Wieder auf eigenen Füßen

Mir bleiben zwei Wochen Zeit, mich vorzubereiten und ein Fahrzeug zu besorgen. Obwohl ich mich auf die Herausforderung freue, habe ich manchmal auch Bedenken, ob ich überhaupt noch fähig bin, mich in der Geschäftswelt zu behaupten. Es folgen sehr hektische Tage. Ich finde einen alten Ford, den ich mir gerade noch leisten kann. Da die verschiedenen Versicherungen eine Menge Geld verschlingen, geht mein »Notgroschen« langsam zu Ende. Es muss endlich wieder etwas verdient werden.

Drei Tage vor meinem ersten Arbeitstag ruft mich kurz vor Mittag die nette Frau von der Familienberatungsstelle an. Wir hätten Glück, denn es habe sich ein nettes Ehepaar aus Wetzikon gemeldet, das einen Jungen im Alter von Napirai habe. Sie habe schon ein Gespräch geführt und nun solle ich mit Napirai einmal die Familie aufsuchen. Schließlich seien gleiche Erziehungsansichten und gegenseitige Sympathien wichtig. Ich rufe bei der Familie an und wir vereinbaren einen Termin. Während unseres Besuches wird mir das ruhige, ausgeglichene Ehepaar immer sympathischer. Auch die beiden Kinder scheinen sich gut zu verstehen. Schon nach kurzer Zeit sitzen sie auf dem Fußboden und spielen einträchtig mit den Spielsachen des Jungen. Nachdem wir uns ausgiebig beschnuppert haben, vereinbaren wir, dass ich Napirai Donnerstag und Freitag vorbeibringen werde. Die restlichen Tage wird ihre Großmutter für sie sorgen. Nun ist vieles geklärt und ich kann meinen Job antreten.

Der erste Arbeitstag vergeht wie im Flug. Wir haben ausgemacht, dass ich eine Woche im Laden eingearbeitet werde, um die Produkte und die verschiedenen Muster und deren Namen kennen zu lernen. Alles ist neu und aufregend. Erst im Auto auf dem Nachhauseweg merke ich, wie müde ich plötzlich bin. Ich könnte auf der Stelle einschlafen. Während ich mit meiner Müdigkeit kämpfe, kommt mir der Arzt des Krankenhauses in Wamba in den Sinn. Er sagte mir damals, auf Grund meiner schweren Hepatitis werde ich lange Zeit nicht mehr arbeiten können und auch nach Jahren wahrscheinlich nur mit halber Kraft, denn mein körperlicher Gesamtzustand sei völlig desolat und es würde viel Zeit vergehen, bis meine Abwehrkräfte wieder aufgebaut seien. »Das ist sicher nur die Umstellung«, versuche ich mich zu beruhigen und die Erinnerung an meine damaligen Krankheiten zu verdrängen.

Zu Hause empfängt mich Napirai ungeduldig und zerrt wie üblich an meiner Bluse. Ich habe immer noch relativ viel Milch und die Brüste sind gespannt, was mich im Laufe des Tages immer wieder gestört hat. So beschließe ich schweren Herzens, in den nächsten Tagen langsam abzustillen. Alles sei bestens gelaufen, beruhigt mich meine Mutter. Nur nach dem Mittagsschlaf hätte Napirai kurz geweint, weil sie meine Brust nicht hatte. Sie kennt weder Schnuller noch Fläschchen und jetzt noch damit anzufangen, halte ich für Unsinn. Für einen kleinen Moment meldet sich in mir ein schlechtes Gewissen, denn ich bin nicht gewohnt, dass Napirai weint, außer wenn sie sich körperlich wehgetan hat. In Kenia hört man selten Kinder weinen und schon gar nicht quengeln, wie es mir hier in letzter Zeit häufig aufgefallen ist.

Der einwöchige Einführungskurs bekommt mir gut. Ich habe mit verschiedenen Leuten zu tun und mein Selbstvertrauen, das anscheinend nur ich als unterentwickelt empfinde, wächst von Tag zu Tag. Zum ersten Mal seit meiner Rückkehr spüre ich, dass ich auch als Frau wahrgenommen werde. Allzu lange habe ich mich nur noch als Mutter gesehen. Nun aber, wenn ich in den Mittagspausen in das nahe gelegene Restaurant zum Essen gehe, fällt mir der eine oder andere anerkennende Blick auf. Einmal überlege ich für einen kurzen Moment, wann ich das letzte Mal Sex hatte und stelle fest, dass ich es nicht mehr so genau weiß. Bei meinem Mann und mir stand Sexualität nicht im Mittelpunkt. Obwohl ich ihn sehr erotisch fand, musste ich schon zu Beginn unserer Beziehung zur Kenntnis nehmen, dass bei den Samburu weder geküsst noch gestreichelt wird. Sex ist bei ihnen kein Spiel, sondern dient ausschließlich der Fortpflanzung und allenfalls der männlichen Befriedigung. Einen Orgasmus der Frau kennen sie nicht. Ein Grund hierfür ist unter anderem auch die schreckliche Beschneidung der Mädchen. Diese grausame Verstümmelung der weiblichen Genitalien werde ich nie begreifen. Selbst Lketinga konnte es sich kaum erklären, warum den Frauen so etwas angetan wird. Die kurze Dauer der Liebesakte zwischen uns störten mich bald nicht mehr, denn ich liebte meinen Mann aus tiefstem Herzen und war lange Zeit einfach nur glücklich, bei ihm leben zu können.

Während ich die Männer im Restaurant betrachte, gelingt es mir nicht, mir eine Beziehung oder gar Sex vorzustellen. Der Gedanke, mich nach mehr als fünf Jahren mit einem »Weißen« einzulassen, erfüllt mich mit Furcht und überfordert offensichtlich meine »stillgelegten« Fantasien. Oder liegt es nur daran, dass ich einfach nicht verliebt bin und wichtigere Aufgaben habe? Dennoch stelle ich fest, dass mir die ungewohnte Aufmerksamkeit gut tut, und so genieße ich sie während der kurzen Mittagszeit aus gesicherter Distanz, zumal sie nicht aufdringlich ist.

Als ich Napirai zum ersten Mal bei der Tagesmutter abgeben muss, zerreißt es mir fast das Herz. Ihre Mundwinkel beginnen zu zittern und ihre dunklen Augen füllen sich mit Tränen. Weinend stammelt sie immerzu »Mamaaaa« und streckt ihre Ärmchen nach mir aus. Die Pflegemutter nimmt Napirai auf den Arm und spricht beruhigend auf sie ein, während sie liebevoll ihre Löckchen streichelt. Sie wird es hier gut haben, spüre ich bei diesem Anblick erleichtert und gehe dennoch schweren Herzens arbeiten. Erst im Geschäft werde ich durch die neue Aufgabe abgelenkt. Heute fange ich an, telefonisch Termine zu vereinbaren. Es ist nicht einfach, das Interesse der zuständigen Personen zu gewinnen, doch bis zum Abend stehen einige wenige Termine fest. Sofort nach der Arbeit fahre ich zur Pflegefamilie und stürme förmlich in meinen Stöckelschuhen die drei Stockwerke hoch. Napirai öffnet mit ihrer Ersatzmami die Tür und an ihrem verschmierten Gesichtchen ist zu erkennen, dass sie wohl gerade Abendbrot gegessen hat. Sie stürzt nicht mehr sofort auf meinen Pulli los, sondern nimmt meine Hand und zieht mich plappernd in das Zimmer, in dem die beiden Kinder offenbar bis vor kurzem gespielt haben. Sie wirkt fröhlich und zufrieden und mir fällt ein Stein vom Herzen. Als wir nach Hause zu meiner Mutter kommen, gibt es ein großes Hallo, denn es war das erste Mal, dass Napirai so lange von ihr fort war.

Meine Mutter überreicht mir zwei Briefe aus Kenia. »Oh, gleich zwei«, staune ich und nehme an, der zweite sei von Sophia. Im ersten schreibt James, dass er sich sehr freut, weil wir uns in der Schweiz ansiedeln dürfen. Alle hätten für uns gebetet und nun hätte es genützt. Auch bedankt er sich im Namen von Mama für das Geld, das sie durch die Mission bekommen habe. Es ist ein liebevoller Brief und ich bin froh, dass alles so gut klappt. Der zweite, laut Briefkopf schon vor drei Wochen geschrieben, ist von Lketinga. Ich bin sehr überrascht, denn es ist das erste Lebenszeichen von ihm seit unserem Telefonat vor einem halben Jahr.


Liebe Corinne Leparmorijo

Jambo! Wie geht es dir, meine Frau? Ich hoffe, du bist okay. Mir geht es gut, aber ich vermisse dich und meine Tochter sehr. Ich hoffe, du hast gehört, dass mein Auto gebrannt hat, aber ich weiß nicht, wie es passiert ist. Eine Seite war ganz kaputt. Die meisten Probleme habe ich mit dem Shop, in dem ich noch arbeite. Seit du im Oktober zurückgegangen bist, haben wir kein Geschäft mehr gemacht. Ich habe die Shop-Miete nicht bezahlt, nur die Hälfte vom Februar, 5.000 Kenia-Schillinge. So warte ich, um im Mai 21.000 Ksh zu zahlen. Wegen der Golfkrise machen wir kein Geschäft. Alle haben diesen Ort verlassen. Den Indienshop gibt es nicht mehr. Geblieben sind nur Doktor Kulumba und das chinesische Restaurant. Ich habe jetzt das Auto verkauft und dafür einen kleinen Toyota Saloon gekauft.

Ich habe es für 80.000 Ksh verkauft, aber die Person, die es gekauft hat, hat nie alles bezahlt, sondern nur 67.000 Ksh. Deshalb, bitte, darfst du mich nicht vergessen. Schicke mir Geld, damit ich die Shop-Miete bezahlen kann. Ich fahre jetzt Taxi für die Touristen, die noch kommen. Ich hoffe, du bekommst einige Briefe von meinem Bruder, oder nicht?

Wir haben viel Regen in Mombasa. Es ist jetzt unser Winter. Viele Grüße von den Kamau-Massai, sie vermissen dich und Napirai. Sie nennen mich immer Papa Napirai. Dann erinnere ich mich so sehr an meine Tochter. Wenn ihr nicht zurückkommt, lass es mich wissen, dann will ich meiner Tochter ihre Kleider und Puppen schicken. Schreibe mir, was du jetzt machst. Arbeitest du oder bist du nur bei deiner Mama zu Hause? Ich wollte nicht, dass Priszilla für mich schreibt, weil sie nie schreiben will, was ich sage. Sie schreibt nur nach ihrem Kopf. Deshalb hat mir bei diesem Brief ein Freund geholfen.

Viele Grüße an meine Tochter. Ich vermisse sie und ihre Liebe zu mir. Ich vermisse euch beide.

Viele Grüße an die ganze Familie

Lketinga Leparmorijo


Meine erste Reaktion auf den Brief ist Wut. Ich verstehe nicht, dass er mich um Geld bittet, nachdem ich ihm alles, was ich hatte, überlassen habe. Für kenianische Verhältnisse war er vor einem halben Jahr steinreich. Andererseits ist mir auch klar, dass er den Laden nicht allein organisieren kann. Noch einmal lese ich den Brief und werde sehr traurig. Ich spüre, dass er uns wirklich vermisst und uns auch brauchen würde. Bilder tauchen in mir auf und mir gehen die schönen Zeiten durch den Kopf, als wir glücklich durch den Busch gezogen sind. Ich sehe Lketinga vor mir, wie er mir stolz alle Wurzeln und Sträucher erklärte, wie er mir am Fluss, abgeschirmt von neugierigen Blicken, zärtlich den Rücken wusch, mit einer Engelsgeduld meine Haare einseifte und sie mit dem spärlichen Flusswasser mit Hilfe einer Dose ausspülte. Wie er besorgt nach Essen suchte, als ich krank und schwach war. Oder wie er mich auch bei den größten Problemen anstrahlte und sagte: »No problem, my wife.« Immer mehr verliere ich mich in positiven Erinnerungen, während die vielen schrecklichen Szenen im Hintergrund verschwimmen. Doch wenn ich meinen Verstand gebrauche, weiß ich, dass es ein Zurück nicht geben kann. Ich würde mein Leben wegwerfen!

Eines steht fest: Ich kann und will ihm nicht helfen, denn ich habe kein Geld mehr übrig. Ich bin gespannt, was Madeleine mir berichten wird, wenn sie aus dem Urlaub zurück ist.

Sonntag Abend ruft sie mich an und hat eine schlechte und eine gute Nachricht. Der Urlaub habe ihr sehr gefallen und sie sei traurig, dass alles schon wieder vorbei ist. »Hast du Lketinga den Brief gegeben?«, frage ich dazwischen. »Nein, ich war zwei Mal beim Laden, aber er war immer geschlossen. Überhaupt wirkt dort alles wie ausgestorben und in deinem ehemaligen Geschäft befinden sich nur noch wenige Artikel. Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass dort noch gearbeitet wird«, erzählt sie mir. Es gibt mir doch einen Stich ins Herz, dass das, was ich mit mühevoller Arbeit aufgebaut habe, so heruntergewirtschaftet wurde. Sophia habe sie nicht angetroffen, aber erfahren, dass sie verreist sei. Ich bin etwas enttäuscht, dass sie mir nicht mehr berichten kann, aber zumindest weiß ich nun, dass das gewünschte Geld für den Shop nicht mehr nötig ist.

Nun aber kommt die erfreuliche Nachricht, die mein jetziges Leben betrifft. Sie habe gehört, dass im gegenüber liegenden Block eine Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung frei würde, die vielleicht noch nicht vergeben ist. Die Aussicht, unter Umständen eine Wohnung in meiner Traumsiedlung erhalten zu können, elektrisiert mich. Sofort setze ich mich hin und schreibe an die Verwaltung einen langen Brief, in dem ich meine Situation schildere.

Ich bitte um eine Chance für mich und meine Tochter Napirai. Zwei Tage später rufe ich an. Die Sachbearbeiterin kann sich gleich an mein Schreiben erinnern, meint aber, es gäbe eine lange Warteliste. Nachdem ich ihr noch einmal eindringlich meine besondere Notlage geschildert habe, bittet sie mich freundlich, ihr eine Nacht Bedenkzeit zu lassen, sie werde mir morgen Bescheid geben. Wieder folgt ein Stoßgebet zum Himmel. Auch meine Mutter ist aufgeregt und schlägt vor: »Lass uns schnell dort hinfahren! Schließlich möchte ich sehen, wofür ich beten soll.« Wir sind begeistert, als wir den Gartensitzplatz sehen. Napirai könnte dort auf dem Rasen spielen und im Sommer würden wir ein Planschbecken für sie aufstellen. Schon schmieden meine Mutter und ich Pläne. Es wäre zu schön, wenn ich diese Wohnung bekäme!

Am nächsten Tag stehen meine ersten Außendienstbesuche an. Mit zwei beladenen Taschen erscheine ich bei verschiedenen Firmen und zeige die Krawatten und Foulards. Soforterfolge gibt es leider keine, da alle erst das Firmenbudget für Werbegeschenke abklären müssen. Ich solle mich in drei bis vier Wochen wieder melden. Obwohl fast jeder der Kunden für sich persönlich etwas kauft, bringt das natürlich noch nicht den erhofften Umsatz und die damit verbundenen Provisionen. Na ja, es sind meine ersten Versuche und mir ist klar, dass ich viel Aufbauarbeit leisten muss.

Am Abend sitzen wir nervös beim Essen und warten auf den Anruf der Wohnungsverwaltung. Langsam verstreicht die Zeit und meine Hoffnung beginnt bereits zu schwinden, als es kurz vor zehn klingelt. Tatsächlich, es ist die nette Dame von der Wohnungsverwaltung. Sie entschuldigt sich für den späten Anruf und fragt mich, ob ich denn schon eine Arbeit hätte und welche. Ich bin sofort wieder hellwach und gebe freudig Auskunft. Dann höre ich einen tiefen Atemzug und sie sagt: »Gut, ich mache bei Ihnen eine Ausnahme, denn seit ich Ihren Brief gelesen habe, gehen Sie und Ihre Tochter mir nicht mehr aus dem Kopf. Ich werde Ihnen den Vertrag zustellen. Den genauen Einzugstermin kann ich Ihnen allerdings noch nicht mitteilen, weil die Erben der verstorbenen Vormieterin noch einiges regeln müssen.« Mit Tränen in den Augen bedanke ich mich und kann mein Glück kaum fassen. Sogar meine Mutter glaubt langsam: »Trotz allem bist du wirklich ein Glückspilz, ich gratuliere dir. Aber jetzt werden eine Menge Ausgaben auf dich zukommen.« Ich entgegne, dass ich doch nur das Nötigste zum Leben brauche. Sofort rufe ich Madeleine an und gemeinsam freuen wir uns auf meinen baldigen Einzug. Da ich keine Möbel besitze, wird der Umzug leicht zu bewerkstelligen sein.

Ein paar Tage später ruft mich ein mir unbekannter Mann an. Es stellt sich heraus, dass es ein Sohn der Vormieterin ist. Er hätte durch die Verwaltung von meiner Geschichte erfahren und wolle mir einen Vorschlag unterbreiten. »Ich habe gehört, dass Sie in die Wohnung meiner verstorbenen Mutter ziehen werden, und soviel ich weiß, besitzen Sie nichts, weil Sie gerade aus dem Ausland zurückgekommen sind. Nun möchte ich Ihnen vorschlagen, sich die Wohnungseinrichtung anzuschauen. Was Sie haben möchten, können Sie übernehmen. Den Rest lasse ich vom Sperrmüll abholen. Als Gegenleistung müssten Sie die Endreinigung übernehmen. Ist Ihnen das recht?« Ich bin überwältigt und gerührt. Dankend nehme ich an und wir vereinbaren einen Besichtigungstermin. Langsam wird mir mein Glück fast unheimlich. Zur Besichtigung kommt meine Mutter als Beraterin mit. Als ich die Wohnung betrete, bin ich sofort begeistert und weiß, dass wir uns hier wohl fühlen werden. Nach meinen kenianischen Hüttenbehausungen erscheinen mir das große helle Wohnzimmer, das Schlafzimmer, die offene Küche und das kleine Bad wie ein Palast. Die Möblierung ist zwar etwas altmodisch, aber mich stört das überhaupt nicht, da alles sauber und gepflegt aussieht und sich mit etwas Geschick mehr Farbe hineinzaubern lässt.

Eine komplette Kücheneinrichtung, vom Porzellangeschirr mit Goldrand bis zur Bratpfanne, von der Knoblauchpresse bis zum Schneebesen, ist vorhanden und im Wandschrank im Korridor stapeln sich Handtücher und Bettwäsche. Schnell ist mir klar, dass ich hier einziehen und gleich wohnen kann. Es fehlen nur Napirais und meine Kleider. Und das alles, ohne einen Franken aus der Hand zu geben! Wieder danke ich dem lieben Gott für all das Glück, das ich in diesem letzten Monat erfahren durfte.

Während ich begeistert die Räume inspiziere, kommt mir plötzlich der Gedanke, dass mir mit dieser Wohnung eventuell etwas zurückgegeben wird. Bevor ich nämlich endgültig nach Kenia aufbrach, hatte ich eine ähnliche kleine Wohnung. Da ich überzeugt war, dass ich nie wieder zurückkehren würde, übergab ich die Wohnung mit der kompletten Einrichtung einem Studenten für den Preis meines Flugtickets. Auch er konnte damals sein Glück kaum fassen. Ich sehe den jungen Burschen, der das Technikum besuchen wollte, mit seiner Mutter noch vor mir, wie sie mich erstaunt fragten, ob ich wirklich nichts mehr brauche. »Nein, dort, wohin ich gehe, braucht man das alles nicht«, sagte ich lachend.

Und so betrachte ich das heute als »Retourgeschenk«. Ich bedanke mich nochmals bei dem netten Herren und erkläre ihm, wie unendlich viel leichter er mir mein Leben mit dieser Geste macht. Er wirkt fast verlegen und verabschiedet sich schnell. Auf der anderen Seite öffnet sich die Tür und meine zukünftige Nachbarin erscheint. Ich stelle mich vor und sage ihr, wie sehr ich mich freue hier einzuziehen. Als noch zwei Mädchen den Kopf zur Tür herausstrecken, ist mir klar, dass wir auch für Napirai das Paradies gefunden haben.

Die Arbeitswoche vergeht schnell und ich kann die ersten größeren und kleineren Erfolge verbuchen. In der letzten Nacht im Haus meiner Mutter kann ich vor Aufregung lange nicht einschlafen. So dankbar ich auch bin, dass ich hier Unterschlupf finden konnte, freue ich mich doch sehr auf meine Unabhängigkeit. Endlich werde ich mit Napirai eine eigene Wohnung haben, in der ich schalten und walten kann, wie ich will. Während ich meinen nächtlichen Gedanken nachhänge, kommt mir in den Sinn, dass ich schon einmal in einer ähnlichen Situation war. Als ich in Barsaloi mit Lketinga die letzte Nacht in Mamas beengter Hütte verbrachte, in der wir ein Jahr zusammen gelebt hatten, konnte ich vor Freude auf den Umzug in unsere eigene, neue, größere Manyatta ebenfalls kaum ein Auge zutun. Ich erinnere mich, mit welchem Stolz ich unsere neue Behausung mit den wenigen Sachen, die ich damals besaß, eingerichtet habe. Eine seltsame Begebenheit, die sich dabei ereignet hat, fällt mir auf einmal ein. Während ich meine Kleider verstaute, entdeckte ich an der getrockneten Kuhmistwand eine kleine graue Schlange. Erschrocken und mit einer Art Reflex erschlug ich das arme Tier mit einem Stein von der Feuerstelle. Als meine Schwiegermama am nächsten Tag davon erfuhr, schien sie nicht sehr begeistert zu sein. Lketinga erklärte mir dann, dass, wenn eine junge Frau beim Bezug ihrer Manyatta eine Babyschlange vorfinde, dies bedeuten würde, dass sie schwanger ist. Deshalb darf man diese kleinen Schlangen nicht töten. Mir tat das Missgeschick zwar sehr Leid, doch war ich mir sicher, dass meine Schlange keine Vorbotin einer Schwangerschaft war. Schließlich hätte ich ja davon etwas merken müssen. Ein paar Wochen später allerdings stellte sich heraus, dass ich genau zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger war. »Eine Schlange wird uns morgen sicher nicht erwarten«, denke ich noch, bevor ich endlich einschlafe.

Am nächsten Tag ziehen wir mit unseren wenigen Habseligkeiten in die neue Wohnung ein. Es sind kaum mehr Gegenstände als bei einem nomadischen Umzug meiner Schwiegermama. Nur verstaute sie ihre Sachen nicht in einem Auto, sondern ihr Hab und Gut wurde von einem Esel transportiert. Zuerst wurden die größeren, brauchbaren Äste der Manyatta abgebaut und links und rechts am Esel so befestigt, dass dazwischen die zusammengerollten Kuhfelle der Schlafstätte und die selbst gefertigten Sisalmatten der Dachabdeckung Platz fanden. Rund herum hängte sie ihre wenigen Töpfe, Tassen und Kalebassen. Schon war alles bereit für den langen Fußmarsch durch die Steppe.

Bei uns dauert der Umzug nur knapp eine Stunde. Meine Mutter hat mir eine schöne große Grünpflanze geschenkt, die den Raum lebendiger gestaltet. Auch hat sie uns zum Einstand einen Korb mit Lebensmitteln mitgegeben. Napirai inspiziert alles Neue und weiß nicht so recht, ob sie sich freuen soll. Nach dem Einräumen gehe ich mit ihr auf den Spielplatz, wo sich neben dem Sandkasten auch eine Rutschbahn befindet. Spielende Kinder jeden Alters beäugen uns etwas unsicher und flüstern oder kichern miteinander. Der Kontakt zu andersfarbigen Menschen scheint hier noch ungewohnt zu sein, denn Napirai wird ausgiebig bestaunt. Zwei Kinder rennen sogar weg und kurz darauf sehe ich sie mit ihren Müttern auf den Baikonen stehen. Vom Rest der Kinderschar versuche ich, wenigstens die Namen zu erfahren. Später, als Madeleine zu uns stößt, wird es etwas lebendiger unter den Kindern und sie muss erklären, wer wir sind.

Am Abend koche ich in der neuen Wohnung ein Nudelgericht. Madeleine wird mit ihrem Sohn zu uns kommen und wir wollen ein bisschen Einweihung feiern. Zum ersten Mal koche ich wieder in einer europäischen Küche, denn meine Mutter wollte niemanden in ihr Revier lassen. Ich genieße es, den Schalter des Kochherdes zu drehen, um die gewünschte Platte zu erhitzen, und den Wasserhahn zu öffnen, um den Topf mit Wasser zu füllen. Alles funktioniert unglaublich einfach und schnell. Um diese Aufgaben in unserer Manyatta zu erledigen, brauchte ich zwei bis drei Stunden. Zuerst musste ich zum Fluss hinuntergehen, dort das Wasser mit einer Dose in einen Kanister füllen und dann nach Hause schleppen. Anschließend suchte ich in der Steppe Holz, um damit mühsam ein Feuer zu entfachen. Natürlich gab es kein Zeitungspapier, stattdessen fand man mit etwas Glück Glutreste unter den Feuersteinen, die durch Pusten wieder zum Leben erweckt werden mussten. Bis sich die ersehnte Flamme entfachte, verbreitete sich beißender Rauch in der Hütte, der einem die Tränen in die Augen trieb und die Luft zum Atmen nahm. Und nun stehe ich hier in meiner Schweizer Wohnung, vollführe zwei Handgriffe und der Topf steht auf dem Herd! Immer wieder erlebe ich diese einfachen Dinge als bewusste Glücksmomente und bin dankbar, auch die andere Seite erlebt zu haben. Madeleine bringt eine Flasche Rotwein mit und nun können wir richtig feiern. Wir staunen, wie sehr das erste Treffen der allein Erziehenden bereits unser Leben verändert hat. Morgen sehen wir uns alle wieder. Ich bin gespannt, wie unser zweites Treffen verläuft und ob auch andere ähnlich gute Erfahrungen miteinander gemacht haben.


Die Organisatorinnen freuen sich über diese positiven Erfahrungen und meinen: »Genau das wollen wir erreichen. Jede von uns hat ein Beziehungsnetz und kann vielleicht einer anderen helfen. Exakt so soll es funktionieren!«

Mit einer Frau, die neu zu der Gruppe gestoßen ist, komme ich ins Gespräch und kann mich nur wundern. Sie zieht ihre drei Kinder allein auf und lebt auf 1.200 Metern Höhe in einem kleinen Dorf mit etwa 50 Einwohnern in einem uralten Haus. Alles muss sie selbst machen, Holz hacken, für warmes Wasser und die Heizung das Feuer im Holzofen schüren und das Haus reparieren. Zum Einkaufen muss sie einen Fußmarsch von zwei Stunden zurücklegen und alles im Rucksack den Berg hinaufschleppen. Im Winter schaufelt sie Berge von Schnee. Seit ihrer Scheidung vor einigen Jahren kommt sie kaum mehr unter Leute. Dass hier in der Schweiz eine junge Frau freiwillig so abgeschieden und altherkömmlich lebt, beeindruckt mich sehr. Ich nehme mir vor, sie am nächsten freien Wochenende zu besuchen, denn ich möchte mich selber überzeugen, wie sie das alles schafft.

Später unterhalte ich mich noch mit einer hübschen Frau, die zwei Töchter hat. Auch sie ist vor kurzem aus dem Ausland zurückgekommen und lebt zur Zeit wieder bei ihren Eltern, nachdem ihre Ehe gescheitert ist. Da sich ihre beiden Mädchen mit Napirai gut verstehen, vereinbaren wir, ein Wochenende gemeinsam zu verbringen. Schnell geht dieser Sonntag zu Ende und jede von uns geht wieder ihren eigenen Weg. Diesmal habe ich in der Gruppe erfahren, dass ich Anspruch auf eine Kinderzulage vom Arbeitgeber habe, und deshalb beschließe ich, meinen Chef, sobald sich eine günstige Gelegenheit bietet, über die Existenz meines Kindes aufzuklären.


Am Ende des zweiten Außendienstmonats habe ich eine zündende Idee. Der Umsatz steigt bisher zu langsam, was daran liegt, dass in den großen Firmen selten sofort bestellt wird. Da ich aber immer wieder die Erfahrung mache, dass fast jede Person, mit der ich in Kontakt komme, für sich persönlich etwas bestellt, kommt mir die Idee, Direktverkäufe an das Personal in Banken, Versicherungen und anderen großen Unternehmen zu organisieren. Mein Chef meint, ich solle es probieren, er werde mich bei einem eventuellen Verkauf unterstützen.

Der Einfall erweist sich als Erfolg. Jetzt bekomme ich Termine, um im Vorfeld die Kollektionen zu zeigen und einen gemeinsamen Verkaufstag zu bestimmen. Bald schon findet der erste Verkauf in einer Bank statt und es läuft hervorragend. Die Männer erwerben gleich mehrere Markenkrawatten und meistens auch noch Foulards und Schultertücher für ihre Ehefrauen. Allerdings finden die Verkäufe normalerweise am Ende der Arbeitszeit statt und so muss auch ich abends länger bleiben. Dafür ist der Umgang mit den Interessenten sehr entspannt und angenehm, da sie sich schon in Feierabendstimmung befinden. Auf Grund der beträchtlich gestiegenen Umsätze hat sich am Ende des Monats mein Gehalt ansehnlich verbessert.


Mittlerweile ist es Hochsommer geworden und ich versuche immer, so früh wie möglich nach Hause zu kommen, um mit meiner Tochter noch draußen spielen zu können. In der neuen Wohnung haben wir uns wunderbar eingelebt. Die Nachbarskinder haben ihre helle Freude an Napirai und es herrscht ein emsiges Hin und Her zwischen den Wohnungen. Einmal sind alle Kinder bei mir, das andere Mal verschwindet Napirai für Stunden nach drüben. Es geht fast so turbulent zu wie in Kenia und wir sind glücklich. An schönen Abenden sitzt Madeleine bei uns und wir schwatzen oft bis in die Nacht hinein. Napirai schläft ohnehin besser, wenn sie noch Stimmen hört. Sie kann bei jedem Lärm einschlafen, dagegen gar nicht, wenn alles mucksmäuschenstill ist. Mit dem zusätzlich verdienten Geld habe ich einen Kohlegrill und für Napirai ein Planschbecken gekauft. Nun treffen sich die Kinder der halben Siedlung bei uns, was für wunderbare Fröhlichkeit sorgt. Wenn es regnet, ziehen wir Gummistiefel an und streifen durch den nahe gelegenen Wald. Meistens schließen sich ein oder zwei andere Kinder an. Ich sauge den Duft nasser Erde förmlich in mich hinein und freue mich über die grünen Wiesen und Wälder. Bei schönem Wetter bauen wir eine Feuerstelle im Wald und grillen mitgebrachte Würste. Das mögen alle Kinder. Ich selbst liebe den Geruch des Feuers, denn er erinnert mich an das Manyattaleben in Kenia. Meine Gedanken drehen sich jedes Mal um eines meiner vielen Erlebnisse an der Feuerstelle.

Oft grille ich auch zu Hause auf dem neuen Holzkohlengrill. An den Wochenenden ist immer etwas los. Entweder fahren wir mit Madeleine oder mit anderen Frauen aus der Gruppe an einen See zum Baden und Picknicken, oder wir gehen in die Berge und unternehmen kleine Wanderungen. Da immer mehrere Kinder und Frauen dabei sind, macht es allen Freude, und so manche wird von dem einen oder anderen Problem abgelenkt. Schon lange habe ich keine so schöne Sommerzeit mehr verbracht. Alles hat sich sehr schnell zum Guten gewendet. Der einzige Wermutstropfen ist, dass ich nicht weiß, wie es Lketinga geht, denn James hat nichts mehr von ihm gehört, seit er den Shop endgültig aufgegeben hat.

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