34

Khal’aks rechte Hand schoss vor, bevor Vol’jin eine Warnung rufen konnte. Ein schmaler Dolch sauste auf den alten Mönch zu, und während die Klinge durch die Luft wirbelte, hob die Zandalari rasch ein Schwert vom Boden auf und stürmte hinter ihr her auf Taran Zhu zu.

Der Pandaren hob die Pfote in einer kreisförmigen Abwehrbewegung von innen nach außen und schlug den Dolch mit dem Handrücken fort, sodass er zur Seite davonflog. Einen Moment später bohrte die Waffe sich in den Hals eines Kriegers, noch ehe er oder seine Kameraden überhaupt bewusst registrierten, dass ihre Anführerin die Klinge geworfen hatte, und noch ehe einer von ihnen Gelegenheit hatte, auf die Drohung des Mönchs zu reagieren. Sie blieben reglos stehen, wo sie waren, wie versteinert ob der unglaublichen Ereignisse.

Vol’jin stellte sich zwischen Khal’ak und den Pandaren. „Ich weiß, es wäre nur Zeitverschwendung, dir Gnade anzubiet’n.“

Ihre Augen funkelten. „Du fällst den Herr’n deines Volkes in den Rücken.“

„Schattenjäger haben keine Herr’n.“

Khal’ak griff ebenso geschickt an wie der Troll, den Vol’jin gerade getötet hatte, und vielleicht sogar noch ein wenig schneller. Ihre Klinge schnitt in schlangengleichen, gewundenen Hieben und Stichen durch die Luft, und er begnügte sich damit, die Schläge zu parieren oder ihnen auszuweichen, anstatt sie zu blocken. Sie zeigte ihm keine Blöße, die er für einen Angriff nutzen könnte, aber vermutlich hätte es nicht einmal einen Unterschied gemacht, wenn sie einen Schwachpunkt offenbart hätte. Seine Muskeln brannten bereits vor Erschöpfung, und er war nicht sicher, ob er noch schnell genug war, um ihre Verteidigung zu durchdringen. Zudem schien sie nur auf seinen Vorstoß zu warten, jetzt, wo sie ihn im Kampf gesehen hatte und wusste, worauf sie sich vorbereiten musste.

Was hat sie geseh’n?

Als hätte sie seine Gedanken gelesen, stürmte Khal’ak vor. Ein tiefer Hieb folgte auf einen hohen, dann drehte sie sich nach rechts, auf seine heile Seite. War ihr womöglich aufgefallen, dass er seine linke Schulter schonte? Aber nein, von dieser Verletzung hatte er sich bereits erholt. Wenn es also nicht das war, woraus wollte sie dann Nutzen schlagen?

Da erkannte er, dass es unbedeutend war, was sie gesehen hatte. Viel wichtiger war, dass er wusste, was sie nicht gesehen hatte. Als sie mit einem wirbelnden Hieb auf seinen Bauch zielte, nahm er die Gleve in die linke Hand. Es reichte nicht, um ihren Schlag abzulenken, aber er verlangsamte ihre Klinge, und dann machte er einen Schritt nach vorne. Ihr Schwert erwischte ihn über der Hüfte, genau dort, wo Deng-Tai ihn mit dem Speerschaft getroffen hatte, doch obwohl Vol’jin den Schmerz spürte, schien er unendlich weit entfernt.

Jetzt riss er den linken Arm nach unten und presste damit Khal’aks Handgelenk an seine Seite. Sie hob den Kopf, ihr Blick so hasserfüllt, als müsste der Zorn jeden Moment aus ihren Augen schießen und ihn verbrennen. Vol’jin begegnete diesem Blick mit Verachtung, aber nicht etwa, weil sie gegen ihn kämpfte, sondern weil sie Teil der Verderbnis war, die Pandaria und alle Trolle verschlingen würde. Er sah sie gerade lange genug an, damit sie das begriff, dann tötete er sie.

Schnell.

Gnadenlos.

Jedes Mal, wenn sie ihn bislang im Kampf beobachtet hatte, hatte er die Gleve benutzt und auf traditionelle Weise gefochten. Was sie aber nicht gesehen hatte, wovon sie nichts wusste, war das Training, das er von den Shado-Pan erhalten hatte. Nur passend, dass ich sie mit meinen bloß’n Händen töte.

Der Schlag mit seiner Speerhand zerschmetterte ihren Kehlkopf und ihre Luftröhre, dann bohrten seine Finger sich tiefer. Wirbel knirschten und verwandelten sich unter dem Hieb von harten Knochen in eine breiige Masse. Splitter bohrten sich nach unten in ihr Rückgrat.

Khal’ak taumelte von der Wucht des Schlages nach hinten, aber ihre Beine wollten sie nicht länger tragen, und so brach sie zu Füßen des toten Mogu zusammen. Voller Hass starrte sie zu ihm auf, während ihr Gesicht lila anlief und sie noch einen letzten Atemzug zu nehmen versuchte.

Der Versuch misslang.

Die Zandalari-Truppen standen reglos da, und der Unglaube war ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Khal’ak war tot. Ihr Hauptmann war tot. Zwei Mogu waren tot. Und viel zu viele ihrer Kameraden waren ebenfalls tot oder lagen ächzend und sterbend hier drinnen oder draußen in ihrem eigenen Blut. Die verbliebenen Gurubashi und Amani begannen sich bereits zurückzuziehen, die hinteren Reihen dünnten sich aus.

Vol’jin nahm die Gleve wieder in die rechte Hand. „Bwonsamdi wartet schon darauf, euch zu begrüß’n.“

Etliche Zandalari erschauderten bei diesen Worten und schlossen sich den niederen Trollen bei ihrer Flucht in den Schneesturm an. Die wenigen, die blieben, griffen an, aber Taran Zhu trieb sie auseinander, als wären sie ein Schwarm Mücken, den man einfach fortwischen konnte. Knochen brachen, Körper krümmten sich, Trolle ächzten auf dem Boden.

Schließlich trat Taran Zhu zurück und hob sanftmütig die Pfote. „Kümmert Euch um sie! Aber nicht hier. Ihr dürft gehen.“

Als wäre seine Erlaubnis ein Befehl, verschwanden auch die letzten der Zandalari nach draußen. Ein paar von ihnen zerrten Verwundete hinter sich her, als sie davoneilten. Chen und Yalia humpelten ebenfalls zwischen den Blutlachen und Leichen hindurch zum Ausgang des gegenüberliegenden Flügels, um den Feind weiter im Auge zu behalten. Taran Zhu und Vol’jin traten derweil zu Tyrathan hinüber.

Helles Blut tropfte von den Lippen des Menschen, aber er lächelte schwach. „Ich stecke fest.“

Vol’jin blickte auf den Speer hinab. Die Spitze hatte eindeutig Tyrathans Wirbelsäule durchbohrt und seine Eingeweide aufgerissen. Und als wäre das nicht schon schlimm genug, verfügte die Waffe über zwei breite Parierzacken; sie konnten den Mann also nicht einfach von der Waffe ziehen, und die Spitze saß zu tief in der Wand, als dass sie sich ohne Weiteres lösen ließe. „Halt still! Ich kenne einen Zauber …“

Der Mensch schüttelte den Kopf, dann zischte er, als der alte Mönch seinen Rücken um die Austrittswunde betastete. „Nein. Ich bin erledigt. Wir haben gut gekämpft. Ich kann zufrieden sterben.“

Der Troll schluckte schwer. „Närrischer Mensch. Du sollst nicht zufried’n sterben.“

„Versuch nicht, mir zu erzählen, dass ich überleben werde.“ Tyrathan seufzte. „Lass mich gehen! Es ist gut so.“

Er versteifte sich, als der Speer sich bewegte, dann klirrte etwas hinter ihm, und er kippte nach vorne. Taran Zhu fing ihn auf, und Vol’jin half ihm, den Jäger auf den Boden zu betten. Tyrathans Augen waren geschlossen, der Dunkelspeer wusste also nicht, ob er ihn noch hören konnte, aber er redete dennoch weiter auf den Menschen ein. „Ich werde dich nicht sterb’n lassen. Ich habe den Kerl nicht erledigt, der dich erwischt hat, außerdem schuldest du mir noch einen Pfeil für Garrosh.“

Er schloss die Hände um die Wunde, wo der Speer den Menschen aufgespießt hatte, und nickte Taran Zhu zu. Der Mönch rüttelte erst sanft am Schaft, dann zog er die Klinge aus Tyrathans Körper. Die vorderen vier Zoll der Speerspitze steckten noch immer in der Wand, und die blutbefleckte Bruchstelle sah aus, als wäre das Metall durch Materialermüdung geborsten. Vol’jin hatte keine Ahnung, wie der Pandaren es geschafft hatte, die Klinge abzubrechen, und er hatte im Moment auch keine Zeit, darüber nachzudenken.

Seine Hände pressten sich auf die Wunde, aber das Blut des Menschen quoll weiter zwischen seinen Fingern hindurch. Also stimmte Vol’jin eine Beschwörung an. Goldene Energie sammelte sich in seinen Handflächen und strahlte nach unten in Tyrathans Körper, bis sie den Boden erreichte, dann wurde sie wieder nach oben zurückgeworfen. Die Magie traf erst Yalia, dann Chen, dann wanderte ihr goldener Schimmer weiter, zu einem Mönch, der unter einem Berg aus Leichen begraben war.

Vol’jin wartete darauf, dass Tyrathan sich rührte, aber er wollte das Schicksal des Menschen nicht allein der Magie überlassen. Darum schloss er die Augen und suchte. Diese Suche war weder langwierig noch anstrengend, denn Bwonsamdis Gegenwart hüllte das gesamte Kloster ein.

„Den hier kannst du nicht hab’n.“

„Bist du so dreist, dass du einem Loa vorschreiben willst, was er tun kann und was nicht?“

Sen’jins Stimme hallte in Vol’jins Ohren wider. „Vielleicht wollte er nur sagen, dass es noch zu früh ist, den Menschen zu empfangen.“

„Ja. Da sind Versprech’n, die eingehalten werden müss’n, Verpflichtungen, die erfüllt werd’n wollen.“

Der Gott des Todes lachte. „Wäre das genug, um mich umzustimmen, wäre mein Reich verwaist, und niemand würde mehr sterben.“

„Das Versprech’n eines Schattenjägers.“ Vol’jin reckte das Kinn hoch. „Ist das vielleicht genug, um dich umzustimm’n?“

Der Geist des Loa zuckte mit den Schultern. „Du hast mir heute reiche Ernte verschafft.“

„Er ebenfalls.“

„Wohl wahr. Und draußen in der Kälte werden noch viele mehr sterben. Sollte einer überleben, um zu berichten, was hier geschehen ist, wird man ihn entweder für verrückt erklären oder ihn wegen Feigheit hinrichten lassen.“ Bwonsamdi lächelte. „Die Seidentänzerin wird sich über das Netz freuen, das du ihr gewoben hast. Also gut, du kannst den Menschen haben. Fürs Erste.“

„Danke, Bwonsamdi.“

„Aber nicht für immer, Vol’jin.“ Das Loa verschwand mit einem Flüstern. „Nichts währt für immer.“

Tyrathans Körper erbebte, seine Muskeln zuckten, dann entspannte er sich wieder, und seine Atmung wurde gleichmäßiger.

Vol’jin richtete sich auf und wischte das Blut an seinen Schenkeln ab. „Ich habe alles geheilt, was ich heilen kann.“

Taran Zhu lächelte. „Ich glaube, wir wissen, wie wir ihn wieder auf die Beine bekommen.“

Der Troll stand auf. Der Boden war mit Körpern bedeckt, aber nichts bewegte sich, abgesehen vom spielerischen Wirbeln des Schnees und dem Blut, das die Stufen vor dem Eingang heruntertropfte. Es wurde träger, als die Kälte danach griff, und dann erstarrte es zu etwas, das man leicht für Kerzenwachs hätte halten können. So harmlos, so weit entfernt von der Wahrheit.

Doch die Toten waren nicht wichtig. Während Chen und Yalia zu dem anderen überlebenden Mönch gingen, um ihn unter dem Berg aus Leichen zu befreien, bückte sich Vol’jin und hob den Menschen auf seine Arme. „Geht voran, Meister Taran Zhu. Die Zeit für die Heilung ist gekommen.“


Chen steckte die letzte brennende Räucherkerze in den sandgefüllten Bronzetopf und verbeugte sich vor den Regalen.

Nachdem Yalia dort die letzte der geschnitzten Figuren aufgestellt hatte, gesellte sie sich zu ihm und verbeugte sich ebenfalls. Sie verharrten lange in dieser Position, während weißer Rauch, der nach Fichten und Meerwasser roch, über die steinernen Statuetten hinwegwaberte, welche sie aus den Tiefen des Berges heraufgeholt hatten.

Als sie sich wieder aufrichteten, wanderte ihre linke Pfote in seine rechte.

„Du hast mir während der letzten Tage Stärke geschenkt, Chen Sturmbräu.“ Yalia hielt den Blick schüchtern gesenkt. „Wir mussten so viele betrübliche Pflichten erfüllen. Alleine hätte ich es nicht ertragen.“

Er hob ihr Gesicht mit der freien Pfote an, sodass sie zu ihm aufsehen musste. „Ich hätte nie von hier fortgehen können, Yalia.“

„Nein, natürlich nicht. Die Gefallenen waren auch deine Kameraden.“

Er schüttelte den Kopf. „Du weißt, das ist nicht, was ich meine.“

„Ich weiß, dass du nach deiner Nichte sehen möchtest.“

„Und nach deiner Familie.“ Chen nickte zu den Steinfiguren hinüber. „Die Invasion der Zandalari ist noch nicht vorbei. Der Mogu-Kaiser lebt noch, und seine Zandalari-Truppen wollen noch immer Pandaria erobern.“

Sie nickte. „Ist es selbstsüchtig von mir, zu wünschen, dass es vorbei ist?“

„Ich glaube, sich Frieden zu wünschen ist nie selbstsüchtig.“ Chen lächelte. „Zumindest hoffe ich das, denn auch ich will Frieden. Ich will ihn, weil meine Heimat dann nicht länger von Furcht beherrscht wird. Und weil ich dann nie mehr von dir getrennt sein muss.“

Yalia Weisenwisper beugte sich vor und küsste ihn. „Genau dasselbe will ich auch.“ Sie schob sich noch näher heran, schlang ihre Arme um ihn und drückte ihn fest an sich. „Ich würde mit dir gehen …“

„Du wirst hier gebraucht.“ Er erwiderte die Umarmung, wollte sie gar nicht mehr loslassen. „Und du weißt, dass ich zu dir zurückkommen werde. Daran darfst du nicht zweifeln.“

Sie löste sich von ihm, und obwohl sie lächelte, begannen Tränen in ihren Augen zu glänzen. „Ich habe weder Zweifel noch Angst.“

„Gut.“ Chen streichelte ihre Wange, dann küsste er sie auf Lippen und Stirn. Sie fühlte sich perfekt an im Kreis seiner Arme, und er atmete ihren Geruch tief ein, während er ihre Wärme in sich aufsog. „Und denk auch daran, dass wir noch viele, viele Jahre vor uns haben, bevor wir aus den Knochen des Berges fallen. Ich möchte, dass wir so viel von dieser Zeit wie nur möglich zusammen verbringen. Denn der einzige Ort, wo ich mich wirklich und völlig zu Hause fühle, ist bei dir.“


Vol’jin fand Tyrathan auf dem Rand seines Bettes sitzend, seine Mitte war noch immer mit einem Verband umwickelt. Der Mensch hatte es geschafft, mit seinen Füßen in ein Paar Hausschuhe zu schlüpfen, was der Troll als Zeichen dafür betrachtete, dass allmählich wieder das Gefühl in seine Beine zurückkehrte. Vor zwei Tagen wären derartige Versuche noch zum Scheitern verurteilt gewesen.

„Der Berg läuft dir schon nicht weg.“

Tyrathan lachte. „Oh, der kann warten. Ich habe meinen besten Dolch in den Tunneln in einem toten Zandalari stecken lassen. Ich hatte gehofft, ihn mir zurückzuholen.“

„Ich wünschte, du hättest mehr Dolche mitgenomm’n.“

Der Mensch nickte. „Ich auch. Als ich dort runterstieg, dachte ich, ich würde nie wieder das Tageslicht sehen.“

Khal’aks Elitetruppen waren durch die Tunnel unter dem Kloster heraufgeklettert und hatten die Mönche im Schneewehen-Dojo überwältigt, doch Tyrathan war ihnen bei ihrem ersten Ansturm entgangen. So hatte er Gelegenheit gehabt, in die unterirdischen Gänge hinabzusteigen, und Vol’jin hatte gesehen, was für ein Blutbad er dort angerichtet hatte. Der Mensch hatte den Zandalari nachgesetzt, die von unten in die Versiegelten Kammern eindringen sollten, und etliche von ihnen waren unter seiner Hand gefallen. Da Pfeile in der Düsternis der Tunnel nutzlos waren, hatte er sie mit Schwert und Dolch und Steinen, so groß wie sein Kopf, erschlagen. Vol’jin war aber sicher, dass sie noch längst nicht alle seiner Opfer geborgen hatten, denn einige von ihnen waren gewiss davongekrochen und dann irgendwo in den Gängen verendet.

„Ich bin froh, dass du es da raus geschafft hast. Du hast mein Leb’n gerettet.“

„Und du meines.“ Tyrathan senkte den Blick, und der Anflug eines Lächelns krümmte seine Lippen. „Als ich sagte, dass du mich sterben lassen sollst …“

„Da haben die Schmerz’n aus dir gesprochen.“

„Ja, aber nicht die körperlichen Schmerzen.“ Der Mensch sah auf seine Hände hinab, die geöffnet und dankbar auf seinen Schenkeln ruhten. „Ich glaube, der Gedanke, tot zu sein, gefiel mir, weil ich so meiner Pein hätte entkommen können – der Pein wegen meiner Familie. Aber ich konnte einfach nicht vergessen, wie du deine Entscheidung begründet hast, dich gegen die Zandalari zu stellen. Dass diese Entscheidung, hierzubleiben und zu kämpfen, auf Mut und Ehre beruht und auf einem Gefühl der Zugehörigkeit, einem Gefühl von Familie.“

„Die meist’n würden vermutlich noch Torheit hinzufüg’n.“

„Und sie hätten recht, aber aus den falschen Gründen.“ Tyrathan seufzte. „Meine Bereitschaft zu sterben entbehrte jeglichen Mutes. Und ganz gleich, wer ich bin, ich will nicht ohne Mut und Ehre leben.“

Vol’jin nickte. „Eine gute Einstellung. Außerdem gibt es hier noch viel zu tun, was diese beiden Eigenschaft’n voraussetzt – und einige weitere. Zum Beispiel das Auge eines geübt’n Schützen.“

„Ich weiß. Ich werde dir einen Pfeil für Garrosh befiedern.“

„Aber erst musst du dich um andere Dinge kümmern, richtig?“

„Du hast zu viel über mich gelernt, als du in meinem Kopf warst.“

Vol’jin schüttelte den Kopf, dann legte er dem Menschen beide Hände auf die Schultern. „Das meiste habe ich gelernt, als ich an deiner Seite war.“

Tyrathan lächelte. „Ich werde noch ein wenig hierbleiben, mich erholen, den Mönchen helfen. Dann will ich mein Versprechen einlösen, noch einmal die Täler meiner Heimat zu sehen. Dass ich verschwunden bin, ist vielleicht das Beste für mich, aber ich würde mich selbst belügen, wenn ich weiterhin glaubte, es wäre auch das Beste für meine Familie. Meine Kinder sollen mich kennenlernen, und meine Frau soll wissen, dass ich es verstehe. Ich werde nicht wiedergutmachen können, was geschehen ist, aber das ist besser, als mit einer Lüge zu leben. Für mich ebenso wie für sie. Das ist keine Schwelle, die ich überschreiten möchte.“

„Ich verstehe. Durch diese Entscheidung beweist du, dass du tapferer als die meist’n bist.“ Vol’jin trat zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Und ich bin sicher, du wirst mir meinen Pfeil geb’n, wenn die Zeit gekommen ist, ihn einzusetz’n.“

„Genauso vertraue ich darauf, dass du den Kerl erledigen wirst, der mich erwischt.“ Der Mensch stemmte sich unsicher auf die Beine hoch. „Aber ich hoffe, dass noch viele Jahre vergehen, bevor du dieses Versprechen einlösen musst.“


Vol’jin stand in der Mitte der künstlichen Insel im Herzen des Tempels, wo er den Mogu getötet hatte, und blickte hinaus auf den Hain der Fallenden Blüten. Dort war alles unter einer weißen Decke begraben, und der Troll konnte nicht sagen, ob es sich bei den kleinen Unebenheiten im Schnee um gefrorene Leichen oder doch nur um Felsbrocken handelte. Die weißen Flocken, von denen einige durch den Wind wieder in die Luft emporgewirbelt wurden, verbargen alles unter ihrer Unschuld.

Und zumindest einen Moment lang ließ Vol’jin sich von ihnen zu dem Gedanken verführen, dass es Frieden auf der Welt gab.

Taran Zhu trat an seine Seite. „Friede ist ein natürlicher Zustand. Ihr könnt ihn hier genießen, so lange Ihr wollt.“

„Ihr seid äußerst gütig, Meister Taran Zhu.“

Der Pandaren lächelte. „Aber Ihr werdet ihn nicht genießen, solange Ihr solltet.“

„Das wäre egoistisch.“ Vol’jin wandte sich zu ihm um. „Der Fried’n, den Ihr mir anbietet, wäre mir zwar willkomm’n, aber letzt’n Endes wäre ich darin ebenso gefangen wie in einem Totenschädel oder einem Helm.“

Taran Zhu hob den Kopf. „Glaubt Ihr wirklich, Ihr habt die Geschichte verstanden?“

„Ja. In dem Gleichnis ging es nicht um Schädel oder Helme, sondern um die Grenz’n, die man sich setzt, wenn man eine Rolle akzeptiert. Eine Krabbe, die sich als Krabbe sieht, wird nicht durch den Panzer definiert, in dem sie Schutz sucht, sondern durch ihren Zwang, Schutz zu such’n. Ich bin keine Krabbe. Meine Zukunft soll nicht dadurch bestimmt werd’n, welche schützend’n Schalen ich finde. Nein, mir stehen mehr Möglichkeit’n offen.“

„Und mehr Verpflichtungen stehen Euch bevor.“

„Allerdings.“ Der Troll atmete tief ein und dann langsam wieder aus. Garrosh hatte die Horde betrogen und würde es auch weiterhin tun; es lag in seiner Natur. Er ließ sich von seinen selbstsüchtigen Wünschen und Ängsten beherrschen, und er würde sich nie ändern. Im Gegenteil, er würde noch viele schreckliche Dinge tun, nur um seine Position zu festigen. Das Blut würde in Strömen fließen, bis es schließlich zu einer so mächtigen Flut würde, dass Garrosh selbst davon mitgerissen und fortgespült würde.

„Ihr, Meister Taran Zhu, habt hier eine Familie, um die Ihr Euch kümmert. Ebenso wie Chen. Tyrathan wird bald zu seiner Familie zurückkehr’n.“ Der Dunkelspeer kniff die Augen zusammen. „Meine Familie ist die Horde, und ich kann sie ebenso wenig in dem Glaub’n lassen, ich sei tot, wie Tyrathan es kann. Auch meine Familie verdient Fried’n. Indem ich hier meinen eigenen Frieden suchte, würde ich der Horde den ihren vorenthalt’n.“

„Und das kann ein Schattenjäger nicht tun?“

„Ob ich es kann oder nicht, spielt keine Rolle. Und ob ich ein Schattenjäger oder Troll bin, ist ebenso unwichtig.“ Er nickte langsam. „Vol’jin von den Dunkelspeeren wird es nicht tun. Das ist, wer ich bin. Die Zeit ist gekommen, meine Feinde daran zu erinnern. Und dann werden sie für das Unheil bezahl’n, dass sie heraufbeschwor’n haben.“

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