14 - Eine Gefahr wird abgewendet

An einem Freitagabend war Anne auf dem Nachhauseweg vom Postamt, als Mrs Lynde, die sich wie üblich mit anderer Leute Angelegenheiten befasste, sich ihr anschloss.

»Ich war gerade bei Timothy Cotton, um zu sehen, ob Alice Louise mir nicht ein paar Tage zur Hand gehen kann«, sagte sie. »Sie hat mir letzte Woche geholfen, und auch wenn sie nicht eine der schnellsten ist, immer noch besser als gar keine Hilfe. Aber sie ist krank und kann nicht kommen. Timothy sitzt auch da und hustet und jammert. Er liegt schon seit zehn Jahren im Sterben und er wird auch die nächsten zehn Jahre noch im Sterben liegen. Die Sorte Mensch kann nicht einmal sterben und es gut sein lassen - die kann einfach nichts bis zu Ende durchhalten, nicht einmal eine Krankheit. Es ist eine furchtbar träge Familie und was aus ihr werden soll, ich weiß es nicht, Gott mag es wissen.«

Mrs Lynde seufzte, als ob sie das in diesem Fall doch anzweifelte. »Manila war am Dienstag wieder wegen ihrer Augen beim Spezialisten, nicht wahr? Was hat er gemeint?«, fuhr sie fort.

»Er war sehr angetan«, strahlte Anne. »Es wäre viel besser geworden und es bestünde nicht mehr die Gefahr, dass sie ihr Augenlicht ganz verliert. Aber sie darf nicht wieder viel lesen oder feine Handarbeiten machen. Wie geht es mit den Vorbereitungen für den Basar voran?« Das Familienhilfswerk traf Vorbereitungen für einen Basar und für ein Abendessen und Mrs Lynde hielt alle Fäden in der Hand.

»Ganz gut... das erinnert mich an was. Mrs Allan fände es schön einen Stand zu machen, der aussieht wie eine alte Küche, und zum Abendessen gebackene Bohnen, Krapfen, Pastete und so weiter zu servieren. Wir sammeln überall altertümliche Küchengeräte. Mrs Simon Fletcher borgt uns die geflochtenen Teppiche ihrer Mutter aus und Mrs. Levi Boulter ein paar alte Stühle. Tante Mary Shaw leiht uns ihren Küchenschrank mit den Glastüren. Manila gibt uns doch ihre Messingkerzenständer? Und wir brauchen möglichst viel altes Geschirr. Mrs. Allan ist vor allem ganz erpicht darauf, eine richtige Servierplatte aus Porzellan zu bekommen, falls wir eine auftreiben können. Aber niemand scheint eine zu besitzen.«

»Mrs Josephine Barry hat eine. Ich schreibe ihr und frage sie, ob sie sie uns für diese Gelegenheit ausborgt«, sagte Anne.

»Oh, wenn du das tun könntest. Das Abendessen soll in vierzehn Tagen stattfinden. Onkel Abe Andrew hat für die Zeit Regen und Sturm vorhergesagt. Das ist ein ziemlich sicheres Anzeichen dafür, dass wir schönes Wetter haben werden.«

Dem besagten »Onkel Abe«, das sollte vielleicht erwähnt werden, erging es wie anderen Propheten - er galt nichts im eigenen Lande. Er war geschätzt wie ein bewährter alter Witz, denn nur wenige seiner Wettervorhersagen waren je eingetroffen. Mr Elisha Wright bemerkte dazu immer, dass niemand in Avonlea je auf die Idee käme, einen Blick in die Wettermeldungen der Charlettetown-Nachrichten zu werfen. Nein, sie fragten einfach Onkel Abe, wie das Wetter am nächsten Tag werden würde, und nahmen das Gegenteil an. Onkel Abe ließ sich davon nicht beirren und machte auch weiterhin seine Vorhersagen.

»Der Basar soll noch vor Beginn der Wahlen stattfinden«, fuhr Mrs Lynde fort. »Die Kandidaten haben fest zugesagt zu kommen und verschwenden ohnehin jede Menge Geld. Die Konservativen bestechen die Rechten und die Linken, also sollte man ihnen einmal eine Chance geben ihr Geld ehrenwert auszugeben.«

Anne war aus Treue zu Matthew eine glühende Konservative, aber sie sagte nichts. Sie war nicht so dumm und veranlasste Mrs Lynde sich über Politik auszulassen.

Sie hatte einen Brief für Marilla, der in einer Stadt in British Columbia abgestempelt war.

»Vielleicht ist er vom Onkel der Zwillinge«, sagte sie aufgeregt, als sie zu Hause ankam. »Oh, Marilla, ich bin gespannt, was er schreibt.«

»Das Beste wäre wohl den Brief aufzumachen und nachzusehen«, sagte Marilla kurz. Ein genauer Beobachter hätte vielleicht bemerkt, dass sie auch aufgeregt war, aber sie wäre eher gestorben, als es zu zeigen.

Anne riss den Brief auf und überflog den schlampig geschriebenen dürftigen Inhalt.

»Er schreibt, er kann die Kinder dieses Frühjahr nicht zu sich nehmen. Er war fast den ganzen Winter krank und seine Heirat ist verschoben. Er fragt, ob wir die Kinder bis zum Herbst hier behalten können. Er versucht alles und nimmt sie dann. Das tun wir doch, nicht wahr, Marilla?«

»Ich wüsste nicht, was uns anderes übrig bleibt«, sagte Marilla ziemlich grimmig, obwohl sie insgeheim erleichtert war. »Sie machen ja auch nicht mehr so viel Ärger wie am Anfang ... oder wir haben uns daran gewöhnt. Davy hat große Fortschritte gemacht.«

»Sein Benehmen ist wirklich viel besser geworden«, sagte Anne vorsichtig, so als wollte sie sich nicht groß über seine Tugendhaftigkeit auslassen.

Als Anne am Abend zuvor von der Schule nach Hause gekommen war, war Marilla bei einem Treffen des Hilfsvereins gewesen. Dora hatte auf dem Küchensofa geschlafen. Davy hatte im Wandschrank im Wohnzimmer gesteckt und sich voller Wonne ein Glas von Manilas berühmten Pflaumenkompott einverleibt. »Gäste-Kompott«, nannte Davy es. Er durfte es nicht anrühren und sah sichtlich schuldbewusst drein, als Anne ihn schnappte und aus dem Schrank scheuchte.

»Davy Keith, du weißt genau, dass du das Kompott nicht essen sollst, dass du überhaupt in dem Schrank nichts verloren hast.«

»Ja, ja, ich weiß, es war falsch«, gab Davy verlegen zu, »aber Pflaumenkompott schmeckt so lecker, Anne. Ich hab nur mal hineingeguckt und es hat so verlockend ausgesehen, dass ich nur ein ganz klein bisschen probieren wollte, ich hab den Finger hineingesteckt...«Anne stöhnte,»... und ihn abgeleckt. Und es war viel leckerer als ich gedacht hatte. Da hab ich mir einen Löffel geholt und hab mich drüber hergemacht.«

Anne hielt ihm eine ernste Standpauke von wegen Pflaumenkompott stibitzen. Davy bekam Gewissensbisse und versprach unter reuevollen Küssen, es nie wieder zu tun.

»Na ja, im Himmel gibt es jede Menge Kompott, wenigstens ein Trost«, sagte er zufrieden.

Anne verkniff sich das Lachen.

»Vielleicht, wenn man welches möchte«, sagte sie. »Aber wie kommst du darauf?«

»Das steht doch im Katechismus«, sagte Davy.

»0 nein, davon ist im Katechismus nicht die Rede, Davy.«

»Aber wenn ich’s dir doch sage«, beharrte Davy. »Es kommt in der Frage vor, die Marilla mir letzten Sonntag beigebracht hat. Warum wollen wir Gott ehren?« Es heißt: >Weil Er uns vor dem Verderben schützt und bewahrt.< Vor dem Verderben schützen, ist nur ein frommer Ausdruck für Kompott - Kompott wird auch eingemacht, um es vor dem Verderben zu schützen.«

»Ich muss einen Schluck Wasser trinken«, sagte Anne schnell. Als sie wieder kam, kostete es sie einige Zeit und Mühe, Davy zu erklären, dass der bestimmte Ausdruck in der besagten Katechismus-Frage eine völlig andere Bedeutung hatte.

»Hm, es wäre auch zu schön gewesen, um wahr zu sein«, seufzte er schließlich enttäuscht. »Außerdem hab ich nicht verstanden, wie Er Zeit dazu hat, Kompott zu machen, und dann in einem Kirchenlied von einem ewig währenden Sonntag die Rede ist. Ich komme lieber nicht in den Himmel. Gibt es denn im Himmel wenigstens Samstage, Anne?«

»Doch, Samstage und jede Menge andere schöne Tage. Im Himmel ist ein Tag schöner als der andere, Davy«, versicherte Anne und war heilfroh, dass Marilla nicht dabei war, die entgeistert gewesen wäre. Marilla, selbstredend, erzog die Zwillinge nach den guten alten Bräuchen der Theologie und missbilligte jede phantastische Spekulation. Davy und Dora mussten jeden Sonntag ein Kirchenlied, eine Frage aus dem Katechismus und zwei Bibelverse lernen. Dora lernte fleißig und ratterte es herunter, ohne es zu begreifen und ohne jede Teilnahme, so als wäre sie eine Maschine. Davy hingegen zeigte eine lebhafte Neugier und stellte oft Fragen, die Marilla um seine Zukunft fürchten ließen.

»Chester Sloane sagt, wir tun im Himmel nichts anderes, als in weißen Kleidern herumzuspazieren und Harfe zu spielen. Er hofft, dass er erst als alter Mann in den Himmel kommt, weil es ihm dann vielleicht besser gefällt. Und er findet es scheußlich Kleider zu tragen und ich finde das auch. Warum dürfen Engel-Jungen nicht Hosen anziehen, Anne? Chester Sloane interessiert sich für solche Sachen, weil er Pfarrer werden soll. Er muss Pfarrer werden, weil seine Großmutter das Geld, das sie hinterlassen hatte, dafür bestimmt hat, um ihn aufs College zu schicken, und er bekommt es erst, wenn er Pfarrer ist. Sie meinte, ein Pfarrer in der Familie wäre sehr ehrenwert. Chester ist das ziemlich egal - obwohl er lieber Schmied werden würde -, aber er will es sich so lustig wie möglich machen, solange er noch kein Pfarrer ist, weil er hinterher bestimmt nicht mehr groß Spaß hat. Ich will nicht Pfarrer werden. Ich will Ladenbesitzer werden, so wie Mr Blair, und Haufen von Süßigkeiten und Bananen auf Lager haben. Und ich würde lieber in deinen Himmel kommen, wenn man mich Mundharmonika spielen lässt statt Harfe. Meinst du, sie erlauben das?«

»Ja, ich glaube schon, wenn du es möchtest«, war alles, was Anne sich zu sagen getraute.

Der D.V.V. traf sich an dem Abend bei Mr Harmon Andrews. Man hatte um vollzähliges Erscheinen gebeten, da es eine wichtige Angelegenheit zu besprechen gab. Der Verein florierte und hatte bereits wahre Wunder vollbracht. Gleich zu Frühjahrsanfang hatte Mr Major Spencer sein Versprechen eingelöst und entlang der Straße vor seiner Farm sämtliche Baumstümpfe entfernt, alles eingeebnet und neu eingesät. Ein Dutzend andere waren seinem Beispiel gefolgt. Einige wurden dazu angespornt, weil sie sich nicht von einem Spencer überflügeln lassen wollten, anderen hatten die Verschönerer einen Besuch abgestattet und sie dazu angestachelt. Das Ergebnis war, dass dort, wo ehedem Gestrüpp und Gebüsch gestanden hatte, jetzt in langen Streifen samtenes weiches Gras wuchs. Die Vorderseiten der Farmen, die nicht verschönert worden waren, sahen im Vergleich dazu so übel aus, dass sich deren Besitzer insgeheim derart schämten, dass sie im kommenden Frühjahr ebenfalls etwas unternehmen wollten. Das Dreieck an der Kreuzung war gesäubert und neu eingesät worden und mitten drin, ohne Schaden von einer plündernden Kuh fürchten zu müssen, war bereits Annes Geranienbeet angelegt worden.

Alles in allem kamen die Verschönerer also recht ordentlich voran, auch wenn Mr Levi Boulter, den eine sorgsam zusammengestellte Abordnung taktvoll wegen des alten Hauses auf seiner oberen Farm ansprach, ihnen barsch ins Gesicht sagte, dass sie sich da nicht einzumischen hätten.

Bei diesem Treffen wollten sie ein Gesuch an die Schulbehörde abfassen mit der bescheidenen Bitte, um den Schulhof einen Zaun ziehen zu dürfen. Außerdem sollte das Vorhaben besprochen werden, bei der Kirche ein paar Ziersträucher anzupflanzen, sofern die Geldmittel des Vereins dies erlaubten. Denn, so sagte Anne, es hätte wenig Sinn, eine weitere Spendenaktion zu starten, solange der Saal blau gestrichen blieb. Die Mitglieder hatten sich im Wohnzimmer der Andrews’ versammelt. Jane war bereits dabei, ein neues Komitee zusammenzustellen, das sich über den Preis der besagten Bäume erkundigen und darüber Bericht erstatten sollte, als mit viel Getöse Gertie Pye hereingefegt kam. Gertie kam stets mit Verspätung-»des wirkungsvollen Auftritts wegen«, wie Spötter sagen. In diesem Augenblick verfehlte ihr Auftritt in der Tat nicht seine Wirkung, denn sie blieb dramatisch mitten im Zimmer stehen, warf die Hände hoch, rollte mit den Augen und rief aus:

»Mir ist gerade etwas Furchtbares zu Ohren gekommen. Stellt euch vor! Mr Judson Parker will seinen gesamten Zaun längs der Straße an eine allseits bekannte Arzneimittelfirma vermieten, die Reklame darauf malen will.«

Dieses eine Mal erregte Gertie Pye das Aufsehen, das sie sich wünschte. Hätte sie eine Bombe unter die Verschönerer geworfen, sie hätte kein größeres Aufsehen erregen können.

»Das darf nicht wahr sein!«, sagte Anne fassungslos.

»Genau das habe ich auch gesagt, als ich es hörte, ja.«, sagte Gertie, die sich ungemein gefiel. »Ich sagte, das darf doch nicht wahr sein .. .Judson Parker kann doch nicht die Stirn haben, das zu tun, ja! Aber mein Vater hat ihn heute Nachmittag getroffen und ihn danach gefragt und er sagte, es wäre wahr. Denkt nur! Seine Farm liegt direkt an der Newbridge-Straße, und wie scheußlich, den ganzen Weg entlang auf Pillen und Pflästerchen zu schauen, könnt ihr euch das vorstellen?«

Die Verschönerer konnten sich das nur zu gut vorstellen. Selbst der Phantasieloseste konnte sich den grotesken Anblick eines eine halbe Meile langen Bretterzauns vorstellen, den solche Reklame zierte. Angesichts dieser neuen Gefahr war jeder Gedanke an Kirche und Schule wie weggeblasen. Jede parlamentarische Regel und Vorschrift wurde über Bord geworfen und Anne gab verzweifelt jeden Versuch auf Protokoll zu führen. Alle redeten zugleich und es gab ein fürchterliches Durcheinander.

»Jetzt regt euch nicht so auf«, flehte Anne, die am aufgeregtesten von allen war. »Wir kennen doch Judson Parker. Für Geld würde er alles tun. Er hat nicht einen Funken Gemeinsinn oder Sinn für Schönheit.« Die Aussichten waren nicht eben viel versprechend. Judson Parker und seine Schwester waren die einzigen Parkers in Avonlea, also konnte man auch keine Familienbeziehungen spielen lassen. Martha Parker war eine Dame in vorgerücktem Alter, der die jungen Leute im Allgemeinen und die Verschönerer im Besonderen missfielen. Judson war ein jovialer, schmeichlerischer, stets gleichbleibend freundlicher Mann, sodass man verwundert war, wie wenig Freunde er hatte. Vielleicht hatte er die Leute schon zu oft übers Ohr gehauen - was sich selten günstig auf die Beliebtheit auswirkt. Er galt als »gewieft« und als »ein Mann ohne Grundsätze«.

»Wenn Judson Parker die Gelegenheit hat, >ehrlich sein Geld zu verdienen<, wie er es selbst nennt, dann lässt er sich das nicht entgehen«, verkündete Fred Wright.

»Gibt es niemanden, der Einfluss auf ihn hat?«, fragte Anne verzweifelt.

»Er macht Louisa Spencer von White Sands den Hof.«, sagte Carrie Sloane. »Vielleicht kann sie ihn überreden, den Zaun nicht zu vermieten.«

»Die nicht«, sagte Gilbert nachdrücklich. »Dafür kenne ich Louisa Spencer zu gut. Sie hält nichts von Dorfverschönerungs-Vereinen, aber sie hält viel von Dollars und Cents. Sie würde Judson eher noch dazu drängen, als ihm abzuraten.«

»Dann können wir nur eine Abordnung einsetzen, die ihm einen Besuch abstattet und Protest anmeldet«, sagte Julia Bell. »Und zwar müssen Mädchen zu ihm geschickt werden, denn Jungen gegenüber würde er sich kaum freundlich zeigen - aber ich gehe nicht hin, also braucht mich gar nicht erst jemand vorzuschlagen.«

»Dann schicken wir besser Anne allein hin«, sagte Oliver Sloane. »Wenn er sich überhaupt überreden lässt, dann von ihr.«

Anne protestierte. Sie war bereit hinzugehen und das Reden zu übernehmen. Aber »zur moralischen Unterstützung« müssten andere mitkommen. Man entschied sich für Diana und Jane als moralische Stützen. Die Verschönerer beendeten die Sitzung und schwirrten empört auseinander wie verärgerte Bienen.

Anne machte sich so viel Gedanken, dass sie erst am frühen Morgen einschlief. Dann träumte sie, dass die Schulbehörde einen Zaun um die Schule errichtet und überall »Nehmen Sie unsere Purpur-Pillen« darauf gemalt hatte.

Die Abordnung ging am nächsten Tag zu Judson Parker. Anne brachte überzeugende Argumente gegen sein schändliches Vorhaben vor und Jane und Diana leisteten ihr tapfer moralische Schützenhilfe. Judson war aalglatt, verbindlich, schmeichlerisch, er machte ihnen Komplimente so schön wie Sonnenblumen; es tue ihm wirklich Leid, solch bezaubernde junge Damen abzuweisen . . . aber Geschäft sei Geschäft, er könne es sich nicht leisten, in diesen schlechten Zeiten Rücksicht auf Gefühle zu nehmen.

»Aber eines werde ich tun«, sagte er mit einem Funkeln in seinen hellen Augen. »Ich mache dem Agenten zur Auflage, dass er nur schöne, geschmackvolle Farben verwenden darf - Rot und Gelb und so. Ich sage ihm, dass er die Reklame auf keinen Fall in Blau malen lassen darf.«

Die geschlagene Abordnung zog sich zurück und hatte unrechtmäßige Gedanken, die man besser nicht ausspricht.

»Wir haben getan, was in unseren Kräften stand. Alles andere könnten wir nur Gott überlassen«, sagte Jane und ahmte dabei unbewusst Mrs Lyndes Tonfall und Gebaren nach.

»Vielleicht könnte Mr Allan etwas erreichen«, überlegte Diana.

Anne schüttelte den Kopf.

»Nein, es hat keinen Zweck, Mr Allan damit zu behelligen, vor allem jetzt, wo das Baby so krank ist. Judson würde sich ihm genauso aalglatt entwinden wie uns, obwohl er in letzter Zeit ziemlich regelmäßig in die Kirche geht. Aber das tut er nur, weil Louisa Spencers Vater Kirchenältester und in diesen Dingen sehr heikel ist.«

»Judson Parker ist der Einzige in ganz Avonlea, dem auch nur im Traum einfallen konnte, seinen Zaun zu vermieten«, sagte Jane entrüstet. »Nicht einmal Levi Boulter oder Lorenzo Wright würden sich dazu hergeben, so geizig sie auch sind. Sie hätten zu großen Respekt vor der öffentlichen Meinung.«

Die Öffentlichkeit fiel in der Tat über Judson Parker her, als es sich herumsprach, aber das änderte auch nicht viel an der Sache. Judson lachte sich ins Fäustchen und strafte sie mit Verachtung. Die Verschönerer freundeten sich schon mit dem Gedanken an, dass der schönste Abschnitt der Newbridge-Straße von Reklame verunstaltet wurde - da stand Anne mitten in der Versammlung ruhig auf und verkündete, dass Judson Parker ihr aufgetragen habe, den Verein darüber in Kenntnis zu setzen, dass er den Zaun nicht an die Arzneimittelfirma vermieten werde.

Jane und Diana schauten, als könnten sie ihren Ohren nicht trauen. Die parlamentarischen Spielregeln, die beim D.W. immer striktestens eingehalten wurden, untersagten ihnen, sofort neugierig Fragen zu stellen. Aber nachdem der Verein sich vertagt hatte, wurde Anne stürmisch um Erklärungen angegangen. Anne hatte keine Erklärung. Judson Parker hatte sie am Abend zuvor auf der Straße überholt und ihr mitgeteilt, er wäre genau wie der D.V.V. entschieden gegen jede Arzneimittelreklame. Das war alles, was Anne jetzt und auch später dazu sagen konnte und es war schlicht die Wahrheit. Als Jane Andrews auf dem Nachhauseweg Oliver Sloane erklärte, sie sei fest davon überzeugt, dass hinter Judson Parkers geheimnisvollem Sinneswandel nichts weiter steckte, als Anne offenbart habe, sagte auch sie die Wahrheit.

Anne hatte am Abend zuvor einen Besuch bei der alten Mrs Irving unten an der Uferstraße gemacht. Auf dem Rückweg hatte sie eine Abkürzung genommen, die sie zunächst über die tief gelegenen Uferfelder und dann durch den Buchenwald unterhalb von Robert Dickinsons Anwesen geführt hatte, über einen kleinen Fußweg, der genau oberhalb des Sees der glitzernden Wasser - phantasielosen Leuten als Barrys Teich bekannt - in die Hauptstraße mündete.

Zwei Männer in ihren Kutschen kamen vorbei, lenkten die Pferde an die Straßenseite, genau vor der Einmündung in den Weg. Der eine war Judson Parker, der andere Jerry Corcoran, ein Mann aus Newbridge, dem, wie Mrs Lynde es in beredten Worten ausgedrückt haben würde, noch nie etwas Zweifelhaftes nachgewiesen worden war. Er handelte mit landwirtschaftlichen Geräten und war eine prominente politische Persönlichkeit. Er hatte den Finger - manche behaupteten alle Finger - in jeder politischen Angelegenheit, die gerade ausgekocht wurde. Da Kanada am Abend vor der Wahl stand, war Jerry Corcoran ein seit Wochen viel beschäftigter Mann gewesen, der auf Stimmenwerbung für die Kandidaten seiner Partei durch den Wahlkreis gezogen war.

Als Anne eben unter den überhängenden Buchenzweigen hervor auftauchte, hörte sie Corcoran sagen:»Wenn Sie Amesbury wählen, Parker ... na ja, dann hätte ich da noch ein Scheinchen für die Eggen, die Sie im Frühjahr bekommen haben. Sie hätten doch nichts dagegen, das Geld zurückzubekommen, was?«

»Hm... tja, wenn Sie das so sehen«, sagte Judson gedehnt und mit einem Grinsen, »das ließe sich schon machen, ln diesen schlechten Zeiten muss man sehen, wo man bleibt.«

In diesem Augenblick sahen sie Anne und die Unterhaltung endete abrupt. Anne grüßte kühl, ging weiter und streckte das Kinn noch weiter vor als sonst. Bald überholte Judson Parker sie.

»Willst du mitfahren, Anne?«, fragte er freundlich.

»Danke, nein«, erwiderte Anne höflich, aber mit einer feinen Verachtung in der Stimme, die selbst den nicht sehr empfindsamen Judson Parker wie Nadelstiche traf. Er wurde rot und drehte wütend die Zügel in den Händen. Aber im nächsten Augenblick besann er sich eines anderen. Er sah Anne beunruhigt an, wie sie weiterging und nicht nach links und nach rechts schaute. Hatte sie Corcorans unmissverständliches Angebot und sein allzu bereites Eingehen darauf gehört? Zum Teufel mit diesem Corcoran! Wenn er seine Absichten nicht in weniger gefährliche Worte kleiden konnte, würde er über kurz oder lang noch Ärger bekommen. Und zum Teufel mit rothaarigen Lehrerinnen, die aus Buchenwäldern auftauchen, in denen sie nichts zu suchen hatten. Wenn Anne es gehört hatte, so jedenfalls glaubte Judson Parker, der andere Leute nach seinen eigenen Maßstäben beurteilte, würde sie es überall herum erzählen. Nun, Judson Parker gab, wie sich gezeigt hat, nicht übermäßig viel auf die öffentliche Meinung. Aber als jemand dazustehen, der Bestechungsgeld angenommen hatte, wäre eine höchst unangenehme Sache. Und wenn es je Isaac Spencer zu Ohren kam, dann ade mit all den Hoffnungen auf Louisa Jane und ihren beruhigenden Einkünften als Erbin eines wohlhabenden Farmers. Judson Parker wusste, dass Mr Spencer ihn ohnehin etwas misstrauisch beäugte. Er konnte es sich nicht leisten ein Risiko einzugehen.

»Ähm ... Anne, ich hatte dich sowieso noch aufsuchen wollen wegen dieser Sache, über die wir neulich gesprochen haben. Ich habe mich nun doch entschieden, den Zaun der Firma nicht zur Verfügung zu stellen. Einen Verein mit Zielen, wie ihr sie verfolgt, sollte man unterstützen.«

Anne ließ sich überhaupt nicht aus der Reserve locken.

»Vielen Dank«, sagte sie.

»Und . . . und ... du brauchst diese kleine Unterhaltung mit Jerry ja nicht laut werden zu lassen.«

»Das habe ich nicht vor«, sagte Anne eisig, denn eher hätte sie sämtliche Zäune von Avonlea mit Reklame bemalen lassen, als sich auf einen Handel mit einem Mann, der seine Stimme verkaufte, einzulassen.

»Recht so . . . recht so«, stimmtejudson zu und fand, dass sie einander bestens verstanden. »Das hätte ich von dir auch nicht angenommen. Natürlich habe ich Jerry nur an der Nase herumgeführt - er hält sich für verteufelt klug und gescheit. Ich denke nicht daran, für Amesbury zu stimmen. Ich wähle wie immer Grant - das kannst du bei der Wahl selbst feststellen. Ich habe Jerry nur dazu verlockt, um zu sehen, ob er tatsächlich so weit geht. Und das mit dem Zaun geht so in Ordnung ... du kannst es den Verschönerern ausrichten.«

»Es gibt eben alle möglichen Sorten von Menschen auf der Welt, wie man so schön sagt, aber manche könnte man entbehren«, sagte Anne an dem Abend im Ostgiebel zu sich im Spiegel. »Ich hätte die schändliche Sache sowieso keiner Menschenseele gegenüber erwähnt, also habe ich in dem Punkt ein reines Gewissen. Ich weiß wirklich nicht, wem oder was sein Sinneswandel zu verdanken ist. Ich jedenfalls habe ihn nicht bewerkstelligt und es ist kaum anzunehmen, dass bei Politikern wiejudson Parker und Jerry Corcoran Gott seine Hände im Spiel hat.«

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