14. Kapitel

Begleitet von einer kleinen Gruppe Vampire marschierte Kyle den Gang entlang. Ihre Schritte hallten von den Steinwänden wider. Einer seiner Helfer leuchtete ihnen mit einer Fackel den Weg.

Sie näherten sich der Kommandozentrale, einer unterirdischen Kammer, die nur von solchen Vampiren betreten wird, die eine ausdrückliche Erlaubnis erhalten haben. Kyle war noch nie hier gewesen. Aber an diesem Tag war er vom obersten Meister höchstpersönlich herzitiert worden. Die Angelegenheit musste also ernst sein. In viertausend Jahren war Kyle noch nie hierherbestellt worden. Aber er hatte von anderen gehört, denen das widerfahren war. Sie waren gekommen und nie wieder zurückgekehrt.

Kyle schluckte schwer und beschleunigte seinen Schritt. Er war immer schon der Meinung gewesen, dass man unangenehme Dinge am besten schnell hinter sich brachte.

Schließlich kamen sie an eine große Tür. Sie stand offen, wurde aber von mehreren Vampiren bewacht. Kalt erwiderten sie seinen Blick. Doch dann traten sie zur Seite und machten den Weg frei. Nachdem Kyle durch die Tür getreten war, streckten sie ihre Stäbe aus und hinderten die anderen daran, ihm zu folgen. Die Tür schlug hinter Kyle zu.

Drinnen standen Dutzende von Vampiren in strammer Haltung an beiden Seiten des Raumes. Vorne in der Mitte entdeckte er einen mächtigen Marmorthron, und darin saß Rexus, der oberste Meister.

Kyle trat mehrere Schritte vor, neigte den Kopf und wartete darauf, dass Rexus das Wort an ihn richtete.

Der Meister starrte ihn aus seinen kalten, harten eisblauen Augen an.

»Erzähl mir alles über diesen Menschen oder das Halbblut … oder was auch immer sie ist. Alles, was du weißt«, forderte Rexus Kyle auf. »Und über diesen Spion. Wie konnte er sich einschleusen?«

Kyle holte tief Luft und begann zu berichten.

»Über das Mädchen wissen wir nicht viel«, gab er zu. »Wir haben keine Ahnung, warum das Weihwasser keine Wirkung auf sie hatte. Aber wir wissen, dass sie es war, die über den Opernsänger hergefallen ist. Er befindet sich inzwischen in unserer Obhut, und wir erwarten, dass er uns zu ihr führen wird, sobald er sich erholt hat. Er wurde von ihr verwandelt. Ihr Geruch ist in seinem Blut.«

»Welchem Clan gehört sie an?«, fragte Rexus.

Kyle bewegte sich unruhig hin und her. Er wählte seine Worte sehr sorgfältig.

»Wir glauben, dass sie ein aus der Art geschlagener Vampir ist, eine Einzelgängerin.«

»Glauben!? Weißt du denn gar nichts?«

Die Zurechtweisung ließ Kyle das Blut in die Wangen schießen.

»Also hast du sie in unsere Mitte gebracht, ohne etwas über sie zu wissen«, stellte Rexus fest. »Du hast unseren gesamten Clan in Gefahr gebracht.«

»Ich habe sie hergebracht, um sie zu vernehmen. Ich hatte keine Ahnung, dass sie immun …«

»Und was ist mit dem Spion?«, fiel Rexus ihm ins Wort.

Kyle schluckte.

»Caleb. Wir haben ihn vor zweihundert Jahren aufgenommen. Er hat seine Loyalität viele Male unter Beweis gestellt. Wir hatten nie einen Grund, ihm zu misstrauen.«

»Wer hat ihn rekrutiert?«, wollte Rexus wissen.

Kyle machte eine Pause und schluckte erneut.

»Ich.«

»Aha«, sagte Rexus. »Also hast du gleich zweimal eine Bedrohung in unsere Reihen geholt.«

Rexus blitzte ihn an. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Eine Feststellung voller Verachtung.

»Es tut mir leid, Meister«, antwortete Kyle und neigte den Kopf. »Aber zu meiner Verteidigung möchte ich anmerken, dass niemand hier, kein einziger Vampir, je einen Verdacht gegen Caleb gehegt hat. Bei vielen Gelegenheiten …«

Rexus hob die Hand.

Kyle brach ab.

»Du hast mich gezwungen, den Krieg zu beginnen. Jetzt muss ich unsere ganzen Ressourcen umverteilen. Unser Masterplan muss erst einmal auf Eis gelegt werden.«

»Es tut mir leid, Meister. Ich werde alles tun, um sie zu finden, und dann wird sie dafür büßen.«

»Ich fürchte, dafür ist es zu spät.«

Kyle schluckte erneut und wappnete sich gegen das, was als Nächstes kommen würde. Falls es der Tod war, so war er bereit.

»Du musst dich nicht länger vor mir verantworten. Ich selbst bin ebenfalls vorgeladen worden. Und zwar vor den Obersten Rat.«

Kyle riss die Augen auf. Sein ganzes Leben lang hatte er Gerüchte über diesen Obersten Rat gehört, das oberste Gremium der Vampire, vor dem sich sogar der oberste Meister zu verantworten hatte. Doch jetzt erst wusste er mit Sicherheit, dass dieser Oberste Rat tatsächlich existierte und dass er vorgeladen werden würde.

»Sie sind äußerst unzufrieden mit den heutigen Ereignissen und fordern Antworten. Du wirst ihnen die Fehler erklären, die du begangen hast – warum sie entkommen ist, wie sich ein Spion einschleusen konnte … Außerdem wirst du Pläne zur Ausmerzung anderer Spione vorlegen. Und dann wirst du ihr Urteil akzeptieren.«

Kyle nickte langsam. Angesichts der Dinge, die auf ihn zukamen, erfüllte ihn Entsetzen. Das alles hörte sich gar nicht gut an.

»Wir kommen in der nächsten Neumondnacht zusammen. Das verschafft dir Zeit. Ich schlage vor, dass du unterdessen dieses Halbblut findest. Wenn es dir gelingt, könnte es dir das Leben retten.«

»Meister, ich verspreche, dass ich alles dafür tun werde. Ich selbst werde die Suchaktion leiten. Wir werden sie finden. Und wir werden sie büßen lassen.«

Загрузка...