Wir leben uns ein

Ende Februar zeigt mir meine Mutter ein Zeitungsinserat, in dem allein erziehende Frauen zur Gründung eines entsprechenden Vereins in unserer Umgebung gesucht werden. »Melde dich doch dort, damit du wieder unter Leute kommst und neuen Kontakt findest«, meint sie fürsorglich. Nach einigem Zögern melde ich mich tatsächlich an. Mitte März erhalte ich eine Einladung zu einem Sonntagsbrunch, bei dem sich alle kennen lernen sollen.

Das Treffen findet in einer gemütlichen Waldhütte am Rande eines Dorfes statt. Als ich mit Napirai ankomme, haben sich schon ein paar Frauen mit ihren Sprösslingen versammelt. Einige Kinder toben ausgelassen herum, während andere an ihren Müttern kleben. Napirai kennt keine Scheu, geht auf die Kinder zu und beobachtet sie aufmerksam. Auch sie wird neugierig gemustert, da sie das einzige farbige Kind ist. Immer mehr Frauen kommen an, bis wir eine Gruppe von ungefähr zwanzig Erwachsenen sind. Überall sind die Tische gedeckt und es duftet nach Kaffee. Die zwei Organisatorinnen stellen sich selbst und den Verein vor. Die Absicht ist, sich einmal im Monat zu einem Frühstücksbrunch zu treffen, um gemeinsam über Probleme zu diskutieren und einander zu helfen. Die Stärkeren unter uns sollen die Schwächeren unterstützen. Langsam sollen nach außen soziale Kontakte aufgebaut werden. Dann stellen sich alle kurz vor und erzählen, warum sie allein erziehend sind. Zum Teil kommen sehr traurige Schicksale zum Vorschein, die mich tief bewegen. Ein Teil der Frauen wirkt selbstbewusst, andere sind schüchtern und gehemmt. Einige sind schon Jahre allein, andere wiederum erst, wie ich, ein paar Monate. Als ich meine Geschichte erzähle, wollen die meisten mehr und mehr wissen. Viele finden mein Leben außergewöhnlich, verrückt und unglaublich schwierig. Ich dagegen empfinde die Probleme der anderen Frauen teilweise als viel größer. Viele kämpfen um Geld oder um das Sorgerecht für ihre Kinder. Wieder andere leiden noch sehr unter der Trennung von ihrem Mann, vor allem diejenigen, die verlassen wurden. Meine Lage erscheint mir viel leichter. Ich lebe von dem wenigen Bargeld, das ich noch habe, und warte nur auf meine Arbeitsbewilligung, um endlich anfangen zu können. Das Problem, mit meinem Mann um Unterhaltszahlungen kämpfen zu müssen, stellt sich mir nicht.

Während ich meine jetzige Situation betrachte, erinnere ich mich an mein Leben in Afrika, das teilweise einem Überlebenskampf bis an die Grenze des Todes gleichkam. Dort war ich zum größten Teil auf mich allein angewiesen, konnte die Maa-Sprache kaum und hatte keine Verbindung zur zivilisierten Außenwelt. Es gab Tage, an denen ich mit niemandem auch nur ein einziges Wort gewechselt habe. Eine Flucht aus unserem Dorf im kenianischen Hochland wäre mir nie möglich gewesen, denn keine Frau hätte es gewagt, mir zu helfen, indem sie meine kleine Napirai während der halsbrecherischen Fahrt durch den Dschungel gehalten hätte. Auch nicht für viel Geld, weil sie nie mehr zu ihrem Stamm hätte zurückkehren können. Massai-Männer stehen einer Frau, die flüchten will, erst recht nicht zur Seite.

Hier dagegen kann man mit allen sprechen, wird verstanden und erhält meistens auch Hilfe. Man muss sich nur in Bewegung setzen. Nein, für mich ist das Leben, seitdem ich allein erziehende Mutter in der Schweiz bin, viel einfacher geworden und es wird noch leichter werden, sobald ich arbeiten kann, davon bin ich überzeugt. Einige Frauen warnen mich, ich solle nicht so euphorisch sein, denn Jobs für Frauen in unserer Situation gäbe es nicht so viele. Außerdem müsste ich eine Betreuung für Napirai organisieren. Dass ich sie mit ihren knapp zwei Jahren immer noch stille, finden einige Mütter anscheinend recht seltsam. Ich werde das alles schon sehen, wenn es so weit ist, denke ich und lasse mich nicht beunruhigen.

Eine Frau namens Madeleine setzt sich zu mir und erzählt, sie fliege Ende April nach Kenia, um sich endlich Urlaub zu gönnen und sich von der Scheidung zu erholen. Nachdem sie vorhat, an die Südküste zu reisen, vereinbaren wir, dass ich sie vorher zu Hause besuchen werde. Sie will einige Informationen über Kenia und ich werde ihr aufzeichnen, wo sich unser Shop befindet, damit sie vorbeischauen und sich eventuell mit Lketinga unterhalten kann. Sie macht auf mich einen positiven Eindruck, und auch zwei, drei andere Frauen, vor allem aber eine der Organisatorinnen, die später unsere gewählte Präsidentin wird und vor Energie strotzt, fallen mir auf. Mit ein paar wenigen komme ich überhaupt nicht ins Gespräch.

Die Zeit vergeht wie im Flug und schon packen alle mit an, um abzuspülen und das Geschirr wegzuräumen. Die Hütte wird geputzt und dann verabschieden wir uns bis zum nächsten Treffen in vier Wochen.

Auf dem Nachhauseweg gehen mir viele Gedanken und die verschiedenen Lebensgeschichten durch den Kopf. Auf jeden Fall hat mir dieses Treffen gut getan. Zum einen habe ich wirklich Interesse, mit einigen dieser Frauen auch außerhalb der Gruppe einen Kontakt aufzubauen. Zum anderen ist mir klar geworden, dass ich nicht so lange warten kann, bis ich völlig mittellos dastehe. Zum ersten Mal wurde ich mit den Problemen von allein erziehenden Frauen konfrontiert. Vor den Jahren in Afrika war ich eine erfolgreiche Geschäftsfrau ohne Kinderwunsch und in Kenia ist es normal, dass viele Frauen allein für ihre zahlreichen Kinder aufkommen müssen. Ich habe mir also bisher nie viele Gedanken über dieses Thema gemacht. Heute aber konnte ich sehen, dass nicht wenige Frauen sich wie gelähmt ihrem Schicksal ergeben. Das will ich auf keinen Fall!

Wieder zu Hause erzähle ich meiner Mutter von meinen Eindrücken und teile ihr mit, dass ich mich der Gruppe anschließen werde, zumal auch Napirai es genossen hat, mit den vielen Kindern herumzutoben. Morgen will ich bei der Fremdenpolizei nachhaken, was los ist, denn immerhin sind wir nun schon fünf Monate hier.

Als ich am nächsten Morgen anrufe, spüre ich mit jeder Faser meines Körpers, dass dies ein ganz wichtiger Moment ist. Meine Mutter sitzt mit Napirai auf dem Sofa und schaut mich angespannt an, während sie sicher betet.

Nachdem ich mit der zuständigen Stelle verbunden worden bin, erkläre ich der Frau am anderen Ende der Leitung mein Anliegen. Freundlich meint sie, sie werde nachschauen, ich solle warten. Dieses Warten vergesse ich mein ganzes Leben nicht mehr! Mein Herz klopft bis in den Hals hinauf und meine Brust wird eng und enger. Die Sekunden oder Minuten erscheinen mir wie eine Ewigkeit. »Lieber Gott, bitte hilf uns noch dieses eine Mal!«, bete ich in Gedanken und drücke für mich und mein kleines Mädchen die Daumen. Endlich höre ich die Stimme der Dame: »Ihr Name ist Corinne Hofmann, zur Zeit wohnhaft in Wetzikon mit ihrer Tochter Napirai, geboren am 1. Juli 1989, ist das richtig?«

»Ja«, würge ich heraus. »Ihr Antrag ist angenommen. Sie bekommen im Verlauf der nächsten Tage noch alles schriftlich bestätigt.« Ich halte die Luft an, doch dann sprudelt es aus mir heraus: »Danke, vielen Dank, Sie machen mich zum glücklichsten Menschen der Welt. Auf Wiedersehen!« Ich drehe mich um und rufe überschwänglich: »Wir können bleiben! Gott sei Dank!«

In diesem Moment fühle ich mich wie neu geboren und tanze mit Napirai durch die Wohnung. Sie lacht und kreischt, obwohl sie natürlich nicht weiß, weshalb ihre Mama so aus dem Häuschen ist. Meine Mutter weint Tränen der Erleichterung. Vor lauter Freude kann ich kaum einen klaren Gedanken fassen. Jetzt wird alles gut. Mit aller Kraft werde ich mich dafür einsetzen, möglichst schnell eine Arbeit und eine Wohnung zu finden. Telefonisch informiere ich meine Geschwister und teile ihnen mein Glück mit. Auch an James schreibe ich gleich einen Brief. Ich bin ganz außer mir vor Aufregung. Seit der Geburt meiner Tochter habe ich mich nicht mehr so gefreut wie über diesen einen Satz, ausgesprochen von einer mir völlig fremden Frau. Er bedeutet für mich ein neues Leben! Ob ihr das Ausmaß dieser wenigen Worte wohl bewusst ist? Ach was, verscheuche ich den Gedanken, Hauptsache, ich habe mein Ziel erreicht. Sobald ich die schriftliche Bestätigung erhalten habe, werde ich ein Stellengesuch im Tagesanzeiger aufgeben.

Am Abend freut sich auch Hanspeter über die gute Nachricht. Beim Essen diskutieren wir, was ich arbeiten könnte. Ich schlage vor, den ersten Versuch bei einem Kiosk zu starten. Wenn ich die Frühschicht übernähme, könnte ich bereits mittags zu Hause bei Napirai sein. Meine Mutter bietet mir an, sich zwei bis drei Tage um Napirai zu kümmern, da sie sich inzwischen sehr an ihre Enkelin gewöhnt hat und gerne mit ihr zusammen ist. Mit Hanspeter erstelle ich eine Kostenübersicht, was alles auf mich zukommt, wenn ich in eine eigene Wohnung ziehe. Dabei stelle ich schnell fest, dass ich, wenn ich nicht am Hungertuch nagen möchte, doch einen Vollzeit-Job annehmen muss. Schließlich muss ich die gesamte Wohnungseinrichtung neu anschaffen, da ich überhaupt nichts mehr besitze. Keinen Teller, kein Besteck, kein einziges Handtuch, von Möbeln ganz zu schweigen. Deshalb kommt nur eine Außendienstaufgabe in Frage, weil ich mir dann die Zeit einteilen und mit einer Provisionsbeteiligung schnell mehr verdienen könnte. Meine Mutter erinnert mich an den ehemaligen Chef in der Versicherung. Doch obwohl mich das Angebot sehr gefreut hatte, verwerfe ich die Idee, weil ich in dieser Branche hauptsächlich abends arbeiten müsste. Ich möchte erst versuchen, etwas Spannendes tagsüber zu finden, und werde deshalb inserieren.

Selbstverständlich muss ich noch an meinem äußeren Erscheinungsbild arbeiten. Ein neuer Haarschnitt ist dringend nötig und zwei, drei Kostüme sollte ich mir auch besorgen. Doch dafür gibt es ja Secondhand-Shops. Unter Umständen muss ein Auto gekauft werden, was hier in der Schweiz, im Gegensatz zu Kenia, kein allzu großes Problem sein dürfte. Gebrauchtwagenhändler gibt es an jeder Ecke und ein erschwingliches Auto ist sicher leicht zu finden.

Die größte Schwierigkeit sehe ich in meinem mangelnden Selbstvertrauen. Wieder auf fremde Menschen zuzugehen und ihnen etwas schmackhaft zu machen, erscheint mir im Moment noch sehr mutig. Auch die Vorstellung, mich im Stadtverkehr bewegen und mir unbekannte Straßen suchen zu müssen, flößt mir Schrecken ein. Doch was ich früher konnte, werde ich auch heute bald wieder können. Alles scheint mir nun leichter lösbar zu sein als noch vor vier Monaten. Wenn ich daran denke, dass es in Kenia Momente gab, in denen ich vor Schwäche nicht mehr allein stehen konnte und mir 50 Meter als schier unüberwindbare Distanz erschienen, stehe ich heute im Vergleich dazu wie ein »Kraftprotz« da. Ich werde es schaffen, davon bin ich überzeugt!


Ein paar Tage später erhalte ich schriftlich die erneute Niederlassungsbewilligung. Allerdings gilt es noch, die Frage meiner Heirat zu klären. In der Schweiz ist diese nämlich nicht rechtsgültig, wie man mir mitteilt. Da ich die deutsche Staatsangehörigkeit besitze, muss das in Berlin entschieden werden und die Schweiz wird sich dann dem Entscheid von Deutschland anschließen. Es ist also nicht geklärt, ob ich in Europa als verheiratet oder ledig gelte. Doch darüber mache ich mir im Augenblick keine Gedanken. Was das noch für Folgen haben wird, erlebe ich erst ein knappes Jahr später. Im Moment aber bin ich einfach glücklich.

Mein Stellengesuch ist aufgegeben und so warte ich hoffnungsvoll auf ein gutes Angebot im Außendienst. Auch die Wohnungsinserate studiere ich, aber die Preise und die dürftige Auswahl dämpfen meinen Optimismus. Natürlich muss ich nicht gleich bei meiner Mutter ausziehen, doch allmählich möchte ich, vor allem wenn ich arbeiten gehe, in den eigenen vier Wänden leben.


Gut zwei Wochen nach unserem ersten Treffen in der Gruppe der allein Erziehenden ruft Madeleine an und lädt mich mit Napirai zu einem Kaffeeklatsch ein. Sie wohnt nur ein paar Minuten Autofahrt entfernt im Nachbardorf, das oberhalb von Wetzikon liegt. Auf Anhieb gefällt mir die Wohnanlage. Sie besteht aus vier sich gegenüber liegenden Häuserblocks, auf jeder Seite zwei. In der Mitte befindet sich eine große Grünfläche mit einem Kinderspielplatz, auf dem ein paar Kleinkinder herumtollen. Das würde Napirai natürlich gefallen! Mich begeistert zusätzlich der nahe gelegene Wald mit dem rauschenden Bach.

Madeleine freut sich über unseren Besuch. Ihr Sohn ist zehn Jahre alt und beschäftigt sich mit einer Engelsgeduld mit Napirai. Ausführlich erzählen wir einander unsere Lebensgeschichten und als sie hört, dass ich gerade meine definitive Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz wieder bekommen habe, freut sie sich sehr für uns. Ich teile ihr meine Zuversicht mit, bald eine Arbeit zu finden. Nur mit einer Wohnung würde es wohl schwieriger werden, denn ich suchte eine in einer Siedlung wie dieser hier. Madeleine bietet sich an, bei der Verwaltung nachzufragen, doch solle ich mir noch keine Hoffnung machen, denn es bestehen Wartelisten auf diese günstigen Wohnungen. Aber dieser Flecken hat es mir wirklich angetan und ich werde nicht so schnell aufgeben.

Ich zeige ihr noch Fotos von meinem Mann und unserem Shop in Kenia und bitte sie, ihn in ihrem Urlaub aufzusuchen, um ihm einen Brief von mir zu geben. Auch solle sie versuchen, über Sophia etwas herauszufinden. Es scheint mir wie ein bedeutungsvoller Zufall, dass ich ausgerechnet bei meiner ersten aushäusigen Unternehmung jemandem begegnet bin, der nach Kenia fliegt. Mit etwas Wehmut wünsche ich ihr beim Abschied einen schönen Urlaub. Zu Hause schwärme ich meiner Mutter von der Wohngegend vor. Für mich steht fest, dass ich nicht weitersuche, solange ich keinen negativen Bescheid von der Verwaltung bekommen habe.

In den folgenden Tagen tröpfeln per Post vereinzelte Arbeitsangebote herein. Das meiste ist unbrauchbar. Entweder gefällt mir das zu vertreibende Produkt nicht oder die Firmen wollen keinerlei Garantielohn zahlen, worauf ich mich in meiner Situation nicht einlassen kann. Als ich die Hoffnung auf den Erfolg des Inserates schon aufgeben will, erhalte ich ein Angebot aus Zürich. Es geht um Seidenfoulards und Krawatten, die an Unternehmen als Werbegeschenke verkauft werden sollen. Ich schaue mir die beigelegten Prospekte an und spüre, dass das meine Chance ist. Sofort rufe ich an und vereinbare einen Vorstellungstermin.

Jetzt kommt es auf mich an. Die erste Stelle nach dem langen Auslandsaufenthalt zu bekommen, wird besonders schwer sein. Ich besorge mir eine anständige Stadtkarte von Zürich und kaufe ein schönes Kostüm. Dass ich so lang und dünn bin, hat den Vorteil, dass mir die meisten Warenhauskleider passen und gut stehen. Beim Friseur lasse ich mir zum ersten Mal in meinem Leben die Haare kurz schneiden und rot färben. Ein Paar neue Stöckelschuhe, nicht zu hoch, geben meinem Aussehen den letzten Schliff. Mein Massai-Leben, in einer »Kuhfladenhütte« an der Feuer stelle auf dem Boden kauernd und Ugali kochend, sieht mir niemand mehr an. Meine Mutter bestätigt diesen Eindruck, weil sie mich im ersten Moment kaum erkennt. Auch Napirai staunt mich unsicher an. Nur meine Stimme scheint ihr vertraut zu sein. Doch als ich ihr die Brust zum Stillen anbiete, stürzt sie wie gewohnt auf mich zu. Wohlig saugt sie sich an und ist nun ganz sicher, dass sie bei ihrer Mama gelandet ist.

Da ich zu dem Vorstellungsgespräch möglichst entspannt erscheinen möchte, beschließe ich, nicht mit dem Auto, sondern mit dem Zug nach Zürich zu fahren. Aber schon am Bahnhof erlebe ich meine erste Niederlage. Ich möchte die Fahrkarte am Schalter lösen, doch steht dort eine große Menschentraube. Weil bis zur Abfahrt nicht mehr viel Zeit bleibt, frage ich den Mann am Schalter kurz, ob ich auch im Zug nach Zürich ein Billett kaufen könne. Er schaut mich verdutzt an und sagt: »Nein, in der S-Bahn geht das nicht. Sie müssen am Automaten auf dem Bahnsteig lösen.« In zwei Minuten kommt der Zug. Ich haste zum angegebenen Gleis und suche den entsprechenden Kasten. Als ich ihn entdecke, kann ich nur verwirrende Zahlen und Pfeile erkennen. Wie ein Steinzeitmensch stehe ich da und weiß nicht, wie ich zu einer Fahrkarte komme. Mit herablassender Nachsicht erklärt mir ein Jugendlicher den Automaten. Ich könnte in den Boden versinken vor Scham. Wie tollpatschig ich doch geworden bin während meines vierjährigen Lebens im Busch!

Die Orientierung in Zürich stellt die nächste Herausforderung dar. Mit Mühe frage ich mich durch. Völlig durchgeschwitzt in meinem schönen neuen Kostüm komme ich bei der vereinbarten Adresse an. Zum Glück habe ich noch zehn Minuten Zeit, mich etwas zu beruhigen.

Im Präsentationsraum strahlen die Foulards in den tollsten Farbkombinationen um die Wette. Ich werde von einer etwa 50-jährigen Frau begrüßt. Nachdem ich mich kurz vorgestellt habe, ruft sie ihren Mann, der wohl für die Einstellung zuständig ist. Es erscheint ein kleiner, älterer, doch vitaler Herr. Er zeigt mir gleich die verschiedenen Qualitäten und Stoffe. Ich bin mir nicht sicher, was ich von dem Paar halten soll, doch die Artikel sind schön und auf jeden Fall gut zu verkaufen, das erkenne ich sofort. Der Mann bittet mich in sein Büro und wir unterhalten uns. Als er erfährt, dass ich erst vor kurzem aus dem Ausland zurückgekommen bin, ist er nicht sehr begeistert, da ihm natürlich Referenzen fehlen. Wohlweislich erzähle ich nur von meiner Geschäftstätigkeit im Souvenirbereich in Mombasa. Die Frage, ob ich verheiratet sei, beantworte ich mit nein, da sowieso noch nicht geklärt ist, wie ich künftig registriert werde. Er wertet das positiv, denn Ehemänner würden häufig auf ihre Frauen im Außendienst mit Eifersucht reagieren. Nach Kindern werde ich nicht gefragt und so erwähne ich meine Tochter vorläufig auch nicht. Am Schluss unterhalten wir uns über das Gehalt. Erstaunlicherweise ist er mit meinem Vorschlag sofort einverstanden, sofern es zu einem Arbeitsverhältnis kommt. Er habe noch einen anderen Interessenten und auch ich solle mir das Ganze noch mal überlegen. Ich sage ihm gleich, dass ich keine Bedenkfrist brauche und sobald wie möglich anfangen möchte. Er lacht und meint: »Ich rufe sie in den nächsten Tagen an.«

Obwohl ich nicht weiß, wie seine Entscheidung ausfällt, mache ich mir auf dem Weg zur Straßenbahn bereits Gedanken, wie ich vorgehen könnte, denn es besteht kein Kundenstamm und ich müsste alles neu aufbauen. Bis jetzt verkaufte er nur an Kleidergeschäfte als Wiederverkäufer. Ich aber soll die teuren Markenprodukte bei der Industriekundschaft als Firmenwerbegeschenke einführen. Der Job reizt mich, denn an Stelle von nüchternen Versicherungsverträgen könnte ich schöne Produkte präsentieren. Die Heimreise gestaltet sich problemlos. »Siehst du, Corinne, so wird dir jeder Arbeitstag das Leben hier wieder näher bringen und einfacher machen«, schmunzele ich in mich hinein.

Zu Hause stürzt sich Napirai auf mich und schiebt mir den Pullover hoch, um an meiner Brust zu saugen. Oh, wie ich mein Mädchen mit ihren braunen Kraushaaren und ihren dunklen Kirschaugen liebe! Das wird schon eine Umstellung, wenn wir den Tag nicht mehr zusammen verbringen können. Aber ich weiß, dass sie es bei meiner Mutter wirklich gut hat, denn sie liebt sie wie eine eigene Tochter.

Nun müssen wir noch eine Tagesmutter suchen, die Napirai die restlichen zwei Tage in der Woche versorgen kann. Am liebsten hätte ich jemanden mit Kindern, denn Napirai vermisst das Spielen mit Gleichaltrigen. In Wetzikon gibt es eine Familienberatungsstelle, die ich am nächsten Tag aufsuche, um mich zu erkundigen, wie ich am besten eine Familie finden kann. Die ältere Dame dort ist sehr nett und hilfsbereit und verspricht mir, sich umzuhören und mich so bald wie möglich zu informieren. Dankbar und erleichtert schlendere ich anschließend durch das Dorf und denke nicht ohne Staunen darüber nach, wie einfach mein Leben wieder geworden ist. Mit jedem kann ich sprechen und jeder versteht mich. Überall kann ich mich erkundigen oder erhalte sogar Hilfe. Seltsamerweise wird mir mit zunehmender zeitlicher Distanz immer klarer, wie hart und schwierig mein Leben in Kenia war. Nur weil mich meine große Liebe zu Lketinga so beflügelte, habe ich es damals nicht so empfunden.

Nun ist in Punkto Arbeit, Wohnung und Kinderbetreuung alles auf den Weg gebracht und ich kann nur noch auf die einzelnen Bescheide warten. Ich spüre, dass sich mein Leben in kurzer Zeit von Grund auf verändern wird und bin voller Neugier.

Am Abend ruft mich Madeleine an und erzählt, dass zur Zeit leider keine Wohnung frei wird und für jede Wohnung eine Warteliste existiert. Trotzdem gibt sie mir die Adresse der Verwaltung. Vielleicht sei es besser, wenn ich mich persönlich melden würde. Ich bedanke mich und wünsche ihr nochmals schöne Ferien in Kenia, denn sie fliegt am nächsten Tag ab. Enttäuscht versuche ich, die Nachricht zu verdauen und beschließe, noch ein paar Tage abzuwarten.

Von meinem hoffentlich zukünftigen Arbeitgeber habe ich seit dem Vorstellungsgespräch nichts mehr gehört. Da ich auch keine anderen Angebote erhalten habe, bin ich entschlossen, um diesen Job zu kämpfen. Deshalb rufe ich an und frage nach. Der vitale, ältere Herr drückt sich um eine klare Antwort ein wenig herum. Ich frage ihn kurzerhand, wo sein Problem sei. Nun, er wisse nicht so recht, ob ich die geeignete Person sei. Er würde es zwar mit mir versuchen, aber nicht zu dem vereinbarten Lohn, da ich schließlich keine Berufspraxis habe. Ich müsse meine Gehaltsforderung deutlich reduzieren. Ungehalten erkläre ich ihm, dass ich mein verlangtes Geld auf jeden Fall wert bin. »Wer in Afrika erfolgreich Geschäfte gemacht hat, wird auch hier erfolgreich sein!« Nach einigem Hin und Her gibt er mir die Zusage, dass ich am 1. Mai anfangen könne. Zwei Tage später halte ich den Vertrag in Händen. Die erste Stelle, für die ich mich beworben habe, habe ich erhalten. Wenn ich kein Glückskind bin!

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