3. Kapitel

Caitlin rannte. Die Schläger waren zurück, und sie jagten sie die Straße entlang. Vor ihr lag eine Sackgasse, die vor einer massiven Mauer endete, aber sie lief trotzdem weiter, direkt darauf zu. Sie wurde immer schneller, unglaublich schnell, und die Häuser flogen nur so an ihr vorbei. Der Wind wehte durch ihre Haare.

Als sie der Mauer immer näher kam, sprang sie, und mit einem einzigen Satz stand sie oben, in fast zehn Metern Höhe. Ein weiterer Sprung, und wieder flog sie meterweit durch die Luft. Diesmal landete sie auf dem Asphalt, allerdings ohne aus dem Rhythmus zu geraten. Sie rannte und rannte. Dabei fühlte sie sich stark und unbesiegbar. Ihre Geschwindigkeit erhöhte sich weiter, und sie hatte das Gefühl, fliegen zu können.

Als sie nach unten sah, wurde der Asphalt vor ihren Augen zu Gras – hohem, schwankendem grünem Gras. Sie durchquerte eine Prärie, die Sonne schien, und sie erkannte die Gegend als die Heimat ihrer frühen Kindheit.

Sie spürte, dass in der Ferne am Horizont ihr Vater stand. Sie näherte sich ihm; sah ihn jetzt deutlicher. Er hatte die Arme weit ausgebreitet und strahlte über das ganze Gesicht.

Sie sehnte sich danach, ihn wiederzusehen, und rannte mit aller Kraft.

Doch plötzlich stürzte sie.

Ein riesiges, mittelalterliches Portal öffnete sich, und sie betrat eine Kirche. Sie ging einen schwach beleuchteten Gang entlang, an dessen beiden Seiten Fackeln brannten. Vor dem Altar kniete ein Mann mit dem Rücken zu ihr. Als sie sich ihm näherte, erhob er sich und drehte sich um.

Es war ein Priester. Er sah sie an und erblasste vor Furcht. Sie spürte das Blut in ihren Adern fließen und sah sich selbst dabei zu, wie sie auf den Mann zuging. Sie war nicht in der Lage, stehen zu bleiben. Voller Furcht streckte er ihr ein Kreuz entgegen.

Doch sie stürzte sich trotzdem auf ihn. Dabei merkte sie, wie ihre Zähne länger wurden – zu lang –, und sie sah, wie sie sich in den Hals des Priesters bohrten.

Er schrie gellend auf, aber das war ihr egal. Sie spürte, wie sein Blut durch ihre Zähne hindurch und in ihre Venen strömte, und es war das großartigste Gefühl ihres Lebens.

Caitlin setzte sich ruckartig im Bett auf und atmete heftig. Orientierungslos sah sie sich um. Grelles Sonnenlicht strömte herein.

Endlich begriff sie, dass sie nur geträumt hatte. Sie wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn und schwang die Beine aus dem Bett.

Stille. Dem Sonnenstand nach zu urteilen, mussten Sam und ihre Mom die Wohnung bereits verlassen haben. Sie warf einen Blick auf die Uhr und sah, dass es in der Tat schon spät war: acht Uhr fünfzehn. Sie würde an ihrem zweiten Schultag zu spät kommen.

Super.

Es wunderte sie, dass Sam sie nicht geweckt hatte. In all den Jahren hatte er sie nie verschlafen lassen – immer hatte er sie geweckt, wenn er vor ihr aus dem Haus musste.

Er ist sicher noch sauer wegen gestern Abend.

Sie sah auf ihr Handy, aber es war tot. Offensichtlich hatte sie vergessen, den Akku aufzuladen. Auch gut. Sie hatte ohnehin keine Lust, sich mit jemandem zu unterhalten.

Schnell zog sie sich an und fuhr sich mit den Händen durch die Haare. Normalerweise würde sie ohne Frühstück aufbrechen, aber an diesem Morgen hatte sie Durst. Ungewöhnlich großen Durst. Also ging sie zum Kühlschrank und nahm einen Zweiliterkarton roten Grapefruitsaft heraus. Hektisch riss sie den Verschluss auf und trank direkt aus dem Tetrapak. Sie hörte nicht auf, bis sie die zwei Liter Saft komplett in sich hineingeschüttet hatte.

Verblüfft betrachtete sie den Getränkekarton. Hatte sie ihn wirklich gerade komplett leer getrunken? Normalerweise trank sie nie mehr als ein halbes Glas auf einmal. Mit einer Hand zerdrückte sie die Packung und formte eine kleine Kugel daraus. Sie verstand nicht, woher diese neu entdeckte Kraft kam, die in ihren Adern zirkulierte. Es war aufregend. Und unheimlich.

Doch sie war immer noch durstig. Und hungrig. Aber sie hatte kein Verlangen nach Essen. Ihre Adern wollten mehr, aber sie begriff nicht, was dieses Mehr war.

* * *

Irgendwie war es seltsam, die Flure ihrer Schule so leer zu sehen. Es war das genaue Gegenteil von gestern. Während des Unterrichts war keine Menschenseele zu entdecken. Sie sah auf ihre Uhr; es war acht Uhr vierzig. Bis die dritte Unterrichtsstunde begann, dauerte es noch eine Viertelstunde. Sie fragte sich, ob es sich überhaupt lohnte, in die Klasse zu gehen, aber sie wusste auch nicht, wohin sie sonst gehen sollte. Also folgte sie den Raumnummern bis zu ihrem Klassenzimmer.

Vor dem Raum blieb sie stehen und lauschte, ob sie die Stimme des Lehrers hören konnte. Sie zögerte. Eigentlich hasste sie es, reinzuplatzen und im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Aber ihr blieb keine andere Wahl.

Sie holte tief Luft und drehte den Türknopf.

Als sie eintrat, drehten sich alle zu ihr um und starrten sie an, einschließlich der Lehrerin.

Schweigen.

»Miss …« Der Lehrerin fiel ihr Name nicht ein, und sie ging zu ihrem Pult und nahm einen Zettel in die Hand. »Miss Paine. Das neue Mädchen. Sie sind fünfundzwanzig Minuten zu spät.«

Die Lehrerin, eine strenge ältere Frau, musterte Caitlin verärgert. »Was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung vorzubringen?«

Caitlin zögerte.

»Es tut mir leid?«

»Das reicht nicht. Möglicherweise ist es dort, wo Sie herkommen, zulässig, zu spät zu kommen – hier ist das ganz gewiss unakzeptabel.«

»Inakzeptabel«, korrigierte Caitlin und bereute es sofort.

Peinliches Schweigen senkte sich über den Raum.

»Wie bitte?«, erwiderte die Lehrerin langsam.

»Sie haben gesagt unakzeptabel. Sie meinten inakzeptabel.«

»ACH DU SCHEISSE!«, rief ein vorlauter Junge in einer der hinteren Reihen, und die ganze Klasse brach in Gelächter aus.

Das Gesicht der Lehrerin wurde feuerrot.

»Sie freche Göre! Melden Sie sich sofort beim Direktor!«

Die Lehrerin marschierte zu Caitlin und öffnete die Tür. Dort stand sie nun, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt – so dicht, dass Caitlin ihr billiges Parfum riechen konnte. »Raus aus meinem Klassenzimmer!«

Normalerweise wäre Caitlin aus dem Raum geschlichen – sie hätte auch niemals einen Lehrer korrigiert. Aber irgendetwas hatte sich verändert, etwas, das sie nicht ganz verstand. Auf einmal fühlte sie Trotz. Sie hatte nicht mehr das Gefühl, dass sie jedem gegenüber Respekt zeigen musste. Und vor allem hatte sie keine Angst mehr.

Also blieb Caitlin einfach stehen, ignorierte die Lehrerin, blickte sich suchend um und hielt Ausschau nach Jonah. Der Raum war überfüllt, und sie suchte eine Reihe nach der anderen aufmerksam ab. Keine Spur von Jonah.

»Miss Paine! Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe!?«

Herausfordernd erwiderte Caitlin ihren Blick. Dann drehte sie sich um und verließ ganz gemächlich das Klassenzimmer.

Hinter ihr wurde die Tür zugeschlagen, dann war gedämpftes Geschrei zu hören, gefolgt von einem »Ruhe bitte!«.

Caitlin wanderte den leeren Flur entlang; sie wusste nicht wirklich, wohin sie gehen sollte.

Dann hörte sie Schritte. In der Ferne tauchte ein Mann vom Sicherheitsdienst auf und kam direkt auf sie zu.

»Ausweis!«, blaffte er sie an, als er nur noch gut zehn Meter von ihr entfernt war.

»Bitte?«, fragte sie.

Er kam näher.

»Wo ist Ihr Ausweis? Sie sollen ihn ständig sichtbar bei sich tragen.«

»Welchen Ausweis?«

Er blieb stehen und musterte sie. Er war ein hässlicher, gemein aussehender Mann mit einem riesigen Muttermal auf der Stirn.

»Sie können nicht durch die Flure spazieren, ohne einen unterschriebenen Ausweis bei sich zu haben. Das wissen Sie. Wo ist er?«

»Ich wusste nicht …«

Er nahm sein Funkgerät und sprach hinein: »Verstoß gegen die Ausweispflicht in Flügel 14. Ich bringe sie jetzt in Verwahrung.«

»Verwahrung?«, fragte Caitlin verwirrt. »Was haben Sie vor …«

Grob griff er nach ihrem Arm und zerrte sie den Flur entlang.

»Kein Wort mehr!«, fauchte er.

Caitlin gefiel es nicht, dass seine Finger sich in ihren Arm gruben und dass sie abgeführt wurde wie ein unartiges Kind. Sie spürte, wie sich die Hitze in ihrem ganzen Körper ausbreitete. Die Wut kündigte sich an. Ihr war nicht ganz klar, woher sie das wusste, aber so war es: In wenigen Augenblicken würde sie ihren Zorn nicht mehr unter Kontrolle haben – ebenso wenig wie ihre Kraft.

Sie musste etwas tun, bevor es zu spät war. Sie setzte ihre gesamte Willenskraft ein, damit es aufhörte. Aber solange seine Finger sie berührten, würde es nicht funktionieren.

Schnell schüttelte sie seinen Arm ab, bevor die volle Kraft von ihr Besitz ergreifen konnte. Seine Hand flog regelrecht weg, und er stolperte ein paar Schritte rückwärts.

Verblüfft starrte er sie an. Wie war es möglich, dass ein Mädchen ihrer Größe ihn mehrere Schritte durch den Flur befördert hatte, obwohl sie nur leicht mit dem Arm gezuckt hatte? Er schwankte zwischen Empörung und Furcht. Sie erkannte, dass er überlegte, ob er sie angreifen oder in Ruhe lassen sollte. Schließlich legte er die Hand auf seinen Gürtel, an dem eine große Dose Pfefferspray hing.

»Wenn du mich noch einmal anfasst, junge Dame«, sagte er voller kalter Wut, »werde ich das Pfefferspray einsetzen.«

»Dann lassen Sie die Finger von mir!«, entgegnete sie herausfordernd. Der Klang ihrer eigenen Stimme bestürzte sie – er hatte sich verändert: Ihre Stimme war tiefer und rauer.

Langsam nahm der Mann die Hand von der Spraydose. Offenbar gab er nach.

»Geh vor mir her«, forderte er sie auf. »Den Flur entlang und die Treppe hinauf.«

Der Wachmann ließ sie in einem Vorraum vor dem Büro des Direktors zurück. Sein Funkgerät meldete sich, und er hastete eilig davon. Aber dann drehte er sich noch einmal kurz um und blaffte sie an: »Lass dich bloß nicht wieder irgendwo auf den Gängen blicken!«

Caitlin wandte sich um und sah, dass dort rund fünfzehn Schüler und Schülerinnen aller Altersklassen herumsaßen und -standen, die offensichtlich alle zum Direktor mussten. Sie wirkten alle wie Außenseiter. Einer nach dem anderen wurde hereingerufen. Ein Wachmann passte auf, aber er schlief beinahe im Stehen ein.

Caitlin hatte keine Lust, hier den halben Tag lang zu warten – und sie hatte auch nicht die geringste Lust, den Direktor kennenzulernen. Sie hätte nicht zu spät kommen dürfen, das stimmte, aber das hier verdiente sie nicht. Sie hatte die Schnauze voll.

Die Tür zum Gang ging auf, und ein Sicherheitsmann zerrte drei weitere Schüler hinein, die kämpften und sich gegenseitig schubsten. In dem kleinen Wartebereich, der völlig überfüllt war, entstand ein Tumult. Dann ertönte der Gong, und die Gänge hinter den Glastüren füllten sich. Jetzt herrschte drinnen und draußen Chaos.

Caitlin wartete auf ihre Chance. Als die Tür sich wieder öffnete, drückte sie sich an einem Schüler vorbei und schlüpfte auf den Flur hinaus.

Dort warf sie einen kurzen Blick über die Schulter, aber niemand hatte sie bemerkt. Schnell quetschte sie sich durch die Menge und bog um eine Ecke. Wieder warf sie einen Blick zurück, aber immer noch folgte ihr niemand.

Sie war in Sicherheit. Selbst wenn den Sicherheitsleuten ihre Abwesenheit auffallen sollte – was sie allerdings stark bezweifelte, da nicht einmal ihre Daten aufgenommen worden waren –, wäre sie bereits zu weit weg, um erwischt zu werden. Sie eilte noch schneller durch die Flure und vergrößerte so den Abstand weiter. Sie war unterwegs zur Cafeteria. Sie musste Jonah finden, denn sie wollte unbedingt wissen, ob es ihm gut ging.

Die Cafeteria war auch heute wieder überfüllt, und sie schritt die Gänge ab, um nach ihm Ausschau zu halten. Nichts. Sie wiederholte ihren Rundgang und ließ ihren Blick über jeden Tisch schweifen, aber sie fand ihn nicht.

Sie bereute es, dass sie nicht zu ihm zurückgekehrt war, um nach seinen Verletzungen zu sehen und einen Rettungswagen zu rufen. Sie fragte sich, ob er wohl schwer verletzt war. Vielleicht lag er sogar im Krankenhaus. Vielleicht würde er gar nicht mehr in die Schule zurückkommen.

Deprimiert nahm sie sich ein Tablett mit Essen und fand einen Tisch, von dem aus sie die Tür gut im Blick hatte. Sie aß kaum etwas, sondern musterte jeden Schüler, der hereinkam.

Aber er tauchte nicht auf.

Schließlich klingelte es, und die Cafeteria leerte sich. Sie blieb sitzen und wartete.

Nichts.

* * *

Zum letzten Mal an diesem Schultag ertönte der Gong, und Caitlin stand vor dem ihr zugewiesenen Spind. Sie gab die Zahlenkombination ein, die auf dem Blatt Papier in ihrer Hand stand, drehte an dem Knauf und zog. Es funktionierte nicht. Also gab sie die Kombination noch einmal ein. Diesmal ging die Tür auf.

Sie starrte in den leeren Metallspind. Die Innenseite der Tür war voller Graffiti. Ansonsten war der Schrank völlig kahl. Bedrückend. Sie dachte an die anderen Schulen, wo sie immer sofort ihren Spind gesucht und sich die Kombination eingeprägt hatte. Dort hatte sie die Türen mit Fotos von Jungs aus Hochglanzmagazinen beklebt. Das war ihre Art gewesen, sich häuslich einzurichten, einen vertrauten Ort in der Schule zu finden.

Aber irgendwann im Laufe der Zeit hatte ihre Begeisterung nachgelassen. Sie fragte sich allmählich, warum sie sich noch die Mühe machen sollte, da es doch bloß eine Frage der Zeit war, bis sie wieder umziehen musste. Also ließ sie sich immer mehr Zeit mit dem Dekorieren ihres Spinds.

Diesmal würde sie sogar ganz darauf verzichten. Mit einem lauten Knall warf sie die Tür zu.

»Caitlin?«

Sie fuhr zusammen.

Direkt neben ihr stand Jonah.

Er trug eine große Sonnenbrille, und die Haut darunter sah geschwollen aus.

Als sie ihn so dort stehen sah, war sie verwirrt – und sie freute sich wahnsinnig. Es überraschte sie, wie sehr sie sich freute. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, und ihr Mund wurde trocken.

Es gab so viel, was sie ihn fragen wollte: Bist du gut nach Hause gekommen? Hast du diese Schläger noch mal gesehen? Hast du gemerkt, dass ich da war … Aber irgendwie schafften die Worte es nicht von ihrem Gehirn bis zu ihrem Mund.

Ein »Hallo« war alles, was sie herausbekam.

Er starrte sie an. Es sah aus, als ob er nicht wusste, womit er anfangen sollte.

»Ich habe dich heute im Unterricht vermisst«, sagte sie und bereute sofort ihre Wortwahl.

Dämlich. Du hättest sagen sollen: »Ich habe dich nicht im Unterricht gesehen.« »Vermisst« klingt verzweifelt.

»Ich bin zu spät gekommen«, erklärte er.

»Ich auch.«

Unbehaglich trat er von einem Fuß auf den anderen. Sie stellte fest, dass er seine Bratsche nicht dabeihatte. Also war es wirklich geschehen. Es war nicht bloß ein böser Traum gewesen.

»Bist du okay?«, fragte sie.

Sie deutete auf seine Sonnenbrille.

Langsam nahm er sie ab.

Sein Gesicht war voller Blutergüsse und dick angeschwollen. An seiner Stirn und unter einem Auge klebten Pflaster.

»Mir ging’s schon mal besser«, sagte er. Er wirkte verlegen.

»Oh mein Gott!«, stieß sie hervor und fühlte sich schrecklich. Ihr war klar, dass sie froh darüber sein sollte, dass sie ihm geholfen und ihn vor Schlimmerem bewahrt hatte. Aber stattdessen hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht früher dort gewesen war und sich später nicht um ihn gekümmert hatte. Aber nachdem … es passiert war, hatte sich alles in einer Art Nebel abgespielt. Sie konnte sich nicht einmal richtig daran erinnern, wie sie nach Hause gekommen war. »Es tut mir so leid.«

»Hast du gehört, was passiert ist?«, wollte er wissen.

Er sah sie mit seinen strahlenden grünen Augen aufmerksam an, und sie hatte das Gefühl, als ob er sie auf die Probe stellte. Als ob er erreichen wollte, dass sie zugab, dort gewesen zu sein.

Hatte er sie etwa gesehen? Das konnte doch eigentlich nicht sein. Schließlich war er bewusstlos gewesen. Oder etwa nicht? Hatte er vielleicht beobachtet, was danach vorgefallen war? Sollte sie besser zugeben, dass sie dort gewesen war?

Einerseits brannte sie darauf, ihm zu erzählen, wie sie ihm geholfen hatte, denn dann wäre er ihr sicher dankbar. Andererseits konnte sie ihm auf gar keinen Fall erklären, was sie getan hatte, ohne als Lügnerin oder Sonderling dazustehen.

Nein, beschloss sie für sich. Du kannst es ihm nicht sagen. Es geht nicht.

»Nein«, log sie. »Vergiss nicht, dass ich hier ja niemanden kenne.«

Es folgte eine Pause.

»Ich wurde angegriffen«, erklärte er dann. »Auf dem Nachhauseweg von der Schule.«

»Es tut mir so leid«, versicherte sie noch einmal. Sie klang wie eine Idiotin, die immer wieder denselben dummen Satz wiederholt, aber sie wollte nichts sagen, was zu viel verraten könnte.

»Ja, mein Dad ist ziemlich sauer«, fuhr er fort. »Sie haben mir meine Bratsche weggenommen.«

»Das ist echt übel. Wirst du eine neue bekommen?«

Jonah schüttelte langsam den Kopf. »Er hat Nein gesagt. Das könne er sich nicht leisten. Und ich hätte besser darauf aufpassen sollen.«

Caitlin war betroffen. »Aber ich dachte, du hättest gesagt, die Bratsche wäre deine Fahrkarte, um von dieser Schule wegzukommen.«

Er zuckte mit den Schultern.

»Was wirst du jetzt machen?«, fragte sie.

»Das weiß ich nicht.«

»Vielleicht findet die Polizei deine Bratsche wieder.« Sie erinnerte sich natürlich daran, dass sie zerstört worden war, aber sie dachte, so könnte sie vielleicht beweisen, dass sie von nichts wusste.

Er betrachtete sie wieder aufmerksam, als wollte er sich ein Urteil darüber bilden, ob sie log.

Schließlich erwiderte er: »Sie haben sie zertrümmert.« Dann machte er eine Pause. »Vermutlich haben manche Menschen einfach das Bedürfnis, Dinge zu zerstören.«

»Ach du meine Güte«, sagte sie, »das ist ja schrecklich.«

»Mein Dad ist sauer, weil ich mich nicht gewehrt habe … Aber so bin ich eben nicht.«

»Was für Mistkerle. Vielleicht erwischen die Bullen sie ja.«

Ein schwaches Grinsen huschte über Jonahs Gesicht. »Das ist ja das Seltsame an der ganzen Sache: Sie haben schon bekommen, was sie verdienen.«

»Wie meinst du das?«, fragte sie und versuchte, überzeugend zu klingen.

»Ich habe diese Typen kurz danach in einer Sackgasse gefunden. Sie waren noch schlimmer zugerichtet als ich. Nicht mal mehr gerührt haben sie sich.« Sein Grinsen wurde breiter. »Jemand muss sie sich vorgeknöpft haben. Vielleicht gibt es tatsächlich einen Gott.«

»Das ist ja seltsam«, meinte sie.

»Vielleicht habe ich auch einen Schutzengel.« Wieder musterte er sie gründlich.

»Ja, vielleicht«, entgegnete sie.

Er starrte sie noch lange an, als warte er auf eine Erklärung oder einen Hinweis von ihr. Doch sie schwieg.

»Da ist noch etwas, das noch seltsamer ist«, fuhr er schließlich fort.

Er bückte sich, zog etwas aus seinem Rucksack und hielt es ihr hin.

»Das habe ich gefunden.«

Schockiert starrte sie auf den Gegenstand in seiner Hand. Es war ihr Tagebuch.

Als sie es entgegennahm, schoss ihr das Blut ins Gesicht. Einerseits war sie hocherfreut, es wiederzuhaben, andererseits aber auch entsetzt, weil er einen Beweis dafür hatte, dass sie dort gewesen war. Er musste sich sicher sein, dass sie gelogen hatte.

»Dein Name steht drin. Es gehört doch dir, oder?«

Sie nickte und untersuchte das Tagebuch. Es war alles da. Das Buch hatte sie völlig vergessen.

»Da waren auch einige lose Blätter. Ich habe sie alle eingesammelt und hineingelegt. Ich hoffe, ich habe alle gefunden«, erklärte er.

»Das hast du«, sagte sie leise. Sie war gleichzeitig gerührt und verlegen.

»Ich bin der Spur der Blätter gefolgt, und das Komische daran war, dass … sie mich in diese Gasse geführt haben.«

Sie sah weiterhin auf ihr Buch und mied jeden Blickkontakt.

»Was glaubst du, wie dein Tagebuch dorthin gelangt ist?«, wollte er wissen.

Diesmal sah sie ihm in die Augen. Sie gab sich die größte Mühe, keine Miene zu verziehen.

»Als ich gestern Abend nach Hause gegangen bin, habe ich es irgendwo verloren. Vielleicht haben es ja diese Schläger gefunden.«

Er musterte sie nachdenklich. Schließlich meinte er: »Vielleicht.«

Schweigend standen sie sich gegenüber.

»Das Eigenartigste überhaupt ist«, fuhr er fort, »dass ich etwas gesehen habe, bevor ich völlig das Bewusstsein verlor. Und zwar hätte ich schwören können, dich gesehen zu haben, wie du über mir gestanden und diese Typen angeschrien hast, sie sollen mich in Ruhe lassen … Ist das nicht verrückt?«

Wieder betrachtete er sie genau, und sie erwiderte seinen Blick offen.

»Ich wäre ja ziemlich irre, wenn ich so etwas tun würde«, antwortete sie. Gegen ihren Willen hoben sich ihre Mundwinkel zu einem leichten Lächeln.

Und nach einer kurzen Pause verzog sich auch sein Gesicht zu einem breiten Grinsen. »Ja«, erwiderte er, »das stimmt allerdings.«

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