29 - Poesie und Klartext

Den folgenden Monat lebte Anne, so hätte man in Avonlea gesagt, in einem Wirbel von Aufregungen. Die Vorbereitungen für ihre bescheidene Ausstattung für Redmond waren zweitrangig. Miss Lavendars Hochzeit stand bevor. Im Steinhaus wurde beraten, geplant und diskutiert. Charlotta die Vierte hielt sich dabei begeistert und staunend lang und breit bei den weniger wichtigen Dingen auf. Dann kam die Schneiderin und sie hatten ihren Spaß - aber auch die Qual der Wahl -, als sie das Kleid aussuchten und anpassten.

Anne und Diana brachten viel Zeit in Echo Lodge zu. So manche Nacht konnte Anne nicht schlafen, weil sie sich fragte, ob es richtig war, Miss Lavendar für die Reise zu einem braunen statt marineblauen Kleid und für die Hochzeit zu dem grausilbernen geraten zu haben.

Alle waren glücklich. Paul Irving kam gleich, nachdem sein Vater ihm die Neuigkeit erzählt hatte, nach Green Gables gerannt, um sie Anne zu berichten.

»Ich wusste doch, dass ich mich auf Vater verlassen kann und er eine nette Stiefmutter für mich aussucht«, sagte er stolz. »Es ist wunderbar einen Vater zu haben, auf den man sich verlassen kann. Miss Lavendar mag ich sehr. Großmutter freut sich auch. Sie ist richtig froh, dass Vater als zweite Frau keine Amerikanerin heiratet, weil, auch wenn es sich beim ersten Mal als ganz gut herausgestellt hat, das noch lange nicht beim zweiten Mal auch so sein muss. Mrs Lynde sagt, sie wäre sehr für die Heirat, weil Miss Lavendar dann bestimmt ihre komischen Ideen aufgibt und normal wird. Ich hoffe das nicht, Miss Shirley. Mir gefallen ihre komischen Ideen. Sie soll nicht normal werden. Normale Leute gibt es schon wie Sand am Meer. Sie verstehen schon.«

Charlotta die Vierte strahlte ebenfalls vor Freude.

»Oh, Miss Shirley, alles hat sich zum Besten gewendet. Wenn Mr Irving und Miss Lavendar von der Hochzeitsreise zurück sind, gehe ich mit ihnen nach Boston. Dabei bin ich erst fünfzehn. Die anderen durften alle erst mit sechzehn nach Boston. Ist Mr Irving nicht großartig? Er vergöttert sie regelrecht. Manchmal, wenn ich sehe, wie er sie anschaut, wird mir ganz schwummerig. Mir fehlen die Worte, Miss Shirley. Wie ich mich freue, dass sie sich so gut leiden können! Letzten Endes ist es so am besten, auch wenn manche da ganz anderer Ansicht sind. Eine meiner Tanten war dreimal verheiratet. Sie sagt, das erste Mal hätte sie aus Liebe geheiratet, die beiden anderen Male aus reinen Vernunftgründen. In allen drei Ehen wäre sie glücklich gewesen, außer bei den Beerdigungen. Aber ein Risiko ist sie schon eingegangen, Miss Shirley.«

»Ist das alles romantisch«, sagte Anne an dem Abend zu Marilla. »Hätte ich damals, als wir zu den Kimballs wollten, den anderen Weg eingeschlagen, hätte ich Miss Lavendar nie kennen gelernt. Hätte ich sie nie kennen gelernt, hätte ich Paul nicht mitgenommen - und der hätte nie seinem Vater, der nach San Francisco fahren wollte, von dem geplanten Besuch bei Miss Lavendar geschrieben. Mr Irving sagt, als er den Brief bekam, hätte er seinen Geschäftspartner nach San Francisco geschickt, er wäre stattdessen hierher gekommen. Seit fünfzehn Jahren hatte er nichts mehr von Miss Lavendar gehört. Jemand hatte ihm erzählt, sie wäre verheiratet. Das hatte er geglaubt und nie mehr nach ihr gefragt. Jetzt hat alles seine Ordnung. Und ich hatte die Hände im Spiel. Vielleicht hat Mrs Lynde Recht, dass alles vorherbestimmt ist und es so kommen musste. Trotzdem, es ist ein schöner Gedanke, dass ich ein Werkzeug der Vorhersehung war. Ja, doch, es ist sehr romantisch.«

»Was ist daran romantisch?«, fragte Marilla ziemlich harsch. Marilla fand, Anne machte viel zu viel Theater darum, vernachlässigte ihre Vorbereitungen für das College und »latschte« stattdessen dauernd nach Echo Lodge, um Miss Lavendar zur Hand zu gehen. »Erst bekommen sich zwei Grünschnäbel in die Haare und sind eingeschnappt. Stephen Irving geht in die Staaten, heiratet dort bald und ist rundum glücklich. Danach stirbt seine Frau. Nach einer angemessenen Zeit kommt er nach Hause und sagt sich, mal sehen, ob meine erste große Liebe mich noch will. Sie hat all die Jahre allein gelebt, weil ihr wohl niemand Nettes über den Weg gelaufen ist. Die beiden treffen sich und heiraten schließlich. Na, was ist daran romantisch?«

»Wenn du es so siehst, ist es nicht romantisch!« Anne schnappte nach Luft, so als hätte ihr jemand einen Eimer kaltes Wasser übergegossen. »So mag es sich im Klartext anhören. Aber wenn man es poetisch betrachtet - und ich«, Anne fasste sich wieder, machte die Augen auf und wurde rot, »sehe es lieber poetisch.«

»Wann findet die Hochzeit statt?«, fragte Marilla nach einer Pause. »Am letzten Mittwoch im August. Sie werden im Garten unter den Geißblattspalieren heiraten - genau an der Stelle, an der Mr Irving vor fünfundzwanzigjahren um ihre Hand angehalten hat. Marilla, das ist romantisch, sogar im Klartext. Nur Mrs Irving, Paul, Gilbert, Diana, Miss Lavendars Cousinen und ich werden dabei sein. Mit dem Sechs-Uhr-Zug machen sie sich auf die Hochzeitsreise an den Pazifik. Nach ihrer Rückkehr im Herbst nehmen sie Paul und Charlotta mit nach Boston. Auf Echo Lodge bleibt alles wie es ist, außer dass sie natürlich die Hühner und Kühe verkaufen und die Fenster vernageln werden.Jeden Sommer werden sie dort verbringen. Ich bin ja so froh. Es hätte mir das Herz gebrochen, nächsten Winter in Redmond zu sein und mir dieses einsame, verlassene Steinhaus mit seinen leeren Zimmern vorzustellen - oder was noch schlimmer gewesen wäre, wenn andere Leute darin wohnen würden. Aber so ist alles bestens. Ich kann glücklich auf den Sommer warten und wieder Leben und Lachen ins Haus bringen.«

Es gab noch mehr Romanzen auf der Welt als die zwischen den beiden Verliebten in dem Steinhaus. Anne entdeckte die andere zufällig, als sie eines Abends durch die Waldschneise nach Orchard Slope ging und beim Garten der Barrys herauskam. Diana Barry und Fred Wright standen unter der großen Weide. Diana lehnte sich an den grauen Baumstamm und hatte die Augenlider gesenkt. Fred, der sich mit dem Gesicht zu ihr beugte, hielt ihre Hand und flüsterte ihr leise und ernst etwas zu. In dem verzauberten Augenblick gab es nur sie beide. Sie bemerkten Anne nicht, die wie benommen begriff, sich umdrehte und leise, ohne auch nur einmal anzuhalten, durch den Fichtenwald zurück und in den Ostgiebel lief. Völlig außer Atem setzte sie sich ans Fenster und versuchte ihre verwirrten Sinne zu ordnen.

»Diana und Fred sind verliebt«, keuchte sie. »Wie... wie ... wie hoffnungslos erwachsen!«

Anne hatte erst vor kurzem Diana in Verdacht gehabt, dass ihre Trauer um den Byron’schen Helden aus ihren früheren Träumen nicht echt war. Aber da »etwas, was man mit eigenen Augen gesehen hat, beweiskräftiger ist als etwas, das man nur vom Hörensagen weiß oder annimmt«, stand sie völlig verdattert vor der Tatsache. Dann fühlte sie sich seltsam allein gelassen, so als wäre Diana in eine neue Welt eingetreten, hätte das Tor geschlossen und Anne draußen stehen lassen.

»Alles ändert sich so beängstigend schnell«, dachte Anne ein wenig traurig. »Zwischen Diana und mir wird es wohl auch nicht mehr wie früher sein. Ich kann ihr keine Geheimnisse mehr anvertrauen - sie könnte sie Fred erzählen. Was findet sie eigentlich an ihm? Er ist nett und lustig, aber er ist und bleibt Fred Wright.«

Das ist immer ein Rätsel - was findet man an jemand? Aber was für ein Glück ist es, wie es ist. Wenn alle gleich aussähen ... na ja, dann würde, wie der alte Indianer sagt: »Jeder meine Squaw wollen.« Diana fand ganz offensichtlich etwas an Fred, egal wie Anne das sah. Am Abend darauf kam Diana nach Green Gables - sie wirkte wie eine nachdenkliche, schüchterne junge Dame - und erzählte Anne die ganze Geschichte im dämmrigen, abgeschiedenen Ostgiebel. Beide vergossen ein paar Tränen, gaben sich einen Kuss und lachten.

»Ich bin so glücklich«, sagte Diana, »aber dass ich verlobt bin, kommt mir direkt albern vor.«

»Wie fühlt man sich als Verlobte?«, fragte Anne gespannt.

»Naja, das hängt ganz davon ab, mit wem man verlobt ist«, antwortete Diana mit diesem Ausdruck von Überlegenheit, der einen verrückt machte, ein Ausdruck, wie ihn die, die verlobt sind, denjenigen gegenüber, die nicht verlobt sind, nun mal an den Tag legen. »Mit Fred verlobt zu sein, ist einfach wundervoll - mit jemand anders verlobt zu sein, muss die wahre Hölle sein.«

»Das ist für alle Übrigen nur ein schwacher Trost, schließlich gibt es nur einen Fred«, lachte Anne.

»Oh, Anne, du hast mich nicht verstanden«, sagte Diana verärgert. »So habe ich es nicht gemeint. Es ist schwer zu erklären. Mach dir nichts daraus, irgendwann, wenn es dir selbst so ergeht, wirst du es verstehen.«

»Ach, herzallerliebste Diana, ich verstehe es schon. Wozu hat man Phantasie, wenn nicht dazu, um mit den Augen anderer die Welt zu sehen?«

»Du musst meine Brautjungfer sein, Anne. Versprich es mir, egal wo du dich auch gerade aufhältst.«

»Ich würde auch vom anderen Ende der Welt anreisen«, versprach Anne feierlich.

»Es ist natürlich noch längst nicht soweit«, sagte Diana und wurde rot. »Frühestens in drei Jahren. Ich bin erst achtzehn. Meine Mutter will nicht, dass eine von uns vor einundzwanzig heiratet. Außerdem will Freds Vater Abraham Fletchers Farm für ihn kaufen und Fred muss zwei Drittel abbezahlen, ehe sein Vater sie auf ihn überschreibt. Außerdem sind drei Jahre auch nicht gerade mehr viel Zeit, um sich um die Aussteuer zu kümmern. Ich habe bislang noch nicht ein einziges Deckchen gehäkelt. Aber gleich morgen fange ich damit an. Myra Gillis hatte siebenunddreißig Deckchen, als sie heiratete. So viel will ich auch.«

»Mit nur sechsunddreißig Deckchen kann man ausgeschlossen einen Haushalt fuhren«, stimmte Anne ernst, aber mit blitzenden Augen zu. Diana war gekränkt.

»Das hätte ich nicht von dir gedacht, dass du dich über mich lustig machst, Anne«, sagte sie vorwurfsvoll.

»Meine Liebe, ich habe mich nicht lustig gemacht«, rief Anne bedauernd. »Ich wollte dich nur ein bisschen necken. Aus dir wird bestimmt die beste Hausfrau der Welt. Ich finde es wundervoll, dass du schon jetzt Pläne schmiedest für dein trautes Heim.«

Anne hatte noch nie den Ausdruck »trautes Heim« gebraucht. Schon stellte sie es sich vor und begann sich ihr eigenes trautes Heim auszumalen. Natürlich wohnte darin ihr Traummann, ein dunkler Typ, stolz und melancholisch. Seltsamerweise trieb sich auch Gilbert darin herum, half ihr beim Bilderaufhängen, legte den Garten an und erledigte tausend andere Sachen, die der stolze melancholische Traummann offensichtlich für unter seiner Würde hielt. Anne versuchte Gilbert aus ihrem Schloss in Spanien zu verbannen, aber irgendwie ließ er sich nicht verscheuchen, sodass Anne es aufgab und weiter an ihrem Luftschloss baute, bis ihr »trautes Heim« fertig eingerichtet war und Diana wieder etwas sagte.

»Du findest es bestimmt komisch, Anne, dass Fred mir gut gefällt, wo der doch so ganz anders aussieht als mein Traummann, so ein großer schlanker Typ. Aber irgendwie würde mir Fred groß und schlank nicht gefallen - weil er, verstehst du doch, dann nicht Fred wäre. Sicher«, fügte Diana ziemlich traurig hinzu, »wir geben ein etwas klein geratenes Paar ab. Aber das sieht immer noch besser aus als wenn einer von uns beiden klein und dick und der andere groß und dürr wäre, wie Mr Morgan Sloane und seine Frau. Mrs Lynde sagt, sie würde sich jedes Mal fragen, wenn sie sie zusammen sieht, ob sie überhaupt zusammenpassen.«

»Tja«, sagte Anne zu sich, als sie sich am Abend vor dem gold gefassten Spiegel die Haare kämmte, »es freut mich, dass Diana glücklich und zufrieden ist. Aber wenn es mir passiert - falls es mir passiert dann hoffe ich, dass es etwas aufregender ist. Aber Diana hat das auch mal gedacht. Ich höre sie noch, wie sie sagte, sie würde sich nicht auf eine so langweilige, gewöhnliche Art verloben - er müsste sich schon etwas Tolles einfallen lassen, um sie für sich zu gewinnen. Sie hat sich verändert. Vielleicht verändere ich mich auch. Aber nein . . . nein, ich nicht. So eine Verlobung bringt einen ganz schön durcheinander, wenn es die beste Freundin trifft.«

Загрузка...