Kapitel 6

Am nächsten Vormittag ritten Fidelma und ihr kleiner Trupp Richtung Westen. Seit den harschen Worten am Vorabend hatte sie kaum mit Eadulf gesprochen. Das Schweigen wurde langsam unangenehm. Capa hatte sie nur mitgeteilt: »Ich habe vor, nach Cnoc Loinge zu reiten, zum Schiffsberg. Wir werden ein paar Stunden unterwegs sein.«

Capa hatte dagegen protestiert.

»Das ist doch eine tote Gegend, Lady Fidelma.«

»Mit Ausnahme des Jahrmarkts, den ich gern besuchen möchte.«

Capa war überrascht davon, sagte aber nichts weiter. Nach einer Weile besann sich Fidelma jedoch und weihte ihn und seine Männer in die Gründe ihrer Reise nach Cnoc Loinge ein.

Capa war ganz offensichtlich nicht begeistert.

»Du meinst also, daß dieser Zwerg Forindain meine Schwägerin aus der Burg gelockt hat? Ein Aussätziger? Und wir reiten jetzt nach Cnoc Loinge wegen der Spielleute, unter denen sich möglicherweise Fo-rindain versteckt hält? Das ist doch pure Zeitverschwendung.«

»Dennoch reiten wir aus diesem Grund dorthin«, verkündete Fidelma mit entschlossener Stimme.

Capa blickte zu Eadulf, der bisher geschwiegen hatte. Ihm war sofort aufgefallen, daß zwischen Eadulf und Fidelma etwas nicht stimmte. Er schaute beide besorgt an, schwieg aber lieber.

Der Berg mit der unverwechselbaren Silhouette eines Schiffs war kaum fünf Kilometer von der Abtei von Imleach entfernt. Vor ihnen lag ein angenehmer und leichter Ritt durch eine waldreiche Landschaft. Endlich näherten sie sich der Siedlung, die am Fuße des langen, schmalen Berges lag. Kurz vor dem Ort bemerkte Eadulf, daß sich die Straße immer mehr füllte. Bald war sie voller Leute, die zu Fuß, zu Pferde oder mit Eselfuhrwerken zum Jahrmarkt ström-ten. Als sie dort eintrafen, war das Fest schon im Gange.

Neben den Holzbauten des Dorfes waren auf einer großen Wiesenfläche, der faithche, Stände und Zelte errichtet. Die faithche war für solche Jahrmärkte und Feste vorgesehen. Die kleinen Jahrmärkte des Landes unterstanden den jeweiligen Stammesfürsten, die bestimmte Leute vorher anwiesen, das Gelände von Unrat und Gestrüpp zu befreien und es mit Zäunen und Dämmen einzugrenzen. Außerdem gab es eine Extrafläche für sportliche Wettkämpfe wie Springen und Laufen, aber auch für Waffenspiele und Ringen. Auf einer Seite hatte man ein cluichimag hergerichtet - eine Grasfläche, auf der das alte Spiel caman, ein Schlagballspiel mit Stöcken, gespielt werden sollte. Ein überschaubarer Jahrmarkt wie dieser wurde oirecht genannt. Die größeren nannte man Feis.

Trotz seiner geringen Bedeutung zog der Jahrmarkt in Cnoc Loinge erstaunlich viele Leute an. Jung und alt aus der Umgebung wollte den Wettkämpfen beiwohnen oder gar selbst daran teilnehmen oder von den Komödianten unterhalten werden.

An den Ständen wurden verschiedenste Waren feilgeboten. Bauern verkauften Ziegen und Schweine, außerdem gab es Obsthändler und Bäcker mit frischen Pasteten. Das ganze Treiben wurde von Musik begleitet. Hier und dort ging ein airfidig, ein einzelner Sänger, herum, der Balladen vortrug oder Gedichte rezitierte. In einer anderen Ecke wurde die Menge von einer Schar Musikanten mit einer Harfe, Kastagnetten, einer Trommel, Flöten und anderen Blasinstrumenten unterhalten.

Fidelmas scharfe Augen entdeckten bald eine kleine Bühne, die leer war, aber offensichtlich für eine Aufführung vorbereitet worden war. An einem Pfosten war die Mitteilung angebracht, daß hier »Die Liebe von Bebo und Faylinn« gespielt werden würde. Also waren die Zwerge noch hier, dachte Fidelma mit Genugtuung. Natürlich bedeutete das nicht zwangsläufig, daß der Aussätzige dabei war. Doch sie hatte ganz intuitiv das Gefühl, daß sie auf ihn stoßen würde.

Sie ließ ihr Pferd anhalten und sprach einen Mann an, der ein Ortsansässiger sein mußte. Er stand an einem kleinen Bach, der am Rande des Festplatzes floß und auch als Pferdetränke diente. Dieser Mann führte einen großen Wolfshund an einer Leine, der gierig Wasser schleckte.

»Sei gegrüßt, mein Freund. Wo ist der suide-dala, der Versammlungsplatz. Finden wir deinen Fürsten dort?«

Der Mann hatte rötliches Haar und war wohl eher ein Schmied als ein Bauer. Er blickte sie mit seinen hellblauen Augen an, betrachtete ihre Kleider und schließlich auch den goldenen Halsschmuck ihrer Begleiter. Voller Ehrerbietung verneigte er sich.

»Sei willkommen in Cnoc Loinge, Lady.« Offenbar hatte er geschlußfolgert, daß es sich bei Fidelma nicht um eine einfache Nonne handelte, sondern um eine ranghohe Persönlichkeit. »Wenn du am Bach entlangrei-test, kommst du zum Versammlungsplatz am caman-Feld. Bis zum Beginn der Spiele hat sich unser Fürst Fiachrae in das große blaue Zelt dort zurückgezogen.«

»Vielen Dank.« Fidelma ritt auf das Zelt zu, auf das der Mann gezeigt hatte. Da rief Capa ihr nach: »Lady Fidelma, möchtest du, daß wir nach den Zwergen suchen und herausfinden, ob sie den aussätzigen Mönch kennen?«

Fidelma hielt an.

»Ich werde mit dem Fürsten sprechen. Fiachrae ist ein entfernter Cousin von mir - er gehört zu den Eoghanacht. Aber um Zeit zu sparen, könntet ihr schon mal versuchen, Forindain zu finden. Ihr kennt seine Beschreibung: ein Zwerg in Mönchskutte mit einer Lepraglocke.«

»Wie aber sollen wir uns einem Leprakranken nähern?« fragte Gorman besorgt.

Fidelma betrachtete ihn belustigt.

»Wie jedem anderen auch. Teilt ihm mit, daß ihn eine dalaigh zu sprechen wünscht. Auch er muß die Gesetze einhalten. Sobald ich mit dem Fürsten geredet habe, werde ich zu euch stoßen.«

Eadulf hatte die ganze Zeit über unbekümmert auf seinem Pferd gesessen und sich auf den Wortwechsel konzentriert, da bäumte sich plötzlich sein Pferd auf und wieherte, als sei es durch etwas erschreckt worden. Eadulf klammerte sich fest, als ginge es um sein Leben. Sein kräftiges Pferd schlug aus und traf dabei Fidelmas Pferd, das sich nun seinerseits aufbäumte und dabei das Gleichgewicht verlor. Es rutschte mit den Hinterbeinen in den Bach, wobei Fidelma völlig unerwartet ins Wasser geschleudert wurde.

Capa reckte sich vor und packte das Halfter ihres Pferdes, während Gorman Eadulfs Pferd festhielt. Kurz darauf standen beide Pferde gebändigt, wenn auch noch bebend da. Nun saßen Eadulf und Capa ab und eilten zu Fidelma, die im Wasser stand und nach Luft rang.

»Alles in Ordnung?« fragte Eadulf besorgt und streckte ihr die Arme entgegen.

Sie sah zu ihm auf.

»Hast du immer noch nicht gelernt, wie man mit einem Pferd umgeht?« fuhr sie ihn zornig an.

Eadulf wich zurück, als hätte sie ihm einen Schlag versetzt. Da faßte sich Fidelma offenbar wieder.

»Es tut mir leid. Ich bin vom Pferd gestürzt und ganz durchnäßt und dreckig, offenbar ist mein Stolz mehr verletzt als ich selbst. Hilf mir hier raus.«

Eadulf und Capa beugten sich vor und zogen sie aus dem Wasser. Trübselig betrachtete sie ihre triefende Kleidung.

»So kann ich wohl kaum meinem Cousin gegenübertreten«, murmelte sie.

»Deine Kleidung ist unwichtig, Cousine Fidelma«, ließ sich eine sonore Stimme vernehmen. Ein kräftiger, rundgesichtiger Mann in mittlerem Alter hatte sich unbemerkt mit einigen Gefolgsmännern genähert. Er war in ein prächtiges Gewand gekleidet und trug eine goldene Amtskette.

Fidelma war erstaunt. »Fiachrae?«

»Willkommen zu meinem Fest, Cousine. Doch zuerst soll dich einer meiner Diener ins Badehaus führen und dir trockene Kleider bringen, damit du dir nicht noch den Tod holst. Danach erwarte ich dich in meinem Zelt, wo du dich stärken kannst. Du hast dann genügend Zeit, mir zu berichten, was dich in mein kleines Dorf führt.«

Fidelma betrachtete sich noch einmal. Gegen seinen Vorschlag war nichts einzuwenden. Dann zeigte sie auf Eadulf.

»Zuerst muß ich dir meinen ... meinen fer comtha vorstellen, Eadulf von Seaxmund’s Ham.«

Die runden bläßlichen Augen des Stammesfürsten waren auf Eadulf gerichtet, den Ehemann auf Zeit.

»Ich habe schon viel von dir gehört«, sagte er zögernd. Dann schaute er wieder zu Fidelma. »Ich werde mich um Eadulf kümmern, wir sind im Zelt.«

Fidelma nickte und wandte sich nun an Capa und seine Männer.

»Dieser Zwischenfall ändert nichts an meinem Plan. Ihr könnt euch nun den Jahrmarkt vornehmen.«

»Verstanden, Lady«, willigte Capa ein und hob dabei salutierend die Hand.

Eadulf hatte den Eindruck, daß Fidelma ihren Cousin nicht in die wahren Gründe ihres Besuchs einweihen wollte. Der Fürst wies einen Burschen an, die Pferde seiner Gäste zu übernehmen, und ging dann auf das große blaue Zelt zu, das für die Zeit des Jahrmarktes sein Amtssitz war.

Inzwischen hatte sich eine ganze Schar Leute eingefunden, weil sie annahmen, daß die Neuankömmlinge mit irgendeiner Art von unterhaltsamem Spektakel zum Fest beitragen würden. Doch als sich zeigte, daß es Gäste des Fürsten waren, zerstreute sich die Menge wieder. Der Fürst drehte sich um und rief eine Magd zu sich.

»Cousine Fidelma, laß dich von der Magd dorthin führen.« Der rundliche Fürst deutete auf eine Reihe von provisorischen Bauten hinter dem Zelt. »Sie wird sich um alle deine Bedürfnisse kümmern.« Schweigend folgte Fidelma dem Mädchen.

Der Fürst hatte sich inzwischen für Eadulf erwärmt und redete ununterbrochen auf ihn ein. Er hakte sich vertraulich bei Eadulf unter und führte ihn lächelnd in sein Zelt. In dessen Mitte stand ein eiserner Ofen, in dem ein wärmendes Feuer loderte. Rauch stieg davon auf und entschwand durch eine Öffnung am Hauptmast des Zeltes.

»So, mein sächsischer Freund - oder sollte ich sagen angeheirateter Cousin -, nun wollen wir uns einen Becher Honigmet gönnen, damit uns nicht kalt wird.«

Eadulf ließ sich in den Stuhl fallen, auf den der Fürst gedeutet hatte.

»Das ist eine ausgezeichnete Idee.«

Schon nach wenigen Minuten war Eadulf klargeworden, daß der Fürst ein recht geschwätziger Bursche war und nur um des Redens willen redete. Er erzählte unendlich viele Geschichten, ob man sie nun hören wollte oder nicht.

Fiachrae reichte Eadulf einen Becher Met.

»Warst du schon einmal in Cnoc Loinge, mein sächsischer Freund? Ich erinnere mich nicht an dich, gewiß, es ist schon lange Zeit her, daß ich meine Cousine getroffen habe.«

Eadulf schüttelte den Kopf und kostete von dem süßen Honigmet.

»Ich war schon einmal in Imleach, weiter jedoch nicht«, erwiderte er.

»Ah, davon habe ich gehört. Das war, als Bruder Mochta und die Reliquien des heiligen Ailbe verschwunden waren.«

Bestätigend senkte Eadulf den Kopf.

»Nun, du wirst feststellen, daß meine kleine Burg hier eine lange Geschichte hat. An diesem Ort haben die Vorfahren der Eoghanacht-Könige erklärt, alle Forderungen des Hochkönigs zurückzuweisen, sofern sie ungerecht waren, und unabhängig zu sein.«

Eadulf war klar, daß ihm der rundliche Fürst nun jene alte Legende auftischen wollte, und so hielt er es für besser, nicht ungesellig zu sein und sich der eitlen Redseligkeit des Fürsten zu beugen, um Fidelmas Aufgabe nicht zu erschweren. Fiachrae hatte es sich auf seinem Stuhl bequem gemacht, hielt einen Becher Met in der Hand und lächelte gedankenvoll.

»Wenige Monate nachdem Eoghan, Vorfahre aller Eoghanacht, in einer Schlacht gefallen war, gebar seine Frau, Lady Moncha, einen Sohn. Dieser Sohn hieß Fiachrae Muilleathan, und er wurde zu Recht >König der Schlachten< genannt.«

»Ich wußte, daß Fiachrae, also auch dein Name, >König der Schlachten< bedeutet, aber heißt nicht Mu-illeathan >der Breitschädlige

Dem Fürsten gefiel offenbar nicht, daß man seine Erzählung unterbrach.

»Ein Astrologe hatte prophezeit, wenn das Kind an einem bestimmten Tag zur Welt käme, würde es zum ersten Narren der fünf Königreiche von Éireann werden. Einen Tag später geboren und unter einer günstigeren Sternenkonstellation würde es allerdings zum mächtigsten König des Landes werden. Als Moncha schließlich Wehen bekam und jener Tag mit der vielversprechenderen Prophezeiung noch nicht angebrochen war, verließ sie die Burg von Cnoc Rafoan und ging ans Ufer des nahe gelegenen Flusses Suir. Sie setzte sich auf einen flachen Stein, um die Geburt des Kindes hinauszuzögern. So verging ein Tag, und am nächsten Tag brachte sie das Kind zur Welt, das später ein mächtiger König werden würde. Doch wegen der großen Anstrengungen, die es kostete, die Wehen hinauszuzögern, starb Moncha. Als das Kind den Mutterleib bereits zu verlassen suchte, wurde es von ihr mit ganzer Kraft gegen den Stein gepreßt, so daß seine Stirn ganz flach blieb. Daher trug es den Beinamen Muilleathan oder >der Breitschädlige<.«

Der Fürst berichtete so voller Ernst von seinem Vorfahren, daß Eadulf sich zusammennehmen mußte, das Gesicht nicht zu verziehen.

»Wie ging es weiter?«

»Fiachrae, oder Fiacha, denn sein Volk benutzte voller Liebe diese Kurzform, wurde ein großer König.

Er herrschte über dieses Land zu der Zeit, als der große Corma mac Art Hochkönig war. Das war vor vier Jahrhunderten. Die Ui Néill von der Sippe der Dal Riada wiesen Cormac eine Zeitlang aus Tara aus, doch Fiachrae kam ihm zu Hilfe und kämpfte für ihn, so daß Cormac die Regentschaft wieder zurückerlangte. Eine Weile lief zwischen den beiden Königen alles gut, doch Cormac hatte schlechte Ratgeber. Ein ehrgeiziger Verwalter redete ihm ein, daß das Königreich von Muman, da es das größte der fünf Königreiche war, doppelt soviel an Tribut an den Hochkönig zu zahlen hätte wie die anderen Königreiche. Doch diese Erhöhung der Abgaben wollte Fiachrae nicht hinnehmen.

Angestachelt vom Ehrgeiz seines schlechten Ratgebers, machte Cormac etwas sehr Unkluges. Er marschierte mit einer großen Armee nach Muman ein. Fi-achraes Armee hatte sich genau hier zusammengefunden, auf diesem Berg, der die Form eines Schiffes hat, und genau hier wurden Fiachraes Männer von Cor-macs Armee umzingelt. Wieder war Cormac schlecht beraten. Seine Generäle meinten, er solle die Armee von Fiachrae verbrennen, und so ließ er alle Bäume und Büsche anzünden. Doch Fiachraes Druide Mag Ruith beschwor einen starken Sturm herauf, so daß der Rauch Cormacs Kriegern entgegenblies, die darin zu ersticken drohten und schließlich flohen. Da befahl Fi-achrae seinen Kriegern, Cormacs Armee zu verfolgen und zu bestrafen. Cormac mußte schließlich eine Entschädigung an Fiachrae zahlen.«

Eadulf versuchte ein Gähnen zu unterdrücken.

»Und von da an lebten alle glücklich und zufrieden?«

Der Fürst schüttelte den Kopf.

»In diesem Land ist das Leben nicht so wie in einem Märchen, Sachse«, erwiderte er. Eadulfs sarkastischer Tonfall war ihm entgangen. »Cormac sann auf Rache.«

Eadulf begann sich zu fragen, warum Fidelma so lange fortblieb. Dann sagte er: »Und was geschah darauf?«

»Cormac hatte ein Pflegekind, das hieß Connla, es war der Sohn von Tadhg, dem Lord von Éile. Connla hatte es schon immer auf den Thron von Muman abgesehen, er war Fiachraes Cousin und hatte sich in Tara die Lepra zugezogen ...«

Eadulf zuckte zusammen, als er an den Grund für seinen Aufenthalt in Cnoc Loinge erinnert wurde. »Die Lepra?«

»Ja. Und Cormac hatte sich für seine Rache etwas Listiges ausgedacht. Er redete Connla ein, daß er von seiner Krankheit geheilt werden würde, wenn er im Blut eines Königs badete, der mit ihm verwandt war. So zog Connla nach Süden zu Fiachraes Burg in Cnoc Rafoan, wo man ihn willkommen hieß. Connla wartete den rechten Augenblick ab. Eines Tages wollte Fiachrae im Fluß Suir bei Äth Aiseal schwimmen gehen. Im richtigen Moment stieß Connla ihm sein Schwert in den Rücken .«

»Und war von der Lepra geheilt?« Eadulf lächelte.

Der Fürst runzelte die Stirn, denn schon wieder hatte man ihn unterbrochen.

»Natürlich nicht«, erwiderte er schroff. »Fiachraes Wachleute nahmen Connla gefangen, doch noch im Sterben bewies König Fiachrae so großen Edelmut, daß er Connla das Leben schenkte und ihn in ein Haus für Aussätzige im Land der Corco Duibhne schickte. Dann starb der König und sein Tanist Ailill Flann Bec übernahm die Krone. Von ihm führt die edle Stammbaumlinie bis zu unserem jetzigen König Colgu ... Und natürlich auch bis zu deiner Frau Fidelma.«

Auf einmal lächelte der Fürst und blickte Eadulf aus dem Augenwinkel an. »Doch ich habe erfahren, daß Fidelma nun Mutter eines Sohnes ist. Wie geht es dem Kind? Heißt der Junge nicht Alchu?«

Eadulf berichtete Fiachrae nun von dem Grund ihres Besuches. Der Fürst war plötzlich nicht mehr so redselig.

»Aber ... das ist ja schrecklich. Das hättet ihr mir sofort mitteilen sollen«, sagte er. »Das ist eine Katastrophe! Eine Tragödie! Wirklich furchtbar!«

Eadulf hatte den Eindruck, daß seine Worte wenig aufrichtig waren. Er wollte dem Fürsten schon erklären, daß er kaum die Gelegenheit gehabt hatte, zu Wort zu kommen. Als er ihm dann von dem aussätzigen Zwerg berichtete, fiel ihm wieder ein, daß Fidelma wohl so gut wie nichts über die Gründe ihres Besuchs hier hatte verraten wollen.

»Nun«, sagte Fiachrae nach einer Weile und stellte seinen Becher ab, »mir ist weder von Reisenden noch von einem Leprakranken etwas zu Ohren gekommen.«

»Fidelma dachte, daß er sich vielleicht den Zwergen angeschlossen hat, die jetzt hier sind ...«

Sofort schüttelte Fiachrae den Kopf. »Diese Kleinwüchsigen sind crossan. Ich glaube kaum, daß sich ihnen ein Leprakranker oder ein Mönch anschließen würde.«

»Crossan?«

»Crossan oder druth - Spielmänner oder Wanderschauspieler. Sie führen irgendein Stück auf. Das ist öffentlich bekanntgemacht worden, und die Leute strömen in Scharen herbei. Man hat mir gesagt, daß die Spieler vom Féis Tailltenn kommen, wo sie mit viel Erfolg den Hochkönig unterhielten.«

»Und man hat keinen mit einem Baby gesehen?«

Fiachrae wunderte sich. »Hast du Anlaß zu glauben, daß diese Schauspieler dein Kind entführt haben?«

»Wir haben Anlaß zu der Annahme, daß ein Zwerg damit zu tun hat«, erwiderte Eadulf kurz, denn er war sich nicht sicher, ob Fidelma ihm darin zustimmte.

»Nun, sie haben keine Kinder bei sich. Sie sind auch nicht aus Cashel gekommen, sondern von Cluain Mic Nois und Tir dha Ghlas, aus dem Gebiet der zwei Flüsse gleich nördlich von Imleach.«

»Du scheinst ja über ihre Reisen gut im Bilde zu sein.«

Fiachrae lächelte ein wenig. »Das muß ich, mein Freund. Ich kann dich mal auf den Gipfel des Berges hinter uns mitnehmen und dir zeigen, wo das Land der Ui Fidgente beginnt.«

»Liegt es so nah?« Eadulf hatte immer gemeint, das Gebiet der Ui Fidgente läge vor allem westlich.

»Cnoc Äine, wo wir vor knapp zwei Jahren die Ui Fidgente besiegt haben, liegt nur fünf Kilometer von hier entfernt. Wir sind hier im Grenzgebiet des streitsüchtigen Stammes, der immer wieder Ränke schmiedet gegen die Herrschaft der Eoghanacht. Schon allein deshalb muß ich mich für alle Reisenden interessieren, die mein Land passieren. Mein Volk weiß das und ist angehalten, mir von allen Fremden zu berichten, die in das Land der Ui Fidgente weiterziehen.«

Eadulf lehnte sich neugierig vor. »Dann weißt du also, wer in den letzten Tagen hier durchgekommen ist?«

Fiachrae lächelte selbstzufrieden. »So ist es. Ich kann dir zum Beispiel von einem ganz merkwürdigen Reisenden berichten, der mit einem Mönch aus dem Königreich der Ui Néill im Norden unterwegs ist. Er konnte kaum unsere Sprache, beherrschte aber dafür mehrere andere Sprachen, darunter auch Griechisch und Latein.«

»Ach, von denen habe ich schon gehört«, bemerkte Eadulf. Doch der Fürst ließ sich nicht unterbrechen.

»Bruder Basil Nestorios, so hieß er«, fuhr er fort. »Sein Gefährte, Bruder Tanaide, erzählte mir, daß dieser Basil Nestorios ein Heilkundiger aus einem Land im Osten sei. Er prahlte, vielmehr prahlte Bruder Tanaide damit, daß der Fremde mit seinen Heiltränken und Kräutern Lepra heilen könne. Sicher handelt es sich um einen Verrückten, doch die meisten Ausländer sind ja verrückt .«

Auf einmal wurde ihm bewußt, was er da gesagt hatte, und er blickte Eadulf an, um zu sehen, ob er ihn beleidigt hätte.

»Noch jemand?« wollte Eadulf aber nur wissen. »Wir interessieren uns besonders für Leute, die ein Baby bei sich hatten.«

Fiachrae schüttelte den Kopf. »Hier ist niemand mit einem Baby durchgezogen.«

Eadulf lehnte sich enttäuscht wieder zurück.

Nun bewegte sich jemand vor dem Zelt. Fidelma trat frischgewaschen und in neuen Kleidern ein.

»Es tut mir leid, daß ich so lange fort war, Fiachrae«, sagte sie, ging zum Feuer und nahm so rasch Platz, daß Fiachrae sich nicht einmal erheben konnte.

»Keine Sorge, Cousine. Ich habe unseren sächsischen Freund mit Vorfällen aus unserer Stammeschronik unterhalten. Und wie es dazu gekommen ist, daß dieser kleine Ort hier das Wohlergehen der Eog-hanacht gesichert hat.«

Fidelma lächelte. »Die Geschichte von unserem Ahnen Fiachrae, Sohn von Eoghan? Die Geschichte von Cnoc Loinge und der Belagerung zählt zu den großen Sagen unseres Königreiches. Du hast sie schon immer gern erzählt.« Ein Anflug von Müdigkeit lag in ihrer Stimme, als kannte sie Fiachrae und seine Geschwätzigkeit zur Genüge und sei nicht gerade begeistert davon.

Der Fürst strahlte sie an und erhob sich. Er ging auf den kleinen Tisch zu.

»Ein wenig Met, um dich nach deinem Bad im Bach zu erwärmen?« bot er an.

»Ich möchte nicht undankbar erscheinen, Fiachrae, aber ich hoffe, daß Capa und seine Männer inzwischen zurück sind. Der Jahrmarkt ist doch sicher nicht sehr groß, oder?«

»Von Jahr zu Jahr wächst er, und unser Wohlstand auch. Doch inzwischen sollten die drei auf dem Markt einen Leprakranken entdeckt haben, falls einer da ist.« Sein Grinsen wurde immer breiter, als er sah, wie sie die Stirn runzelte. »Eadulf und ich haben uns sehr lange unterhalten. Er hat erzählt, wonach ihr sucht. Du mußt mir nur die entsprechenden Anweisungen geben, und wenn es in meiner Macht steht, werde ich dir helfen.«

»Du bist sehr gütig, Fiachrae.«

»Ich habe Eadulf bereits erklärt, daß ich von jedem Fremden weiß, der diesen Jahrmarkt aufsucht. Dein Bruder, unser König, hat mich nach dem Sieg bei Cnoc Äine mit der Kontrolle aller Fremden hier beauftragt. Heute ist sicher kein Aussätziger unter den Leuten. Und die Zwerge sind nur Komödianten.«

Fidelma sah Eadulf vorwurfsvoll an.

»Bestimmt hat mein fer comtha sich erkundigt, welche Fremden durch deine Siedlung gekommen sind und ob sie Babys bei sich hatten.«

Fiachrae verkniff sich ein Lachen.

»Du bist schlau wie eh und je, Cousine. Das hat er.«

Er hatte Eadulf, ohne zu fragen, einen zweiten Becher Met eingeschenkt und reichte ihm ihn. Eadulf nahm ihn dankend entgegen.

»Und wie lautete deine Antwort?« fragte Fidelma mit kalter Stimme.

»Niemand ist hier mit einem einzelnen Baby durchgezogen, das nicht zu ihm gehörte.«

Sie wollte sich schon erheben, als einer von Fiach-raes Männern ohne Ankündigung das Zelt betrat und zu ihm eilte. Er war ganz außer Atem.

»Fiachrae, es ist jemand ermordet worden«, sagte er ohne Umschweife.

Bestürzt blickte ihn der Fürst an.

»Was? Wer? Sprich schon, Mann.«

»Der Krieger aus Cashel, Capa, hat mich geschickt, um dich und Lady Fidelma zu bitten, sofort zu ihm zu kommen. Am anderen Ende des Jahrmarkts wurde eine Leiche entdeckt.«

»Capa? Ist er verletzt? Hat er oder einer seiner Männer damit zu tun?« fragte Fidelma und erhob sich ebenso wie Eadulf und Fiachrae.

Der Bote schüttelte den Kopf. »Nein, Lady, er und seine Männer haben nichts damit zu tun, nur daß sie die Leiche gefunden haben und mich baten, dich zu holen.«

»So geh voraus.«

Der Mann eilte voran. Die anderen drei folgten ihm dichtauf. Rasch liefen sie an den Jahrmarktsständen vorbei und über eine Brücke aus Planken, die über den Bach führte. Bald hatten sie den Wald aus Eiben, Stechpalmen und kahlem Schlehdorn erreicht. Caol stand an seinem Rand und winkte sie zu sich.

»Hier entlang, Lady Fidelma«, rief er.

Sie mußten nur ein kurzes Stück einen schmalen Pfad entlanggehen und gelangten zu Capa und Gor-man, der ungewöhnlich blaß aussah.

Neben dem Pfad wuchs unter einer Reihe von Eschenstümpfen Hartriegel, der immer noch herbstlich rote Stengel und hochrot gefärbte Blätter hatte. Offensichtlich waren die Eschen vor längerer Zeit gefällt worden, denn die Baumstümpfe waren alt und von ungenießbaren schwarzen Holzkohlepilzen überzogen.

Capa zeigte aufgeregt zu Boden.

»Wir haben ihn, Lady«, sagte er nur.

Es erübrigte sich zu fragen, wer gemeint war.

Die Leiche eines sehr kleinen Mannes mit großem Kopf, der in eine Mönchskutte gehüllt war, lag flach auf dem Rücken. Der kleine tote Körper war von einem grellen Ring aus unzähligen Orangebecherlingen umgeben.

Nach der Todesursache mußte nicht lange geforscht werden. Der Strick, mit dem er sein Gewand gegürtet hatte, lag noch um seinen Hals. Sein Gesicht war entstellt, die Haut war fleckig und fast schwarz, und die Zunge hing ihm aus dem Mund.

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