03 - Der Besuch bei Mr Harrison

Mr Harrisons Haus war ein altmodisches, weiß gestrichenes Gebäude mit tief herabgezogenen Dachrinnen, dahinter lag ein dichtes Tannenwäldchen.

Mr Harrison saß in Hemdsärmeln auf der mit Weinreben umrankten Veranda und rauchte genüsslich seine abendliche Pfeife. Als ihm klar wurde, wer da den Weg heraufkam, sprang er sofort auf, stürzte ins Haus und schloss die Tür zu. Zum einen war er überrascht, zugleich aber schämte er sich auch in Grund und Boden über seinen Ausbruch am Vortag. Anne jedoch raubte sein Verhalten fast das letzte Quentchen Mut.

»Wenn er jetzt schon so wütend ist, wie erst dann, wenn er erfährt, was ich getan habe«, dachte sie kläglich, als sie anklopfte.

Aber Mr Harrison öffnete verlegen grinsend die Tür und bat sie in einem sanften und freundlichen, ja fast nervösen Ton herein. Er hatte seine Pfeife beiseite gelegt und seine Jacke angezogen. Ausgesprochen höflich bot er Anne einen sehr staubigen Stuhl an. Der Empfang war soweit durchaus nett, wäre da nicht dieser schwatzhafte Papagei gewesen, der mit seinem bösen, giftigen Augen durch die Stäbe des Käfigs äugte. Kaum hatte Anne sich gesetzt, als Ginger zu krächzen begann: »Karotte, Karotte, Karotte . ..«

Es war schwer zu sagen, wessen Gesicht röter war, Mr Harrisons oder Annes.

»Beachten Sie den Papagei einfach nicht«, sagte Mr Harrison, als er seine Sprache wieder gefunden hatte, wobei er einen wütenden Blick auf Ginger machte. »Er... er schwatzt nur dummes Zeug. Ich habe ihn von meinem Bruder bekommen, der Seemann war. Seeleute bedienen sich nicht immer der gewähltesten Sprache und Papageien plappern nun mal alles nach.«

»Das stimmt«, sagte Anne und verbarg, wie betroffen sie war. So wie die Dinge lagen, konnte sie es sich nicht leisten, Mr Harrison barsch anzufahren. Wenn man gerade die Kuh von jemandem ohne dessen Wissen oder Zustimmung verkauft hatte, dann durfte man sich nichts daraus machen, wenn dessen Papagei wenig schmeichelhafte Dinge daherplapperte. Trotzdem, die »Karotte« war nicht ganz so sanftmütig, wie sie es sonst vielleicht gewesen wäre.

»Ich muss Ihnen etwas beichten, Mr Harrison«, sagte sie daher beherzt. »Es ... es dreht sich um . . . die Kuh.«

»Du meine Güte«, rief Mr Harrison aufgebracht, »ist sie etwa schon wieder in meinem Hafer? Ach was, machen Sie sich nichts draus . . . und wenn es so ist. Es macht nichts ... macht gar nichts. Ich . . . ich war gestern viel zu unbesonnen. Machen Sie sich nichts draus.«

»Wenn es nur das wäre«, seufzte Anne. »Aber es ist zehnmal schlimmer. Ich ...«

»Du meine Güte, soll das heißen, sie ist in meinem Weizen?«

»Nein, nein... nicht im Weizen. Aber...«

»Also im Kohl! Sie ist in dem Kohl, den ich für die Ausstellung gezogen habe, he?«

»Nein, Mr Harrison. Ich will Ihnen alles der Reihe nach erzählen. Darum bin ich hier — aber bitte unterbrechen Sie mich nicht. Das macht mich schrecklich nervös. Lassen Sie mich die ganze Sache erzählen und sagen Sie nichts, bis ich fertig bin - dann werden Sie nämlich eine Menge zu sagen haben«, schloss Anne, sagte das Letzte aber nicht laut.

»Ich sage kein Wort mehr«, sagte Mr Harrison. Daran hielt er sich tatsächlich. Aber Ginger hielt sich an kein Schweigegebot und krächzte in Abständen immer wieder »Karotte«, was Anne ganz rasend machte, aber sie hatte sich nun wieder soweit gefangen, dass sie ihre Beichte beginnen konnte.

»Ich habe gestern meine Kuh in den Stall eingesperrt. Heute Morgen bin ich nach Carmody gefahren. Als ich zurückkam, war eine Kuh in Ihrem Hafer. Diana und ich haben sie daraus verjagt. Sie machen sich kein Bild, wie schwierig das war. Ich war ganz durchgenässt, erschöpft und wütend - und eben da tauchte Mr Shearer auf und bot an, die Kuh zu kaufen. Ich habe sie ihm auf der Stelle für zwanzig Dollar verkauft. Das war ein Fehler. Ich hätte damit warten und zuerst Marilla um Rat fragen sollen. Aber ich habe nun mal die schreckliche Veranlagung, dass ich Sachen tue, ohne vorher zu überlegen - jeder, der mich kennt, kann Ihnen das bestätigen. Mr Shearer hat die Kuh gleich mitgenommen, um sie mit dem Nachmittagszug verladen zu lassen.«

»Karotte!«, plärrte Ginger in einem Ton höchster Verachtung.

Da stand Mr Harrison auf, trug mit einem Ausdruck, der jeden anderen Vogel in Schrecken versetzt hätte, den Käfig samt Ginger in ein angrenzendes Zimmer und schloss die Tür. Ginger kreischte, fluchte und führte sich auf, wie es seinem Ruf entsprach, doch einmal allein gelassen, verfiel er in dumpfes Schweigen.

»Entschuldigen Sie, erzählen Sie weiter«, sagte Mr Harrison und setzte sich wieder. »Mein Bruder, der Seemann, hat dem Vogel einfach keine Manieren beigebracht.«

»Ich fuhr also nach Hause. Nach dem Tee bin ich in den Stall gegangen. Mr Harrison«, Anne beugte sich vor und faltete in der ihr eigenen kindlichen Manier die Hände, während sie mit ihren großen graugrünen Augen flehentlich Mr Harrison bestürztes Gesicht anstarrte, »meine Kuh war im Stall. Ich habe Mr Shearer Ihre Kuh verkauft.«

»Du meine Güte«, stieß Mr Harrison, blank erstaunt über diesen unvorhergesehenen Schluss, hervor. »Wie außergewöhnlich!«

»Es ist überhaupt nicht außergewöhnlich, dass ich andere Leute und mich in Verlegenheit bringe«, sagte Anne traurig. »Ich bin dafür bekannt. Vielleicht hatten Sie gedacht, ich wäre aus dem Alter heraus - im März werde ich siebzehn aber es scheint nicht so. Mr Harrison, werden Sie mir verzeihen? Ich fürchte, es ist zu spät, Ihre Kuh noch zurückzubekommen. Aber hier ist das Geld oder Sie können als Ersatz meine haben, wenn Ihnen das lieber ist. Es ist eine wirklich gute Kuh. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie Leid es mir tut.«

»Unsinn«, sagte Mr Harrison lebhaft, »kein Wort will ich mehr davon hören, Miss. Es ist nicht weiter schlimm, wirklich nicht. So was kann Vorkommen. Ich bin selbst manchmal zu unbesonnen, Miss, viel zu unbesonnen. Aber ich sage einfach, was ich denke, so bin ich nun mal. Wenn diese Kuh jetzt tatsächlich in meinem Kohl gewesen wäre ... Aber machen Sie sich keine Gedanken, sie war nicht drin, also ist alles in Ordnung. Ich glaube, ich nehme lieber Ihre Kuh, wo Sie sie ja sowieso loswerden wollen.«

»Oh, vielen Dank, Mr Harrison. Ich bin so froh, dass Sie sich nicht ärgern. Das hatte ich nämlich befürchtet.«

»Und Sie hatten eine panische Angst davor, es mir zu erzählen, nach dem Theater, das ich gestern veranstaltet habe, nicht wahr? Aber Sie müssen sich nichts weiter daraus machen, ich rede einfach frei von der Leber weg. Ich sage, wie es ist, auch wenn es einen manchmal etwas hart ankommt.«

»Genau wie Mrs Lynde«, rutschte es Anne heraus.

»Wie wer? Mrs Lynde? Sagen Sie nicht, ich wäre wie diese alte Klatschbase«, sagte Mr Harrison ärgerlich. »Bin ich nicht, nicht die Spur. Was haben Sie da in der Schachtel?«

»Einen Kuchen«, sagte Anne schelmisch. Vor Erleichterung über Mr Harrisons unerwartete Liebenswürdigkeit hob sich ihre Stimmung, schwebte förmlich wie eine Feder in die Höhe. »Er ist für Sie. Ich dachte, bei Ihnen gäbe es vielleicht nicht so oft Kuchen.«

»Das stimmt allerdings, dabei bin ich ganz versessen auf Kuchen. Ich danke Ihnen vielmals. Oben sieht er gut aus. Hoffentlich ist er durch und durch gut.«

»Und ob«, sagte Anne fröhlich und überzeugt. »Ich habe schon Kuchen gebacken, von denen man das nicht behaupten konnte. Mrs Allan könnte das bestätigen, aber der hier ist lecker. Ich hatte ihn für den Dorfverschönerungs-Verein gebacken, aber ich kann noch einen machen.«

»Wissen Sie was, Miss, wir essen ihn zusammen. Ich setz den Kessel auf und wir trinken eine Tasse Tee. Wie wäre das?«

»Darf ich den Tee kochen?«, fragte Anne zweifelnd.

Mr Harrison lachte.

»Ich sehe, Sie trauen meinen Teekochkünsten nicht. Sie irren sich, ich würde Ihnen den besten Tee kochen, den Sie je getrunken haben. Aber machen Sie nur. Zum Glück hat es letzten Sonntag geregnet, also ist noch genügend sauberes Geschirr da.«

Anne sprang flink auf und machte sich an die Arbeit. Sie spülte die Teekanne mehrere Male, ehe sie den Tee aufbrühte. Dann wischte sie den Herd ab und deckte den Tisch mit Geschirr, das sie aus der Speisekammer holte. Anne war hell entsetzt über den Zustand der Speisekammer, verlor aber klugerweise kein Wort darüber. Mr Harrison sagte ihr, wo Brot, Butter und eine Dose mit Pfirsichen zu finden waren. Sie stellte einen Strauß Blumen aus dem Garten auf den Tisch und übersah geflissentlich die Flecken auf der Tischdecke. Der Tee war schnell gekocht und Anne saß schließlich Mr Harrison gegenüber, goss ihm Tee ein und plauderte zwanglos mit ihm über die Schule, ihre Freunde und Pläne. Sie konnte es selbst kaum fassen. Mr Harrison hatte Ginger wieder hereingeholt, weil er meinte, der arme Vogel würde sich einsam und verlassen fühlen. Anne, die allen und jedem vergeben konnte, bot ihm eine Walnuss an. Aber Ginger war schwer gekränkt und lehnte jedes Freundschaftsangebot ab. Er hockte verstimmt auf seiner Stange und plusterte die Federn auf, bis er wie eine grüngelbe Kugel aussah.

»Warum nennen Sie ihn Ginger?«, fragte Anne, der treffende Namen gefielen. Aber sie fand, dass Ginger - Ingwer - ganz und gar nicht zu einem so prächtigen Federkleid passte.

»Mein Bruder, der Seemann, hat ihm den Namen gegeben. Ich hänge an diesem Vogel - Sie glauben gar nicht, wie sehr. Natürlich hat er seine Fehler. Ich habe mir seinetwegen schon jede Menge Ärger eingehandelt. Manchen gefällt sein Gefluche nicht, aber er lässt es sich nicht austreiben. Ich habe es versucht, andere haben es versucht. Manche können Papageien nicht ausstehen, albern, nicht wahr? Ich mag Papageien. Ginger leistet mir Gesellschaft. Nichts könnte mich dazu bewegen, diesen Vogel aufzugeben - nichts auf der Welt, Miss.«

Mr Harrison schleuderte Anne diesen Satz regelrecht an den Kopf, so als verdächtige er sie, sie wolle ihn insgeheim dazu bewegen, Ginger aufzugeben. Anne jedoch fand allmählich Gefallen an dem eigensinnigen, kribbeligen Mann, der so viel Getöse machte. Noch ehe sie den Tee ausgetrunken hatten, waren sie gute Freunde. Mr Harrison erkundigte sich nach dem Dorfverschönerungs-Verein und fand den Plan gut.

»Das ist gut. Treiben Sie die Sache voran. Hier gäbe es noch einiges zu verbessern ... bei den Leuten selbst auch.«

»Oh, ich weiß nicht«, sagte Anne schnell. Sich selbst oder ihren allerbesten alten Freunden hätte sie durchaus eingestanden, dass es den einen oder anderen - leicht zu behebenden - Mangel gab, in Avonlea wie auch bei seinen Bewohnern. Aber es sich von jemand sagen lassen zu müssen, der praktisch fremd war, das war etwas völlig anderes. »Ich finde, Avonlea ist ein reizender Ort und seine Bewohner auch.«

»Ich denke, das war wohl nur ein Anflug von Nettigkeit«, bemerkte Mr Harrison und musterte ihre roten Wangen und empört blickenden Augen. »Es muss mit Ihrer Haarfarbe zu tun haben. Avonlea ist ein anständiger Ort, sonst hätte ich mich nicht hier niedergelassen. Aber Sie werden doch wohl zugeben, dass er ein paar Mängel hat?«

»Deshalb gefällt er mir nur umso besser«, sagte Anne, treu wie sie war. »Ich mag weder Orte noch Menschen, die keine Mängel haben. Ein vollkommener Mensch wäre einfach uninteressant. Mrs Milton White sagt, sie hätte noch keinen vollkommenen Menschen kennen gelernt, aber hinlänglich von einem gehört - nämlich der ersten Frau ihres Mannes. Meinen Sie nicht auch, dass es sehr unerfreulich sein muss, mit einem Mann verheiratet zu sein, dessen erste Frau vollkommen war?«

»Noch unerfreulicher wäre es, mit der vollkommenen Frau verheiratet zu sein«, erklärte Mr Harrison unvermittelt und in einem unerklärlich eifrigen Ton.

Als sie mit dem Tee fertig waren, bestand Anne darauf abzuwaschen, obwohl Mr Harrison ihr versicherte, es wäre noch für Wochen genügend Geschirr da. Am liebsten hätte sie auch den Flur gefegt, aber da war weit und breit kein Besen zu sehen und danach fragen mochte sie nicht aus Angst, dass vielleicht gar keiner im Haus war.

»Sie können mich ja ab und zu besuchen kommen«, schlug Mr Harrison vor, als sie aufbrach. »Ist ja nicht weit und als Nachbarn sollte man gut miteinander auskommen. Ich bin irgendwie auch an Ihrem Verein da interessiert. Könnte ja noch ganz heiter werden. Wen wollen Sie sich als Erstes vornehmen?«

»Wir wollen uns nicht mit Leuten befassen, sondern mit dem Ort«, sagte Anne würdevoll. Halb vermutete sie schon, Mr Harrison wollte sich über das Projekt lustig machen.

Als sie sich auf den Weg gemacht hatte, sah Mr Harrison ihr vom Fenster aus nach, wie sie beschwingt im Abendrot über die Felder dahinhüpfte.

»Ich bin ein mürrischer, griesgrämiger, einsamer alter Knabe«, sagte er laut. »Aber das junge Mädchen hat etwas an sich, dass ich mich wieder jung fühle — und das ist ein so angenehmes Gefühl, dass ich es ab und zu gern wieder spüren möchte.«

»Karotte!«, krächzte Ginger spöttisch.

Mr Harrison drohte dem Papagei mit der Faust.

»Du ordinäres Vieh«, brummte er, »ich wünschte fast, ich hätte dir den Hals umgedreht, als mein Bruder dich anschleppte. Musst du mich immer in Verlegenheit bringen?«

Anne lief vergnügt nach Hause und berichtete Marilla von ihrem Erlebnis, die sich ziemliche Sorgen gemacht hatte, weil Anne so lange ausblieb. Sie hatte sich schon auf die Suche nach ihr machen wollen. »Es gibt also doch noch anständige Leute auf dieser Welt, nicht wahr, Marilla?«, beendete Anne glücklich ihren Bericht. »Mrs Lynde hat neulich gejammert, damit wäre es nicht weit her. Sie sagte, immer wenn man sich auf etwas Schönes freue, würde man sowieso enttäuscht, nichts würde den Erwartungen standhalten. Hm, vielleicht hat sie Recht. Aber es gibt auch gute Seiten. Die schlechten Dinge entsprechen auch nicht immer den Erwartungen. Sie erweisen sich meist als weniger schlimm, als man angenommen hat. Ich hatte mich auf eine furchtbar unangenehme Sache eingestellt, als ich mich auf den Weg zu Mr Harrison machte. Dabei war er ganz freundlich, es war fast richtig nett. Ich glaube, wir werden gute Freunde, wenn wir einander etwas entgegenkommen, und alles hat sich zum Besten gekehrt. Aber trotzdem, Marilla, bestimmt werde ich nie wieder eine Kuh verkaufen, bevor ich nicht weiß, wem sie gehört. Und Papageien kann ich doch nicht ausstehen.«

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