Kapitel 16

Eadulf wachte aus einem unruhigen, kurzen Schlaf auf. Es war immer noch Nacht. Er bemerkte, daß Gorman Holz ins Feuer nachlegte, das sie vor einer Weile angezündet hatten. Er rieb sich die Stirn und sah sich um. Dunkel erinnerte er sich, wie sie in der Nacht auf einer Waldlichtung in der Nähe des Wassers ein notdürftiges Lager aufgeschlagen hatten. Er drehte sich um. Auf der anderen Seite des Lagerfeuers schlief Basil Nestorios.

Eadulf entsann sich, daß er sich aus lauter Verzweiflung und Kummer auf nichts hatte konzentrieren können. Die beiden anderen Männer hatten so gut wie ganz auf seine Hilfe beim Errichten des Lagers verzichten müssen.

Gorman sah, daß Eadulf aufgewacht war, und reichte ihm ein Trinkhorn.

»Corma«, erklärte der Krieger. »Wie fühlst du dich, Bruder Eadulf?«

Eadulf verzog das Gesicht, ehe er einen Schluck nahm und sich dann den Mund abwischte.

»Ich habe die einzige Chance verloren, meinen Sohn zu finden«, sagte er schlicht. »Wie soll ich mich da schon fühlen?«

Der Krieger wollte ihn beruhigen.

»Du bist ein so kluger Mann, Bruder Eadulf. Du hast die Spur deines Kindes schon so weit verfolgt, du wirst es bestimmt wiedersehen.«

»Wie hast du eigentlich hergefunden?« wollte Eadulf wissen. »Bist du mir gefolgt?«

Gorman zuckte mit den Achseln. »Ich bin erst einen ganzen Tag später losgeritten. Als ich von Lady Fidelma erfuhr, daß du nach Westen zur Abtei von Colman aufgebrochen bist, war mir klar, daß du durch das Gebiet der Ui Fidgente mußtest und du vielleicht einen guten Schwertkämpfer brauchen könntest. Also sattelte ich mein Pferd und bin dir hinterher. Als ich über den Gebirgspaß in der Nähe des Bergs der Festungen kam, traf ich auf einen Kräutersammler und seine Frau. Er hieß Corb. Sie gestanden mir, daß sie das Kind im Wald entdeckt hätten ...«

»Du hast ihnen doch nichts getan, oder?« fragte Eadulf. »Ich glaube, daß sie ganz unabsichtlich da hineingezogen wurden.«

»Sie befanden sich gerade auf dem Rückweg nach Cashel, wie du ihnen geraten hattest. Ich folgte dir zunächst zur Abtei von Colman, von da ritt ich zu Uamans Turm. Bei Anbruch der Dämmerung traf ich hier ein und fand einen sicheren Dünenweg zu den Toren der Festung. Ich wollte gerade ans Tor klopfen, da öffnete es sich und du und dein wortkarger Gefährte kamen herausgestürmt. Den Rest kennst du.«

Eadulf beugte sich vor und legte eine Hand auf den Arm des Kriegers.

»Dem Schicksal sei Dank«, sagte er ehrerbietig. »Wenn du nicht aufgetaucht wärest, wären wir jetzt nicht hier. Uaman hatte sich für mich schon einen feinen Tod ausgedacht, und unser persischer Freund sollte nur so lange am Leben bleiben, bis er Uaman geheilt hätte.« Er betrachtete Gorman prüfend von der Seite. »Aber ich kann es gar nicht glauben, daß du durch ganz Muman geritten bist, nur um mich zu beschützen.«

Gorman zögerte, dann breitete er pathetisch die Hände aus.

»Du bist ein scharfsichtiger Mann, Bruder Eadulf. Es ist kein Wunder, daß du und Lady Fidelma solch ein Ansehen genießen. Als ich hörte, daß du zur Abtei von Colman unterwegs warst, wußte ich, daß dies einen besonderen Grund haben mußte. Ich wollte dir unbedingt beistehen, falls du Hilfe benötigen würdest.«

»Bist du Cashel tatsächlich so ergeben?« fragte Eadulf ein wenig zynisch.

Der Krieger lächelte.

»Ich bin Cashel sehr ergeben, Bruder. Aber vielleicht erinnerst du dich auch daran, daß ich persönliche Gründe habe, dir auf diese Weise zu dienen.«

»Ah.« Eadulfs Augen leuchteten auf, als ihm wieder einfiel, daß Gorman ja in Sarait verliebt gewesen war.

»Daraus werde ich keinen Hehl machen. Ich möchte dabei sein, wenn Saraits Mörder gefaßt wird. Ich habe noch eine Rechnung mit ihm offen. Hat Uaman sie umgebracht?«

»Nein. Aber er war es, der dem Kräutersammler und seiner Frau mein Kind abgekauft hat. Das ist alles sehr mysteriös. Jemand muß herausgefunden haben, daß der Kräutersammler und seine Frau mein Kind mitgenommen haben, das da so einsam und verlassen im Wald lag. Diese Person hat Uaman davon benachrichtigt. Soviel habe ich in Uamans Turm erfahren.«

Erstaunlicherweise war Gorman darüber nicht überrascht.

»Ich glaube nicht, daß wir den Schuldigen lange suchen müssen. Es gibt schon eine ganze Weile Gerüchte über Fiachrae von Cnoc Loinge. Er glaubt, daß er der rechtmäßige Nachfolger der Eoghanacht-Könige ist. Er hält sich auch immer wieder sehr nah an der Grenze zu den Ui Fidgente auf.«

»Fiachrae?«

Plötzlich richtete sich Eadulf auf und stieß auf Sächsisch einen Fluch aus. Gorman verstand ihn nicht, doch er verstand den Tonfall und sah Eadulf ein wenig erstaunt an.

»Die ganze Zeit über war die Lösung zum Greifen nahe«, stöhnte Eadulf. »Capa erzählte uns auf dem Treffen des Kronrates, daß am Morgen nach Saraits Ermordung mehrere Reiter nach Cnoc Loinge aufgebrochen waren. Als wir dann in Cnoc Loinge eintrafen, tat Fiachrae so, als wisse er nichts von der Entführung unseres Kindes. Doch schien er nicht wirklich davon überrascht zu sein. Er sagte mir, daß keine fremden Reisenden durch sein Dorf gekommen seien. Ich habe ihn gar nicht danach gefragt. Er wußte es. Er wußte es, er ist derjenige, der Alchu an Uaman verraten hat! Und hat mir nicht der Verwalter der Abtei von Colman erzählt, daß ihm ein Bote aus Cnoc Loinge die Kunde von dem entführten Kind gebracht hat. Es muß Fiachrae gewesen sein ... Aber nein. Das kann nicht sein. Woher sollte er wissen, daß Corb und Corbnait Alchu mitgenommen hatten? Nicht einmal sie wußten, wer das Kind ist.«

»Du hättest dich ein wenig länger mit dem Kräutersammler unterhalten müssen«, stellte Gorman fest. »Er sagte mir, daß sie in Cnoc Loinge einer Frau aus Fiachraes Haus erzählt hätten, daß sie ein Kind gefunden hatten, von dem sie hofften, daß jemand es adoptieren würde.«

»Für seinen Verrat wird Fiachrae verurteilt und bestraft werden«, schwor sich Eadulf. »Aber das hilft uns jetzt nicht, mein Kind oder den Mörder von Sarait zu finden.«

»Ich flehe zu Gott, daß er mich dabei sein läßt, wenn wir den Mörder aufspüren«, sagte Gorman voller Inbrunst. »Ich werde tun, was ich tun muß, und es wird mir nicht leid tun.«

»Ich bereue es sehr, daß Uaman sein Geheimnis mit ins Grab genommen hat.«

»Uaman muß doch etwas gesagt haben, was dir weiterhelfen kann, oder?« fragte Gorman eindringlich. Auf einmal sprang er auf. »Vielleicht befindet sich das Baby immer noch in Uamans Turm?«

Eadulf schüttelte den Kopf. »Er hat das Baby einem Schäfer und seiner Frau gegeben, die werden es auf-ziehen, ohne seine Herkunft zu kennen. Es wird in irgendeinem Gebirge als Schäfer aufwachsen . Aber wo? Es würde ein ganzes Leben dauern, die Berge dieses Landes nach ihm abzusuchen. Seine neuen Eltern wissen nur, daß das Kind von Uaman kam. Es gibt keine Möglichkeit festzustellen, wer der Junge ist. Er wird einen anderen Namen tragen.«

»Woher weißt du das alles?«

»Das hat mir Uaman verraten.«

»Ich habe Lady Fidelma einmal sagen hören, daß man, wenn man die Worte, die jemand geäußert hat, genauer untersucht, daraus allerlei Schlüsse ziehen könnte.«

Eadulf blickte den Krieger erstaunt an. Der Mann hatte recht. Genau das würde Fidelma sagen.

»Denk nach, Bruder«, sagte Gorman. »Erinnere dich an seine Worte.«

Eadulf schloß die Augen und versuchte es.

»Er nannte keinen Ortsnamen. Gab keine Hinweise auf eine bestimmte Gegend. Er sagte nur, daß Alchu von einem Schäfer und seiner Frau großgezogen und im Gebirge Schafe hüten würde.« Eadulf verstummte.

»Ist dir gerade etwas eingefallen?«

»Er sagte etwas von einem Gebirge, in dem es spukt.«

Gorman lächelte bitter. »In welchem Gebirge in den fünf Königreichen gibt es nicht irgendwelche Geister? Die Berge sind alt und haben unzählige Könige kommen und gehen sehen, die nun weggeweht sind wie die Spreu vom Weizen. Sie haben ein Gedächtnis, diese Berge. Dort spukt es wirklich.«

»Uaman meinte, dort würde die Tochter von jemanden spuken.«

Gorman neigte sich rasch vor. »Das klingt gut, Bruder. Wessen Tochter?«

Plötzlich wußte Eadulf den Namen wieder.

»Daire Donn«, sagte er triumphierend. Erwartungsvoll blickte er Gorman an, der aber nur den Kopf schüttelte.

»Wir werden uns danach erkundigen müssen«, sagte er. »Doch nun sollten wir erst einmal schlafen. Wenn ich deinen Freund Basil Nestorios recht verstanden habe, werden wir morgen bei Ebbe sein Pferd und ein paar wertvolle Habseligkeiten aus dem Turm holen.«

Eadulf stimmte ihm zu. Dann fiel ihm noch etwas ein.

»Wir haben doch einen von Uamans Kriegern in der Zelle des Persers eingesperrt. Vielleicht könnte er uns zu Alchu führen.«

»Morgen, wenn wir auf den Wechsel der Gezeiten warten, kann ich zu der kleinen Siedlung hinaufreiten, die ich im Gebirge hinter uns entdeckt habe. Die werden sich bestimmt freuen, daß Uaman nicht mehr ihr Stammesfürst ist. Außerdem könnten sie uns bei der Suche nach diesem Daire Donn helfen«, sagte Gorman gutgelaunt.

»Einverstanden.«

Eadulf spürte auf einmal, daß der Rest der Nacht eisig werden würde, obwohl Gorman ständig Holz ins Feuer warf.

Die Nacht verbrachten sie in unruhigem Schlaf. Wer gerade wach wurde, kümmerte sich um das Feu-er. Außer der schneidenden Kälte wurden sie von den Lauten wilder Tiere gestört. Irgendwo heulten Wölfe, und der Schrei einer Wildkatze drang durch das Dik-kicht. Eadulf war erleichtert, als sich der nächste Morgen mit düsteren, grauen Streifen am östlichen Himmel ankündigte.

»Heute abend suchen wir uns ein Gasthaus«, sagte er, als Gorman das Frühstück vorbereitete. »Noch so eine Nacht im Freien halte ich nicht aus.«

Auch Basil Nestorios hatte sich bereits erhoben und vertrat sich die Beine.

»Nie hätte ich geahnt, wie kalt es hier werden kann«, sagte er auf Lateinisch, der Sprache, in der sie sich alle drei verständigten. »In meiner Heimat kann die Nacht zwar sehr kalt sein, aber schon bei Sonnenaufgang wird einem wieder richtig warm.«

Eadulf deutete auf die dicken grauen Wolken über ihnen.

»Hier ist das anders, mein Freund.«

Gorman hatte ein paar Scheiben gepökeltes Schweinefleisch aus seiner Satteltasche genommen, es auf seine Schwertspitze gespießt und wendete es nun über dem Feuer. Basil Nestorios rümpfte argwöhnisch die Nase.

»Mir ist aufgefallen, daß ihr in diesem Land viel Schweinefleisch eßt. Bei uns gilt das Schwein als unrein.«

»Ein eigenartiges Land, dieses Jundishapur«, murmelte Eadulf, nahm einen Schluck corma aus dem Trinkhorn und reichte es dann dem Arzt. Der Alkohol würde ihn wenigstens von innen wärmen.

Basil Nestorios sah ihn abschätzig an.

»Ich habe dir doch schon gesagt, daß Jundishapur nur eine Stadt im Land Persien ist. Sie wird auch Genta Shapirta genannt, was >vom schönen Garten< bedeutet. Der König von Persien, mit zweitem Namen Shapur, erlaubte den Nestorianern als erster, in der Stadt Medizin zu lehren.«

»Den Nestorianern? Aber dein Name ist Nestorios«, erklärte Eadulf. »Was hat das zu bedeuten?«

Basil Nestorios zog überrascht die Augenbrauen hoch. »Du bist ein christlicher Mönch und hast noch nie von den Nestorianern gehört?«

Eadulf nickte.

»Nestorios war ein Mönch im Osten. Er lehrte in Antiochien den christlichen Glauben. Er war ein gebildeter und weiser Mann und ist zum Patriarchen der großen Stadt Konstantinopel ernannt worden.«

»Wann war das?« erkundigte sich Eadulf, der nie eine Möglichkeit ausließ, sein Wissen zu erweitern, auch wenn er mit den Gedanken nur halb bei der Sache war.

»Vor zwei Jahrhunderten, im Jahre 428. Nestorios wurde später der Häresie, wie es die Kirche nennt, beschuldigt. Er leugnete die Verschmelzung der göttlichen und der menschlichen Natur in Christus.«

Eadulf lächelte müde. »Ich dachte, daß sich das große Konzil von Chalcedon 451 darauf geeinigt hätte, daß Christus von einer sterblichen Frau geboren wurde, aber zwei Naturen in sich vereinte - die göttliche und die menschliche, ohne das sie ihre Wesenszüge verlieren.«

Basil Nestorios tat die Sache mit einem Schniefen ab. »Das ist das Dogma von Rom und Konstantinopel. Sie sprechen sogar von den drei göttlichen Naturen neben der menschlichen - der von Gott, Christus und dem Heiligen Geist.«

»Nun, die Menschen hier haben kein Problem damit, an dreieinige Götter und Göttinnen zu glauben, da können sie auch leicht die Heilige Dreifaltigkeit akzeptieren.«

Basil Nestorios schüttelte traurig den Kopf. »Wir glauben, daß es in Christus eine göttliche und eine menschliche Natur gibt, die sich aber nicht zu einer Person verbunden haben.«

»Das sind altbekannte Argumente«, entgegnete Eadulf. »Hat nicht Arius behauptet, daß Christus nicht vollkommen göttlich war, sondern von Gott geschaffen wurde, um uns zu erlösen? Und da gibt es noch die Gnostiker, die behaupten, daß Christus nie ein Mensch war, seine menschliche Erscheinung nur eine Illusion war, damit er unter den Menschen leben konnte. Außerdem sind da noch jene, die meinen, daß Christus ein ganz normaler Mann gewesen sei, der von Gott an Sohnes Statt angenommen wurde, als er im Jordan getauft wurde. Es gibt viele solcher Theorien.«

Basil Nestorios schien unbeeindruckt zu sein.

»Maria kann nicht die Mutter eines Gottes sein, weil sie selbst aus menschlichem Fleisch und Blut war und nichts Göttliches gebären konnte. Doch die Leute, schwach und menschlich wie sie waren, lehnten die logischen Gedankengänge von Nestorios ab.«

»Was geschah dann?«

»In der Stadt Ephesus tagte im Jahre 431 eine Synode, und Bischof Cyril exkommunizierte Nestorios und seine Anhänger. Kaiser Theodosius wies Nestori-os aus dem Land. So hat sich unsere Kirche, das sind all jene, die den Lehren von Nestorios anhängen, verselbständigt und ist gewachsen. Wir haben den Glauben bis tief in den Osten verbreitet, bis hinter die große Gebirgskette, die die fremden und exotischen Länder dahinter beschützt. Wir haben die Lehre durch die Wüsten getragen, und Jundishapur ist eines der größten Zentren unserer Lehre.«

Eadulf war fasziniert. »Ich habe noch nie von dieser Kirche gehört, deren Namen du trägst.«

»Nun ja, mein Freund, ich hatte auch nicht gewußt, daß die Kirche in diesem Land hier sich so von dem Diktat Roms abhebt. Man kann nicht alles auf Erden kennen. Aber wir müssen unseren Verstand offen halten und empfänglich sein für das, was wir erfahren können.«

»Da stimme ich dir zu.«

Gorman war mit den Vorbereitungen zum Frühstück fertig.

»Ich habe euch nicht ganz folgen können«, gestand er. »Ich kann nur ein paar Worte Latein. Vermutlich habt ihr euch über theologische Dinge unterhalten, nicht wahr?«

Eadulf lächelte. »Das klingt ja nicht gerade begeistert.«

Gorman griff nach dem corma. »Religion immer dann, wenn sie dran ist, Bruder Eadulf.«

»Und das wäre?«

»Gewöhnlich in Zeiten der Not. Es gibt doch das alte Sprichwort, wenn es allen gut geht, sieht man von keinem Altar Rauch aufsteigen, nicht wahr? Ich wende mich wie jeder andere der Religion zu, wenn es vonnöten ist.«

Eadulf schaute ihn mißbilligend an. »Eine sehr pragmatische Haltung.«

Gorman sah über das Wasser hinüber, wo immer noch dunkel und finster der Turm auf der Insel stand.

»Die Fackeln schwelen nur noch«, stellte er fest. »Sie sind abgebrannt. Die Tore stehen noch offen. Das bedeutet, daß dort niemand mehr herumläuft. Wenn die Ebbe einsetzt, können wir hinübergehen und die Habseligkeiten unseres fremden Freundes holen.« Er zeigte auf Basil Nestorios.

»Sehr gut. Von welcher Siedlung hast du gestern nacht gesprochen? Wenn man uns dort etwas über Daire Donn sagen kann, könnten wir unsere nächsten Schritte festlegen.«

»Ich werde hinreiten, ihr brecht das Lager hier ab«, stimmte ihm der junge Krieger zu.

Es verstrich einige Zeit, bis er wiederkehrte. Er preschte heran, als würde ihn jemand verfolgen. Vor ihnen riß er abrupt die Zügel herum und sprang vom Pferd.

»Was ist los?« rief Eadulf und sah besorgt hinter ihn.

»Ich mußte mich beeilen, um euch zu warnen«, erwiderte Gorman. »Die Leute wollen Uamans Turm plündern und dann niederbrennen, jetzt, wo sie wissen, daß er keine Gefahr mehr für sie darstellt. Sie bereiten sich zum Aufbruch vor, trinken sich Mut an und feiern ausgelassen. Wir müssen vorher zum Turm und alles retten, was wichtig ist.«

Eadulf schaute zu Basil Nestorios und dolmetschte ihm rasch, was er erfahren hatte.

»Und wir müssen vorher diesen Krieger aus der Zelle holen«, fügte Basil Nestorios hinzu. »Ich hätte ihn fast vergessen. Er kann uns nicht mehr gefährlich werden. Ich möchte nicht, daß noch jemand stirbt. Noch wertvoller ist meine Kiste mit der Medizin. Die sollte lieber nicht in die Hände von Leuten fallen, die ihren Wert nicht einschätzen können.«

Gorman hatte sein Pferd neben Eadulfs angebunden.

»Laßt uns aufbrechen. Uaman hat diese Gegend mit eiserner Hand regiert«, meinte er und drehte sich um. »Als ich den Leuten in der Siedlung erzählte, daß er tot ist, wurden sie vor Freude ganz ausgelassen. Diese Freude schlug bald in Zorn um. Also sollten wir uns beeilen. Das Wasser steht jetzt so niedrig, daß wir hinüberkönnen.«

»Nehmen wir die Pferde mit?«

»Es ist besser, wenn wir sie hierlassen. Wir müssen ja noch andere Tiere vom Turm herführen. Und der Dünen weg wird für sie nicht leicht werden. Die Bewohner der Siedlung werden bald hier sein.«

Als sie über die Sanddüne zum Turm hinübereilten, mußte Eadulf noch einmal an Uamans Untergang denken. Ihm lief ein kalter Schauer über den Rücken, die Leiche des Leprakranken war ganz in der Nähe in den weichen Sand hinuntergezogen worden. Er zitterte unwillkürlich und blickte zu Gorman, der voranging.

»Konntest du nach den Bergen fragen, in denen es angeblich spukt?«

Der Krieger zeigte ein breites Lächeln.

»Keine Sorge, Bruder. Das habe ich gleich als erstes erledigt. Und ich hatte auch Erfolg.«

Eadulfs Herz fing an zu klopfen.

»Und?« fragte er ungeduldig.

»Ihnen war Daire Donn bekannt. Einer alten Legende nach war er der König der Welt und ging mit einer großen Armee auf dieser Halbinsel an Land. Der General des Hochkönigs, Fionn Mac Cumhail, stellte sich ihm entgegen, und es kam am Ende der Halbinsel bei dem Ort Fionntragha zu einer blutigen Schlacht.«

»Wie hilft uns das weiter?« fragte Eadulf ungeduldig.

»Daire Donn wurde besiegt und seine Armee geschlagen. Aber er hatte eine Tochter, die wahnsinnig wurde, als sie ihren Vater niedergemetzelt auf dem Schlachtfeld fand, und in die Berge floh. Es heißt, daß ihr Geist dort umgehen soll.«

»Weiter«, bedrängte Eadulf ihn.

»Diese Tochter hieß Mis.« Gorman zeigte mit dem Daumen hinter sich. »Die Bergspitzen dort sind nach dem höchsten Berg benannt, dem Sliabh Mis - dem Berg von Mis. Dein Sohn befindet sich in diesem Gebirge.«

Eadulf blieb stehen und sah sich um. Seine Augen blickten auf die Gipfel hinter sich, von denen einige bestimmt tausend Meter hoch waren.

»Irgendwo dort, irgendwo in diesen Bergen ist Alchu«, flüsterte er. »Aber wo? Wie sollen wir einen einzelnen Schäfer in solch einem Gebiet nur finden?«

»Es scheint einen Weg zu geben«, verkündete Gorman. »Hinter uns Richtung Norden befindet sich ein Tal, dessen Zugang durch einen alten, aufrecht stehenden Stein markiert wird. Wir folgen dem Fluß in diesem Tal so lange, bis wir an einer Furt einen weiteren Stein finden, auf dem eine Inschrift in der alten Sprache Ogham steht. Man hat mir gesagt, daß ich dort auf einen alten Mann namens Ganicca treffen kann. Angeblich kennt er die Berge sehr gut. Wir werden ihn fragen.«

Eadulf jauchzte vor Freude. Dann erklärte er dem Arzt, was Gorman erzählt hatte.

»Wohin wirst du reisen, wenn wir von hier aufbrechen?« fragte er ihn dann.

Basil Nestorios dachte eine Weile nach.

»Ohne Bruder Tanaide habe ich niemanden, der mich führt. Mit deiner Erlaubnis, Freund, werde ich bei dir und diesem Krieger bleiben und bei der Suche nach deinem Kind behilflich sein. Später begleite ich euch zurück in eure Hauptstadt Cashel. Dann werde ich sehen, was sich noch ergibt.«

Eadulf klopfte ihm auf die Schulter.

»Es ist gut, daß du bei uns bleibst.«

Sie waren am Tor des Turmes angelangt. Es stand immer noch offen. Davor lagen die Leichen der beiden Krieger von Uaman. Gorman schaute sich um.

»Die würde ich den Bewohnern der Siedlung überlassen, Bruder«, sagte er, als er sah, daß Eadulf sie wegziehen wollte. »Machen wir lieber das, was Vorrang hat.«

»Ich werde in die Räume des Bösen gehen und meine Kiste holen«, sagte der Arzt darauf.

»Und ich gehe mit Gorman zu deiner Zelle. Wir treffen uns später am Stall.« Eadulf zeigte auf die Holzhütte an der Seite des Hofes. Basil Nestorios stimmte zu und verschwand. Eadulf führte Gorman durch den schmalen Gang bis zur Zellentür. Er klopfte an.

»Hörst du mich?« rief er.

Eine gedämpfte Stimme antwortete überrascht. »Ja. Laß mich raus.«

»Das machen wir auch. Aber Widerstand ist zwecklos. Dein Herr ist tot. Verstehst du? Uaman ist tot. Deine Kameraden sind alle tot. Willst du am Leben bleiben?«

Nun herrschte Schweigen.

»Hast du gehört?«

»Ich habe gehört«, sagte die Stimme.

»Die Leute aus der Bergsiedlung werden bald hier sein. Sie wollen diesen Hort des Bösen zerstören. Wir lassen dich frei, geben dir ein Pferd, der Rest ist deine Sache. Hast du verstanden?«

»Ja.«

Eadulf sah Gorman an, der mit gezücktem Schwert bereitstand. Dann zog er die Riegel zurück und stieß die Tür auf.

Einen Moment später trat Uamans Krieger unbewaffnet heraus. Er wirkte erschöpft und müde.

»Folge uns zum Stall, und unternimm nichts, es ist aussichtslos«, sagte Eadulf zu ihm.

»Du hast mein Wort«, knurrte der Mann.

Sie waren zuerst am Stall. Dort standen acht Pferde.

»Nimm dir das Pferd, das dir gehört, und mach dich aus dem Staub, ehe die Leute hier sind.«

Der Krieger sattelte schweigend sein Pferd und führte es in den Hof hinaus. Er zögerte einen Moment, dann sagte er zu Eadulf: »Vielen Dank, Bruder.«

»Danke mir besser, indem du mir etwas über meinen Sohn verrätst, den dein Herr irgendwo hingebracht hat«, erwiderte Eadulf, der gar nicht damit rechnete, etwas Wertvolles zu erfahren. Der Krieger verzog das Gesicht.

»Ich war nicht mit Uaman unterwegs, als das geschah. Ich habe nur gehört, daß er vor ungefähr einer Woche einem Kräutersammler ein Kind abgekauft und es dann selbst ins Gebirge gebracht hat. Am nächsten Tag kehrte er ohne das Baby zurück. Ich habe ihn nicht gefragt, was er damit gemacht hat. Niemand hat sich jemals getraut, Uaman Fragen zu stellen. Darf ich nun gehen, Bruder?«

Eadulf winkte ihn fort. »Wenn du jetzt wegreitest, so denke daran, daß du dein Leben der Gnade der Eoghanacht verdankst, denen du dankbar und ergeben sein solltest.«

Der Krieger schwang sich auf sein Pferd, hob die Hand und ritt schnell durch das Tor und über den Dünenweg davon.

Kurz darauf kehrte Basil Nestorios mit großen merkwürdig gemusterten Satteltaschen zurück. In einer der Taschen befand sich die Kiste mit den Arzneien. Der Arzt lächelte.

»Ich habe alles.« Er streckte die Hand aus und zeigte mehrere Goldstücke vor. »Die habe ich als Lohn für meine Dienste genommen. Genau das hat er mir geschuldet. Da ist noch viel mehr davon, wenn ihr wollt. Doch dieses Gold ist verflucht. Ich würde es eher den Menschen aus der Siedlung überlassen, die unter dem Bösen so gelitten haben.«

Eadulf schaute zu Gorman hinüber. »Das sehe ich auch so«, sagte er.

»Dann wollen wir das Pferd des Fremden satteln«, erklärte Gorman.

Basil Nestorios zeigte auf zwei Pferde.

»Das dort ist mein Pferd, das andere hat Bruder Ta-naide gehört. Ich sollte es nach Laigin zurückbringen.«

Kurz darauf waren sie aufgezäumt. Die anderen Pferde ließen sie frei und sahen, wie sie über den Sand zum Ufer liefen.

Als sie selbst auf halbem Wege zum Festland waren, stürmte unter den Bäumen eine Meute mit Sicheln, Hippen und Knüppeln hervor. Die Leute schrien wie Jäger, die ihr Wild verfolgten. Gorman ging mit erhobener Hand auf sie zu.

»Friede, meine Freunde. Erinnert ihr euch, daß ich euch die Kunde von Uamans Tod überbracht habe? Das hier sind meine Gefährten, die er gefangenhielt.«

Ein stämmiger Mann, dessen Kleider ihn als einen Schmied auswiesen, schaute zu ihnen hinüber.

»Ich erkenne dich wieder, Krieger. Du und deine Begleiter, ihr braucht uns nicht zu fürchten. Reitet weiter, Friede sei mit euch.« Dann drehte sich der stämmige Mann zu seinen grölenden Mitstreitern um und winkte sie zum Turm weiter.

Eadulf und Gorman holten ihre Pferde, und gemeinsam mit ihrem persischen Freund ritten sie durch den Wald der Öffnung des hochgelegenen Bergtals entgegen, das in das dunkle Gebirge hineinführte.

Als sie über der Baumgrenze waren, wo es nur noch niedrige Büsche und Sträucher und weitläufige Heidekrautflächen gab, hielt Gorman an. Er schaute zurück, und die anderen folgten seinem Blick. Sie sahen von der Höhe herab auf die ruhige blaue See, die sich aus dieser Entfernung so sehr unterschied von den tosenden Fluten, die ihre Feinde mit sich gerissen hatten. Selbst die Insel mit dem grauen Turm wirkte friedlich von hier ... Außer daß schwarze Rauchwolken von dort aufstiegen. Die Bewohner der Siedlung nahmen Rache an der Festung von Uaman, dem Leprakranken, dem Bösen, wie Basil Nestorios ihn immer nannte.

Als sie zu dem kleinen Dorf an der Flußfurt gelangten, dämmerte es schon. Es war zu dunkel, sie konnten den aufrecht stehenden Stein nicht mehr suchen, der ihnen den Weg weisen sollte. Gorman machte vor einer kleinen Schmiede halt, in der ein einsamer Mann immer noch seiner Arbeit nachging und mit Hammer und Zange mehrere Hufeisen auf seinem Amboß bog.

»Wir suchen einen Mann namens Ganicca. Wohnt er hier irgendwo?«

Der Schmied betrachtete die drei Fremden.

»Ihr seid fremd in diesen Landen«, stellte er fest.

»So ist es.«

»Ganicca wohnt in der letzten Hütte dort drüben.« Der Schmied wies mit seinem Hammer auf drei Behausungen am Fluß.

Gorman bedankte sich, und sie ritten zu der besagten Hütte. Als sie davor hielten, rief Gorman nach dem Mann. Eine schwache, zittrige Stimme bat sie, einzutreten, und sie saßen von den Pferden ab.

In der Hütte war es hell und warm. Ein Feuer loderte in der Feuerstelle. Mehrere Öllampen spendeten Licht. Auf einem Stuhl am Feuer saß ein alter Mann. Ein kleiner Topf hing über den Flammen, aus dem es köstlich nach Fleisch und Gemüse duftete. Der Mann hatte weißes Haar und eine durchsichtig schimmernde Haut. Seine Augen waren sehr hell und von einer unbestimmbaren Farbe.

»Willkommen, Fremde«, sagte er.

»Gesegnet sei dieses Haus und seine Bewohner«, antwortete Eadulf förmlich.

Der Mann lachte freundlich. »In diese Gegend kommen nur selten Fremde. Du bist ein Mönch, wie ich sehe.«

»Ja. Wir suchen einen Mann namens Ganicca.«

»Und wer sucht ihn?« wollte der Alte wissen.

»Ich heiße Bruder Eadulf ...«

»Ah, der Ehemann von Lady Fidelma von Cashel, der Schwester von Colgu, dem König von Muman. Ich habe schon von Eadulf gehört. Und du sagst, daß du dieser Mann bist?«

»So ist es. Das ist Gorman, Krieger der Leibgarde von König Colgu. Und das hier ist Bruder Basil Nestorios aus dem fernen Persien. Ich nehme an, daß du Ganicca bist. Es heißt, du weißt alles, was in dieser Gegend wissenswert ist?«

Der Alte lachte wieder.

»Unter den Blinden ist der Einäugige König«, erwiderte er. »Kommt, meine Freunde, nehmt vor dem Feuer Platz, denn draußen wird es kalt. Wo werdet ihr übernachten? In der Dunkelheit werdet ihr kaum weiter durchs Gebirge reiten können.«

»Wir wollten ein Gasthaus oder eine Herberge aufsuchen. Gibt es eine in der Nähe?«

Ganicca schüttelte den Kopf. »Wir leben hier ganz abgeschieden. Es gibt keinen Grund, eine Herberge für Reisende zu betreiben, denn niemand kommt hier durch diese Berge, zumindest solange unser jetziger Herr hier herrscht.«

Ein bitteres Lächeln trat auf Eadulfs Lippen. »Meinst du Uaman?«

Der Alte sah ihn an. »Diesen Namen nimmt keiner gern in den Mund.«

»Mach dir keine Gedanken. Uaman, der Leprakranke, hat letzte Nacht das Zeitliche gesegnet. Als wir heute morgen von seiner Festung aufbrachen, stand sie in Flammen. Uaman wird nicht länger die Pässe dieses Gebirges unsicher machen.«

Der Alte starrte ihn lange und durchdringend an.

»Ich glaube, du sagst die Wahrheit, Eadulf. Nie hätte ich gedacht, so etwas zu hören, bevor ich in die andere Welt gehe. Du mußt mir alles darüber berichten. An meiner Hütte befindet sich ein kleiner Stall, wo ihr eure Pferde unterbringen könnt. Gleich daneben in der Scheune ist Heu für die Tiere. Im Topf kocht eine gute Suppe, ihr könnt es euch heute nacht in meiner Behausung bequem machen. Es ist alles sehr schlicht hier, aber es ist warm, und das ist allemal besser als draußen in der kalten Gebirgsluft.«

Gorman ging hinaus, um sich um die Pferde zu kümmern, während Eadulf dem Alten von ihrem eigentlichen Anliegen berichtete.

»Ich dachte mir schon, daß du mich nicht allein wegen Uamans Tod aufgesucht hast.« Ganicca lachte in sich hinein.

»Uaman hat mir und Fidelma unsägliches Leid zugefügt, vielleicht kannst du uns helfen, unser verschwundenes Kind wiederzufinden.«

Nachdem Eadulf ihm alles erklärt hatte, rieb sich Ganicca nachdenklich das Kinn.

»Dieser Paß führt durchs Gebirge«, sagte er. »Unser Dorf liegt abseits, aber ab und zu kommen Bergbewohner hier entlang, wenn von den Wanderpriestern Eheschließungen vorgenommen und die Kinder gesegnet werden oder Totenfeiern stattfinden. Solange Uaman Herrscher über diese Gegend war, wollte sich bei uns kein Priester ansiedeln. Von jenen Bergbewohnern weiß ich, was selbst an Orten hoch oben in den dunklen Bergspitzen passiert, die kaum einer von uns zu betreten wagt.«

»Gibt es in der Nachbarschaft einen Schäfer?«

Ganicca lachte, aber es klang nicht besonders fröhlich.

»Mein Freund, in dieser Gegend hier gibt es allein sechs Schäfer.« Er bemerkte Eadulfs Enttäuschung und berührte ihn leicht am Arm. »Kopf hoch. Die meisten von ihnen sind verheiratet und mit Kindern gesegnet. Etliche leben allein, zurückgezogen und einsam. Ich hörte allerdings von einem Schäferpaar, das schon lange verheiratet ist, aber bisher kinderlos blieb. Die Frau hatte vor knapp einem Monat eine Totgeburt und war ganz verzweifelt. Man sagte, daß sie und ihr Mann ihre Seelen verkaufen würden, um das Kind wieder zum Leben zu erwecken. Vielleicht solltest du diese Leute aufsuchen. Es ist gut möglich, daß Uaman sie ausgewählt hat. In ihrer Verzweiflung hätten sie ihn sicher nicht gefragt, woher das Kind stammt.«

»Wo leben dieser Schäfer und seine Frau?« fragte Eadulf aufgeregt.

»Flußaufwärts bis zum Ende des Tals, wo das Wasser die Berghänge herunterstürzt. Auf dem Berg nördlich befindet sich eine Reihe von alten Gräbern, so alt, daß sich niemand mehr erinnern kann, aus welchen Zeiten sie stammen. Südlich steigen die Berge steil an. Ihr müßt östlich über die Berge. Ein Paß führt euch in ein weiteres Tal, das von verschiedenen Bächen und Flüssen durchzogen wird. Auch der breite Strom An Fhionnglaise windet sich dort entlang. Weiter ostwärts werdet ihr auf einer Anhöhe auf zwei Behausungen stoßen. Dieser Ort heißt Gabhlan. Dort fragt ihr nach Nessan dem Schäfer und seiner Frau Muirgen.«

»Und wenn das Baby dort nicht ist?« wollte Eadulf wissen, der immer ein wenig pessimistisch dachte.

»Dann, mein Freund, dann bin ich überfragt«, erwiderte der Alte. »Doch nun berichte mir ... Berichte mir alles ganz genau ... Wie ist Uaman zu Tode gekommen? Das ist eine Geschichte, die man sich immer wieder und wieder in den Bergen erzählen wird, selbst noch zu einer Zeit, wenn das Kind, das du suchst, schon Kinder und Enkel hat.«

Der Abend verstrich in freundlicher Runde, und gegen Morgengrauen ritt die kleine Gruppe das Gebirgstal weiter hinauf.

Wäre der Weg gerade verlaufen, wäre er nicht länger als sechs Kilometer gewesen. Doch er folgte dem gewundenen Flußlauf und führte ständig auf und ab. Kurz vor Mittag erreichten sie die Anhöhe in dem Tal mit den vielen Bächen, genau wie Ganicca es ihnen beschrieben hatte. Auf dem Hang vor ihnen entdeckten sie mehrere Gebäude. Sie wurden von zwei Hütten dominiert, die durch mehrere Anbauten und einen Schafstall miteinander verbunden waren. Eadulf führte Gorman und Basil Nestorios dorthin. Als sie sich näherten, fingen Hunde an zu bellen.

Ein großer Mann trat aus einer der Hütten. Aus der anderen gesellte sich ein zweiter hinzu. Der größere der beiden hielt in seiner Linken einen Hirtenstab, wohl eher zur Verteidigung als zum Schafehüten. Die drei Reiter brachten ihre Pferde zum Stehen und saßen ab. Die neugierigen Augen des Schäfers musterten zuerst Eadulf, dann Nestorios und schließlich Gorman.

»Was sucht ihr hier, Fremde?«

»Heißt dieser Ort Gabhlan?« fragte Eadulf.

»Ja.«

»Wir suchen Nessan.«

Der Schäfer runzelte die Stirn und blickte seinen Gefährten an.

»Woher kennst du meinen Namen? Was willst du von mir?«

Eadulf beschloß, ihm ohne Umschweife die Wahrheit zu sagen.

»Uaman, der Aussätzige, ist tot. Wir kommen wegen des Kindes.«

Nun herrschte Schweigen. Das Seufzen einer Frau war zu hören. Kurz darauf kam eine Frau in mittleren Jahren aus einer der Hütten, vermutlich Nessans Ehefrau. Sie trat zu ihm und griff nach seinem Arm, als suche sie Halt.

»Stimmt das?« flüsterte sie. »Ist der Leprakranke tot?«

Auf einen Wink von Nessan war der zweite Mann wieder an seine Arbeit zurückgekehrt.

»Ich sage die Wahrheit«, erklärte Eadulf feierlich. »Das können meine Begleiter bezeugen.«

Die Frau des Schäfers stieß einen langen Seufzer aus. Niedergeschlagen ließ sie die Schultern sinken.

»Ich heiße Muirgen. Die ganze Zeit über habe ich geahnt, daß dieser Tag kommen würde, auch wenn ich aus Selbstsucht gebetet habe, daß er nicht so bald nahen möge. Aber von dem Moment an, als mein Mann mit dem Kind aus dem Wald kam und sagte, daß Ua-man es uns gegeben habe, habe ich es geahnt.«

Nessan legte schützend einen Arm um sie. »Sei vorsichtig, Frau. Wir wissen nicht genau, wer diese Fremden wirklich sind, vielleicht Uamans Diener, die unsere Treue prüfen wollen. Mein Nachbar ist aber in Hörweite, also seid auf der Hut, Fremde. Seine Hunde sind sehr scharf.«

Eadulf lächelte betrübt. »Es ist dein gutes Recht, mißtrauisch zu sein, mein Freund. Ich versichere dir, daß wir nicht Uamans Anhänger sind; er ist wirklich tot.«

Muirgen blickte ihn prüfend an. »In deinen Augen«, sagte sie plötzlich, »finde ich die des Kindes widergespiegelt.« Sie drehte sich zu den beiden anderen Fremden und nickte langsam. »Sie sehen nicht so aus, als würden sie mit dem Leprakranken unter einer Decke stecken. Selbst der, der wie ein Ausländer aussieht, hat etwas Freundliches in seinem Blick.«

»Du beobachtest sehr gut, Muirgen«, meinte Eadulf. »Ich bin Eadulf. Ich bin der Vater des Kindes, das von Uaman gestohlen wurde.«

Muirgen trat näher an ihn heran und schaute ihm erneut in die Augen.

»Mir war klar, daß Uaman das Kind irgendwo gestohlen haben mußte. Ich habe mich um den Kleinen gekümmert, so als sei er mein eigen. Er ist gewachsen und gediehen, ganz gewiß, Bruder.«

Eadulf nickte, irgendwie hatte er Mitgefühl mit der Frau.

»So bring ihn her zu mir.«

»Ehe du ihn mir nimmst, nenne mir doch seinen Namen.«

Eadulf zögerte. »Sein Name ist Alchu, und wie ich schon sagte, er ist mein Sohn. Mein Sohn und der von Fidelma von Cashel, Schwester von Colgu, König von Muman.«

Nessan stieß einen Pfiff aus. Seine Frau senkte nachdenklich den Kopf.

»Das erklärt viel. Uaman war ein Ui Fidgente. Deshalb hat er darauf bestanden, das Baby Dioltas zu nennen.«

»Rache?« fragte Eadulf erbittert. »Das paßt zu seiner grausamen, kranken Seele. Komm, ich will jetzt das Kind sehen.«

Er trat einen Schritt auf die Hütte zu, doch Nessan hielt ihn am Arm zurück.

»Was wird mit uns geschehen, Bruder Eadulf? Was wird mit mir und meiner Frau geschehen? Wird Colgu von Cashel uns bestrafen?«

Mitfühlend betrachtete Eadulf die beiden und schüttelte den Kopf.

»Für mich ist das, was ihr getan habt, kein Verbrechen, für das man bestraft werden muß. Uaman, der sich zum Herr dieser Berge ernannt hat, hat euch das Kind gegeben. Er hat euch gesagt, daß ihr euch darum kümmern sollt, und ihr habt es getan. Was ist daran ein Verbrechen?«

Nessan seufzte tief und hob flehend eine Hand.

»Wir hatten uns so sehr ein Kind gewünscht, und unsere Gebete sind nie erhört worden.«

»Gibt es denn keine Waisenkinder, die euren Beistand und eure Liebe benötigen?« mischte sich Gor-man ein. »Ich hätte gedacht, euer Stammesfürst müßte euch in dieser Sache helfen können. Es ist doch immer ein dilechta oder Waisenkind da, das ein neues Zuhause braucht.«

»Niemand würde einem Schäfer ein Kind geben. Ich bin nur ein sen-cleithe, ein Hirte, der nicht einmal eine eigene Herde hat. Keiner ist von noch niedrigerem Stand als ich, außer diejenigen, die ihre Rechte verloren, weil sie das Gesetz übertreten haben, die Feiglinge und die Gefangenen. Ich darf keine Waffen tragen und habe keine Stimme in der Clanversammlung.«

»Wir konnten uns nie an den Fürsten der Corco Duibhne wenden, weil Uaman jahrelang über die Pässe dieser Halbinsel herrschte. Ist er denn wirklich tot?« fragte Muirgen erneut.

»Uaman ist wirklich tot«, wiederholte Eadulf in feierlichem Ernst, um das Ehepaar zu beruhigen. Gor-man stand hinter ihm und hüstelte ungeduldig.

»Wir vergeuden unnötig Zeit, Bruder Eadulf«, murmelte er.

Sofort drehte sich die Frau um und eilte in die Hütte. Als sie wieder herauskam, trug sie Alchu auf den Armen. Tränen standen in ihren Augen, als sie auf das schlafende Kind niederblickte. Dann übergab sie es Eadulf.

Eadulf betrachtete das Baby, auch ihm rannen nun Tränen über die Wangen. Die Kehle war ihm wie zugeschnürt, als er seinen Sohn sah, den er beinah verloren geglaubt hatte. Er schniefte und versuchte zu lächeln und seine Tränen zurückzuhalten.

»Du hast gut für ihn gesorgt, Muirgen«, sagte er schließlich.

Sie senkte den Kopf. »Ich habe mein Bestes getan.«

»Wenn ich wieder in Cashel bin, werde ich mit dem obersten Brehon über eure Angelegenheit sprechen. Vielleicht werden eure Gebete erhört. Man muß doch etwas für euch tun können.«

Ihre Gesichter verrieten, daß sie ihm kaum zu glauben wagten, aber sie lächelten höflich. Er gestattete der Frau, sich einen Augenblick von dem schlafenden Baby zu verabschieden. Da stellte sich Basil Nestorios neben ihn.

»Das ist sicher dein erstes Kind, sächsischer Bruder?«

Eadulf schaute verwirrt drein, aber er bejahte die Frage. Der Arzt lächelte.

»Das habe ich mir gedacht. Wie weit ist es nach Cashel? Werden wir mehrere Tage reiten?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Du hast sicher vor, das Kind auf dem Pferd mitzunehmen, oder? Für ein so kleines Baby ist eine solche Reise nicht angenehm. Es ist nicht gut, ein Baby so durchzuschütteln.«

»Wir werden langsam reiten. Vielleicht können wir bei der Abtei von Colman einen Wagen bekommen. Das wird dann leichter für ihn.«

Der Arzt lächelte immer noch. »Und wie wird das Kind gefüttert?« fragte er. »Brauchst du nicht eine trophos?«

Eadulf hatte das griechische Wort noch nie zuvor gehört. »Füttern?« Dann dämmerte es ihm. Auf der Reise von Cashel zur Abtei von Colman hatte ja die Frau des Kräutersammlers das Kind gestillt. Natürlich, sein Sohn benötigte für die Rückreise eine Amme. Er blickte zu Muirgen und dem Baby hinüber. Die Lösung schien ganz einfach. Das brachte ihn plötzlich auf einen anderen Gedanken, und er wandte sich an Gorman.

»Du hast doch erzählt, daß du bei Cnoc Äine gekämpft hast. Callada, Saraits Mann, ist dort gefallen, nicht wahr?«

Der Krieger nickte ungeduldig. »So ist es, Callada fiel in der Schlacht bei Cnoc Äine.« Er blickte zum Himmel hinauf. »Wenn wir noch vor Einbruch der Dunkelheit in dem Dorf an der Furt sein wollen, müssen wir bald aufbrechen, Bruder Eadulf.«

»Wann fand die Schlacht statt?« fragte Eadulf beharrlich weiter. »Hilf mir doch auf die Sprünge.«

»Sie fand im Monat von Dubh-Luacran statt, der dunkelsten Zeit des Jahres«, antwortete Gorman verwirrt.

Eadulf gestikulierte ungeduldig mit der Hand. »Aber wann? Vor wieviel Jahren?«

»In genau zwei Monaten wird die Schlacht zwei Jahre her sein.«

Eadulf atmete hörbar aus.

»Wir müssen los, Bruder«, drängte Gorman noch einmal.

Eadulf riß sich von seinen Gedanken los und lächelte Basil Nestorios zu. Auf einmal war er wieder zuversichtlich und voller Energie.

»Vielen Dank für deinen Rat, mein Freund. Trophos, he?« Er wandte sich an die Frau des Schäfers. »Muirgen, man hat mich gerade daran erinnert, daß sich jemand um mein Kind kümmern muß. Könntest du Alchu auf der Rückreise nach Cashel stillen? Du wirst für deine Mühe gut belohnt werden.«

Die Frau war von dem unerwarteten Angebot überrascht. Sie sah zu ihrem Mann hinüber.

»Mein ganzes Leben lang habe ich diese Berge nicht verlassen«, fing sie an.

»Dein Mann darf dich begleiten, und ich verspreche dir, ihr sollt es beide nicht umsonst tun. Für eure sichere Heimkehr später werdet ihr eine Eskorte erhalten«, versprach Eadulf, um einem weiteren Einwand vorzubeugen.

»Und wir werden entschädigt dafür?« fragte Nes-san nachdenklich.

»Ich werde euren Fall Brehon Dathal vortragen«, räumte Eadulf ein.

Der Schäfer und seine Frau tauschten einen Blick aus, in dem stilles Einverständnis lag.

»Meine Schafe stehen für den Winter auf der unteren Weide. Ich muß nur meinem Nachbarn Bescheid geben, daß wir eine Weile fort sein werden und daß wir ihm seine Dienste entgelten werden. Ein paar Wochen kann ich schon von hier weg.«

Eadulf schob seine Hand in den Lederbeutel, den er an seinem Gürtel trug, und holte zwei screpalls raus.

»Gib ihm das hier dafür.«

Nessan eilte davon. Sein Nachbar und dessen Frau waren neugierig aus ihrer Hütte getreten. Bald war man sich einig. Kurz darauf setzte sich die Gesellschaft zu dem ersten Abschnitt der Reise nach Cashel in Gang. Muirgen mit dem in ein Tuch geschlungenen Baby saß auf Basil Nestorios’ zweitem Pferd, das er von seinem Sattel aus am Zügel führte. Nessan hatte direkt hinter Gorman Platz genommen. Eadulf ritt an der Spitze der Gruppe.

Eadulf war in Hochstimmung. Er hatte das Gefühl, etwas Großes vollbracht zu haben. Er hatte Alchu wieder - sein Kind -, und das ganz allein durch seine Bemühungen und seinen Verstand. Er lächelte, als er sich an die Worte seines Vaters erinnerte, der vor ihm Friedensrichter im Land des Südvolks gewesen war. »Denk daran, mein Sohn, wenn du dein Schwert erhebst, so reicht es nicht, es nur auf das Ziel zu richten. Du mußt das Ziel auch treffen.« Mit nichts als einer vagen Vorstellung von seinem Ziel war er aus Cashel fortgeritten. Nun kehrte er zurück und hatte das erreicht, was ganz Cashel seit mehr als über einer Woche nicht gelungen war. Er konnte Fidelmas Lieblingsphilosophen zitieren, wenn er sie wiedersah. Was hatte Publilius Syrus geschrieben? Große Flüsse kann man an der Quelle überspringen. Er hatte die Quelle gefunden und war über den großen Fluß gesprungen und würde nun erfolgreich heimkehren.

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