Kapitel 11

Bischof Petran lebte nicht mehr. Er lag auf seinem Bett, seine Haut war blaß wie gestrafftes Pergament, seine Lippen schimmerten eigenartig blau. Bruder Conchobar konnte nur noch den Tod feststellen.

Im Raum befanden sich zwei Diener von Bischof Petran, junge Mönche, die offensichtlich zutiefst bekümmert über den Tod ihres alten Mentors waren. Von Neugier getrieben, hatte Fidelma Bruder Con-chobar zu den Gemächern des Bischofs begleitet. Tags zuvor war der Bischof noch bei bester Gesundheit gewesen, und seine Auseinandersetzung mit Eadulf hatte bewiesen, daß er wie stets geistig äußerst rege war. Sie wollte gerade Bruder Conchobar nach der Todesursache fragen, da öffnete sich auf einmal die Tür und Brehon Dathal, oberster Richter von Mu-man, betrat, gefolgt von Finguine, dem Tanist, den Raum.

Der Brehon sah sich dienstbeflissen um und runzelte verärgert die Stirn, als er Fidelma entdeckte.

»Ich werde die Untersuchung dieses Falls übernehmen, Fidelma«, verkündete er streng, als hätte sie sich mit ihm anlegen wollen.

Sie lächelte ein wenig. »Das kannst du sehr gern tun, Dathal, auch wenn noch gar keine offizielle Untersuchung angesetzt ist. Ich habe Bruder Conchobar nur zufällig hierher begleitet. Wir hatten gerade eine Partie brandubh gespielt, als er von einem dieser jungen Mönche hier zum Bischof gerufen wurde.«

Brehon Dathal wandte sich an Bruder Conchobar. »Wie ich sehe, ist Bischof Petran tot. Was war die Todesursache?«

Bruder Conchobar zog die Schultern hoch. »Das kann ich zur Zeit noch nicht sagen. Dazu muß ich ihn mir erst einmal genauer ansehen.«

Brehon Dathal blickte auf die Leiche hinunter.

»Blaue Lippen, blaue Lippen«, murmelte er. »Da ist doch sicher Gift im Spiel, oder?«

»Nicht unbedingt«, widersprach ihm der alte Apotheker.

»Meiner Erfahrung nach doch«, erwiderte der Richter bissig.

»Mir war gar nicht bewußt, daß du Arzt bist«, meinte Bruder Conchobar kühl.

Brehon Dathal beugte sich über die Leiche und schien Conchobars Einwurf nicht gehört zu haben. Bruder Conchobar räusperte sich laut, um sich bemerkbar zu machen.

»Ich muß noch einige Untersuchungen durchführen, aber in meinen Räumen.«

Brehon Dathal drehte sich um und schnaufte.

»Das ist überflüssig. Ein ganz klarer Fall von Vergiftung. Aber wenn du Zeit verschwenden willst, so habe ich nichts dagegen. Ich gehe davon aus, daß er vergiftet wurde und daß es sich hier um einen Mordfall handelt.«

Erstaunt blickte Fidelma ihn an. »Ist das nicht ein bißchen ... ein bißchen voreilig?« fragte sie ruhig.

Brehon Dathal schaute sie verärgert an.

»Ich dachte, daß du mit diesem Fall nichts zu tun hast.«

»So ist es auch.«

»So will ich dich nicht aufhalten.« Er wandte sich abrupt den beiden Mönchen zu. »Wann habt ihr den Bischof entdeckt?«

»Erst vor kurzem. Als wir ihn zum Essen begleiten wollten, haben wir ihn so vorgefunden. Ich bin sofort Bruder Conchobar holen gegangen. Mein Gefährte blieb hier.«

»Wann habt ihr ihn zum letztenmal lebend gesehen?«

»Kurz nachdem er die morgendliche Audienz abgehalten hat. Er sagte, daß er müde sei, denn er sei erst vorgestern von seiner Reise zur Westküste zurückgekehrt.«

»Abgesehen davon, daß ihn die Reise erschöpft hatte, war er doch bei guter Gesundheit?«

»Bischof Petran war immer bei bester Gesundheit. Nie war er müde. Heute vormittag habe ich zum erstenmal gehört, daß er sich matt fühlte.«

»So, so«, murmelte Brehon Dathal. »Dann können wir davon ausgehen, daß ihm das Gift verabreicht wurde, nachdem er in seine Gemächer zurückkehrte, nicht wahr?«

Bruder Conchobar protestierte laut.

»Ich habe bisher noch nicht die Todesursache festgestellt. Ich muß ihn erst untersuchen .«

Brehon Dathal winkte ab.

»Das ist doch nur eine reine Formalität, nichts weiter.« Er blickte auf ein paar Tonbecher, die auf einem kleinen Tisch standen. Er nahm sie in die Hand und roch daran. Hinter seinem Rücken sah Finguine zu Fidelma, blickte dann achselzuckend zur Decke hoch.

Der Richter fuhr sich nachdenklich über das Kinn. »Er kam herein, trank ahnungslos das Gift und starb.« Auf einmal drehte er sich zu den beiden Mönchen um.

»Hatte der Bischof irgendwelche Feinde? Hat er sich in letzter Zeit mit jemandem gestritten?«

Einer der beiden jungen Männer blickte Fidelma an, dann schaute er zu Boden. »Bei unserer Rückkehr nach Cashel waren wir Zeuge einer heftigen Auseinandersetzung«, sprach er leise.

»Mit wem?« wollte Brehon Dathal sogleich wissen.

»Mit dem Sachsen. Mit dem gleichen Sachsen, mit dem er schon vor fast einem Monat einen schlimmen Streit hatte.«

»Mit dem Sachsen?« fragte Brehon Dathal.

»Er meint Eadulf«, warf Fidelma ein. Sie fröstelte bei dem Gedanken, daß man ihn verdächtigte.

»Das ist richtig. Mit Bruder Eadulf«, bestätigte der Mönch.

»Worum ging es in dem Streit?«

»Das kann ich dir sagen ...«, fing Fidelma an, doch Brehon Dathal fuhr ihr über den Mund.

»Es soll ein unvoreingenommener Zeuge sprechen. Du bist mit diesem Sachsen verheiratet, daher würdest du zu seinen Gunsten aussagen.«

»Ich glaube, es ging um religiöse Meinungsverschiedenheiten«, sagte der Mönch. »Sie tauschten harte Worte aus, und ich weiß, daß der Bischof beide Male hinterher sehr aufgebracht war und dann sogar äußerte, daß Cashel ärmer sei seit der Heirat der Schwester des Königs mit einem .«

»Das kann ich mir nicht länger mit anhören!« brauste Fidelma auf.

Brehon Dathal sah sie mißbilligend an.

»Ich habe schon gesagt, daß deine Anwesenheit hier nicht nötig ist. Du darfst gehen und Bruder Eadulf ausrichten, daß er sich bereithalten soll, mir ein paar Fragen zu beantworten.«

Finguine sah sie mitfühlend an, als sie den Raum verließ. Er hörte, wie Conchobar um Erlaubnis bat, Bischof Petrans Leiche zu entfernen, um sie in seinen Räumen ordnungsgemäß untersuchen zu können.

Als Fidelma in ihre Gemächer zurückkehrte, war Eadulf nicht da. Sie eilte den grauen Steingang entlang, versuchte aber, nicht zu rennen. Als sie den Hof überquerte, entdeckte sie Caol, der ein Pferd abrieb.

»Caol, hast du meinen Mann gesehen?« fragte sie ihn etwas außer Atem.

Der Krieger lächelte sie an, als er sich aufrichtete. Er hatte einen Striegel in der Hand.

»Ja, es ist noch nicht lange her. Ich hatte gerade sein Pferd abgerieben, als er wieder damit losritt.«

Sie starrte ihn an.

»Wieder losritt?«

Der Krieger nickte. »Es war früh am Morgen, nach dem Frühstück, als er mir mitteilte, daß er ausreiten wolle. Ich glaube, er wollte zu Conchoille, dem Holzfäller. Dann kehrte er zurück, anscheinend ganz in Eile, und bat mich, sein Pferd für einen neuen Ritt fertigzumachen. Er verschwand kurz, kehrte mit einer vollen Satteltasche zurück und war auch schon auf und davon.«

Fidelma war so erstaunt, daß sie regungslos dastand. »Mit einer vollen Satteltasche?«

»Es sah aus, als hätte er eine weite Reise vor.«

»Hast du gesehen, in welcher Richtung er Cashel verlassen hat?«

»Nein. Ich habe gerade mein Pferd gestriegelt.« Er zeigte auf das Pferd, mit dem er beschäftigt war.

Fidelma blieb noch eine Weile stehen, ehe sie wieder in die Burg zurückeilte. Nun sah sie sich genauer in ihren Gemächern um. Auf ihrem Kopfkissen lag eine Nachricht, und zwar so, daß sie sie auf Anhieb hätte entdecken müssen. Sie stammte von Eadulf.

Ich konnte nicht warten. Ich habe eine Spur, die meines Erachtens so wichtig ist, daß ich ihr nachgehen muß. Ich reite zur Abtei von Colmän im Westen. Ich bin vielleicht mehrere Tage fort.

Sie mußte sich setzen, stützte den Kopf auf und stöhnte laut.

Den Rest des Tages über schossen Fidelma viele verwirrende Gedanken durch den Kopf. Nun machte sie sich nicht nur Sorgen um Alchu, sondern auch um Eadulf. Sie ertappte sich sogar bei der Frage, ob Eadulf wirklich einer Spur folgte oder nicht Brehon Dathal recht hatte mit seinen Verdächtigungen und er geflohen war? Sie hatte Eadulfs zorniges Wortgefecht mit dem alten Petran miterlebt. Und sie hatte ihn überhaupt bei mehreren Gelegenheiten ungewöhnlich aufbrausend kennengelernt. Hatte er etwas mit dem Tod des alten Bischofs zu tun? Warum war er ausgerechnet jetzt aus Cashel verschwunden?

Als Brehon Dathal in ihren Gemächern erschien, um Eadulf und sie zu verhören, hatte sie ihm Eadulfs Brief gezeigt. Darauf hatten die Augen des Richters triumphierend aufgeleuchtet. Sie wußte genau, was er dachte. Der alte Brehon war mit den Worten gegangen, daß er nach Eadulf suchen lassen werde. Das ließ nur eine Schlußfolgerung zu: Brehon Dathal glaubte an Eadulfs Schuld. Daraufhin hatte sie ihren Bruder aufgesucht, der die Angelegenheit nun mit Finguine besprach.

Colgu sah seine Schwester voller Mitgefühl an.

»Ich kann die Anordnungen eines Brehon nicht außer Kraft setzen, Fidelma, das weißt du sehr gut.«

»Brehon Dathal hätte Bruder Conchobars Bericht abwarten sollen, ehe er sich so auf Giftmord versteift«, sagte nun Finguine.

»Warum ist Bruder Conchobar noch nicht fertig mit der Untersuchung der Leiche?« fragte Fidelma wütend.

»Bruder Conchobar ist soeben nach Lios Mhor gerufen worden, um dort zu helfen. Die Lebenden benötigen seine medizinischen Fähigkeiten ebenso wie die Toten«, erwiderte Colgu. »Er richtete seinem Assistenten aus, daß er mit der Leichenschau fertig sei, doch niemand scheint zu wissen, zu welchen Ergebnissen er gekommen ist.« Betroffen schaute der König zu seinem Tanist. »Ich habe mit Finguine darüber gesprochen. Wir billigen Dathals Verhalten in jüngster Zeit durchaus nicht und denken über seine Pensionierung nach. Zu häufig zieht er voreilige Schlüsse. Ich glaube, daß das mit dem Alter zu tun hat. Außerdem springen er und Bischof Ségdae einander ständig an die Gurgel. Derartige Konflikte sollte man bei der Landesführung vermeiden.«

»Er darf nicht in den Ruhestand treten, bevor Eadulf von jeglichem Schuldvorwurf freigesprochen ist«, sagte Fidelma sofort. »Du kannst dir die Gerüchte vorstellen, die kursieren würden, wenn du Dathal aus dem Dienst entläßt und die Sache noch nicht aufgeklärt ist.«

»Für das Königreich wäre es aber durchaus von Vorteil, Cousine«, sagte Finguine.

»Aber nicht für Eadulf«, entgegnete Fidelma.

»Wir hatten gehofft, du würdest uns als dälaigh darin beraten, wie wir Dathal bewegen können, in den Ruhestand zu gehen«, erklärte Colgu.

»Da kann ich euch keinen Rat geben, Bruder, denn meine persönlichen Interessen stünden im Vordergrund. Natürlich bin ich der Ansicht, daß Brehon Dathal im Fall von Petrans Tod vorschnelle Schlüsse gezogen hat, doch gleichzeitig müßte ich mich fragen, ob ich das nicht auch getan hätte. Ihr könnt euch sicher vorstellen, welche Absichten ein Richter hinter meinen Ratschlägen vermuten würde, oder?«

Bekümmert betrachtete Colgu seine Schwester.

»Du hast recht. Wir hätten das lieber gar nicht ansprechen sollen«, sagte er. »Dennoch liegt es mir am Herzen und sollte alsbald erledigt werden. Dathal war - ist - ein gerechter Mann, und er war bisher ein guter Berater dieses Königreiches. Aber in letzter Zeit wird mir des öfteren berichtet, daß er unbillige Urteile fällt.«

»Jetzt hängt alles von Bruder Conchobar ab. Wann werden wir seinen Bericht hören?«

»Wenn er aus Lios Mhor wieder zurück ist. Doch was gibt es Neues von Eadulf?«

»Nichts, außer der Mitteilung, die er mir hinterlassen hat.«

»Was könnte ihn veranlaßt haben, zur Abtei von Colman zu reiten?« fragte König Colgu. »Noch dazu allein? Er muß durch das Gebiet der Ui Fidgente, und wenn es wahr ist, daß wir es hier mit einer Verschwörung von ihnen zu tun haben, könnte er sich in großer Gefahr befinden.«

Fidelma begann zu zittern. Doch sie wollte nicht zugeben, welche Ängste sie um Eadulf ausstand.

»Er ist schon früher in Gefahr gewesen. Erinnere dich daran, wie er die Ui Fidgente überlebt hat, als mich das Schicksal zur Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen führte.«

Colgu lächelte. »Das scheint eine Ewigkeit her zu sein, Fidelma.«

»Das Gefühl habe ich auch.«

»Du solltest etwas essen und dann zu Bett gehen. Eadulf ist sehr wohl in der Lage, auf sich aufzupassen, auch wenn ich zugeben muß, daß ich wünschte, er hätte Cashel nicht verlassen.«

Fidelma verabschiedete sich. Sie konnte nichts zu sich nehmen, als man ihr das Abendessen brachte. Nachdem sie sich hingelegt hatte, fiel sie erst nach vielen Stunden verzweifelten Grübelns in einen unruhigen Schlaf.

Früh am nächsten Morgen trat eine Dienerin ein, um sie zu wecken.

»Lady Fidelma, der König schickt mich. Bitte suche ihn in seinen Gemächern auf, sobald du fertig bist.«

Fidelma richtete sich auf und blinzelte die Dienerin mit schweren Lidern an.

»Was gibt es?« fragte sie und rieb sich die Augen.

»Man hat mir gesagt, daß Gorman in die Burg gekommen ist und etwas Wichtiges bei sich führt, das mit Alchu zu tun hat«, antwortete die Dienerin.

»Teile meinem Bruder mit, daß ich sofort da bin«, sagte sie, und ihr Herz schlug schneller.

Als die Dienerin gegangen war, stand Fidelma auf, bewegte den Kopf mehrmals von einer Seite zur anderen, als wolle sie ihn frei machen von lästigen Gedanken. Sie fühlte sich immer noch erschöpft. Kam Gor-man, um weiteres Unheil zu verkünden? Er hatte Neuigkeiten von Alchu - aber wie würden die aussehen?

Als Fidelma die Räume ihres Bruders betrat, waren dort schon Finguine und Gorman, die sich mit dem König unterhielten. Vor ihnen auf dem Tisch lag ein Stück Birkenrinde und ein einzelner cuarän, ein winziger Babyschuh, dessen Oberseite aus lee-find, aus ungefärbter Wolle, gearbeitet war und der eine kleine Sohle aus weichem, halb gegerbtem Leder hatte. Fidelma stockte der Atem.

Sie erkannte den Schuh, er gehörte Alchu.

Sie nahm ihn in die Hand und hielt ihn sich dicht vor die Augen, um sich zu vergewissern. Colgu stand hilflos da.

»Ich habe auch schon festgestellt, daß es Alchus Schuh ist, Fidelma. Die Schuhe waren ein Geschenk von mir. Ich bin mir so sicher, weil ich sie von unserem hiesigen cuaränaidhe habe anfertigen lassen«, erklärte er, sich beinahe rechtfertigend. »Ich habe sogar den Schuhmacher dazu bringen können, das Leder ganz weich zu machen, und ich habe sie persönlich begutachtet. Ich kenne sie genau.«

Fidelma straffte ihre Schultern. »Ist nur ein Schuh geschickt worden?«

Colgu schaute zu Gorman hinüber. Der Krieger hüstelte nervös und breitete die Hände aus.

»Ich habe den Schuh nur hergebracht, Lady Fidelma. Man hat ihn mit dieser Nachricht gefunden. Nur diesen einen kleinen Schuh.«

Fidelmas Blick wanderte zurück zum Tisch, auf dem das Stück Birkenrinde lag. Sie legte den Babyschuh hin und griff danach. Es standen nur wenige Wörter darauf. Ihr fiel auf, daß sie in der gleichen ungeübten Handschrift geschrieben waren wie die erste Botschaft.

Euer Beweis, stand dort schlicht. Nun haltet euch an die Abmachung.

Fidelma sah Gorman fragend an.

»Ich bin heute vormittag an dem Gasthaus in der Stadt vorbeigekommen, da rief mich der Wirt zu sich. Er hatte den Schuh in einem kleinen Lederbeutel an der Tür gefunden - an der gleichen Stelle, an der die erste Nachricht hing«, sagte der Krieger. »Und die Birkenrinde lag dabei.«

Fidelma betrachtete nun den kleinen Lederbeutel.

Sie nahm ihn in die Hand. Es war ein ganz normaler Beutel aus Rehleder, der mit einem Lederband zugebunden war, kaum groß genug, um eine Faust darin zu verstecken. Fidelma wendete den Beutel von innen nach außen und untersuchte die Nähte. Sie entdeckte Samen und Pflanzenreste darin.

Fidelma sagte nichts und drehte den Beutel wieder um. Dann nahm sie erneut den Schuh in die Hand. Er war sauber. Keine Spur von Schmutz daran.

»Jetzt ist alles klar, Cousine«, meinte Finguine.

»Alles klar? Was denn?«

Finguine hob die Hände.

»Daß es sich hier um eine Verschwörung der Ui Fidgente handelt. Sie halten deinen Sohn gefangen, um so die Freilassung ihrer drei Fürsten zu erzwingen.«

Colgu nickte zustimmend.

»Uns bleibt nichts anderes übrig, Fidelma. Wir müssen die drei Männer freilassen. Wir haben keine andere Möglichkeit, diejenigen zu finden, die das Baby festhalten.«

Finguine warf ihr einen beinahe entschuldigenden Blick zu.

»Dein Bruder hat recht. Aber ich muß euch daran erinnern, es wurden bisher keine Garantien für Alchus Freilassung abgegeben. Es bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als den Ui Fidgente zu vertrauen, daß sie ihn zurückbringen, sobald ihre Fürsten die Grenze überschritten haben.«

»Wir müssen ihnen vertrauen«, wiederholte König Colgu resigniert.

»In ihrem ersten Schreiben stand«, fuhr Finguine fort, »daß das Baby wieder freikommt, sobald die drei Fürsten das Gebiet der Dal gCais erreicht hätten.«

»Ist Capa schon von seiner Mission aus dem Land der Ui Fidgente zurück?« fragte Fidelma plötzlich.

Finguine schüttelte den Kopf.

»Wenn man bedenkt, innerhalb welch kurzer Zeit auf unsere Bekanntmachung an den Gasthöfen geantwortet wurde, hält sich der Entführer in allernächster Nähe von Cashel auf«, schlußfolgerte Colgu.

Nachdenklich senkte Fidelma den Kopf.

»Das scheint mir auch logisch«, meinte sie.

»Nun, sobald die Fürsten frei sind, können wir ihnen folgen und sehen, wer Kontakt zu ihnen aufnimmt«, schlug Finguine vor. »Dann wissen wir, in wessen Händen das Baby ist.«

»Das wäre sinnlos«, erwiderte Fidelma. Alle starrten sie überrascht an.

»Sinnlos?« fragte Colgu.

»Die Stammesfürsten werden vermutlich sofort ins Land der Dal gCais reiten. Die Entführer des Kindes werden sie zweifellos dabei beobachten, und das vom Zeitpunkt ihrer Freilassung an. Wie werden sie aber reagieren, wenn wir die Fürsten verfolgen lassen?«

Colgu wurde sofort klar, was sie meinte.

»Sie würden das Kind weiter festhalten. Meinst du, daß wir die Fürsten einfach so ziehen lassen sollten?«

Gormans Miene war die ganze Zeit über recht nachdenklich gewesen. »Verzeih mir, Lady Fidelma, aber wo ist Bruder Eadulf? Sollte er nicht hier sein, wenn wir diese Entscheidung treffen?«

»Warst du letzte Nacht nicht in der Burg?« wollte sie wissen.

»Nein, Lady.« Er zögerte. »Nun, ich habe die letzte Nacht bei einer Frau verbracht und bin erst heute früh zurückgekehrt.«

Nun sagte Finguine ein wenig verlegen: »Eadulf ist gestern weggeritten und hat eine Nachricht hinterlassen, daß er einer Spur folge, die zur Klärung des Falls beitragen könnte.«

»Wo ist er hin?«

»Er ist zur Abtei von Colman aufgebrochen.«

»Ohne Eskorte? Da muß er doch durch das Gebiet der Ui Fidgente«, sagte Gorman.

Fidelma lächelte angestrengt. »Ich glaube, Eadulf wird den Weg auch ohne Eskorte finden.«

Gorman pfiff durch die Zähne.

»Mag ja sein, aber in diesen unruhigen Zeiten hätte er besser einen Krieger mitnehmen sollen.«

»Ich mache mir keine Sorgen. Eadulf schlägt sich auch allein durch«, erwiderte Fidelma ein wenig verärgert.

»Da ist noch etwas, das Gorman wissen sollte«, fügte Finguine leise hinzu. »Bischof Petran ist gestern tot aufgefunden worden. Brehon Dathal glaubt, daß Eadulf ihn vergiftet hat.«

Gorman lachte entrüstet auf. Alle sahen ihn erstaunt an.

»Die Idee ist einfach lächerlich«, erklärte er und versuchte, seine Fassung wiederzuerlangen. »Ich kenne Bruder Eadulf nicht besonders gut, aber ich kenne die Menschen. Es wäre nicht seine Art, jemanden zu vergiften, mit dem er eine theologische Auseinandersetzung hatte.«

Fidelma taxierte ihn kurz.

»Du wußtest, daß Eadulf und der Bischof sich in einer theologischen Sache uneins waren?«

»Mehrere Leute haben den Streit mitbekommen, den er mit Petran hatte, als wir neulich abends in die Burg zurückkehrten.«

Fidelma überlegte einen Augenblick, dann fragte sie Finguine: »Ist Bruder Conchobar inzwischen wieder in Cashel?«

Finguine schüttelte den Kopf.

»Ist der genaue Grund für Bruder Eadulfs Aufbruch nach Westen bekannt?« fragte Gorman. »Wir sollten einander alles anvertrauen, was wir in dieser Sache wissen.«

»Er hat mir nichts verraten«, erwiderte Fidelma. »Ich habe ihn nicht noch einmal gesehen, bevor er losritt. Er hat mir nur die Nachricht hingelegt. Alles, was ich weiß, ist, daß er zur Abtei von Colman will.«

Gorman rieb sich nachdenklich das Kinn. »Es ist nicht sehr klug, jenseits von Cnoc Loinge allein unterwegs zu sein.«

Colgu wurde ungeduldig. »Nun, kehren wir wieder zu unserer Angelegenheit zurück. Sind wir uns alle einig, die Stammesfürsten freizulassen?«

»Ich stimme dem nur äußerst ungern zu«, gestand Finguine. »Sollte nicht erst der Kronrat zusammentreten und über diesen Entschluß beraten? Bischof Ségdae, Brehon Dathal ... Vielleicht sollten wir warten, bis Capa zurück ist?«

Colgu schüttelte den Kopf. »Wir müssen schnell handeln. Wenn es sein muß, sofort. Capa kommt vielleicht erst in ein paar Tagen zurück. Bischof Ségdae ist nach Imleach geritten. Brehon Dathal ist mit der Untersuchung von Petrans Tod beschäftigt, und ich bin mir nicht sicher, ob sein Rat . « Er hielt inne und zuckte die Achseln. »Die anderen Ratsmitglieder sollen von unserem Entschluß erfahren, wenn wir uns alle später zusammenfinden.«

Fidelma meinte: »Ich möchte mich kurz mit den Fürsten unterhalten, ehe sie freigelassen werden.«

»Du möchtest mit diesen Ui Fidgente sprechen?« Überrascht zog ihr Bruder die Augenbrauen hoch.

»Hast du etwas dagegen?«

»Nun gut, Fidelma«, antwortete er. »Dann tu das. Ich werde den giall-chométaide holen lassen, damit er dich begleitet. Es sei denn, ich selbst soll dich begleiten.« Der giall-chométaide war der Gefängniswärter der Geiseln. Fidelma sagte, daß ihr Bruder nicht dabei sein müßte, und so wandte sich Colgu an Gorman.

»Sobald Fidelma wieder zurück ist, bringst du die Fürsten zur Straße nach Norden.«

Der Krieger sah den König nachdenklich an.

»Auf die Straße nach Norden?« fragte er Colgu dann.

»Du kannst ihnen wenigstens die Richtung in ihre Heimat zeigen«, erklärte der König geduldig. »Dann erhalten wir schneller eine Antwort.«

Es dauerte eine Weile, bis der giall-chométaide, ein kleiner drahtiger Mann, auftauchte. Er hatte ein spitzes, listiges Gesicht und ein Lächeln, dem Fidelma nicht trauen mochte. Es schien ihn kaum zu überraschen, daß die drei Stammesfürsten freigelassen werden sollten. Er nahm den Befehl vollkommen ungerührt entgegen.

Am Ende der Burganlage befand sich ein Gebäude, das von den anderen durch eine hohe Mauer abgetrennt war. Nur mit Erlaubnis des Königs oder seines Tanist durfte man hinter die Mauer. Der alte Name dieses Gebäudes lautete Duma na nGiall - Geiselstätte. Einst verwendete man das alte Wort duma für ein Hügelgrab, später dann für einen angelegten Hügel, den man meist Duma Dala nannte und der für Versammlungen bestimmt war. Inzwischen bezeichnete man damit einen Ort, an dem man die Gefangenen hielt. Nachdem Fidelma hinter dem Gefängniswärter die Tore passiert hatte, ging sie an einer Reihe karg, aber zweckdienlich ausgestatteter Zellen vorbei.

Der Wärter lachte über ihren erstaunten Blick, als sie sich umsah.

»Hier halten wir die Adligen fest, die im Krieg gefangengenommen wurden und dem König nicht ihr gell - ihr Ehrenwort - geben wollen«, erklärte er.

Jene Gefangenen, die vor dem Gesetz und vor Gott das Gelübde abgelegt hatten, die Freiheit, die sie bedingt erhielten, nicht zu mißbrauchen, bezeichnete man als gellach. Es war üblich, daß Kriegsgefangene ein solches Gelübde ablegten und sich frei im feindlichen Stammesgebiet oder gar im ganzen Königreich bewegen durften. Manche Männer heirateten sogar oder wurden von ihren ehemaligen Feinden adoptiert und führten anschließend in ihrer neuen Heimat ein glückliches Leben. Die Tatsache, daß die drei Fürsten der Ui Fidgente lieber ihren Status als Gefangene beibehielten und auf die bedingte Freiheit verzichteten, verriet Fidelma viel über ihr Wesen. Sie saßen alle drei zusammen in einer Zelle und hatten soeben ihre erste Mahlzeit beendet. Der Wärter kündigte Fidelma an.

»Lady Fidelma von Cashel, Tochter des Failbe Flann, Schwester von Colgu, König von Muman.«

Die Männer zögerten erst, dann erhob sich der erste, schließlich standen alle auf. Sie blickten sie an, und sie sah sowohl Abneigung als auch Neugierde in ihren Augen.

Fidelma betrachtete die drei Gefangenen prüfend. Einer von ihnen war etwas älter, seine Gerissenheit stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er hatte eine lange Nase, wulstige Lippen und engliegende, abwägende dunkle Augen, die sich in Fidelma hineinzubohren schienen, als suchten sie nach einem Schwachpunkt in ihr. Sein Gesicht trug eine Narbe, die seine Augenbraue ganz entstellte. Die beiden anderen waren jünger und dunkelhäutig, ihr Blick war provozierend -vielleicht lag auch ein Funken von Arroganz in ihren Gesichtern. Etwas war ihnen allen gemein - ihre düstere Streitlust, als sie Fidelma begrüßten.

»Wer hat nicht schon von Fidelma von Cashel gehört«, verkündete der ältere Fürst langsam, »die eine so bedeutende Rolle beim Sturz von unserem Prinzen Eo-ganan gespielt hat!« Seine Stimme verriet, daß ihm ihr Name nicht gefiel.

»Und du bist?« fragte Fidelma, setzte sich hin und betrachtete ihn mit regloser Miene.

»Ich bin Cuirgi von Ciarraige. Das sind meine Cousins Cuan und Crond.«

»Nehmt Platz, wir werden uns unterhalten«, sagte Fidelma und winkte dem Wärter, daß er gehen könne. Überrascht sahen sich die Ui Fidgente an.

»Hast du keine Angst, mit den Todfeinden deines Volkes allein zusammenzusein?« höhnte Cuirgi.

»Müßte ich denn Angst haben?« erwiderte Fidelma.

Auf einmal fiel den Männern auf, daß sie immer noch vor ihr standen. Cuirgi setzte sich prompt hin und rekelte sich arrogant. Er antwortete einfach nicht auf ihre Frage.

»Und, Fidelma von Cashel, bist du gekommen, um uns zu belehren?« fragte er, und in seiner Stimme lag immer noch ein höhnischer Ton. »In welcher Rolle bist du eigentlich hier? Als eine Prinzessin der Eogha-nacht? Als Nonne? Oder als ddlaigh?«

Fidelma verschränkte die Hände auf dem Schoß. »Als Mutter komme ich.«

Cuan, einer der jüngeren Männer, lächelte düster.

»Wir haben gehört, daß du dich mit irgendeinem Ausländer zusammengetan und ihm einen Balg geschenkt hast.«

Die Farbe von Fidelmas Augen schien auf einmal von grün zu einem kalten Blau zu wechseln. Ihr Blick ließ das Lächeln im Gesicht des Mannes erstarren.

»Ich bin mit Eadulf von Seaxmund’s Ham aus dem fernen Land des Südvolks hinter dem Meer verheiratet«, sagte sie ruhig. »Unser Sohn heißt Alchu.«

»Und was haben deine familiären Umstände mit uns zu tun, Fidelma von Cashel?« fragte Cuirgi.

»Habt ihr gehört, was mit meinem Sohn geschehen ist?«

Zu ihrer Überraschung sahen die Männer sie verständnislos an. Cuirgi sprach: »Wir bekommen hier in unserem Kerker nur wenig mit. Was treibst du für ein Spiel mit uns?«

Fidelma beherrschte sich.

»Heißt das, daß ihr weder durch Gerede in der Burg noch über andere Wege erfahren habt, was in der letzten Woche geschehen ist?«

Cuirgi beugte sich angriffslustig vor.

»Du - eine Eoghanacht - stellst das Wort eines Ui Fidgente in Frage? Sage, was du zu sagen hast, und dann geh wieder.«

»Nun gut. Mein Sohn ist entführt worden. Offenbar wird er von euren Anhängern festgehalten, die mit ihm eure Freilassung erwirken wollen.«

Ganz offensichtlich verstellten die Männer sich nicht, sie waren wirklich verblüfft.

Cuirgi, der anscheinend ihr Anführer war, gewann als erster die Fassung wieder.

»Du bringst uns da gute Nachrichten, Fidelma von Cashel.«

»Ihr werdet freigelassen.«

Die beiden jüngeren Krieger stießen Freudenschreie aus.

»Ihr werdet freigelassen und dürft nach Norden in eure Heimat reiten. Eure Verbündeten haben versprochen, meinen Sohn zurückzugeben, sobald ihr die Berge überquert habt. Ihr wußtet nichts von dem Plan?«

Cuirgi lächelte triumphierend und ging nicht auf ihre Frage ein.

»Wann können wir aufbrechen?«

»Welche Garantie haben wir, habe ich, daß eure Verbündeten zu ihrem Wort stehen?«

»Das Wort der Ui Fidgente gilt genausoviel wie das einer Eoghanacht!« fuhr Cuan sie an.

Fidelma erwiderte schroff: »Dann hat sich der Wert eines Versprechens der Ui Fidgente geändert, denn als euer Prinz Eoganan meinem Bruder einen Eid schwor, verging kaum ein Jahr, und er führte wieder die Ui Fidgente an, um Colgu vom Thron von Muman zu stoßen. Ich möchte mich hier nicht über die Wertigkeit eines Versprechens der Ui Fidgente und der Eog-hanacht streiten. Ich bin hier, um herauszufinden, ob die Zusage, die eure Anhänger gaben, gilt oder ob sie falsch ist. Schließlich ist mein Sohn das Pfand in diesem Spiel.«

Cuirgi lehnte sich wieder zurück und sah sie nachdenklich an. Dann zuckte er mit den Achseln.

»Wie gesagt, wir kennen diese Verbündeten nicht. Wir haben keine Ahnung von ihren Plänen. Aber es ist gut zu hören, daß bei unserer Niederlage bei Cnoc Äine nicht die ganze Mannhaftigkeit der Ui Fidgente untergegangen ist. Wenn sie zu solchen Mitteln gegriffen haben, um uns aus den grauen Kerkermauern von Cashel zu befreien, dann singt mein Herz ganze Lobeshymnen auf sie, und ich sage, was immer sie auch tun, ich bin dabei.«

Fidelmas Augen wurden zu zwei glühenden Spitzen.

»Nun gut. Wenn du auf eure Verbündeten triffst, Cuirgi von Ciarraige, dann richte ihnen folgendes von mir aus - sie müssen sich an ihr Versprechen halten und mir Alchu wohlbehalten übergeben. Wenn sie auch nur daran denken sollten, das nicht zu tun, so schwöre ich, werde ich sie bei allem, was mir heilig ist, jagen und niederstrecken lassen. Jeden von ihnen, und jeden einzelnen Sohn von ihnen - bis ins jüngste Glied werde ich sie auslöschen, damit es nicht einen mehr geben wird, der sich an sie erinnern kann.«

Ihre Stimme war leise, aber so kalt, daß die Aufrichtigkeit ihrer Worte nicht angezweifelt werden konnte. Cuirgi war von der Vehemenz ihres Auftretens überrascht.

»Eine Nonne, die Flüche ausstößt?« Es sollte spöttisch klingen, tat es aber nicht.

»Es ist nicht die Nonne, sondern die Mutter, die hier flucht«, erwiderte Fidelma leise. »Und falls du Zweifel haben solltest, so kenne ich mich in den alten Bräuchen genausogut aus wie in den neuen. Ich werde keine Gewissensbisse haben und mir keinerlei Zurückhaltung auferlegen, den glam dicin zu verkünden.«

Cuirgis Kiefer klappte nach unten.

»Aber das ist vom neuen Glauben ausdrücklich untersagt worden.«

Die drei Stammesfürsten der Ui Fidgente entdeckten etwas in ihren Augen, das sie unfreiwillig erschauern ließ.

»Es gibt viele Dinge, die der neue Glaube nicht billigt, Cuirgi«, sagte sie ruhig. »Mißbilligung allein heißt nicht, daß diese Dinge sich in Luft auflösen oder daß man sie nicht mehr anwendet. Vor tausend und abertausend Jahren kannten unsere Druiden die Macht des glam dicin und haben diesen Brauch weitergereicht. Was sind wir Nonnen und Mönche denn anderes, als Druiden in neuem Gewand?«

Ein glam dicin war ein mächtiger Zauberspruch, der sich gegen eine oder mehrere Personen richtete - ein Fluch, der sehr gefürchtet wurde, denn er bewirkte, daß die Verfluchten voller Schmach erkrankten oder gar starben und sogar ihre Wiedergeburt im Jenseits verhindert wurde. Menschen, die unter dem Bann des glam dicin standen, wurden von ihren Familien und von allen Schichten der Gesellschaft verstoßen, und sie waren dazu verurteilt, als Ausgestoßene ein Leben ohne Hoffnung in dieser oder in der nächsten Welt zu fristen, bis der Zauberbann wieder aufgehoben wurde. Es war ein Zauberspruch aus uralten Zeiten, noch vor Anbeginn der Zeit überhaupt.

»Das würdest du nicht tun«, murrte Cuirgi, aber seine Stimme klang nicht zuversichtlich.

»Falls du glaubst, ich würde vor irgendeinem Mittel zurückschrecken, mein Baby zu schützen, kennst du den Schmerz einer Mutter nicht, deren Kind in Gefahr ist«, erwiderte Fidelma unbeeindruckt.

Cuirgi musterte sie eindringlich, dann zog er die Schultern hoch.

»Wenn wir auf unsere Befreier treffen, werde ich ihnen deine Botschaft ausrichten.«

Fidelma erhob sich.

»Dann sucht eure Sachen zusammen. Der Wärter wird euch gleich zu den Toren bringen. Man wird euch bis zur Straße nach Norden begleiten.«

Noch ehe die Männer antworten konnten, hatte Fidelma die Zelle verlassen.

Der Gefängniswärter führte sie aus dem Duma na nGiall in den Burghof. Fidelma ging sogleich in ihre Gemächer und goß sich einen Becher corma ein. Sie leerte ihn in einem Zug. Sie fühlte sich erschöpft und war über sich wütend, denn sie hätte nie geglaubt, jemals so weit gehen und mit der Verkündung eines glam dicin drohen zu müssen. Wenn Bischof Ségdae, der ein aufrichtiger und fortschrittlicher Vertreter des neuen Glaubens war, davon etwas zu Ohren bekäme, konnte sie exkommuniziert werden. Die Lage war ziemlich ernst. Ihr Zorn hatte sie überwältigt. Ihr war kein anderes Mittel eingefallen, mit dem sie den Ui Fidgente hätte drohen können.

Sie setzte sich aufs Bett, versenkte den Kopf in ihren Händen und stöhnte laut.

»O Eadulf! Wo bist du, wenn ich deine Stärke und Gelassenheit brauche?« flüsterte sie. Sie schaukelte eine Weile vor und zurück; schließlich versuchte sie zu ergründen, was Eadulf vorhatte. Welchen Plan verfolgte er? Wo war er hingeritten?

Als sie draußen auf dem Hof Schritte hörte, stand sie auf. Sie lehnte sich ans Fenster und blickte hinunter. Es wurden Pferde zum Ausritt vorbereitet. Colgu stellte den feindlichen Fürsten sogar seine Pferde zur Verfügung, damit sie schnell und wohlbehalten in ihre Heimat zurückkehren konnten.

Sie verließ ihre Kammer und eilte den Gang entlang und die Treppen hinunter in den Hof. Sie schaute sich nach Gorman um, der die Ui Fidgente begleiten sollte. Keine Spur von ihm weit und breit, doch sie entdeckte Caol, der gerade ein Pferd aus dem Stall führte.

»Wo ist Gorman?« fragte sie neugierig.

»Fort«, erwiderte Caol lakonisch. Caol hatte gerade sein Pferd bereitgemacht, um die Fürsten zu begleiten.

»Ich dachte, daß Gorman die Ui Fidgente zur Straße nach Norden bringen sollte.«

Caol zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nur, daß Gorman mich gebeten hat, seinen Auftrag auszuführen. Er sagte, er hätte andere dringende Angelegenheiten zu klären, die ihn von Cashel fortführten.«

»Dringende Angelegenheiten?«

»Er ließ sein Pferd satteln.«

Als die drei Ui Fidgente herausgeführt wurden, schwang sich Caol auf sein Pferd. Fidelma eilte zum Tor, wo Finguine darauf wartete, die drei ehemaligen Geiseln zu verabschieden.

»Weißt du, in welcher Mission Gorman aus Cashel aufgebrochen ist?« fragte sie Finguine ohne Umschweife.

Der sah sie verständnislos an.

»Auf meinen Befehl ist er jedenfalls nicht unterwegs, Cousine. Ich dachte, er würde die Stammesfürsten begleiten.«

»Er hat Caol gebeten, das zu tun. Caol und die Stammesfürsten brechen jeden Moment auf.«

»Nun gut, vielleicht hat er etwas Privates zu regeln.« Finguine sprach einen der Wachposten am Tor an. »Hat Gorman euch gesagt, weshalb er Cashel verlassen wollte?«

Der Wächter schüttelte den Kopf. »Nein, Finguine. Er ist vor wenigen Augenblicken erst an mir vorbeigeritten, aber gesagt hat er nichts.«

Fidelma runzelte die Stirn.

»Vermutlich hast du nicht gesehen, in welche Richtung er ritt, oder?«

»Ich sah, wie er den Hügel hinunterritt und dann weiter durch die Stadt. Er nahm den Weg nach Westen.«

Plötzlich fühlte Fidelma, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief. Gorman war also nach Westen geritten, nach Westen, auf dem gleichen Weg, den Eadulf genommen hatte. Nach Westen zur Abtei von Colman.

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