Über die Hürden der Bürokratie

Anfang September werde ich aus meinem euphorischen Hochgefühl abrupt herausgerissen. Es geht um meinen Antrag auf ein Familienstammbuch, den ich schon ganz vergessen hatte. Was ich nun lesen muss, zieht mir fast den Boden unter den Füßen weg. Nach deutschem Recht gelte ich noch als verheiratet, was bedeutet, dass Napirai den Familiennamen des Vaters tragen muss, es sei denn, beide Eltern hätten sich auf einen anderen Namen geeinigt. Außerdem ist der Name erst rechtsgültig, wenn er in einem deutschen Familienstammbuch oder in einem Personalausweis eingetragen ist. Zusätzlich soll ich die Geburtsurkunde meines Ehemannes vorlegen. Wie, um Gottes Willen, soll ich eine Geburtsurkunde herbeizaubern, die es gar nicht gibt? Auf einem Formular muss ich tausend Fragen über Lketingas Eltern beantworten. Wie soll ich mir nur all die nötigen Informationen beschaffen von einem Ehemann, von dem mir nicht einmal bekannt ist, wo er sich zur Zeit aufhält?

In meinem Kopf dreht sich alles und mir wird schlecht. Niemals würde Lketinga sein Einverständnis geben, dass Napirai meinen Namen trägt. Die Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz habe ich aber nur auf Grund der Tatsache erhalten, dass wir beide den gleichen Namen und die gleiche Nationalität haben. Ich drehe fast durch vor Angst, dass man mir Napirai wegnehmen könnte. Sollte unsere schöne neu aufgebaute Welt nur wegen ein paar idiotischer Paragraphen einstürzen? Oder sollte Lketinga, der mit unbekanntem Aufenthalt 10.000 Kilometer von uns entfernt lebt, etwa der gesetzliche Vertreter von Napirai sein?

Ich kann es kaum glauben, gehe die Fragen wieder und wieder durch und weiß nicht, wie ich sie jemals beantworten soll. Am liebsten würde ich alles in den Papierkorb werfen. Aber Napirai wird irgendwann einmal einen Personalausweis brauchen und dafür benötigt sie eine anerkannte Geburtsurkunde. Die aber muss in Kenia bestätigt werden. Mein Gott, wie kann das gehen? Langsam weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich tun soll. Völlig verzweifelt rufe ich bei meiner Mutter an, die mich zwar zu trösten versucht, mir aber auch nicht weiterhelfen kann.

Da keiner meiner Bekannten über einen solchen Fall Bescheid weiß, rufe ich beim deutschen Generalkonsulat in Zürich an und vereinbare einen Termin. Der zuständige Herr empfängt mich freundlich und zuvorkommend, doch er kann mir auch nicht viel dazu sagen. Die Gesetze seien eben so. Ich solle versuchen, über Lketingas Bruder mehr über die Familie zu erfahren. Dann würde er sehen, was er mit den Angaben anfangen könne und wie weit sie reichen würden.

Erschöpft und schwitzend verlasse ich das Konsulat und weiß im Moment nur, wie schwer alles sein wird. Ich denke an meine geliebten kenianischen Verwandten und daran, wie einfach und archaisch sie leben. Wie kann ich diesen Menschen erklären, dass wir das alles in unserer zivilisierten Welt brauchen? Sie, die nicht einmal ihren Geburtstag kennen und nicht verstehen, warum dieser überhaupt gefeiert wird, sollen nun sogar Angaben über Tote machen! Mir erscheint das absurd.

Weil ich aber keine andere Möglichkeit sehe, schreibe ich James einen langen Brief. Ich bitte ihn, all die vielen Fragen, so gut es geht, zu beantworten und sein Schreiben, falls möglich mit Schreibmaschine, von der Mission bestätigen zu lassen. Ich erkläre ihm noch, wie leid es mir täte, so viel Aufregung ins Dorf bringen zu müssen, aber für Napirai und mich sei dies alles sehr wichtig. Ohne viel Hoffnung schicke ich den Brief ab. Es wird sicher mehr als zwei bis drei Monate dauern, bis ich Bescheid bekomme, da James um diese Zeit in der Schule ist und erst zu Weihnachten nach Hause kommen wird. Napirais Geburtsurkunde und die Heiratsurkunde werden vom Konsulat nach Kenia geschickt, um sie beglaubigen zu lassen. Auch das wird eine Ewigkeit dauern.

Trotz dieser Aufregungen kehrt langsam der Alltag zurück und ich verdränge mögliche schlechte Nachrichten. Irgendwie wird sich auch dieses Problem lösen lassen.

Ein paar Wochen vor Weihnachten laufen meine Personalverkäufe prächtig, da sich die Produkte hervorragend als Geschenke eignen. Mein Chef ist mit mir sehr zufrieden und least für mich einen schönen neuen Wagen, weil mein alter Ford immer häufiger mitten in der Stadt stehen bleibt, wodurch sich schon etliche Terminprobleme ergeben haben. Bei jeder Autopanne jedoch bin ich beeindruckt, wie schnell und unkompliziert geholfen wird. Entweder hält ein anderer Autofahrer oder man ruft den Pannendienst und erhält innerhalb kürzester Zeit Hilfe. Wie anders waren doch die Probleme in Kenia! Da standen wir oft stunden-, wenn nicht tagelang draußen im Busch und niemand kam vorbei, um zu helfen. Mit der Zeit musste ich lernen, allein am Motor herumzubasteln oder die ewigen Reifenpannen selbst zu reparieren. Nur wenn der Landrover einmal im Schlamm oder in tiefem Sand stecken blieb, konnten mir die Einheimischen helfen, indem sie im Busch Holz für eine harte, griffige Unterlage schlugen. Stolz fahre ich mit dem neuen Wagen zu meiner Arbeitsstelle. Über Nacht hat es geschneit und die Straßen sind voller Matsch. Ich fühle mich sicher, da mir mein Chef beteuert hat, dass ich mit den Allwetter-Reifen auch bei winterlichen Verhältnissen fahren könne. Dennoch fahre ich vorsichtig und langsam. In einer Rechtskurve jedoch gehorcht mir der Wagen nicht mehr, rutscht auf dem matschigen Schnee einfach geradeaus und bleibt erst nach dem Aufprall auf ein geparktes Autos stehen. Ich bin geschockt. Noch nie in meinem Leben hatte ich einen Unfall. Dabei bin ich weiß Gott in Kenia die verrücktesten Wege gefahren, auf die sich sonst kaum jemand wagte. Ich kann mir nicht erklären, wie das passieren konnte, zumal ich um die Kurve förmlich geschlichen bin. Das schöne neue Auto ist an der vorderen Seite schwer beschädigt und das geparkte Auto sieht auch nicht besser aus. Es öffnen sich verschiedenen Wohnungstüren und Fenster und bald steht eine aufgebrachte Frau vor ihrem neuen, nun aber demolierten Auto. Alles tut mir schrecklich leid und ich muss ständig daran denken, dass mir mein Chef den Kopf abreißen wird. Als der Mann der Geschädigten erscheint, der sich, welch eine Ironie, als Karosseriespengler erweist, sieht er gleich, dass ich keine Winterreifen auf dem Wagen habe. Ich glaube, ich höre nicht richtig und werde langsam hysterisch. Er beruhigt uns zwei Frauen und meint: »So schlimm, wie alles aussieht, wird es schon nicht sein.« Auch mein Chef reagiert am Telefon gelassen und sagt, er schicke einen Abschleppwagen vorbei. So endet meine erste Woche mit dem neuen Wagen. Ich erhalte einen Ersatz, bis mein Auto repariert ist. Den Rest würden die Versicherungen erledigen, beruhigt mich mein Chef. So einfach geht das hier.

Beim Organisieren und Durchführen der Personalverkäufe komme ich immer mehr mit anderen Menschen zusammen. Auch werde ich öfter von dem einen oder anderen Mann zum Essen oder auf einen Drink eingeladen. Bisher habe ich immer abgelehnt. Doch nun habe ich jemanden getroffen, der mir gefällt, und ich nehme seine Einladung an. Wir verabreden uns zum Essen und so gehe ich zum ersten Mal seit meiner Rückkehr aus Kenia mit einem Mann aus, während Napirai bei meiner Mutter übernachtet. Schon während des Essens, beim Erzählen, merke ich, dass mein Vorleben nicht auf allzu viel Begeisterung stößt. »Ach, du hast auch schon ein Kind?«, ist eine der spannenden Bemerkungen seinerseits, wobei der Tonfall alles sagt und der Abend entsprechend schnell endet. Ein anderes Mal muss ich mir anhören: »Aha, du stehst wohl eher auf Schwarze?« Auch wenn ich erzähle, dass ich nur einen afrikanischen Mann kenne, nämlich meinen Ehemann, bleibt doch ein komischer Beigeschmack hängen. Einmal kommt gar die Frage: »Hast du schon einen Aids-Test gemacht?« Ich bin jedes Mal total ernüchtert und so enden die »Affären« meist, bevor sie richtig beginnen können. Bald bin ich es leid, nur wegen eines Abendessens mit oft unerfreulicher Unterhaltung meine Tochter zum Übernachten wegzugeben. Eher genieße ich es, für Freundinnen zu kochen und unsere Feste zu Hause zu feiern. Oder ich treffe mich ab und zu mit früheren Kolleginnen und Kollegen aus Rapperswil, wenn dort in einem Restaurant Live-Musik gespielt wird. Da kann ich Napirai mitnehmen, worüber sie sich immer freut. Sie liebt es, inmitten vieler Menschen zu sein, und im Restaurant steht sie direkt vor der spielenden Band und tanzt fröhlich vor sich hin. Die Leute amüsieren sich über sie. Manchmal geht sie von Tisch zu Tisch und schaut die Menschen einfach nur an. Wenn sie wieder an unseren Platz zurückkommt, bringt sie oft ein kleines Geschenk mit. Ich muss lachen, obwohl ich mich manchmal frage, ob diese Sympathie ihrer Hautfarbe gilt oder der Tatsache, dass sie so neugierig und fröhlich ist. Sitzen wir aber um elf Uhr nachts immer noch zufrieden im Lokal, höre ich hin und wieder die Bemerkung: »Ein Kind gehört um diese Zeit ins Bett!« Ja, und die Mutter wohl gleich mit, denke ich mir. Meine Tochter ist glücklich, bei mir zu sein und freut sich wie ich an der Musik und unserem Zusammensein. Außerdem können wir am Wochenende ausschlafen. Im Süden nehmen die Menschen die Kinder auch mit und bekanntlich sind dort die meisten Leute lustiger. Ich lasse mich nicht beeindrucken und bleibe mit meinem Kind sitzen, bis ich merke, dass sie wirklich müde wird. Zufrieden fahren wir dann nach Hause. Bei einem der nächsten Gruppen-Treffen erwähne ich diese Bemerkungen und sofort entwickelt sich eine rege Diskussion. Viele verunsicherte, allein stehende Frauen haben nicht genügend Mut und bleiben deshalb mit ihren kleinen Kindern allen Veranstaltungen fern, bis ihnen zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Nein, ich lebe und erziehe meine Tochter so, wie es mir mein Gefühl sagt.


Wieder stecken wir mitten in der Vorweihnachtszeit und alles ist tief verschneit. In unserer Wohnsiedlung werde ich gefragt, ob ich mit Napirai den Nikolaustag in einer Waldhütte mitfeiern möchte. Es werde ein Nikolaus mit Esel und allem, was dazu gehört, vorbeikommen. Jeder beteiligt sich mit einem geringen Betrag. Ich sage zu und bin gespannt, wie Napirai darauf reagieren wird. Zehn Erwachsene treffen sich mit ihren Kindern in der Hütte. Alles ist festlich dekoriert und gedeckt mit Nüssen, Mandarinen, Kerzen und Wein. Nach etwa einer Stunde hören wir das Bimmeln von Glöckchen und dann ein Poltern an der Tür. Die Kinder sind aufgeregt und springen zu ihren Eltern. Napirai schaut mich überrascht an und dann wieder wie gebannt auf die Tür. Es erscheinen zwei rote Nikoläuse und ein schwarz gekleideter Schmutzli, der Knecht Rupprecht, mit Rute. Einen Moment lang wird es still in der Hütte. Erst als wir Erwachsenen die Nikoläuse begrüßen, fangen die Kinder an zu lachen oder sie verkriechen sich schnell bei ihren Eltern. Napirai staunt und fragt: »Mama, wer ist das?« Spielerisch erkläre ich ihr das Ganze und dann hören wir uns die Sprüche für die jeweiligen Kinder an, bevor sie ihre gefüllten Säckchen beim Nikolaus abholen können. Napirai aber will nur zu dem schwarz gekleideten Mann hin. Sie hat keinerlei Interesse an den roten Nikoläusen, sondern stellt sich vor den Knecht Rupprecht hin und versucht, ihm in den aufgeklebten langen, schwarzen Bart zu fassen. Die Situation ist für alle so komisch, dass ein Riesengelächter entsteht. Die meisten Kinder machen einen Bogen um diesen Mann, und Napirais Interesse gilt ausschließlich ihm. Wir lachen Tränen. Mir ist klar, dass dies etwas mit Afrika zu tun hat. Sicher erinnert sie sich an ihre afrikanische Herkunft und immer noch sind ihr dunkle Menschen vertraut.

Bei der Gelegenheit fällt mir eine komische Situation ein, als wir vor etwa einem halben Jahr beim Einkaufen waren. Wir fuhren die Rolltreppe hoch, als uns auf der anderen Seite ein farbiger Mann entgegenkam. Napirai saß im Einkaufswagen, zeigte mit dem Finger auf den Mann und rief laut: »Papa!« Der Mann lächelte uns an, während ich einen hochroten Kopf bekam.

Und nun hängt sie an dem verkleideten schwarzen Knecht Rupprecht. Ich bin sicher, wenn sie erwachsen ist, wird sie ihren Vater besuchen wollen. Unsere Nikolausfeier geht dem Ende entgegen und wir räumen die Hütte gemeinsam auf. Napirai trägt auf dem Nachhauseweg stolz ihr Säcklein, das mit Nüssen, Lebkuchen und Schokolade gefüllt ist.


Einige Tage später erhalte ich einen Brief von James, in dem er berichtet, dass es allen einigermaßen gut geht. Aber seit fast einem Jahr hat es nicht mehr geregnet und Menschen und Tiere leiden Hunger. Wegen der Dürre sind schon viele gestorben. Es wächst kein Gras mehr und deshalb verenden die Kühe und die Menschen haben keine Milch, die für sie ein Hauptnahrungsmittel ist. Seiner Familie geht es aber auf Grund der finanziellen Hilfe, die sie durch mich und meinen Bruder Marc erfahren, wesentlich besser. Er bedankt sich nochmals überschwänglich und grüßt uns von der ganzen Familie. Über meine Anfrage wegen des Familienstammbuches schreibt er nichts und so weiß ich nicht, ob sich unsere Briefe gekreuzt haben oder ob mein Brief verloren gegangen ist. Ich werde noch etwas abwarten. Von Lketinga wisse er immer noch nichts, doch nach Mombasa möchte er nicht fahren. Er werde mich informieren, sobald er etwas Neues höre. Über die kommende Weihnachtszeit sei er für zwei Monate zu Hause und feiere wieder eine größere Zeremonie. Dafür müsse er noch eine Kuh kaufen, habe aber kein Geld. Er hoffe auch in diesem Fall auf meine Unterstützung.

Weihnachten feiern wir bei meiner Mutter und Hanspeter. Auch diesmal häufen sich die Geschenke für meine Tochter und mich plagt ein schlechtes Gewissen angesichts der Not und Dürre auf der anderen Seite der Erde.

Zu Silvester hat uns die Vorsitzende der Gruppe für allein Erziehende zu sich nach Hause eingeladen. Alle bringen wieder etwas mit: Salate, Pizza, Kuchen, Fleisch, Wein oder Champagner. Schließlich sind wir etwa dreizehn Erwachsene und doppelt so viele Kinder jeden Alters. Wir essen vom herrlichen Büffet und tanzen anschließend in der schön dekorierten Wohnung. Nach zehn Uhr haben wir immer noch so viel Essen übrig, dass wir überlegen, was zu tun ist. Da kommt die Idee auf, bei einer Radiostation anzurufen und eine entsprechende Meldung durchzugeben. Nach einigen vergeblichen Versuchen gelingt es einer von uns, zum Sender durchzukommen. Sie erzählt kurz von unserem Fest, dass wir dreizehn Frauen sind und auf viel Essbarem sitzen geblieben sind. Mitbringen müsse man nur gute Laune. Die Kinder werden nicht erwähnt. Kurz darauf klingelt ununterbrochen das Telefon und es melden sich reihenweise einsame Männer oder gar Männergruppen. Denen, die sich nett anhören, teilen wir die Adresse mit, aber nach etwa zehn Minuten nehmen wir keine weiteren Anrufe mehr entgegen, die Wohnung würde sonst aus allen Nähten platzen. Es dauert nicht lange und die ersten Besucher melden sich an der Wohnungstür. Die älteren Kinder stürmen zur Tür, um zu öffnen. Die Besucher entschuldigen sich und meinen, am falschen Ort geklingelt zu haben. Doch die Kinder, gut »dressiert«, sagen: »Nein, nein, kommt nur rein. Unsere Mütter sitzen oder tanzen im Wohnzimmer.« Alle werden so empfangen. Die einen sind erstaunt und bleiben trotz der Kinder da. Andere verabschieden sich gleich an der Tür. Um Mitternacht sitzen acht Männer herum und lassen sich geduldig von den Kindern Hüte und Pappnasen aufsetzen, die zuvor aus dem Tischfeuerwerk geplatzt sind. Gegen zwei Uhr nachts machen allerdings auch die aufgewecktesten Kinder schlapp und so beenden wir das außergewöhnliche und lustige Silvesterfest.

Zu Hause lege ich die schlafende Napirai ins Bett und sinniere über mein vergangenes Jahr. Es hat sich so viel verändert, aber ich fühle mich glücklich. Ich sitze in einer gemütlichen Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung und empfinde sie auch nach fast einem Jahr als riesengroß im Vergleich zu meinen vorherigen Behausungen. Noch heute betrachte ich manchmal den Kühlschrank eine ganze Weile, bevor ich mir etwas Essbares heraushole. Einfach so, aus Achtung und Respekt. Ja, wir haben es geschafft und ich danke dem lieben Gott für alles, was mir im vergangenen Jahr widerfahren ist, und bin gespannt, wie das kommende Jahr 1992 wird.


Gleich zu Beginn des Jahres habe ich einen Untersuchungstermin bei meinem Hausarzt. Ich muss meine Blut- und Leberwerte kontrollieren lassen. Der Arzt, der meine Geschichte vom ersten Besuch her kennt, ist überrascht, wie gut erholt ich nach diesem Jahr aussehe. Das ist nicht verwunderlich, denn ich habe fast zehn Kilo zugenommen. Zwar bin ich immer noch sehr schlank, wirke aber nicht mehr mager. Bei den Blutwerten findet er nur noch wenige Malaria-Erreger, was bei der Häufigkeit, mit der ich diese schwere Tropenkrankheit hatte, höchst ungewöhnlich ist. Auch über die Leberwerte ist der Arzt verblüfft und kann es kaum glauben, dass ich als fast gesund einzustufen bin. Ich erkläre ihm, dass ich mich hier in der Schweiz nie mit meiner Krankheit auseinander gesetzt hätte, sondern mich schon bald als gesund betrachtet habe. »Anscheinend hat Ihre Einstellung viel dazu beigetragen, denn Sie haben sich in der kurzen Zeit so gut erholt, wie ich es noch nie erlebt habe«, sagt er erfreut und entlässt mich als gesund.

Der Januar ist kalt und nass. Die Termine laufen nicht so gut wie in der Weihnachtszeit. Die Menschen wirken abweisend und mürrisch. Auch mein Chef meckert, dass der Umsatz höher liegen könnte. Mir dagegen ist klar, dass im Januarloch nicht allzu hohe Erwartungen gestellt werden können. Das weiß ich noch aus meinen früheren Tätigkeiten. Er müsste das ebenfalls wissen, zumal er schon über 40 Jahre im Geschäft ist, wie er mir einmal stolz mitteilte. Im Moment bin ich jedenfalls um jede kleine Bestellung froh. Im Februar geht es bestimmt wieder bergauf.

Die einzige große Abwechslung ist der Karneval, der im Dorf gefeiert wird. Napirai macht das erste Mal mit und hat sich als Hexe verkleidet. Sie zieht mit einer Freundin los und freut sich über die närrischen Dinge, die um sie herum passieren. Ansonsten hat sie sich wunderbar bei der Pflegefamilie eingelebt. Es kommt sogar vor, dass sie noch gar nicht nach Hause möchte, wenn ich erscheine, weil sie so ins Spiel mit den anderen Kindern vertieft ist. Obwohl mich das am Anfang ein wenig schmerzt, bin ich auf der anderen Seite überglücklich, dass es ihr dort so gut gefällt.


Endlich erhalte ich den maschinengeschriebenen Brief aus Barsaloi. Ich bin überwältigt, dass James das zustande gebracht hat. Die ganze Familie freue sich und Mama habe vor Rührung sogar geweint, als sie erfuhr, dass sie hier in der Schweiz offiziell in ein Familienstammbuch eingetragen werden soll. Mit allem habe ich gerechnet, nur nicht mit dieser Reaktion. So laufen auch mir Tränen über das Gesicht, während ich meine Schwiegermama plötzlich wieder sehr vermisse. Nahezu alle Fragen sind beantwortet und das Schreiben ist von der Mission gestempelt. Sie bedauern nur, dass keine Geburtsurkunde und auch kein genaues Geburtsdatum von Lketinga existieren. Aber sogar über den verstorbenen Vater bekomme ich Auskunft. Oh, wie ich mich freue und der Schwiegermama danke für ihr Verständnis!

Voller Zuversicht gehe ich zum deutschen Konsulat und präsentiere dem Herrn den Brief. Wieder füllen wir unzählige Formulare aus. Einiges, was immer noch nicht klar genug aus dem Brief hervorgeht, muss ich eidesstattlich versichern. Erneut wird alles nach Berlin geschickt und es heißt weiter abwarten. Jedenfalls wird mir klar, dass dies keineswegs der letzte Besuch im Konsulat war.

In meiner Arbeit gibt es in Zürich schon bald keine Versicherung oder Bank mehr, bei der ich noch nicht vorstellig war. In Basel habe ich es sogar geschafft, am gleichen Tag einen Termin bei der Chemiefirma Sandoz und am Nachmittag bei Hoffmann La Roche zu bekommen. Das muss mir erst mal jemand nachmachen, denke ich zufrieden. Mitte März besuche ich spontan eine Bank, mit der ich ausgemacht hatte, dass ich alle drei Monate vorstellig werden kann. Die zuständige Einkäuferin hatte auch immer eine ganze Menge der teuren Markenfoulards bestellt. Ich betrete das Gebäude und frage nach ihr. Ganz überrascht erscheint sie und sagt: »Ja, wissen Sie denn nicht, dass ich vor drei Wochen in Ihrem Laden war und dort die Bestellung aufgegeben habe? Ich brauchte schnell einige Tücher und habe versucht, Sie telefonisch zu erreichen. Man hat mir angeboten, doch gleich selber im Geschäft vorbeizuschauen und deshalb habe ich dort alles ausgesucht und bin wieder für ein paar Monate eingedeckt.« Das erstaunt mich, denn davon habe ich nichts gewusst. Ich lasse mir aber nichts anmerken, verabschiede mich freundlich und verlasse die Bank. Zu Hause schaue ich meine Abrechnungen durch, finde aber keinen Vermerk über die Bestellung. So rufe ich am nächsten Tag meinen Chef an und frage nach. Erst versucht er, sich herauszuwinden, aber dann erklärt er, diese Bestellung gehe mich nichts an, weil die Dame im Geschäft nachbestellt hätte und nicht bei mir. Ich bin anderer Meinung, da es sich um eine von mir aufgebaute Kundschaft handelt und ihre Nachbestellungen meinem Umsatzkonto gut geschrieben werden müssten. Schließlich machen die Provisionen einen Bestandteil meines Lohnes aus. Er sieht das nicht ein und ich werde immer wütender, da ich annehmen muss, dass Ähnliches schon mehrmals geschehen ist. Es entsteht ein unschönes Wortgefecht. Ich kann nicht begreifen, dass er so uneinsichtig ist und stattdessen versucht, mir meine Kundschaft abspenstig zu machen. Da habe ich mit den Personalverkäufen zusätzlich oft bis in die Nacht hinein gearbeitet und nun fällt er mir derart in den Rücken. Ich bin furchtbar enttäuscht und fühle mich auf unverschämte Weise ausgenützt. So etwas kann ich nur schwer ertragen, reagiere dementsprechend und kündige auf der Stelle. »Ja, ja, dann machen Sie das doch!«, lacht er höhnisch und legt den Hörer auf. Nach kurzem Überlegen wird mir klar, dass er mich wirklich loswerden möchte, da ich ihm alle Kontakte hergestellt habe und er mein Gehalt nun einsparen könnte. Ich bin so wütend und enttäuscht, dass mir die Tränen hochsteigen. Verzeihen kann ich vieles, aber nicht, wenn mich jemand ungerecht behandelt. Also schreibe ich nur acht Monate, nachdem ich so erfolgreich meinen ersten Job begonnen hatte, meine Kündigung. Ich werde wieder etwas finden, davon bin ich überzeugt. Ein Zeugnis muss er mir auf jeden Fall schreiben und wehe, wenn das nicht korrekt ist! Schließlich haben sich eine ganze Reihe von Firmen, bei denen ich Personalverkäufe durchgeführt habe, schriftlich für die gute Organisation und meinen persönlichen Einsatz bedankt. Eine Woche später bringe ich den Wagen und die Kollektion zurück, nicht ohne vorher ausgemacht zu haben, dass ich mein ausstehendes Gehalt erhalten werde. Außerdem möchte ich mein Arbeitszeugnis vorab zum Gegenlesen bekommen. Es klappt erstaunlich gut und so trennen wir uns mit wenigen Worten. Obwohl ich in meinem ersten Job bis zu diesem Zwischenfall eine gute und glückliche Zeit hatte, bin ich froh, die Konsequenzen gezogen zu haben. Denn mir ist klar, dass es später ein noch unschöneres Ende genommen hätte.


Jetzt stehe ich also ohne Auto und ohne Arbeit da, aber mit einer Wohnung, die es neben allem anderen zu zahlen gilt. Am Abend fahre ich nach Rapperswil. Ich brauche Ablenkung und muss nachdenken.

Napirai schläft das erste Mal bei den Nachbarsmädchen, was ihr sehr gefällt. Im Laufe des Abends treffe ich alte Bekannte und erzähle von meiner Kündigung. Einer von ihnen gibt mir den Tipp, bei einer ihm bekannten Firma, die Werbeartikel vertreibt, nachzufragen. Wenige Tage später treffe ich mich mit den zuständigen Leuten. Das Angebot ist nicht überwältigend, doch es ist besser als nichts und man könnte einiges daraus machen. Es handelt sich um verschiedene Werbeprodukte wie bedruckte Feuerzeuge, Kugelschreiber, Mappen etc. In Bezug auf die Kundschaft sind keine Grenzen gesetzt. Jede Firma ist ein potentieller Kunde. Aber ich muss wieder ganz von vorne anfangen, da in meinem Gebiet noch keine Kundschaft aufgebaut ist.

Eine Woche nach unserem Gespräch beginne ich mit der neuen Arbeit. Es erweist sich als nahezu unmöglich, Termine zu bekommen. Also klappere ich mit einem geleasten Auto Handwerksbetriebe, Büros, Restaurants etc. ab und versuche, die Artikel mit der entsprechenden Firmenwerbung zu verkaufen. Da unsere Preise eher im unteren Bereich liegen, läuft es recht gut und viele bestellen gleich an Ort und Stelle. Nach zwei bis drei Monaten hat es sich herumgesprochen, dass ich gute und brauchbare Sachen anbiete. Deshalb werde ich weiterempfohlen und bald rufen die ersten Kunden von sich aus an. In dieser Branche ist es unkomplizierter, Kontakt zu den Leuten zu finden. Es kommt vor, dass ich bei einer Firma hineinschneie, in der die Angestellten gerade Pause haben. Dann werde ich fröhlich begrüßt und zum Kaffee eingeladen, während sie sich die Produkte anschauen. Der Verkaufsstil unterscheidet sich sehr von dem in meinem vorherigen Job, doch ich fühle mich wohl und lerne viele Menschen kennen.

Mein Bekanntenkreis hat sich mittlerweile beträchtlich erweitert, vor allem kenne ich eine Reihe mir sympathischer Frauen, und es fällt mir nicht schwer, Begleitung für eine abendliche Unternehmung zu finden. Am liebsten gehe ich tanzen. In den Lokalen beobachte ich die Menschen, wie sie dicht gedrängt um die Bars stehen oder sitzen und sich bei der lauten Musik kaum unterhalten können. Mir scheint, alle warten auf etwas. Zwischen mir und der Menschenmenge ist eine unsichtbare Wand. Ich habe das Gefühl, ich sei da, aber nicht dabei. Ich fühle mich nicht wie mittendrin, sondern eher wie außen vor. Ich kann mir dieses Empfinden selbst kaum erklären, da mir viele Leute vorgestellt werden und sich hin und wieder sogar ein Flirt entwickelt. Aber es erscheint mir alles unwirklich und oberflächlich. Andererseits staune ich und bin zeitweise fasziniert, wie sich die Szene und die Musik verändert haben.

Wenn ich dagegen an die Busch-Disco denke, die ich ein paar Mal in Barsaloi veranstaltet habe, muss ich beim Vergleich fast lachen. Da genügte der hintere Teil unseres Ladens, aus dem wir die Maissäcke entfernten. Ein Transistorradio, das an die Autobatterie des alten Landrovers angeschlossen wurde, war die einzige Musikquelle. Es gab Cola, Bier und gegrilltes Ziegenfleisch. Die Leute, ob jung oder alt, strömten in diese improvisierte Disco. Die meisten waren zum ersten Mal bei solch einer Veranstaltung und staunten wie große Kinder. Sogar die Alten hockten in ihre Wolldecken gehüllt am Boden und lachten. Nur die Frauen blieben draußen, was aber die Männer nicht vom ausgelassenen Tanzen abhielt. Alle waren glücklich und es gab ein Gefühl von »Miteinander«. Damals empfand ich diese Mauer zwischen mir und den anderen nicht. Es war ein tiefes Erleben, hier erscheint es mir jedoch wie ein weiteres Konsumieren. Trotzdem gehe ich aus, lasse mich von der neuen Musik berauschen und tanze manchmal stundenlang.


Napirai wächst heran und ist ein sehr aufgewecktes und fröhliches Mädchen. Wir haben eine tiefe Beziehung zueinander, obwohl ich sie schon seit langem nicht mehr stille. Aber wir teilen uns immer noch das Schlafzimmer und das große Bett.

An einem Wochenende fahre ich mit ihr nach Biel, um mein ehemaliges Brautkleidergeschäft, das ich vor meiner Auswanderung nach Afrika einer Freundin verkauft hatte, aufzusuchen. Während der Fahrt überlege ich hin und her, ob ich auch Marco, meinen damaligen Lebenspartner, den ich wegen Lketinga verlassen hatte, anrufen soll. Weil ich mich bis Biel nicht entscheiden kann, parke ich zuerst in der Bieler Altstadt, wo sich meine ehemalige Boutique befindet. Meine Nachfolgerin Mimi weiß nichts von meiner Rückkehr, da wir uns schon vor längerer Zeit aus den Augen verloren haben. Ich steige die Treppen zum Laden hinunter und bemerke, dass sich einiges verändert hat. Im Geschäft stehen zwei Kundinnen, mit denen sich Mimi unterhält. Als sie zu uns aufschaut, entweicht ihr ein ungläubiges: »Non, c'est pas vrai! Corinne, bist du es wirklich? Ich glaube es nicht! Wie kommst du denn hierher?« Irritiert und fassungslos starrt sie mich an, während ich sie mit einem Kuss begrüße.

»Ach, das ist eine lange Geschichte, aber lassen wir das. Zuerst musst du mir sagen, wie du mit dem Geschäft klar kommst«, ermuntere ich sie. Natürlich wird nun Napirai ausführlich bestaunt. Als die Kundinnen den Laden verlassen haben, erzählen wir uns unsere Lebensgeschichten. Nach Übernahme der Boutique hat sie ihren jetzigen Lebensgefährten kennen gelernt, was mich sehr freut, denn davor war sie nach ihrer Scheidung jahrelang allein gewesen. Dann folgt meine Geschichte, die auch in Kurzfassung etwas länger dauert. Am Ende ist sie traurig, dass meine große Liebe so tragisch geendet hat. Spontan fragt sie, ob ich nicht Lust hätte, sie und ihren Freund mit meiner Tochter in St. Raphael in Südfrankreich zu besuchen. Sie habe sich dort für einige Wochen in einer schönen Villa eingemietet, da ihr LebenspartnereineSaisonarbeitfür Schiffsmotorenrevisionen angenommen habe. Sie fahre in zwei Wochen hinunter und wir seien jederzeit herzlich willkommen. »Die Villa ist wunderschön gelegen, hat einen großen Pool und genügend Platz für uns alle. Dann könntest du mir dein Leben in Kenia noch ausführlicher erzählen.« Ich sage sofort zu, denn Ferien habe ich seit Jahren nicht mehr gemacht, obwohl jeder glaubt, wenn ich meine vier Jahre in Kenia erwähne, das sei ein Urlaub gewesen.

Nachdem sie mir die Adresse aufgeschrieben hat, frage ich nach Marco. Leider hat sie fast keinen Kontakt mehr zu unserem alten Freundeskreis, doch sie weiß, dass Marco umgezogen ist. Also rufe ich ihn kurzerhand an. Seine Stimme klingt weder überrascht noch verärgert und so unterhalten wir uns eine Weile am Telefon, bevor wir uns in einem Restaurant verabreden. Er hat sich kaum verändert. Wir erzählen uns knapp das Wichtigste aus den vergangenen Jahren und so erfahre ich, dass auch er eine gescheiterte Beziehung hinter sich hat und nun die Nase voll hat von Zweisamkeiten, was er offensichtlich ohne Groll mit einem strahlenden Lächeln kundtut. Bald haben wir uns nichts mehr zu erzählen und verabschieden uns, weil es obendrein für Napirai recht langweilig ist.

Auf der Fahrt nach Hause male ich mir in Gedanken die Ferien in Südfrankreich aus und freue mich darauf, zumal in St. Raphael eine Großtante mütterlicherseits lebt, die aus Indochina, dem heutigen Vietnam, kommt und die ich bei dieser Gelegenheit endlich kennen lernen könnte.

Drei Wochen später begeben wir uns mit dem Auto auf die lange Reise. Während der Fahrt singen wir, ich erzähle Geschichten oder wir hören uns Märchen-Kassetten an. Einige hundert Kilometer läuft alles bestens, doch allmählich wird Napirai quengelig, denn sie will nicht mehr im Auto sitzen. Alle Ablenkungsversuche helfen nichts und ich muss von der Autobahn abfahren und uns ein Hotel suchen. Mitten im Juli in Italien, und noch dazu in Meeresnähe, erweist sich dies als ein fast aussichtsloses Unterfangen. Alles ist belegt und darüber hinaus werden wir misstrauisch gemustert. Als ich mich schon auf eine Übernachtung im Auto vorbereiten will, haben wir beim letzten Versuch endlich Glück. Es ist eine alte Pension an einer Durchgangsstraße. Bevor wir das einfache und laute Zimmer beziehen, möchte ich mir mit Napirai noch ein wenig die Beine vertreten. Wir schlendern durch den kleinen malerischen Ort, in dem die Alten vor ihren Häusern auf der Straße sitzen. Immer wieder höre ich: »Che bella bambina, che bella!« Einige sind so entzückt von meiner Tochter, dass sie sie streicheln und berühren wollen. Napirai gefällt das überhaupt nicht und sie quittiert die Zuwendungen mit einem düsteren Blick. Wir ziehen uns in die Pension zurück und essen unsere letzten Brote, bevor wir erschöpft einschlafen.

Am nächsten Tag legen wir die letzten hundert Kilometer bis St. Raphael zurück und finden dank meiner im Außendienst erworbenen Orientierungsfähigkeiten die Villa auf Anhieb. Mimi empfängt uns freudig. Das Haus ist riesig und hat einen wunderschönen Pool. Am Abend stellt sie mir ihren Lebenspartner vor. Ich bin angenehm überrascht und erfreut. Er ist ein aufgeschlossener, jugendlicher und fröhlicher Mann, der Mimi jeden Wunsch von den Augen abzulesen scheint. Wir verbringen einen gemütlichen Abend. Bereits am zweiten Tag aber passiert fast eine Tragödie. Während ich für den Broteinkauf unterwegs bin, spielt sich zu Hause eine erschreckende Szene ab. Napirai schleicht, ohne einen Ton zu sagen, die Treppe zum Pool hinunter, und als Mimi rein zufällig auf die Terrasse kommt, sieht sie nur noch Napirais Haarbüschel aus dem Wasser herausschauen. Sie rennt zum Pool und zieht das Kind im letzten Moment heraus. Als ich nach 20 Minuten zurückkomme, schreit sie immer noch wie am Spieß. Panisch renne ich die Treppen hoch und sehe ihren roten Kopf. Während Mimi aufgeregt erzählt, was passiert ist, bekomme ich weiche Knie. Tränen laufen mir über das Gesicht, als mir bewusst wird, wie knapp mein Mädchen mit dem Leben davon gekommen ist. Stundenlang halte ich sie und lasse sie in den nächsten Tagen keine Minute mehr aus den Augen. Ich gehe mit ihr ans Meer und sie genießt das Buddeln im Sand. Bei einem Spaziergang durch das Dorf erlebt Napirai zum ersten Mal eine Kirmes mit Karussells, die es ihr schnell angetan haben. Ansonsten verläuft der Rest des Urlaubs ruhig, wenngleich für mich fast etwas zu langweilig. Ich bin es nicht mehr gewohnt, untätig zu sein und so viel Zeit zu haben.

Oft muss ich an Kenia und an meine dortige Familie denken und würde gerne wissen, was aus Lketinga geworden ist und was er nach diesen fast zwei Jahren, seitdem ich fortgegangen bin, über uns denkt. Ich weiß, er lebt noch, aber nicht, wie und wo. James hat mir in seinem letzten Brief mitgeteilt, dass ein anderer Samburu-Krieger von der Küste nach Hause gekommen ist und erzählt hat, Lketinga lebe mal da, mal dort. Er habe sein Auto noch, habe jedoch einen schlimmen Unfall gehabt. Zum Glück sei er mit ein paar Schnittwunden im Gesicht davongekommen. Mich machte dieser Brief traurig, aber ich konnte nichts tun. Ja, und nun sitze ich hier in St. Raphael und empfinde einen Urlaub dieser Art eigentlich als langweilig.

Einzig das Treffen mit meiner Großtante bringt Abwechslung. Ohne Ankündigung stehen wir vor ihrem Häuschen und ich stelle mich vor. Über unseren überraschenden Besuch freut sie sich sehr. Sie ist eine kleine, zierliche, alte Dame und man erkennt deutlich ihre asiatischen Wurzeln. Sie erzählt Geschichten aus ihrem aufregenden Leben, das sie vor dem Krieg geführt hat. Ihre Familie war sehr begütert und hatte über 80 Bedienstete, was ich mir kaum vorstellen kann. Als Kind wurden ihr noch die Füßchen gebunden, damit diese schön klein blieben und sie besser zu verheiraten wäre. Später, als sie die Frau des Bruders meines Großvaters wurde und nach Frankreich flüchten musste, waren etliche Operationen nötig, damit sie überhaupt wieder einigermaßen schmerzfrei gehen konnte. Ich bin entsetzt, denn so etwas habe ich noch nie gehört. In gewisser Weise erinnert es mich auch an die schrecklichen Beschneidungen der Mädchen, die immer noch bei den Samburu und auch bei anderen Stämmen durchgeführt werden. Warum werden auf der ganzen Welt immer die Mädchen auf irgendeine Art misshandelt?, frage ich mich traurig. Es folgen weitere Geschichten aus ihrem bewegten Leben, denen ich fasziniert lausche. Nachdem wir uns verabschiedet haben, bin ich froh, diese interessante Frau kennen gelernt zu haben. Wer weiß, ob ich sie noch einmal sehen werde.

Wieder zu Hause erzähle ich meiner Mutter von dem in letzter Sekunde verhinderten Unglück am Pool, damit auch sie Napirai beim Baden nicht mehr aus den Augen lässt. Meine Mutter allerdings bringt ihr noch im selben Jahr das Schwimmen ohne Schwimmhilfe bei, was mit Sicherheit die beste Vorbeugung gegen derartige Unfälle ist.


Unser gewohntes Leben geht weiter. Tagsüber arbeite ich und Napirai verbringt die Zeit bei meiner Mutter oder ihrer Pflegefamilie. Nach den gemeinsamen Ferien fällt es mir wieder sehr schwer, mein Kind »abzugeben«. Doch die Verkäufe laufen gut, deshalb bin ich abgelenkt und habe bald wieder Spaß am Arbeiten. Mit meinem Lohn komme ich immer gerade über die Runden. Manchmal bleiben mir am Monatsende sogar ein paar Hunderter übrig, die ich für einen eventuellen Urlaub und die Steuern spare.

Wieder einmal besuche ich spontan einen Neukunden. Als ich sein Geschäft betrete, lacht er und ruft: »Ja, schon wieder eine Vertreterin! Was wollen Sie mir denn andrehen? Der hier probiert es auch schon.« Dabei zeigt er auf einen sympathischen Mann. Locker begrüße ich die beiden und bemerke dabei, dass wir nicht dieselben Produkte anbieten, da er auf T-Shirts mit Firmenwerbung spezialisiert ist. Wir diskutieren hin und her und bald können wir beide ein größeres Angebot vorlegen. Als ich mich verabschieden will, lädt mich der Kollege zu einem Kaffee ein, da er sich mit mir noch kurz unterhalten möchte. Im Restaurant unterbreitet er mir ein Jobangebot und meint, wenn ich Lust hätte, könnte ich gerne bei ihnen anfangen. Sie seien ein Unternehmen, das hochwertige bedruckte und bestickte T-Shirts, Sweater und Hemden vertreibt. Es ließe sich gutes Geld verdienen und ein tolles Team würde mich ebenfalls erwarten. Ich höre gespannt zu und nehme auch gerne die Visitenkarte entgegen, aus der sich erkennen lässt, dass er der Außendienstleiter ist. Da ich aber mit meiner derzeitigen Arbeit voll zufrieden bin, äußere ich mich dementsprechend. Sollte sich jedoch etwas ändern, so würde ich mich bei ihm melden.

Zu Hause finde ich einen Brief vom deutschen Konsulat vor. Da die Frage hinsichtlich des Familienstammbuches immer noch offen ist, öffne ich das Kuvert mit einem unguten Gefühl. Doch als ich die zwei Blätter gelesen habe, bin ich einmal mehr überglücklich. Anscheinend waren die Angaben aus Kenia ausreichend, denn ich halte eine Abschrift des Familienstammbuches in der Hand, in dem Napirai mit meinem Familiennamen eingetragen ist. Das bedeutet vor allem, dass sie endgültig die deutsche Nationalität besitzt und somit in der Schweiz keine Probleme mehr auf uns zukommen. Endlich bin ich mir sicher, auch die letzte Hürde genommen zu haben. Nun muss ich später nur noch die Scheidung einreichen. Da ich aber in keiner Beziehung lebe, ist dies im Moment nicht das Wichtigste, damit warte ich noch. Anlässlich der guten Neuigkeit feiere ich am Wochenende mit zwei Freundinnen und ihren Kindern ein herbstliches Grillfest.

Kurz darauf jedoch folgt eine schlechte Nachricht. Napirais Tagesmutter eröffnet mir, dass sie wieder schwanger ist. Wenn ihr zweites Kind da sei, habe sie leider für Napirai keine Zeit und keinen Schlafplatz mehr zur Verfügung. Diese Mitteilung macht mich im ersten Moment sehr traurig, weil sich Napirai bei ihr so wohl fühlt und ihr sicher nachtrauern wird. Doch ich beruhige mich und denke, wir haben noch ein paar Monate Zeit und es wird sich schon wieder etwas ergeben.

Jetzt im Herbst gehen die Werbeartikel gut und die ersten Bestellungen für Kundengeschenke zu Weihnachten laufen an. Ich verdiene zeitweilig sogar mehr als im ersten Job und so kann ich mir im Januar 1993 sogar einen Skiurlaub mit meiner Mutter und Hanspeter in Frankreich leisten. Die beiden fahren jedes Jahr dorthin und diesmal schließen wir uns an, zumal Napirai ihre erste Skiausrüstung unter dem Weihnachtsbaum vorgefunden hat. Es sind wunderschöne Ferien. Der Himmel ist jeden Tag tiefblau und der Schnee knirscht vor Kälte. Nach fast zehn Jahren Pause genieße ich das Skifahren wieder sehr. Napirai, die halbtags in einer Skischule übt, hängt schon nach zwei Tagen allein an einem Tellerlift, der sie allerdings fast vom Boden hebt. Am fünften Tag treffen wir die gesamte Skischule auf dem Berggipfel und ich sehe gerade noch, wie Napirai in der Kolonne und im Schneepflug langsam nach unten fährt. Ich bin sprachlos, was mein dreieinhalbjähriges Massaikind schon alles schafft und bin mächtig stolz auf sie.

Wie immer zu Jahresbeginn läuft die Arbeit zäh an. Januar und Februar sind einfach keine Erfolgsmonate. Dazu kommt das trostlose Wetter. In dieser tristen Zeit schickt mir eine Bekannte eine Einladung zu einem Essen mit Freunden. Ich solle unbedingt kommen, denn es handle sich um eine bunt zusammengewürfelte Gruppe und viele seien gespannt auf meine Geschichte. Neugierig gehe ich hin und erlebe einen anregenden Abend. Es wird viel diskutiert und erzählt und ich habe bald einen aufmerksamen Zuhörer gefunden, der auch mein Interesse geweckt hat. Beim Abschied tauschen wir unsere Adressen aus und bereits zwei Tage später ruft er mich an. Wir verabreden uns zu einem Treffen zu zweit. Es ist der Beginn meiner ersten Beziehung seit meiner Rückkehr. Er scheint keine Vorurteile gegenüber meinem Vorleben zu haben, ist sehr engagiert und arbeitet viel im Ausland. Wir sehen uns nicht häufig, doch das stört mich nicht, da ich meine Tochter sowieso nicht allzu viel weggeben möchte. Manchmal glaube ich aus seinen Reden Bedauern darüber herauszuhören, dass wohl kaum jemand zwischen meiner Tochter und mir Platz fände. Zudem gelingt es Napirai nicht, eine tiefere Beziehung zu ihm aufzubauen. Sie mag ihn zwar, aber er kann nicht richtig auf Kinder eingehen, wahrscheinlich weil er keine eigenen hat. Er ist etliche Jahre älter als ich und, wie ich immer deutlicher merke, ein eingefleischter Junggeselle. Durch seine zum Teil langen Auslandsaufenthalte entfremden wir uns immer wieder aufs Neue und irgendwie plätschert diese Beziehung zwei Jahre später dem Ende entgegen. Es ist von beiden Seiten wohl keine große Liebe gewesen oder vielleicht bin ich einfach noch nicht bereit für eine neue Partnerschaft.

Mittlerweile habe ich eine neue Pflegefamilie für Napirai gefunden. Es ist ein Ehepaar mit einem gleichaltrigen Mädchen. Obwohl die Kleine zu Beginn nicht sehr begeistert war, die Aufmerksamkeit ihrer Mutter mit jemand anderem teilen zu müssen, sind die beiden inzwischen dicke Freundinnen. Ich bewundere diese Mutter, mit welcher Geduld und Ausdauer sie mit den Kindern bastelt, malt, ihnen Geschichten erzählt oder im Garten mit ihnen Pflanzen eingräbt. Oft ist meine Tochter nur schwer aus dem Spiel zu reißen, wenn ich sie abhole. Aber schließlich möchte ich mein Kind selbst noch für ein paar Stunden genießen. Häufig warten auch die Nachbarsmädchen auf sie. Manchmal schlafen alle bei uns und ich begnüge mich damit, auf dem Sofa zu nächtigen. Ein Heidenspaß ist es, wenn alle in einer Wanne baden.


Auch Napirais Geburtstage sind sehr gefragt. Da treffen sich jedes Mal an die zwölf Kinder und einige Erwachsene auf unserer Terrasse und wir veranstalten eine Kinderparty. Natürlich wird alles schön dekoriert und ich organisiere verschiedene Spiele. Es wird gegrillt und mein Nudelsalat findet reißenden Absatz. An Napirais Geburtstag nehme ich mir jedes Mal frei, komme was wolle.

An diesem Tag erinnere ich mich immer an die aufregende Geburt im Missionsspital in Wamba. Meine Freundin Sophia, die gleichzeitig mit mir ihr erstes Kind erwartete, und ich waren die Sensation für die Einheimischen. Vor uns hatten in diesem Spital noch nie weiße Frauen Kinder zur Welt gebracht und natürlich wurden wir besonders neugierig beobachtet. Als dann meine Wehen begannen und ich im »Gebärsaal« lag, waren die Plätze an den scheibenlosen Fenstern bei den schwarzen Frauen sehr begehrt. Allerdings waren meine Wehen so stark, dass ich davon nicht viel mitbekam. Erst als mein Mädchen endlich geboren war, erlebte ich bewusst, wie Sophia hereinstürzte, um mir zu gratulieren, und dabei eine brennende Zigarette im Mund hatte, während ich noch im Gebärstuhl lag und ohne Betäubung genäht wurde. Ja, denke ich, das können sich die Frauen hier in der Schweiz nicht vorstellen, und wann immer ich davon berichte, staunen sie.

Im Übrigen fällt mir immer häufiger auf, dass die Frauen förmlich an meinen Lippen hängen, wenn ich von meiner ehemaligen Liebe und dem damit verbundenen Leben erzähle. Oft kommt es vor, dass wir einen geplanten Ausflug verschieben und zu Hause hängen bleiben, damit ich aus meinem Leben bei den Samburu erzählen kann.

Загрузка...