11. Kapitel

Caitlin spürte, wie sie immer langsamer wurden und weiter an Höhe verloren. Sie öffnete die Augen. Keines der Gebäude unter ihnen kam ihr bekannt vor. Offensichtlich waren sie in einem Vorort, womöglich irgendwo in der Bronx.

Sie flogen über einen kleinen Park, und in der Ferne glaubte sie ein Kloster zu erkennen. Als sie näher kamen, sah sie, dass es sich tatsächlich um ein Kloster handelte. Was hatte denn ein Kloster in New York City zu suchen?

Angestrengt zerbrach sie sich den Kopf. Auf einmal fiel ihr ein, dass sie dieses festungsähnliche Gebäude schon einmal gesehen hatte. Irgendwo auf einer Ansichtskarte … Ja. Es war ein Museum. Als sie einen kleinen Hügel hinaufflogen, sah sie die Befestigungsmauern und die mittelalterlich anmutenden Kreuzgänge. Plötzlich wusste sie wieder, worum es sich handelte: The Cloisters. Das kleine Museum, das zum Metropolitan Museum of Art in New York City gehörte. Die Fragmente waren in Europa zusammengetragen und Stück für Stück in die USA gebracht worden. Es war viele Hundert Jahre alt. Warum brachte er sie hierher?

Sie überflogen die äußeren Mauern und landeten sanft auf einer großen Steinterrasse, von der aus man den Hudson River sehen konnte. Es war dunkel, trotzdem landete er mit beiden Füßen elegant auf dem Steinboden. Vorsichtig ließ er sie herunter.

Als sie ihm gegenüberstand, betrachtete sie ihn genau. Sie hoffte, dass er sich nicht als Traumfigur entpuppen und gleich wegfliegen würde. Und sie hoffte, dass er wirklich so fantastisch aussah, wie sie ihn in Erinnerung hatte.

Das tat er. Womöglich sogar noch besser. Er blickte mit seinen großen braunen Augen auf sie hinunter, und in dem Moment war sie verloren.

Es gab so viele Fragen, die sie ihm gerne stellen wollte, dass sie überhaupt nicht wusste, womit sie beginnen sollte. Wer war er? Warum konnte er fliegen? War er ein Vampir? Warum hatte er für sie sein Leben riskiert? Warum hatte er sie hierhergebracht? Und was am wichtigsten war: War all das, was sie gerade erlebt hatte, nur eine wilde Halluzination gewesen? Oder gab es tatsächlich Vampire, und das mitten in New York City? War sie auch einer?

Sie öffnete den Mund, um ihn auszufragen, aber alles, was sie herausbrachte, war: »Warum sind wir hier?«

Ihr war sofort klar, wie dumm die Frage war, und sie hasste sich dafür, nichts Wichtigeres gefragt zu haben. Doch als sie dort so in der kalten Märznacht stand, das Gesicht ein wenig taub vor Kälte, brachte sie einfach nicht mehr zustande.

Er starrte sie an. Sein Blick schien ihre Seele zu durchbohren, als könnte er in sie hineinsehen. Es sah aus, als überlegte er, wie viel er ihr anvertrauen sollte.

Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete er schließlich den Mund und wollte etwas sagen.

Doch da rief jemand: »Caleb!«, und sie drehten sich beide um.

Eine Gruppe von Männern – waren es Vampire? – in schwarzer Kleidung marschierte direkt auf sie zu. Caleb wandte sich ihnen zu. Caleb. Der Name gefällt mir.

»Wir haben keine Freigabe für deine Ankunft«, erklärte der Mann in der Mitte äußerst ernst.

»Ich komme unangekündigt«, entgegnete Caleb geradeheraus.

»Dann müssen wir dich in Gewahrsam nehmen«, erwiderte der Mann und nickte seinen Männern zu, die Caleb und Caitlin langsam einkreisten. »So sind die Regeln.«

Caleb nickte unbeeindruckt. Der Mann in der Mitte sah Caitlin direkt an. Sie entdeckte Missbilligung in seinen Augen.

»Du weißt, dass wir sie nicht reinlassen können«, erinnerte er Caleb.

»Doch, das werdet ihr«, entgegnete Caleb bestimmt. Fest erwiderte er den Blick des Mannes. Hier wurde offensichtlich ein Machtkampf ausgetragen.

Caitlin merkte, dass der Mann unsicher war, was er tun sollte. Es folgte ein langes, angespanntes Schweigen.

»Na schön«, meinte er schließlich, drehte sich abrupt um und ging voraus. »Das ist deine Sache.«

Caleb folgte ihm mit Caitlin an seiner Seite.

Der Mann öffnete eine riesige mittelalterliche Tür, indem er an dem runden Türöffner aus Messing zog. Dann trat er zur Seite und bedeutete Caleb, einzutreten. Drinnen standen zwei schwarz gekleidete Männer direkt links und rechts neben der Tür.

Caleb nahm Caitlin an der Hand und führte sie hinein. Als sie durch den steinernen Torbogen trat, hatte sie das Gefühl, in einem anderen Jahrhundert gelandet zu sein.

»Ich nehme an, wir müssen keinen Eintritt zahlen«, sagte Caitlin zu Caleb und lächelte.

Er sah sie an und blinzelte. Offensichtlich brauchte er einen Moment, um zu begreifen, dass sie einen Scherz gemacht hatte. Doch dann erwiderte er ihr Lächeln.

Er hatte ein wunderschönes Lächeln.

Plötzlich musste sie an Jonah denken und war verwirrt. Es sah ihr nicht ähnlich, starke Gefühle für einen Jungen zu entwickeln – und schon gar nicht für zwei am selben Tag. Sie mochte Jonah immer noch. Aber Caleb war anders. Jonah war ein Junge, aber Caleb war – obwohl er jung aussah – ein Mann. Oder war er … etwas anderes? Er hatte etwas an sich, was sie sich nicht erklären konnte, und sie war nicht in der Lage, den Blick von ihm zu wenden. Es war etwas, das in ihr den Wunsch weckte, ihm nicht mehr von der Seite zu weichen. Sie mochte Jonah sehr. Aber sie brauchte Caleb. In seiner Nähe zu sein füllte sie vollständig aus.

Calebs Lächeln verschwand so schnell, wie es gekommen war. Er war eindeutig beunruhigt.

»Ich fürchte, unser Eintrittspreis wird viel höher sein«, sagte er, »falls dieses Treffen nicht so läuft, wie ich es mir erhoffe.«

Er führte sie durch einen weiteren Torbogen in einen kleinen mittelalterlichen Innenhof. Der Hof war vollkommen symmetrisch und an allen vier Seiten von Säulen und Bogengewölben umgeben. Im Mondschein sah er wunderschön aus. Sie konnte kaum glauben, dass sie sich immer noch in New York City befanden. Genauso gut hätten sie irgendwo in Europa auf dem Land sein können.

Sie überquerten den Hof und gingen einen langen Gang entlang. Das Geräusch ihrer Schritte wurde von den Steinwänden zurückgeworfen. Mehrere Männer begleiteten sie. Ob es wohl Vampire waren? Und falls ja, warum waren sie so zivilisiert? Warum griffen sie weder Caleb noch sie an?

Sie bogen in einen weiteren Gang ein und traten durch eine weitere mittelalterliche Tür. Dann wurden sie plötzlich aufgehalten.

Vor ihnen stand ein Mann – ebenfalls schwarz gekleidet –, der Caleb verblüffend ähnlich sah. Er trug einen voluminösen roten Umhang um die Schultern und war in Begleitung einer Gruppe von Männern. Offensichtlich hatte er eine verantwortliche Position.

»Caleb«, sagte er leise. Er klang betroffen.

Caleb sah ihn mit ruhigem Blick an.

»Samuel«, erwiderte Caleb.

Der Mann schüttelte ganz leicht den Kopf.

»Keine Umarmung für deinen verlorenen Bruder?«, fragte Caleb.

»Du weißt, dass die Lage sehr ernst ist«, entgegnete Samuel. »Du hast mehrere Gesetze gebrochen, indem du heute Nacht hierhergekommen bist. Insbesondere, indem du sie mitgebracht hast.«

Er machte sich nicht einmal die Mühe, Caitlin eines Blickes zu würdigen. Sie war beleidigt.

»Aber ich hatte keine andere Wahl«, verteidigte sich Caleb. »Der Tag ist gekommen. Es herrscht Krieg.«

Unter den Vampiren, die hinter Samuel standen, brach unterdrücktes Gemurmel aus, ebenso in der wachsenden Gruppe hinter Caleb und Caitlin. Sie drehte sich um und stellte fest, dass sie inzwischen von mehr als einem Dutzend Vampiren umgeben war. Allmählich bekam sie Platzangst. Sie waren absolut in der Unterzahl, und es gab keinen Ausweg. Zwar hatte sie keine Ahnung, was Caleb getan hatte, aber was auch immer es war – sie hoffte, dass es ihm gelingen würde, sich herauszureden.

Samuel hob die Hände, und das Gemurmel erstarb.

»Was noch wichtiger ist«, fuhr Caleb fort, »ist diese Frau hier.« Er nickte in Caitlins Richtung. »Sie ist es.«

Frau. Caitlin war noch nie als Frau bezeichnet worden. Das gefiel ihr. Aber sie verstand nicht, was er meinte. Sie ist es? Er hatte den Satz so komisch betont, beinahe, als würde er vom Messias reden. Langsam fragte sie sich, ob sie alle verrückt waren.

Wieder ging ein Raunen durch die Menge, und alle Köpfe wandten sich ihr zu, alle starrten sie an.

»Ich muss den Rat sehen«, verlangte Caleb. »Und ich muss sie mitnehmen.«

Samuel schüttelte den Kopf.

»Du weißt, dass ich dich nicht davon abhalten kann. Ich kann dir bloß einen Rat geben. Und ich rate dir, sofort zu gehen, auf deinen Posten zurückzukehren und zu warten, bis der Rat dich rufen lässt.«

Starr erwiderte Caleb seinen Blick. »Ich fürchte, das ist nicht möglich.«

»Du hast schon immer getan, was du wolltest«, stellte Samuel fest.

Er trat zur Seite und bedeutete Caleb mit einer Geste, dass er passieren konnte.

»Deine Frau wird nicht erfreut sein«, kommentierte Samuel.

Frau?, dachte Caitlin, und ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter. Warum war sie plötzlich so wahnsinnig eifersüchtig? Wie konnte es bloß sein, dass sie in so kurzer Zeit so starke Gefühle für Caleb entwickelt hatte? Welches Recht hatte sie, so besitzergreifend zu sein?

Sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss. Es machte ihr tatsächlich etwas aus. Zwar ergab das nicht den geringsten Sinn, aber es machte ihr sogar sehr viel aus. Warum hat er mir nicht erzählt …

»Nenn sie nicht so«, entgegnete Caleb. Seine Wangen waren ebenfalls feuerrot. »Du weißt, dass …«

»Du weißt was?!«, schrie eine weibliche Stimme.

Alle drehten sich um, als eine Frau den Gang entlang auf sie zukam. Sie war ebenfalls von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet und hatte lange, wallende rote Haare, die sich über ihre Schultern ergossen, und riesige, funkelnde grüne Augen. Sie war groß, alterslos und auffallend schön.

In ihrer Gegenwart fühlte Caitlin sich klein und unbedeutend, als wäre sie gerade geschrumpft. Das war eine Frau. Oder war sie … ein Vampir? Was auch immer sie sein mochte, sie war eine Kreatur, mit der Caitlin sich niemals würde messen können. Sie war ernüchtert und sofort bereit, ihr Caleb kampflos zu überlassen.

»Du weißt was!?«, wiederholte die Frau und starrte Caleb wütend an, wobei sie dicht an ihn herantrat. Sie warf Caitlin einen kurzen Blick zu und verzog die Lippen zu einem höhnischen Grinsen. Noch nie hatte jemand Caitlin derart hasserfüllt angesehen.

»Sera«, sagte Caleb sanft, »wir sind seit siebenhundert Jahren nicht mehr verheiratet.«

»Vielleicht deiner Ansicht nach«, fauchte sie.

Langsam umkreiste sie die beiden. Dabei musterte sie Caitlin von Kopf bis Fuß, als wäre sie ein ekliges Insekt.

»Wie kannst du es wagen, sie hierherzubringen!«, knurrte sie. »Also wirklich, das hättest du eigentlich besser wissen müssen.«

»Sie ist es. Die, auf die wir gewartet haben. Die Auserwählte«, erklärte Caleb entschieden.

Anders als die anderen wirkte diese Frau nicht überrascht. Stattdessen lachte sie nur spöttisch.

»Das ist ja lächerlich«, entgegnete sie. »Du hast Krieg über uns gebracht, und das für einen Menschen. Bloß weil du ein bisschen verliebt bist«, fügte sie mit wachsender Verärgerung hinzu. Mit jedem Satz schien sie mehr Unterstützung von der Menge hinter sich zu bekommen, deren Zorn langsam wuchs. Allmählich wurden die Vampire zu einem wütenden Mob.

»Eigentlich«, fuhr Sera fort, »haben wir das Recht, sie zu zerfleischen.«

Die Zuschauer hinter ihr begannen zustimmend zu murmeln. Wut blitzte in Calebs Gesicht auf.

»Dann müsstest du zuerst mich erledigen«, erwiderte er und hielt ihrem Blick stand.

Caitlin wurde es warm ums Herz. Schon wieder setzte er für sie sein Leben aufs Spiel. Vielleicht bedeutete sie ihm doch etwas.

Samuel trat zwischen die beiden und streckte die Hände aus. Die Menge beruhigte sich wieder.

»Caleb hat um eine Audienz vor dem Rat gebeten«, erklärte er. »Das ist das Mindeste, was wir ihm schuldig sind. Lasst ihn seinen Fall darlegen. Lasst den Rat entscheiden.«

»Warum sollten wir?«, fauchte Sera.

»Weil ich es gesagt habe«, antwortete Samuel mit eiserner Entschlossenheit. »Und hier erteile immer noch ich die Befehle, Sera, nicht du.« Samuel warf ihr einen langen, strengen Blick zu. Schließlich zog sie sich zurück.

Samuel trat zur Seite und zeigte auf die Steintreppe.

Caleb nahm wieder Caitlins Hand und führte sie die breiten Steinstufen hinunter, die irgendwo in der Dunkelheit verschwanden.

Hinter ihnen erscholl höhnisches Gelächter.

»Und tschüss!«

Загрузка...