Liebe war und vielleicht meine letzte Liebe in dieser Welt sein wird. Wenn sie aus meinem Leben verschwindet, werde ich in einen Abgrund stürzen. Aber obwohl ich todunglücklich bin, empfinde ich eine seltsame rätselhafte Erleichterung.
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Das Meer erstreckt sich in sanfter Glätte und lächelndem Blau. Wo ist nur das wütende Toben von gestern? Die Sonne sinkt und vergoldet mit ihren Strahlen die fransigen Ränder zarter Lämmerwölkchen. Wo sind die dunklen, sich türmenden Wolken von gestern? Ein Lufthauch spielt in zärtlicher Liebkosung mit den Blättern der Palmen entlang der Silsila[60]. Wo sind die brüllenden, wirbelnden Stürme von gestern?
Ich sehe in Zuchras bleiches Antlitz, sehe die Tränenspuren auf ihren Wangen, ihren matten Blick, ihre wie gebrochenen Augen, und mir ist, als schaue ich in einen Spiegel. Als wollte mich das Leben mit seiner rauhen, grausamen Seite bekannt machen, mit seiner ungeschminkten Wahrheit, seiner harten, dornigen Oberfläche, mit seinen enttäuschten Hoffnungen, eingebettet in eine Muschel mit vergifteten Rändern, mit seinem ewig unergründlichen Wesen, das Abenteurer und Verzweifelte gleichermaßen anzieht und beiden Nahrung gibt. Zuchra ist ihrer Ehre beraubt und ihres Stolzes, denn sie ist verlassen worden. Ja, ich schaue in einen Spiegel.
Sie wirft mir einen warnenden Blick zu und verlangt: »Bitte, keinen Tadel und auch keine Vorwürfe!«
»Ganz wie du willst«, entgegne ich traurig.
Ich bin aus der bitteren Begegnung mit Durrejja noch nicht wieder zu mir gekommen, habe noch nicht die Ruhe gefunden, sie zu analysieren und zu verstehen. Aber ich bin mir ihrer bis zur Grenze des Wahnsinns bewußt. Und ich bin mir sicher, daß der Sturm noch kommen wird und daß ich den Höhepunkt der Katastrophe noch nicht erreicht habe. Ich kann unmöglich schweigen, so versuche ich, sie zu trösten: »Vielleicht war es ja so am besten!«
Da sie nicht antwortet, frage ich: »Und was wird nun?«
»Ich lebe noch, wie Sie sehen«, murmelt sie gleichgültig.
»Und deine Träume, Zuchra?«
»Ich werde weiter…«
Sie sagt das voll hartnäckiger Entschlossenheit, aber wo ist ihr Herz?
»Der Kummer wird vergehen, als hätte es ihn nie gegeben«, versuche ich zu beruhigen, »und du wirst heiraten und Kinder bekommen!«
»Mir scheint, das beste, was ich tun kann, ist, Männer in Zukunft zu meiden«, meint sie bitter.
Ich muß lachen. Zum ersten Mal seit langer Zeit. Sie weiß nichts von dem Strudel, der mich mit sich zieht, nichts von dem Wahnsinn, der mir auflauert.
Mir kommt ein Gedanke, plötzlich und ohne Vorbereitung. Nein, er muß tiefe, mir bis jetzt verborgen gebliebene Wurzeln in mir haben. Ein Wahnsinnsgedanke und deshalb so erregend. Ein seltsamer, wunderbarer, origineller Gedanke. Vielleicht ist er das, wonach ich suche, der Balsam für meine Wunden. Zärtlich schaue ich sie an.
»Zuchra, das Leben macht mir keine Freude mehr, wenn du traurig bist«, klage ich.
Ein dankbares Lächeln umspielt ihre Lippen, und ich rede ihr zu, von neuer Begeisterung entflammt: »Zuchra, verjag deine Schwermut! Sei wieder so stark wie immer! Sag mir, wann ich wieder ein glückliches Lächeln auf deinen Lippen sehe!«
Sie lächelt mit gesenktem Kopf. Meine Begeisterung wächst weiter. Da ist dieses Mädchen, fern von seinen Angehören, einsam, verlassen, seiner Ehre beraubt.
Voll einer eigenartigen Erregung stoße ich hervor: »Zuchra, du weißt vielleicht nicht, wie lieb du mir bist. Zuchra, akzeptiere mich als deinen Ehemann!«
Sie wendet sich mir mit einer schnellen Bewegung zu, bestürzt, ungläubig. Ihre Lippen bewegen sich, als wolle sie etwas sagen, aber sie bringt keinen Ton heraus.
Immer noch von meiner seltsamen Erregung beherrscht, fordere ich sie auf: »Nimm meinen Antrag an, Zuchra! Ich meine es ernst.«
»Nein!« entgegnet sie und ist sichtlich noch nicht aus ihrer Bestürzung erwacht.
»Bitte, laß uns so schnell wie möglich heiraten!«
»Sie lieben doch eine andere!« antwortet sie und ringt nervös die kräftigen Hände.
»Das war keine Liebe. Das war nur eine Geschichte, die du dir in deiner Phantasie zurechtgelegt hast. Laß mich deine Antwort hören, Zuchra!«
Sie seufzt und wirft mir einen zweifelnden Blick zu. »Sie sind großmütig und edel«, sagt sie dann, »und schlagen mir das jetzt aus Mitleid vor. Nein, das werde ich nicht annehmen, und Sie meinen das auch gar nicht so! Bitte, sagen Sie das nicht wieder!«
»So weist du mich also ab, Zuchra!«
»Ich danke Ihnen, aber es gibt gar keine Forderung, die ich abweisen oder annehmen könnte!«
»Glaub mir doch! Ich schwöre es dir! Gönn mir doch eine kleine Hoffnung! Versprich mir wenigstens etwas! Dann kann ich warten!«
Entschlossen und sichtlich ohne meine Worte ernst zu nehmen, entgegnet sie: »Nein! Ich danke für Ihr Mitgefühl und weiß es sehr zu schätzen. Aber ich kann das nicht annehmen. Kehren Sie zu Ihrem Mädchen zurück! Wenn da etwas falsch gemacht wurde, dann war es zweifellos sie, die das getan hat. Aber Sie werden ihr bestimmt verzeihen!«
»Zuchra, so glaub mir doch!«
»Nein, hören Sie bitte damit auf!«
Sie sagt das mit erschreckendem Nachdruck, aber ihren Augen ist die Erschöpfung anzumerken. Es scheint, als ob sie alles als bedrückend empfindet. Sie dankt mir noch einmal mit einem Kopfnicken und geht dann schnell entschlossen hinaus.
Wieder spüre ich die Leere in mir. Ich schaue mich um, als suche ich nach Hilfe. Wann wird das Erdbeben einsetzen? Wann der Sturm losbrechen? Was habe ich überhaupt gesagt? Wie habe ich es getan, und warum? Ist da jemand, der mich als Mittel zum Zweck benutzt, wann immer es ihm gefällt? Wenn ja, wie kann ich dem Ganzen Einhalt gebieten?
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Wie kann ich dem Ganzen Einhalt gebieten? Das frage ich mich von neuem, als ich wie von Sinnen das Zimmer verlasse. Ich sehe Sarhan al-Buheri im Salon telefonieren. Sein Koffer steht hinter der Tür. Er wird uns also für immer verlassen. Haßerfüllt beobachte ich ihn von hinten, wie er den Kopf dem Telefonhörer zuneigt. Als erblickte ich meinen Todfeind. Er spielt in meinem Leben eine größere Rolle, als ich es mir vorgestellt habe. Was werde ich mit meinem Leben anfangen, wenn er für immer verschwindet? Wie soll ich ihn wiederfinden? Ich fühle mich von ihm angezogen wie eine Motte vom Licht. Es scheint fast so, als sei er der Schluck Gift, durch den ich Heilung finden könnte.
Seine dröhnende Stimme vor dem Hörer wird lauter: »Gut, heute abend um acht Uhr. Ich warte im Casino Pelikan auf dich!« Er macht also einen Termin für mich fest, setzt mir vielleicht ein Ziel. Er steigert meinen Wahnsinn zur Raserei. Seine dröhnende Stimme reizt mich auf zum Selbstmord, befiehlt mir, ihm zu folgen. Er wird mir die Gnade erweisen, mich aus meiner Leere zu reißen.
Aus Angst, meine eigenwilligen Gefühle könnten mit mir durchgehen, kehre ich wieder in mein Zimmer zurück. Als ich die Pension verlasse, ist von Sarhan keine Spur mehr zu sehen.
Ich gehe zum Atheneus und überlege, ob ich Durrejja einen Brief schreiben soll, aber meine Besessenheit lahmt meinen Willen ebenso wie meinen Verstand.
Dann setze ich mich auf meinen üblichen Platz im Innenhof des Casinos Pelikan wie jemand, der beschlossen hat auszuwandern und sich von der Stadt und all ihren Sorgen bereits verabschiedet hat. Allmählich werde ich ruhiger. Meine Gedanken klären sich. Ich hocke in meiner Ecke, abgeschirmt von Tischen, um die herum viele Männer und Frauen sitzen, bestelle einen Cognac, dann noch einen und beobachte den Eingang. Ein Viertel vor acht erscheint der Held auf der Bildfläche. Er kommt, und vor ihm her geht Tolba Marzuq! War er es, mit dem er telefoniert hat? Seit wann besteht zwischen den beiden diese mir völlig überraschende Freundschaft? Sie setzen sich zehn Tische weiter hin, und der Ober bringt ihnen ebenfalls einen Cognac. Ich muß daran denken, daß ich heute morgen am Frühstückstisch Tolba Marzuqs Vorschlag zugestimmt habe, wir sollten die Silvesternacht gemeinsam im Monseigneur verbringen. Ja, ich habe versprochen, die Silvesternacht mit ihnen zu feiern. Aus der Ferne schaue ich zu, wie sie zusammen trinken, sich unterhalten, miteinander lachen.
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Ich bin darauf bedacht, daß er mich nicht bemerkt, aber er erblickt mich im Spiegel. Ich tue so, als ob ich es nicht merke, und verdamme innerlich den unglücklichen Zufall. Die Straße ist menschenleer. Ich höre seine Schuhe hinter mir quietschen. Ich verlangsame meinen Schritt, bis er mich fast eingeholt hat und wir auf der leeren Straße nebeneinanderher eilen. Er bleibt auf meiner Höhe, wirft mir einen zweifelnden Blick zu, geht dann langsamer, damit er mir seinen Rücken nicht ungeschützt zuwendet.
»Sie verfolgen mich!« wirft er mir vor. »Ich habe Sie von Anfang an beobachtet!«
»Ja!« entgegne ich kühl.
»Und warum?« fragt er, noch vorsichtiger.
Ich nehme die Schere aus meiner Manteltasche und stoße hervor: »Um Sie zu töten!«
»Sie müssen verrückt geworden sein!«sagt er und starrt auf die Schere.
Jeder von uns macht sich bereit, sich auf den anderen zu stürzen oder sich gegen ihn zu verteidigen.
»Sie sind nicht ihr Vormund!« fährt er fort.
»Es ist nicht Zuchras wegen…, nicht nur Zuchras wegen.«
»Aber warum dann?«
»Ich muß Sie töten, um weiterleben zu können!«
»Aber man wird Sie danach ebenfalls töten, haben Sie das denn gar nicht bedacht?«
Wieder habe ich das Gefühl, ein Flüchtling zu sein, der die Stadt mit all ihren Sorgen hinter sich gelassen hat. Es macht mich taumeln wie in einem Rausch.
»Woher wußten Sie eigentlich, wo Sie mich treffen würden?« fragt er mich da.
»Ich habe gehört, wie Sie in der Pension telefonierten.«
»Und da haben Sie den Entschluß gefaßt, mich umzubringen?«
»Ja!«
»Waren Sie dazu nicht schon vorher entschlossen?«
Ich weiß nicht, was ich sagen soll, und schweige. Aber er gibt nicht auf: »In Wirklichkeit wollen Sie das doch gar nicht!«
»Doch, ich will es, und ich werde Sie umbringen!«
»Stellen Sie sich vor, Sie hätten mich in jenem Moment nicht gesehen und gehört!«
»Ich habe es aber getan, und ich werde Sie töten!«
»Aber warum denn nur?«
Wieder weiß ich nicht, was ich sagen soll, jedoch mein Entschluß, ihn zu töten, steht nun endgültig fest.
»Deswegen bringe ich dich um!« schreie ich. »Nimm das… und das…!«
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Ich höre Sarhan lachen, als er mit Tolba Marzuq spricht. Immer wieder einmal steht er auf, geht hinaus und kommt dann wieder zurück.
Innerlich verwünsche ich Tolba Marzuq und sage mir, daß sein Kommen alles verdorben hat. Jedoch nach einer Stunde erhebt er sich, schüttelt Sarhan zum Abschied die Hand und geht. Sarhan bleibt allein zurück, und ich sehne mich nach dem Augenblick, in dem diese Pein ihr Ende findet. Er trinkt weiter, schaut aber ständig nach dem Eingang. Seinen Blicken ist Unruhe und Anspannung anzumerken. Wartet er noch auf jemanden anders? Wird dieser andere kommen und damit die Gelegenheit für immer vorbei sein?
Der Kellner ruft ihn ans Telefon, und er leistet dem Ruf eilig und ungeduldig Folge. Nach einer Weile kehrt er deutlich verärgert oder besser schon verstört zurück. Was ist geschehen? Er setzt sich nicht wieder hin, sondern bezahlt seine Rechnung und geht. Ich beobachte ihn durch die Scheibe, die die Halle von der Bar trennt, und sehe, wie er sich zur Bar wendet. Vielleicht um noch mehr zu trinken? Ich behalte ihn weiter im Auge: Schließlich verläßt er seinen Platz und dreht sich zur Tür. Ich stehe ruhig und gelassen auf. Als ich hinauskomme, hat er schon die Straße überquert. Ich knöpfe meinen Mantel zu, denn es weht ein leichter, aber schneidend kalter Wind. Die Straße ist menschenleer. Um die Laternen hängen Nebelschwaden. Nur das Rascheln der Blätter zu beiden Seiten der Straße durchbricht das Schweigen. Ich gehe vorsichtig weiter, halte mich an die Häuserwände. Aber er scheint ganz in seine Gedanken versunken, achtet nicht auf seine Umgebung, ist so sehr in seiner Welt befangen, daß er seinen Mantel, den er immer noch über dem Arm trägt, ganz vergessen zu haben scheint. Was ist geschehen? Er hatte sich doch während der ganzen Zeit mit Tolba unterhalten, hatte viel gelacht! Was hat ihn jetzt so verwandelt? Ich konzentriere mich auf einen einzigen Gedanken, als sei der allein meine Rettung. Plötzlich wendet er sich dem Feldweg zu, der zum Palma führt. Es ist ein dunkler, einsamer Weg, zu dieser Stunde völlig verlassen. Was sucht er dort? Welches Schicksal waltet hier, das ihn mir so ganz ausliefert? Ich gehe jetzt etwas schneller, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren, und taste mich an den Zäunen entlang. Wir versinken alle beide in der Dunkelheit. Ich beobachte seine schemenhafte Gestalt und halte mich sprungbereit. Aber plötzlich bleibt er stehen. So halte auch ich inne und zittere vor Aufregung. Irgend etwas muß geschehen! Vielleicht kommt jetzt jemand, den ich nicht kenne? Ich muß warten. Da, plötzlich höre ich ihn. Ist das ein Wort? Ein Räuspern? Ein Erbrechen? Langsam geht er ein kleines Stück weiter und fällt dann zu Boden. Offensichtlich ist er stockbetrunken. Er hat mehr Alkohol zu sich genommen, als er verträgt, und nun das Bewußtsein verloren. Ich warte, gespannt lauschend, aber es geschieht nichts. Vorsichtig gehe ich auf ihn zu und stolpere schließlich fast über ihn. Ich neige mich über ihn, will ihn ansprechen, aber mir versagt die Stimme. Ich betaste seinen Körper, sein Gesicht. Er regt sich nicht. Er ist so betrunken, daß er nichts mehr merkt, und wird ohne Schmerz oder Furcht aus dieser Welt scheiden, ganz so, wie es sich der alte Amir Wagdi für sich wünscht. Ich schüttle ihn sanft, er gibt jedoch keinen Laut von sich. Nun fasse ich ihn derber an, er kommt aber immer noch nicht wieder zu sich. Schließlich bewege ich ihn ziemlich heftig hin und her, doch es gibt keinerlei Hoffnung, daß er aus seiner Bewußtlosigkeit erwachen könnte. Bestürzt richte ich mich auf. Ich taste nach der Schere in meiner Tasche, finde sie jedoch nicht. Vergeblich suche ich sie an all den Stellen, wo sie sein könnte. Offenbar bin ich so zerstreut gewesen, daß ich vergessen habe, sie einzustecken. Ich war verwirrt gewesen, innerlich zerrissen, verzweifelt. Dann war Madame gekommen, um meine Meinung darüber zu hören, wo wir die Silvesternacht verbringen könnten. Ja, ich bin tatsächlich aus dem Zimmer gegangen, ohne an das zu denken, weswegen allein ich wieder in es zurückgekehrt war. Mein Zorn auf mich selbst wird nur noch größer, wie meine Wut über denjenigen wächst, der da volltrunken und in einem glücklichen Trancezustand, den er gar nicht verdient, vor mir liegt. Ich trete ihn in die Seite, trete noch einmal, diesmal heftiger, trete ihn ein drittes Mal, nun mit voller Kraft. Ich verliere jede Selbstbeherrschung, trample auf ihm herum, lasse meinen Zorn, meine Besessenheit an ihm aus. Schließlich lehne ich mich erschöpft an den Zaun, keuchend vor Anstrengung, und sage mir, daß ich ihn umgebracht haben muß. Mühsam ringe ich nach Luft und verspüre Ekel. Mich überkommt das dunkle Gefühl, daß ich wahnsinnig geworden bin und hier in der Dunkelheit der Nacht irre, brutale Bewegungen vollführt habe. Ich muß an Durrejja denken, erinnere mich daran, wie sie mir in die Augen sah und dann in der Menschenmenge verschwand.
Zu Fuß gehe ich in die Pension zurück. Ich stelle mir Zuchra vor, wie sie jetzt wohl den tiefen, würgenden Schlaf der Erschöpfung schläft. Ich nehme eine Schlaftablette und werfe mich aufs Bett.
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Mein Bruder stößt mich mit Gewalt vor sich her, packt mich so an den Schultern, daß ich vor Wut schreie: »Du zerstörst mich für immer!«