15. Kapitel

Jonah saß auf der Polizeiwache und hatte große Angst. Auf der einen Seite saß sein Dad, der nervöser wirkte, als Jonah ihn je erlebt hatte, und auf der anderen sein frisch angeheuerter Anwalt. Ihnen gegenüber in dem kleinen, hell erleuchteten Verhörraum hatten fünf Polizeibeamte Platz genommen. Hinter ihnen befanden sich fünf weitere Polizisten, die alle nervös auf und ab gingen.

Es war die Schlagzeile des Tages: Ein international gefeierter Opernsänger war ermordet worden – während seines ersten Auftritts auf amerikanischem Boden, mitten in der Carnegie Hall –, und zwar unter äußerst seltsamen Umständen. Aber das war noch nicht alles! Als die Polizei ihrer einzigen Spur nachgegangen und das Apartment der einzigen verdächtigen Person – einer jungen Frau – aufgesucht hatte, waren vier Polizisten ums Leben gekommen.

Nun waren sie nicht nur hinter der »Beethoven-Schlächterin« her (manche Zeitungen bezeichneten die verdächtige Frau auch als »Carnegie-Hall-Mörderin«), sondern jagten zudem auch noch einen Polizistenmörder – einen vierfachen Polizistenmörder, um genau zu sein! Jeder Polizist in der Stadt war auf die Morde angesetzt, und keiner von ihnen würde ruhen, bis der Fall gelöst war.

Doch die einzige Spur, die sie momentan hatten, saß ihnen gegenüber. Jonah. Die Person, die den Abend mit ihr verbracht hatte.

Jonah spürte, wie sich erneut Schweißtropfen auf seiner Stirn bildeten. Inzwischen saß er seit mehr als sechs Stunden in diesem Raum. In den ersten drei Stunden hatte er sich ständig den Schweiß abgewischt, doch jetzt ließ er die Tropfen einfach herunterlaufen. Er war längst auf seinem Stuhl zusammengesackt und völlig am Ende.

Tatsächlich wusste er nicht, was er noch hinzufügen sollte. Ein Polizist nach dem anderen war ins Zimmer gekommen, und sie alle hatten ihm dieselben Fragen gestellt, immer wieder.

Wie lange kennst du sie schon? Warum hast du sie in dieses Konzert mitgenommen? Warum ist sie in der Pause gegangen? Warum bist du ihr nicht gefolgt?

Wie war es nur so weit gekommen? Als sie kam, war sie so hübsch gewesen. Und so süß. Er hatte sich in ihrer Gegenwart wohlgefühlt und es geliebt, sich mit ihr zu unterhalten. Er war davon überzeugt gewesen, dass es ein traumhaftes Date werden würde.

Doch dann hatte sie angefangen, sich irgendwie seltsam zu benehmen. Kurz nach Beginn des Konzerts war sie immer unruhiger geworden. Sie hatte … krank war nicht das richtige Wort … Sie hatte … zappelig gewirkt. Er hatte das Gefühl gehabt, sie würde gleich platzen. Als müsste sie dringend irgendwohin, und zwar schnell.

Zuerst hatte er geglaubt, das Konzert gefiele ihr nicht. Er fragte sich, ob es doch keine gute Idee gewesen war, sie einzuladen. Dann hatte er überlegt, ob sie ihn vielleicht nicht mochte. Aber allmählich war ihre Rastlosigkeit immer auffälliger geworden, und er hatte die Hitze, die sie ausstrahlte, förmlich spüren können. Inzwischen machte er sich Gedanken, ob sie nicht vielleicht doch krank war – vielleicht litt sie ja an einer Lebensmittelvergiftung.

Als sie schließlich aufgesprungen und hinausgestürmt war, hatte er gedacht, sie würde zur Damentoilette rennen. Er war zwar verwirrt gewesen, hatte aber geduldig vor der Tür gewartet. Er war davon ausgegangen, dass sie nach der Pause wiederkommen würde. Erst nach fünfzehn Minuten – nach dem letzten Pausengong – war er allein an seinen Platz zurückgekehrt.

Und nach weiteren fünfzehn Minuten waren plötzlich im ganzen Saal die Lichter aufgeflammt. Ein Mann war auf die Bühne getreten und hatte verkündet, dass das Konzert nicht fortgesetzt werden würde. Das für die Konzertkarten bezahlte Geld werde zurückerstattet. Doch einen Grund hatte er nicht genannt. Die Menschen waren verblüfft und verärgert gewesen, aber hauptsächlich verwundert. Jonah besuchte schon sein ganzes Leben lang Konzerte, aber er hatte noch nie einen Abbruch nach der Pause erlebt. War der Sänger krank geworden?

»Jonah?«, blaffte die Polizistin ihn an.

Jonah schreckte auf.

Die Polizistin starrte ihn wütend an. Detective Grace war ihr Name. Sie wirkte ausgesprochen tough. Und sie war unerbittlich.

»Hast du nicht gehört, was ich dich gerade gefragt habe?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich möchte, dass du mir noch einmal alles erzählst, was du über sie weißt«, forderte sie. »Wiederhole, wie du sie kennengelernt hast.«

»Diese Frage habe ich bestimmt schon tausend Mal beantwortet«, erwiderte Jonah frustriert.

»Ich will es noch einmal hören.«

»Ich habe sie in der Schule kennengelernt. Sie war neu. Ich habe ihr meinen Sitzplatz angeboten.«

»Was geschah dann?«

»Wir sind ins Gespräch gekommen, haben uns später zufällig in der Cafeteria getroffen. Dann habe ich sie ins Konzert eingeladen, und sie hat Ja gesagt.«

»Das war alles?«, hakte Detective Grace nach. »Sonst gibt es keine weiteren Einzelheiten, gar nichts?«

Jonah überlegte, wie viel er ihnen verraten sollte. Natürlich gab es noch mehr. Er war von diesen Schlägern vermöbelt worden, und danach hatte Caitlins Tagebuch unerklärlicherweise neben ihm gelegen. Deshalb hatte er vermutet, dass sie da gewesen war – und dass sie ihm geholfen hatte. Vielleicht hatte sie sogar diese Typen verprügelt. Wie sie das gemacht haben sollte, konnte er sich allerdings nicht erklären.

Aber sollte er das den Bullen erzählen? Die Geschichte von den Schlägern? Dass er glaubte, er habe sie dort gesehen? Dass er glaubte, sich daran zu erinnern, dass sie vier Typen verdroschen hatte, die doppelt so groß waren wie sie selbst? Nichts davon ergab einen Sinn, nicht einmal für ihn. Ganz gewiss könnten auch sie sich keinen Reim darauf machen. Sie würden bloß annehmen, dass er log und sich irgendetwas ausdachte. Nein, sie waren hinter ihr her. Und er würde ihnen nicht helfen.

Trotz allem wollte er sie immer noch beschützen. Doch er verstand nicht, was da passiert war. Und ein Teil von ihm glaubte es einfach nicht, wollte es nicht glauben. Hatte sie wirklich diesen Opernsänger umgebracht? Warum? Und hatte er wirklich zwei Löcher im Hals, wie die Zeitungen schrieben? Hatte sie ihn etwa gebissen? War sie vielleicht eine Art …

»Jonah!«, rief Grace ungeduldig. »Ich habe gefragt, ob da sonst noch etwas ist?«

Die Polizistin starrte ihn an.

»Nein«, antwortete er schließlich. Er hoffte, dass sie nicht merkte, dass er log.

Ein anderer Detective trat vor. Er beugte sich zu Jonah hinunter und sah ihm in die Augen. »Hat irgendetwas von dem, was sie an dem Abend gesagt hat, darauf hingedeutet, dass sie psychisch labil sein könnte?«

Jonah runzelte die Stirn.

»Sie meinen, ob ich denke, dass sie verrückt ist? Warum sollte ich das? Wir haben uns gut verstanden. Ich mag sie. Sie ist klug und nett. Ich unterhalte mich gerne mit ihr.«

»Worüber genau habt ihr gesprochen?« Das war wieder der weibliche Detective.

»Über Beethoven«, entgegnete Jonah.

Die Polizisten tauschten Blicke. Sie sahen so verwirrt und angewidert aus, als hätte er Pornografie gesagt.

»Beethoven?«, fragte einer der Polizisten – ein untersetzter Typ in den Fünfzigern – spöttisch. Jonah war erschöpft und wollte ihm seinen Spott heimzahlen.

»Er war Komponist.«

»Ich weiß, wer Beethoven war, du kleiner Mistkerl!«, schnauzte er Jonah an.

Nun mischte sich noch ein anderer Polizist ein. Er war über sechzig und hatte ein rotes Gesicht. Er stützte sich mit seinen großen Händen auf den Tisch und beugte sich dann so weit vor, dass Jonah seinen schlechten Atem riechen konnte. »Hör mal, Kumpel, das ist kein Spiel. Wegen deiner kleinen Freundin mussten vier Polizisten sterben«, erinnerte er ihn. »Und wir wissen, dass du weißt, wo sie sich versteckt. Du solltest besser den Mund aufmachen und …«

Jonahs Anwalt hob die Hand. »Das ist reine Spekulation, Detective. Sie können meinen Mandanten nicht beschuldigen …«

»Ihr Mandant ist mir scheißegal!«, brüllte der Detective.

Angespanntes Schweigen erfüllte den Raum.

Plötzlich ging die Tür auf, und ein weiterer Polizist kam herein. Er trug Latexhandschuhe und hatte Jonahs Handy dabei. Er legte es vor Jonah auf den Tisch. Jonah freute sich, es zurückzubekommen.

»Habt ihr etwas gefunden?«, fragte einer der Polizisten.

Der Kollege mit dem Handy streifte die Handschuhe ab und warf sie in den Mülleimer. Er schüttelte den Kopf.

»Nichts. Das Handy ist sauber. Vor dem Konzert hat er ein paar Kurzmitteilungen von ihr bekommen, das ist alles. Wir haben ihre Nummer angerufen, aber das Handy ist ausgeschaltet. Jetzt überprüfen wir sämtliche Verbindungen. Übrigens sagt er die Wahrheit: Vor dem gestrigen Tag hat sie ihn noch nie angerufen und ihm auch keine Nachrichten geschickt.«

»Das habe ich Ihnen doch gesagt«, warf Jonah ein.

»Meine Damen und Herren Polizisten, sind wir jetzt fertig?«, fragte Jonahs Anwalt.

Die Polizisten wechselten rasch einen Blick.

»Mein Mandant hat kein Verbrechen begangen. Er hat kooperiert und sämtliche Fragen beantwortet. Außerdem hat er nicht die Absicht, den Staat New York oder auch nur die Stadt zu verlassen. Auch weiterhin steht er Ihnen jederzeit für Fragen zur Verfügung. Ich bitte also darum, dass er jetzt gehen kann. Schließlich ist er noch Schüler und muss morgen früh in die Schule.« Der Anwalt sah auf seine Uhr. »Gentlemen, es ist fast ein Uhr nachts.«

Genau in diesem Moment klingelte und vibrierte es laut. Alle Blicke richteten sich auf Jonahs Handy, das vor ihm auf dem Metalltisch lag. Dann vibrierte es erneut und leuchtete auf. Noch bevor Jonah danach greifen konnte, sah er bereits, von wem die SMS stammte – und alle anderen im Raum sahen es ebenfalls.

Sie war von Caitlin.

Sie wollte wissen, wo er war.

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