13. Kapitel

Caitlin und Caleb standen zusammen auf der großen offenen Terrasse von The Cloisters und blickten in die Nacht hinaus. In der Ferne war der Hudson River zu erkennen, der zwischen den kahlen Bäumen hervorblitzte.

»Du musst mir einige Fragen beantworten, Caleb«, sagte sie leise, nachdem sie eine Weile geschwiegen hatten.

»Ich weiß«, antwortete Caleb.

»Was mache ich hier? Was glaubst du, wer ich bin?«, fragte Caitlin. Sie brauchte ein paar Sekunden, bis sie den Mut aufbrachte, ihre letzte Frage zu stellen: »Und warum hast du mich gerettet?«

Caleb starrte ziellos in die Ferne. Sie hatte keine Ahnung, was er dachte und ob er überhaupt antworten würde.

Schließlich wandte er ihr das Gesicht zu. Sie sahen sich in die Augen, und die Intensität seines Blicks war überwältigend. Sie hätte nicht wegsehen können, selbst wenn sie es versucht hätte.

»Ich bin ein Vampir«, erklärte er rundheraus. »Ich gehöre zum Whitetide Clan. Ich lebe seit mehr als dreitausend Jahren, und achthundert davon habe ich mit diesem Clan verbracht.«

»Warum bin ich hier?«

»Die Vampirclans und die verschiedenen Vampirrassen führen ständig Krieg gegeneinander. Ihr Revier ist ihnen sehr wichtig. Unglücklicherweise bist du mitten hineingestolpert.«

»Was meinst du?«, fragte sie. »Wie denn?«

Er sah sie verwirrt an. »Erinnerst du dich nicht mehr?«

Sie starrte ihn verständnislos an.

»Deine Beute. Du warst der Auslöser für alles.«

»Beute?«

Langsam schüttelte er den Kopf. »Du erinnerst dich wirklich nicht mehr. Das ist charakteristisch für die erste Tötung. Es läuft immer so ab.« Er sah ihr in die Augen. »Du hast letzte Nacht jemanden umgebracht. Einen Menschen. Du hast sein Blut getrunken. In der Carnegie Hall.«

Um Caitlin herum drehte sich alles. Sie konnte kaum glauben, dass sie fähig sein sollte, jemandem etwas zuleide zu tun, aber tief in ihrem Innern spürte sie, dass es wahr war. Doch sie hatte Angst zu fragen, wer das Opfer gewesen war. Konnte es Jonah gewesen sein?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, fügte Caleb hinzu: »Der Opernsänger.«

Caitlin konnte das alles kaum begreifen. Es war zu unwirklich. Es war, als wäre sie gerade mit einem schwarzen Brandzeichen markiert worden, das sie nie wieder loswerden würde. Sie fühlte sich furchtbar. Und außer Kontrolle.

»Warum habe ich das getan?«, fragte sie.

»Du hattest Hunger«, erklärte er. »Warum du allerdings diesen Ort und diesen Zeitpunkt gewählt hast, weiß niemand. Damit hat dieser Krieg begonnen. Du hast dich im Revier eines anderen Clans befunden – eines sehr mächtigen Clans.«

»Also war ich nur zur falschen Zeit am falschen Ort?«

Er seufzte. »Ich weiß es nicht. Vielleicht steckt auch mehr dahinter.«

»Was willst du damit sagen?«

»Vielleicht solltest du dort sein. Vielleicht war es deine Bestimmung.«

Sie überlegte. Sie fürchtete sich davor, die nächste Frage zu stellen. Doch schließlich überwand sie sich. »Bedeutet all das, dass … ich ein Vampir bin?«

Er wandte sich ab. Nach einer kurzen Pause erwiderte er: »Ich weiß es nicht.«

Dann sah er sie wieder an. »Du bist kein richtiger Vampir, aber du bist auch kein richtiger Mensch. Du bist irgendwo dazwischen.«

»Ein Halbblut?«, hakte sie nach.

»So würden sie es nennen. Ich bin mir da nicht so sicher.«

»Was genau ist das eigentlich?«

»Ein Vampir, der bereits als Vampir geboren wurde. Es verstößt gegen unser Gesetz und unsere Lehre, Nachwuchs mit einem Menschen zu zeugen. Manchmal kommt es jedoch vor, dass ein ungehorsamer Vampir es trotzdem tut. Wenn die Menschenfrau sein Kind zur Welt bringt, ist es ein Halbblut. Nicht ganz Mensch, nicht ganz Vampir. Unsere Rasse sieht allerdings auf Halbblüter herab. Die Strafe für die Kreuzung mit einem Menschen ist der Tod. Ohne Ausnahme. Und das Kind wird verstoßen.«

»Aber du hast doch gesagt, dass euer Messias ein Halbblut sein wird, oder nicht? Wie können sie denn auf sie herabsehen, wenn eines davon ihr Erlöser sein wird?«

»Das ist das Paradoxe an unserer Religion«, gab er zu.

»Erzähl mir mehr«, hakte sie nach. »Inwiefern unterscheidet sich ein Halbblut von einem Vampir?«

»Echte Vampire trinken von dem Augenblick ihrer Verwandlung an Blut. Halbblüter fangen gewöhnlich erst damit an, wenn sie erwachsen werden.«

Sie fürchtete sich bereits vor der Antwort auf ihre nächste Frage.

»Wann ist das?«

»Mit achtzehn.«

Caitlin überlegte angestrengt. Das ergab Sinn. Sie war vor Kurzem achtzehn geworden, und ihre Gelüste hatten gerade begonnen.

»Halbblüter sind sterblich«, fuhr Caleb fort. »Sie können sterben wie normale Menschen. Wir dagegen können das nicht. Um ein echter Vampir zu sein, muss man von einem echten Vampir verwandelt werden, und es muss gewollt sein. Es ist nicht erlaubt, einfach irgendjemanden zu verwandeln – sonst würde unsere Rasse sich zu stark vermehren. Daher muss man vorab die Erlaubnis des Rates einholen.«

Caitlin runzelte die Stirn und versuchte, all das zu begreifen.

»Du verfügst zwar über manche unserer Eigenschaften, aber nicht über alle. Und da du nicht reinrassig bist, werden die Vampire dich leider nicht akzeptieren. Jeder Vampir gehört zu einem Clan. Es ist zu gefährlich, keinen Clan zu haben. Normalerweise würde ich einen Antrag stellen, dich aufzunehmen. Aber angesichts der Tatsache, dass du ein Mischling bist … sie würden es nie erlauben. Kein Clan würde dich als Mitglied akzeptieren.«

Caitlin schluckte. Wenn es noch etwas Schlimmeres gab, als herauszufinden, dass sie nicht vollkommen menschlich war, dann war es, herauszufinden, dass sie gar nichts richtig war.

Sie gehörte nirgendwo dazu, weder hier noch dort, sondern steckte zwischen zwei Welten.

»Was war denn das für ein Gerede über den Messias? Darüber, dass ich … die Auserwählte sein soll?«

»Gemäß unserer Lehre soll eines Tages ein Bote, ein Messias, kommen und uns zu dem verlorenen Schwert führen. Es heißt, dass irgendwann ein Krieg ausbrechen wird, ein letzter, ultimativer Krieg zwischen allen Vampirrassen, ein Krieg, der sogar auf die menschliche Rasse übergreifen wird. Das ist unsere Version der Apokalypse. Das Einzige, was sie aufhalten und uns alle retten kann, ist das verlorene Schwert. Und die einzige Person, die uns zu ihm führen kann, ist der Messias. Als ich heute miterlebt habe, was mit dir geschehen ist, war ich überzeugt, dass du es bist. Ich habe noch nie gesehen, dass ein Vampir immun gegen Weihwasser ist.«

Sie sah zu ihm auf.

»Und jetzt?«, wollte sie wissen.

Er blickte in die Ferne.

»Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«

Caitlin spürte, wie sich Verzweiflung in ihr breitmachte.

»Also ist das der einzige Grund, warum du mich gerettet hast?«, fragte sie. Sie zögerte, weil sie Angst vor der Antwort hatte. »Weil du geglaubt hast, ich würde euch zu einem verlorenen Schwert führen?«

Caleb starrte sie verwirrt an.

»Was sollte es sonst für einen Grund geben?«, erwiderte er.

Die Antwort nahm Caitlin komplett den Wind aus den Segeln, als hätte er ihr einen heftigen Schlag versetzt. All die Liebe, die sie für ihn empfunden hatte, die beiderseitige Verbundenheit, die sie sich eingebildet hatte – all das löste sich in Luft auf. Am liebsten hätte sie geweint. Sie wollte weglaufen, aber sie wusste nicht, wohin. Sie schämte sich so sehr.

»Na ja«, bemerkte sie und unterdrückte die Tränen, »zumindest wird es deine Frau freuen, dass du nur deinen Job erledigt hast und keine Gefühle für eine andere hegst – oder für irgendetwas anderes außer einem blöden Schwert.«

Dann drehte sie sich um und eilte davon. Sie hatte keine Ahnung, wohin sie gehen sollte, aber sie musste auf jeden Fall weg von ihm. Ihre Gefühle waren übermächtig, und sie wurde nicht schlau aus ihnen.

Doch sie war erst wenige Schritte weit gekommen, als sie eine Hand auf ihrem Arm spürte. Er drehte sie zu sich um und sah ihr in die Augen.

»Sie ist nicht meine Frau«, erklärte er leise. »Wir waren einmal verheiratet, das stimmt, aber das ist siebenhundert Jahre her. Die Ehe hat nur ein Jahr gehalten. Leider vergessen Vampire nichts, also gibt es auch kein richtiges Ende.«

Caitlin schüttelte seine Hand ab. »Nun, was auch immer sie für dich ist, sie wird sich freuen, dich zurückzubekommen.«

Caitlin ging auf die Treppe zu.

Erneut hielt er sie auf, diesmal überholte er sie und stellte sich ihr in den Weg.

»Ich weiß nicht, wodurch ich dich verletzt habe«, sagte er, »aber was ich auch getan habe, es tut mir leid.«

Es ist eher das, was du nicht getan hast, hätte Caitlin gerne gesagt. Es ist, dass du mich nicht magst, dass du mich nicht liebst. Dass ich für dich nur eine Sache war, ein Mittel zum Zweck. So war es bisher mit jedem Jungen, den ich kennengelernt habe. Aber ich hatte geglaubt, dass es diesmal vielleicht anders wäre.

Doch sie sprach ihre Gedanken nicht aus, sondern senkte nur den Kopf und gab sich große Mühe, nicht zu weinen. Leider gelang es ihr nicht. Heiße Tränen liefen ihr übers Gesicht. Da berührte plötzlich eine Hand ihr Kinn und hob es an. Er zwang sie, ihn anzusehen.

»Es tut mir leid«, sagte er noch einmal. Es klang aufrichtig. »Du hattest recht. Es war nicht der einzige Grund, warum ich dich gerettet habe.« Er holte tief Luft. »Ich empfinde etwas für dich.«

Caitlins Herz schlug schneller.

»Aber du musst verstehen: Es ist verboten. Die Gesetze sind diesbezüglich äußerst streng. Ein Vampir kann niemals mit einem Menschen, einem Halbblut oder sonst jemandem zusammen sein, der kein echter Vampir ist. Die Strafe wäre der Tod. Daran führt kein Weg vorbei.«

Caleb senkte den Blick.

»Verstehst du das?«, fuhr er schließlich fort. »Wenn ich Gefühle für dich hätte und nicht nur um das Allgemeinwohl besorgt wäre, hätte das meinen Tod zur Folge.«

»Und was soll jetzt aus mir werden?«, fragte sie. Sie sah sich um. »Hier bin ich eindeutig nicht willkommen. Wohin soll ich gehen?«

Caleb schüttelte den Kopf.

»Nach Hause kann ich auch nicht«, fügte sie hinzu. »Ich habe kein Zuhause mehr. Die Polizei sucht nach mir. Diese bösen Vampire suchen nach mir. Was soll ich bloß tun? Soll ich alleine da hinausgehen? Ich weiß doch nicht einmal mehr, was ich bin.«

»Ich wünschte, ich wüsste eine Antwort. Ich habe es versucht. Ich habe es wirklich versucht. Aber mehr kann ich nicht tun. Man kann sich dem Rat nicht widersetzen. Das würde für uns beide das Todesurteil bedeuten. Ich bin zu fünfzig Jahren Haft verurteilt worden und kann dieses Gelände nicht verlassen. Wenn ich es täte, würde mein Clan mich für immer verbannen. Das musst du verstehen.«

Caitlin wandte sich zum Gehen, aber er hielt sie erneut auf.

»Du musst es einfach verstehen! Du bist nur ein Mensch. Dein Leben wird in spätestens achtzig Jahren vorbei sein. Aber ich habe noch Tausende von Jahren vor mir. Dein Leiden ist kurz; meins ist endlos. Ich kann es nicht riskieren, für immer aus meinem Clan verstoßen zu werden. Der Clan ist alles, was ich habe. Ich liebe dich. Ich hege starke Gefühle für dich, obwohl ich das selbst nicht richtig verstehe. In all den Jahren habe ich so etwas noch nie erlebt. Aber ich kann es einfach nicht riskieren, diese Mauern zu verlassen.«

»Ich frage dich noch einmal«, unterbrach sie ihn. »Was soll aus mir werden?«

Er sah nur zu Boden.

»Ich verstehe. Das ist nicht mehr dein Problem.«

Caleb wollte noch etwas erwidern, aber diesmal war sie verschwunden. Wirklich weg.

Schnell überquerte sie die Terrasse und stieg die Steintreppe hinunter. Dann steuerte sie auf die Bronx zu und verschwand in der dunklen New Yorker Nacht. Noch nie hatte sie sich so einsam gefühlt.

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