Ich will meine Geschichte aufschreiben

Ihre Sticheleien zeigen langsam Wirkung und immer öfter beschäftige ich mich mit der Idee, meine Geschichte aufzuschreiben. Zögernd nehme ich eines Abends einen karierten Schreibblock und einen Bleistift zur Hand und beginne, meine Gedanken neun Jahre zurückzuschicken. Ich erinnere mich, wie ich mit meinem Partner Marco in Mombasa landete, um unseren Urlaub anzutreten, und wie mich diese Aura und die damit verbundenen Eindrücke sofort tief bewegten und ich das seltsame Gefühl hatte, als sei ich nach langer Zeit nach Hause gekommen. Ich konnte mir das zu diesem Zeitpunkt nicht erklären und so traf mich die erste Begegnung mit Lketinga tief bis in mein Innerstes und mein ganzes Lebensfundament stürzte innerhalb von Sekunden ein. Ich sah ihn, und mein bisheriges Leben existierte nicht mehr. Ja, ich sehe, spüre und rieche wieder alles, als geschähe es ein zweites Mal, und meine Hand fängt wie von selbst an, diese Eindrücke aufs Papier zu bringen. Wie ein Film läuft die Geschichte vor meinem inneren Auge ab und ich muss keine Minute überlegen, was ich schreiben soll. Es schreibt einfach! Ich merke nicht, wie die Zeit vergeht. Erst als die Finger schmerzen, schaue ich auf die Uhr und bin erschrocken, weil es schon weit nach Mitternacht ist. »Oh Gott, ich muss ins Bett. Morgen ist wieder ein arbeitsreicher Tag«, sage ich zu mir selbst und lege mich behutsam neben die schlafende Napirai. Im Bett finde ich keine Ruhe und in Gedanken schreibe ich noch weiter, bis ich endlich einschlafen kann.

Als ich am nächsten Tag nach der Arbeit meine Tochter abhole, lese ich meiner Mutter die ersten geschriebenen Seiten vor. Sie ist sehr überrascht, aber begeistert. »Willst du jetzt ein Buch schreiben?«, möchte sie wissen. Ich antworte: »Nein, nein, eigentlich möchte ich nur alles aufschreiben, damit Napirai später einmal erfährt, aus was für einer großen Liebe sie entstanden ist und warum ihre Eltern es dennoch nicht geschafft haben, zusammenzubleiben. Wenn mir etwas passieren sollte, könnte ihr niemand genaue Auskunft über ihre Herkunft geben.« Meine Mutter sucht gleich die Briefe, die ich ihr aus Afrika geschrieben habe, und gibt sie mir als Gedächtnisstütze mit.

Zu Hause bereite ich unser Abendessen vor und beschäftige mich anschließend mit Napirai. Um sieben Uhr geht sie zu Bett und ich erledige im Schnelldurchlauf meinen kleinen Haushalt. Dann endlich ist es so weit, dass ich Ruhe und Zeit habe, die am Vortag geschriebenen Seiten noch einmal durchzulesen. Innerhalb kürzester Zeit bin ich wieder in die Vergangenheit eingetaucht und schreibe automatisch weiter. Ich sehe Lketinga vor mir, während ich ihn als großen, schönen, sehr exotischen, fast femininen Mann mit sehnigem Muskelbau und wilden, glühenden Augen beschreibe. Das Licht der untergehenden Sonne verleiht seinem braunen Körper und seinem bemalten Gesicht mit den langen roten Haaren, die zu feinen Zöpfchen geflochten sind, einen besonderen Glanz. Sein langer Körper, nur mit einem roten Hüfttuch und ein paar farbigen Perlenketten bekleidet, wirkt schlicht und doch ergreifend schön. Aufs Neue empfinde ich die Bewunderung und die Anziehung, während ich meine Erinnerungen niederschreibe.

Plötzlich klingelt das Telefon. Aus der Vergangenheit aufgeschreckt, nehme ich den Hörer ab und melde mich ziemlich schroff. Es ist Madeleine, die fragt, ob sie mit einer Flasche Wein herüberkommen könne, um etwas zu besprechen. Normalerweise freue ich mich, doch jetzt möchte ich nicht in die Realität zurückgeholt werden. Schon höre ich Madeleine sagen: »Hey, Corinne, was ist los mit dir? Hast du Besuch und störe ich dich gerade?« Etwas beschämt über mein Verhalten sage ich: »Ja klar, komm rüber, ich muss dir auch etwas zeigen.« Kurz darauf klopft es an meiner Tür und Madeleine schlüpft strahlend mit einer Flasche Rotwein unterm Arm an mir vorbei ins Wohnzimmer. Auf ihre Frage, warum ich so zerstreut sei, hole ich die beschriebenen Blätter und beginne vorzulesen. Als ich fertig bin, ist sie fasziniert und meint: »Gut, wirklich gut! Aber wenn ich daran denke, wie viel Zeit du brauchen wirst, um das alles aufzuschreiben, werden wir wohl in Zukunft an den Abenden kürzer treten müssen. Auf jeden Fall bin ich gespannt, wie es weitergeht!«

Innerhalb der nächsten zwei, drei Monate verschlechtert sich in der Arbeit das Betriebsklima drastisch, so dass der »alte« Chef kündigt und die Firma verlässt, was viele, auch mich, verunsichert. Schon bald bläst ein anderer Wind im Betrieb. Einmal komme ich zur Sitzung und finde die Sekretärin vom Empfang in Tränen aufgelöst vor. Ein anderes Mal tobt ein lautes Wortgefecht. Mit den Bestellungen läuft auch nicht mehr alles rund und die ersten größeren Reklamationen seitens meiner Kundschaft treffen ein. Ich hoffe immer noch, dass sich die Lage wieder entspannen wird. Wichtiger allerdings ist mir zur Zeit mein abendliches Schreiben, das sich langsam fast zur Sucht entwickelt.

Ende August finde ich in der Post eine Einladung zu einem Klassentreffen im Oktober. Ich freue mich und bin neugierig, was aus all meinen Klassenkameraden und -kameradinnen geworden ist. Seit dem Ende der Schulzeit habe ich niemanden mehr gesehen. Besonders auf meine damalige Freundin Therese bin ich gespannt. Als ich bei dem Treffpunkt ankomme, sind schon viele ehemalige Mitschüler und Mitschülerinnen da. Dass ich zu Beginn kaum jemanden erkenne, ist mir fast peinlich. In meinem eleganten schwarzen Lederkostüm und mit den feuerroten Haaren komme ich mir ungebührlich auffallend vor. Die anderen erscheinen mir wesentlich dezenter. Nach dem Aperitif geht es zum Restaurant, wo gegessen werden soll. Es ist in Hufeisenform aufgedeckt, so dass sich die etwa 20 Teilnehmer anschauen können. Erst jetzt bemerke ich einen Neuankömmling. Das ist ja Markus! Er sitzt neben einer ehemaligen Lehrkraft. Wie schon früher in der Schule erheitert er mit seinen frechen Sprüchen die Runde und steckt alle mit seinem sonnigen, herzlichen Lachen an. Er hat sich zu einem attraktiven Mann entwickelt. Gefallen hat er mir allerdings schon in der dritten Klasse. Ich dagegen war ihm zu lang und zu dünn. Deshalb beantwortete er auch meine schwärmerischen Briefchen nicht, wie ich später erfuhr. Während des Essens unterhält er sich mit dem ehemaligen Lehrer provokativ über mein Aussehen und ruft für alle vernehmbar: »Corinne, so hättest du mir früher schon gefallen!« Worauf ich antworte: »Selber schuld, du hattest deine Chance vor 25 Jahren!« Viele lachen, einige verstehen den Witz nicht. Leider taucht meine ehemalige Freundin Therese nicht auf. Auch einige andere, die mich interessiert hätten, sind nicht gekommen. Nach dem Essen bilden sich schnell ein paar Grüppchen und es wird diskutiert, gelacht und getrunken. Markus ist der Mittelpunkt bei den Frauen. Er sieht sehr gut aus und hat eine witzige und dabei intelligente Art zu unterhalten. Auch ich lausche gespannt seinen Erzählungen. Er betreibt ein Ingenieurbüro, ist verheiratet und Vater von zwei Mädchen. Ein richtiger Musterehemann, denke ich und beneide fast ein wenig die mir unbekannte Frau, die mit solch einem Mann zusammen durchs Leben gehen kann. An diesem Abend entsteht in mir die Vorstellung, dass mein nächster Partner genauso fröhlich-strahlend, gut aussehend und selbstsicher sein sollte. Wäre er nicht verheiratet, würde ich ihm offen meine Bewunderung mitteilen. So aber verlieren wir uns aus den Augen. Noch lange nach dem Klassentreffen schwärme ich meinen Freundinnen von dieser Begegnung vor.


Napirai hat sich im Kindergarten und in der Pflegefamilie prächtig eingelebt. Sie ist ein aufgewecktes, selbstständiges, aber dennoch sehr anhängliches Mädchen. Ihre dünnen langen Beine und Arme schlingt sie öfters um mich, wenn ich sie am Abend nach Hause hole. Sie ist mein Sonnenschein und ganzer Lebensinhalt.

Langsam bereitet mir das Arbeiten Mühe, da nichts mehr richtig funktioniert. Mittlerweile haben wir häufigen Personalwechsel. Zum einen werden viele Mitarbeiter entlassen, zum anderen gehen einige, durch das Arbeitsklima mit den Nerven am Ende, von selbst. Auch ich mache mir so meine Gedanken, wie es weitergehen soll. Jetzt bin ich schon drei Jahre in dieser Firma und habe mir eine gute Kundschaft aufgebaut. Mit dem Gehalt kann ich jährlich mit meiner Tochter in Urlaub fahren und habe insgesamt einen angenehmen Lebensstandard.

Nach den Weihnachtsfeiertagen beginne ich die Arbeit eher lustlos und mit einem komischen Gefühl im Bauch. Wie üblich nach dem Jahreswechsel fahre ich zuerst in die Firma, um allen Mitarbeitern ein gutes Neues Jahr zu wünschen und um zu besprechen, was wir in Zukunft planen. Schon beim Betreten des Gebäudes merke ich, dass etwas nicht stimmt. Der Chef ruft alle vom Außendienst zu einer Sitzung zusammen und erklärt uns, dass es mit der Firma schlecht stehe, es würden Stellen abgebaut und davon sei auch der gesamte Außendienst betroffen. Ich sitze da, als hätte er mir eine Ohrfeige verpasst. Noch kein Jahr ist er im Amt und schon ist die Firma ruiniert und unsere Arbeitsplätze sind weg. Ich frage nach, wie er sich vorstelle, wieder zu neuen Aufträgen zu kommen ohne Außendienstmitarbeiter. Da antwortet er ganz unverfroren, er werde die größeren Kunden nun selbst weiterbetreuen. Die Kleinkunden müssten sich eben anpassen und in der Firma vorbeikommen. So einfach macht er sich das! Ich bin schockiert.

Immerhin kann ich noch so weit klar denken, um so ruhig wie möglich über meine Kündigungszeit zu sprechen. Ich schlage vor, dass ich bereits vereinbarte Termine noch wahrnehme, aber keine neuen Geschäfte mehr angehe, während die Firma mir für die dreimonatige Kündigungsfrist mein Grundgehalt auszahlt, da es nichts Schlimmeres in dieser Situation gibt, als ohne Überzeugung verkaufen zu müssen. Am Ende sind wir wohl beide froh, uns gütlich getrennt zu haben.

Auf dem Heimweg fahre ich wie betäubt durch die Gegend. Ich kann nicht glauben, wie schnell sich das Blatt in der Firma gewendet hat. Ob ich genügend Kraft und Lust haben werde, ein viertes Mal von vorne zu beginnen, weiß ich im Moment nicht. Da ich das starke Bedürfnis habe, mit jemandem Vertrauten meine Lage zu besprechen, besuche ich unterwegs meine Freundin Anneliese. Sie ist diejenige, die netterweise meine handgeschriebenen Manuskriptseiten in den Computer tippt und immer ungeduldig auf Nachschub wartet. Aber auch nach diesem Besuch fühle ich mich müde und orientierungslos und fahre deshalb zu meiner Mutter, die sich ebenfalls mein Schicksal anhören muss. Sie macht ein bekümmertes Gesicht, gibt jedoch zu bedenken: »Bis jetzt hast du doch immer so viel Glück gehabt. Du schaffst das schon wieder und hast sicher schnell einen neuen Job! Lass dich nicht entmutigen!« Zum ersten Mal bin ich mir darüber nicht mehr so sicher und langsam kommt es mir vor, als würde ich jedes Mal um die Früchte meiner Arbeit betrogen.

In den folgenden Tagen nehme ich das Arbeiten lockerer und bin um jeden abgehakten Termin froh. Bei einigen Kunden gehe ich persönlich vorbei, um mich zu verabschieden. Viele sind enttäuscht über die Situation und kündigen an, ohne meine Betreuung nichts mehr zu bestellen. Inzwischen bemühe ich mich bereits um eine neue Arbeit und studiere die Stelleninserate, finde aber nichts auch nur annähernd Passendes. So vergehen die restlichen Tage wie im Flug und plötzlich stehe ich ohne Job da. Ich hätte nie geglaubt, dass mir so etwas in der Schweiz passieren könnte. Nun bleibt mir nach sechs Jahren Vollzeitarbeit erstmals keine andere Wahl, als mich arbeitslos zu melden. Der Gang zur Gemeinde fällt mir sehr schwer. Doch entgegen allen Vorurteilen werde ich zumindest höflich und nett behandelt. Ich erfahre, dass ich zuerst eine Frist abzuwarten habe, bevor ich Ende des zweiten Monats 80 Prozent meines durchschnittlichen Verdienstes bekomme. Der Spesenzuschuss für mein Auto wird dabei nicht anerkannt und so belastet mich mein Leasingvertrag zusätzlich. Aber irgendwie wird es schon gehen, denn ich kann meine Ansprüche reduzieren. Noch bin ich überzeugt, schnell wieder Arbeit zu finden, obwohl ich keine genaue Vorstellung habe, welcher Art sie sein könnte. Es ist wie verhext, denn der Arbeitsmarkt scheint zur Zeit wie ausgetrocknet. Auch ein erneutes Inserat bringt keinen Erfolg, dafür aber beträchtliche Ausgaben.

Nachdem ich den ersten Schock überwunden und falsche Hemmungen abgelegt habe, genieße ich die neu gewonnene Freizeit mit Napirai. Mittags koche ich mit viel Liebe für uns und erfahre endlich aus erster Hand die Vorkommnisse und Geschichten aus dem Kindergarten. Vorher hatte ich die großen und kleinen Aufregungen, wenn überhaupt, nur über die Tagesmutter mitbekommen. Diesen Kontakt lassen wir auf keinen Fall abbrechen. Wenn ich Vorstellungsgespräche habe, verbringt Napirai nach wie vor die Zeit bei ihr, denn ich rechne mit einer baldigen Anstellung. Nach zweimonatiger Arbeitslosigkeit jedoch schwinden meine Hoffnungen und ich spüre deutliche Anzeichen von Mutlosigkeit.

In dieser Zeit gibt mir eine Freundin die Adresse einer Kartenlegerin. Obwohl ich davon nicht wirklich überzeugt bin und mir diese zusätzliche Ausgabe eigentlich nicht leisten kann, gehe ich zu ihr, in der Hoffnung, irgendeinen Hinweis über meine berufliche Zukunft zu bekommen. Sie ist etwa 70 Jahre alt und lebt in einem kleinen, alten Haus. Der ganze Garten und alle Fenstersimse sind mit Zwergen dekoriert. Bei diesem Anblick muss ich schmunzeln und trete in gebückter Haltung in das niedrige Wohnzimmer, das mit Fotos, künstlichen Blumen und sonstigem Kitsch überladen ist. Ich setze mich der alten Frau gegenüber an den Stubentisch und bin sehr neugierig, was nun geschehen wird. Zwar bin ich durchaus skeptisch, doch ohne es auszuprobieren, möchte ich das Ganze nicht verurteilen. Während ich die Karten ziehe, setzt sich eine rötliche Katze auf meinen Schoß, und ich habe nun wirklich den Eindruck, in einem Hexenhäuschen zu sitzen. Ich ziehe Karten, eine um die andere, und die Frau beginnt mit der Deutung. Ohne dass ich ihr etwas erzählt hätte, stellt sie als Erstes fest, dass ich wohl mit einem Kind alleine lebe und dies auch noch länger so bleiben wird. Na ja, wegen der Liebe bin ich ja auch nicht gekommen. Ich will wissen, wie es mit einer Arbeit weitergeht und in welche Richtung. Sie schaut immer wieder auf die Karten und bemerkt sachlich, aber doch erstaunt, dass ich eine verrückte Vergangenheit im Ausland gehabt haben muss, die mich bis heute außergewöhnlich stark beschäftigt. Sie schaut mich an und fragt, ob ich viele Briefe schreibe oder auf andere Weise mit der Vergangenheit nicht abschließen könne. Ich antworte kurz, dass ich gerade dabei sei, mein Leben, das ich mit dem Vater meiner Tochter in Afrika geführt habe, aufzuschreiben. »Möchten Sie denn ein Buch schreiben?«

»Ja, aber ob ich es veröffentlichen will, weiß ich noch nicht«, antworte ich ehrlich. Sie hört, wie mir scheint, nicht sehr interessiert zu, sondern mischt noch einmal die Karten, worauf ich wieder welche ziehen soll. Nun wird sie lebendig und meint: »Ich kann nur sagen, machen Sie unbedingt weiter so! Das wird ein großer Erfolg werden, ja, ich sehe sogar, weit über unsere Schweizer Grenzen hinaus!« Lachend wende ich ein: »Ja, ja, kann schon sein, aber das ist noch ein langer Weg. Wie sieht es denn mit einem greifbaren Job in unmittelbarer Zukunft aus?«

»Es wird alles gut werden«, erwidert sie, »nur dürfen Sie nichts überstürzen und müssen etwas Geduld haben.«

Auf der Heimfahrt habe ich den Eindruck, nicht viel schlauer geworden zu sein. Das mit dem Buch mag ja vielleicht stimmen, schön wäre es, doch erst muss ich es fertig schreiben. Jeden Abend, wenn Napirai schläft und ich ungestört bin, tauche ich in meine Erinnerungen ein und versuche sie festzuhalten. Dieses Ritual ist mittlerweile fast zu einem Zwang geworden. Daheim angekommen rufe ich sofort Hanni an, die mein Schreiben mit großem Interesse verfolgt. Ich teile ihr die Neuigkeiten von der Kartenlegerin mit. Sie ist hocherfreut und lacht:

»Ich sage dir das schon seit Jahren! Und du wirst sehen, am Ende gibt es auch noch eine Verfilmung!« Wir müssen beide lachen. Ansonsten vermisst sie sowohl meine geschäftlichen als auch privaten Besuche. Ich gehe nämlich nirgendwo mehr hin, da ich jeden Franken zweimal umdrehen muss, um nicht in Schulden zu geraten.

Nach dreimonatiger Arbeitslosigkeit nehme ich einen neuen Job an, obwohl ich von ihm nicht überzeugt bin. Immerhin ist das besser, als jeden Feitag mit meinem Arbeitslosenblatt bei der Gemeinde anzustehen. Es handelt sich dabei um den Vertrieb von Haarschmuck in Drogerien und Warenhäusern. Bald merke ich, dass mein vorgeschriebenes Kundenpensum so hoch ist, dass ich, wenn ich die Arbeit vollständig erledigen will, selten vor sieben Uhr zu Hause bin und deshalb meine Tochter höchstens noch eine Stunde pro Tag sehen kann. Selten habe ich Zeit, mittags überhaupt noch richtig zu essen und sehe bald wieder krank aus, wie meine Mutter besorgt feststellt. Noch während der Probezeit gebe ich den Job auf, weil ich mit den Nerven am Ende bin.

Außerdem nimmt mich das abendliche Schreiben immer mehr in Anspruch, da ich viele Situationen noch einmal intensiv physisch und psychisch durchlebe. Es kommt vor, dass ich mich nach dem Beschreiben eines Krankheitsverlaufes erneut elend und krank fühle. Bei anderen Situationen muss ich mit dem Schreiben aufhören, weil mir die Tränen über die Wangen laufen. Ab und zu muss ich sogar einige Abende eine Pause einlegen, um neue Kräfte zu sammeln, da ich nun mit dem Schreiben nach etwa acht Monaten allmählich zum Ende komme, ohne aber eine genaue Vorstellung zu haben, wo ich aufhören werde.

In einem neuerlichen Brief bedankt sich James für die Fotos von Napirai. Mama und auch Lketinga seien sehr traurig gewesen, als sie die Bilder sahen. Sie vermissen uns immer noch. In dem Brief befindet sich ein Foto von Lketingas Ehefrau. Ich erkenne sie sofort, weil sie als Mädchen oft bei uns im Shop Zucker oder Maismehl einkaufte. Sie war sehr ruhig und eher unauffällig. Ich freue mich für die beiden, vor allem, da James schreibt, dass Lketinga wirklich keinen Alkohol mehr trinkt. Ein Bild von seinem Kind werde ich später bekommen. Es sei ein Mädchen und bereits zehn Monate alt. Auch weniger Schönes erfahre ich aus dem langen Brief. Die Frau des älteren Bruders von Lketinga, Mama Saguna, sei schon seit drei Monaten im Hospital und habe große Probleme mit ihrer Gesundheit. Sie könne nicht nach Hause, bevor nicht die Spitalrechnung beglichen ist. Zudem schulden sie den Somalis Geld für ihren Notfall-Transport von Barsaloi nach Wamba. Ich kann mir vorstellen, dass es wahrscheinlich um Leben und Tod ging. Denn bevor dort ein Hospital in Anspruch genommen wird, ist der Patient mehr tot als lebendig. Zuerst werden, wie ich es selbst erlebt habe, alle möglichen Formen der Buschmedizin ausprobiert. Meine Schwiegermama sei jetzt mit den fünf Kindern und dem Neugeborenen seines Bruders zu Hause und sie hätten nicht genug zu essen. James bittet mich erneut um Hilfe in Form von Geld, was mich sehr traurig macht. Zum ersten Mal kann ich nicht helfen, weil ich durch meine Arbeitslosigkeit selbst kein Geld mehr habe. So bitte ich Hanspeter und meinen älteren Bruder um eine Spende, was bei beiden keiner großen Worte bedarf.


Die erneute Arbeitslosigkeit belastet mich diesmal nicht mehr so drastisch. Während des kurzen Arbeitseinsatzes ist mir klar geworden, dass ich Lust hätte, etwas völlig Neues, Anspruchsvolleres zu vertreiben. Mit meinen 36 Jahren könnte ich auch noch eine kleine Zusatzausbildung machen. Täglich durchforste ich die Zeitungen.

Gleichzeitig bin ich damit beschäftigt, Napirai auf ihren ersten Schultag vorzubereiten. Wie schnell doch die Zeit vergeht! Nun kommt meine Tochter bereits in die Schule und der kleine Ernst des Lebens beginnt für sie. Beim Stamm ihres Vaters wäre sie jetzt wahrscheinlich unter brütender Sonne mit der Ziegenherde unterwegs. Ihre schönen Haare wären mit einer Rasierklinge geschoren und sie wäre nur mit einem Kanga bekleidet und mit dem ersten Halsschmuck versehen. Nein, ich bin wirklich froh, dass es anders gekommen ist.

Am ersten Schultag begleiten meine Mutter und ich unsere Napirai stolz zur Schule. In ihrem hübschen Sommerkleidchen, mit ihrer braunen Haut und den schulterlangen Zapfenlocken sieht sie wunderschön aus. Aufgeregt räumt sie den bunten Schulranzen aus, stellt ihr farbiges Etui auf das Pult und hört gespannt der jungen sympathischen Lehrerin zu, die noch dazu langes blondes Haar hat, was Napirai immer noch fasziniert. Meine Mutter und ich sind schon bald nicht mehr von Wichtigkeit und wir schleichen uns nach gut einer Stunde davon.


In letzter Zeit schreibe ich wie besessen über meine Vergangenheit und fülle Seite um Seite. Eines Abends bin ich schließlich dabei zu erzählen, wie ich mit Napirai vor fünfeinhalb Jahren im Bus von Mombasa nach Nairobi sitze und Lketinga anflehe, endlich meinen vorbereiteten Zettel zu unterschreiben, der seine Einwilligung für unsere dreiwöchige Ausreise beinhaltet. Plötzlich spüre ich, wie ich innerlich zu zittern beginne und sich ein enormer Druck auf meine Brust legt. Ich vernehme deutlich das Hupen des Busfahrers und glaube die Stimme Lketingas zu hören, der traurig und zweifelnd sagt: »I don't know, if I see you and Napirai again.« Dann springt er mit zwei Sätzen aus dem Bus. Wir fahren los und erst als ich das unterzeichnete Papier in Händen halte und mit einem stummen Blick nach draußen alles Vorbeiziehende verabschiede, laufen mir die Tränen über das Gesicht.

Nach diesen letzten Sätzen werfe ich den Bleistift und den Block weit von mir und heule nun wirklich hemmungslos. Ich zittere am ganzen Körper und werde von Schluchzern durchgeschüttelt. In diesem Moment weiß ich: Ich werde keine Zeile mehr schreiben können! Ich schlinge meine Arme um mich, wie um Halt zu suchen, und habe das Gefühl, in ein tiefes Loch gezogen zu werden. Ich weine um mein geliebtes Kenia, um meinen zerstörten Traum von einer großen Liebe und um alles Schöne und Schreckliche, das ich in einer fast unwirklichen Welt erleben durfte.

Plötzlich steht meine kleine Napirai verschlafen und erschrocken vor mir und fragt mit Tränen in den Augen: »Mama, warum weinst du so? Hast du dir wehgetan? Du weinst doch sonst nie!« Ich ziehe Napirai zu mir auf den Schoß und drücke sie fest an mich, während ich zu sprechen versuche, was mir nicht so recht gelingt, da ich ständig nach Luft schnappen muss. »Ich habe mir nicht wehgetan, mein Schatz, ich weine wahrscheinlich, weil ich es nicht geschafft habe, mit deinem Papa glücklich zu werden.«

»Aber du hast doch mich!«, erwidert mein Kind nun ebenfalls schluchzend. Ich versuche sie zu trösten und streichle ihr lange über den Rücken, bis sie sich wieder beruhigt hat. Dann lege ich sie in unser Bett zurück und verspreche ihr, nicht mehr zu weinen. Im Wohnzimmer schaue ich auf die Uhr und stelle erschrocken fest, dass es nach zwei Uhr nachts ist. Demnach muss ich fast drei Stunden im Schmerz versunken gewesen sein. Nie hätte ich gedacht, dass mich meine afrikanische Geschichte jemals noch einmal so mitnehmen würde. Ich war mir sicher, diesen Lebensabschnitt gut verarbeitet zu haben. Doch anscheinend hatte ich alles nur verdrängt. Seit Jahren habe ich nicht mehr so geweint und nun spüre ich langsam eine tiefe Ruhe in mir aufsteigen und fühle mich matt und betäubt.

Ich nehme mir vor, diesen letzten Block so schnell wie möglich Anneliese zum Abtippen zu bringen, damit ich endgültig abschließen kann. Da ich immer am Boden sitzend geschrieben habe, tut mir nun alles weh. Doch ich habe es geschafft! Unsere Geschichte ist schriftlich festgehalten und mit diesem beruhigenden Gedanken schlafe ich endlich ein. Am Morgen sehe ich kaum aus meinen verquollenen Augen heraus, als ich für Napirai das Frühstück richte. Ich verspreche ihr, dass ich uns etwas ganz Gutes kochen werde und bis zum Mittag auch wieder fröhlich aussehe.

Einige Tage später bringt mir Anneliese die zehn handgeschriebenen Blöcke sowie eine abgetippte und ausgedruckte Version vorbei. Jetzt liegen vier Jahre im kenianischen Busch in einem Ordner vor mir. Ich bin überwältigt. Wir stoßen auf das Gelingen eines eventuellen Buches an und ich verspreche ihr, falls es veröffentlicht wird, sie mit einem tollen Urlaub zu entschädigen. Nun informiere ich meine Familie über mein »Werk« und Eric bietet sich an, das Ganze zu vervielfältigen, damit ich es an verschiedene Verlage schicken kann.

Загрузка...