Kapitel 4

Es war kurz vor Mittag, als Fidelma und Eadulf, gefolgt von Capa, Gorman und Caol, westlich von Cas-hel den dunklen Fluß Suir erreichten. Sie kamen an eine Brücke, die zu einer kleinen Insel inmitten des Flusses und dann ans andere Ufer führte. Auf der Insel erhob sich eine kleine Festung, die Cashel in Kriegszeiten Schutz vor militärischen Angriffen bot. An den Ufern des breiten Flusses zogen sich dichte Wälder hin.

Eadulf erinnerte sich daran, wie er zum erstenmal mit Fidelma hier entlanggeritten war. Ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken, denn damals waren sie von Kriegern der Ui Fidgente aufgehalten worden, als sie das mysteriöse Verschwinden der Reliquien des heiligen Ailbe und Bruder Mochtas, dem Hüter der Reliquien, aufklären wollten. Genau an dieser Stelle waren sie von den feindlichen Kriegern überrascht worden. Er war damals gezwungen gewesen, mit seinem Pferd durchs eiskalte Wasser zu schwimmen.

Auf dem tosenden Fluß spiegelten sich dunkle Wolken wider, die von Westen herbeizogen und sich bedrohlich am Himmel auftürmten. Fidelma schaute empor.

»Gewitterwolken«, sagte sie. »Wir müssen vielleicht bald irgendwo Schutz suchen.«

Eadulf erinnerte sich daran, daß sich jenseits der Brücke der Brunnen von Ara befand, an dem eine kleine Siedlung lag. Dort waren sie schon einmal gewesen. Ein Mann namens Aona, der einst die Leibgarde des Königs von Cashel befehligt hatte, unterhielt dort eine Wirtsstube.

Er schreckte zusammen.

»Was ist los?« flüsterte Fidelma.

»Ich glaube, jemand versteckt sich in der Festung auf der Insel. Wir werden von jemandem beobachtet.«

Capa überholte sie, er war die Ruhe selbst.

»Das werden sicher unsere Krieger sein, Lady. Kurz nachdem Saraits Leiche gefunden wurde und das Baby verschwand, sind Männer ausgeschickt worden, die auf den Straßen patrouillieren sollen. Ich habe drei Männer abgestellt, jeden, der die Brücke überquert, zu kontrollieren.«

Er trieb sein Pferd an und ritt als erster über die Brücke. Eadulf beobachtete den Krieger, der von der Festung her auf sie zukam. Er salutierte vor Capa. Als er Fidelma und Eadulf erkannte, riß er die Augen weit auf.

»Was gibt es für Neuigkeiten?« fragte Capa.

»Nichts Besonderes, Herr«, erwiderte der andere. »Kurz nachdem wir hier eintrafen, passierte eine Gruppe von Pilgern die Brücke. Sonst waren hier nur Leute aus der Gegend in Geschäften unterwegs. Sie waren uns sämtlich bekannt. Das ist alles. Keine Spur von jemandem mit einem kleinen Kind .« Er schaute kurz zu Fidelma und sah dann bedrückt zu Boden.

»Habt ihr auch Tag und Nacht aufgepaßt?« erkundigte sich Capa streng.

»Meine Leute und ich waren sehr gewissenhaft. Von dem Morgen an, als uns Finguine hier hersandte, also an dem Tag, an dem der Alarm ausgelöst wurde, waren wir ständig auf Posten. Wir haben uns dabei abgewechselt. Einer ist immer da, während die anderen schlafen. Nachts hat hier niemand die Brücke passiert.«

»Warum sollte man auch über diese Brücke gehen?« fragte Eadulf. »Flußaufwärts gibt es Furten. Außerdem hätte derjenige, der Sarait umgebracht und das Baby entführt hat, noch in der gleichen Nacht die Brücke überqueren können«, stellte er fest. »Vielleicht ist ja die ganze Überwachung umsonst.«

»Da magst du recht haben, Bruder Eadulf«, stimmte ihm Capa widerstrebend zu. »Aber wir haben gleich nach Bekanntwerden des Verbrechens jeden alarmiert und Reiter ins Land ausgeschickt. Immer noch besser, als gar nichts zu tun.«

»Was war mit diesen Pilgern?« fragte Fidelma und beugte sich interessiert vor.

»Da gibt es nur wenig zu sagen, Lady. Wir sind auf der Straße an ihnen vorbeigeritten, sie waren zu Fuß. Wir trafen hier ein, und bald stießen sie zu uns. Es waren ungefähr sechs. Solche Pilger habe ich schon öfter gesehen auf dem Weg zu heiligen Stätten, wo sie Linderung für ihre Gebrechen erbitten. Sie waren nicht voneinander zu unterscheiden. Alle trugen Umhänge, und ihre Köpfe waren unter Kapuzen verborgen. Wir konnten weder erkennen, wie alt sie waren, noch ob es sich um Männer oder Frauen handelte. Aber Kinder waren nicht darunter, ich meine keine Babys.«

Fidelma blickte ihn prüfend an.

»Wieso grenzt du deine Aussage auf Babys ein?«

Der Mann zögerte einen Moment.

»Ich dachte, einer der Pilger hätte auch ein Kind sein können, ein kleinwüchsiges, mißgestaltetes armes Geschöpf.«

Fidelma zog eine Augenbraue hoch. »Ein mißgestaltetes Kind?« fragte sie streng.

Der Krieger zuckte mit den Schultern. Er überlegte, wie er am besten beschreiben konnte, was er gesehen hatte.

»Der Pilger war nicht unbedingt als Kind zu bezeichnen. Sein Körper wirkte sehr stämmig. Er ging mir ungefähr bis hier ...« Der großgewachsene Mann zeigte auf seine Taille.

Capa sah ihn abschätzig an. »Vermutlich hast du die Reisenden nicht gefragt, wer sie sind, oder? Du weißt doch, daß wir nach dem verwachsenen Kind suchen, das die Nachricht nach Cashel gebracht hat. Diesen Pilger hättest du unbedingt festhalten müssen.«

»Man hat mir nichts von einem verwachsenen Kind gesagt«, erwiderte der Krieger betroffen. »Ich sollte nur nach Alchu, dem Baby, Ausschau halten. Als wir auf die Pilger zugingen, um sie zu befragen, holte der Kleinwüchsige ein Glöckchen hervor und läutete damit. Es war eine Lepraglocke. Mir war bereits aufgefallen, daß sich die anderen Pilger von dem Aussätzigen fernhielten. Daher näherten wir uns ihnen nicht weiter, sondern ließen sie nach Imleach ziehen.«

Fidelma atmete langsam aus. Einzig daran war zu erkennen, wie aufgebracht sie war. Der Mann sah sie mit gequälter Miene an.

»Es ist wahr, Lady, wir sollten nicht nach einem verwachsenen Kind suchen - nur nach einem Baby«, sagte er.

»Wer hat das angeordnet, Krieger?« fragte Capa gereizt.

»Lord Finguine.«

»So, nun weißt du es jedenfalls, auch wenn ich befürchte, daß es zu spät ist«, antwortete Capa. »Ein verwachsenes Kind hat die Botschaft in die Burg von Cashel gebracht, die Sarait in den Tod lockte. Sei von nun an wachsam.«

Der Krieger nickte niedergeschlagen.

Von den westlichen Bergen her erscholl ein dumpfes Donnergrollen. Fidelma riß sich von ihren Gedanken los.

»Wir sollten zum Brunnen von Ara reiten, ehe das Gewitter losbricht.«

Capa erreichte als erster der kleinen Gruppe das andere Ufer.

Bedrückt sah ihnen der Krieger von der Brücke nach. Dann entspannten sich seine Züge. Er zuckte verächtlich mit den Schultern. Capa war verrückt, wenn er erwartete, daß seine Männer sich nah an einen Leprakranken heranwagten.

Hier und da fielen schon große Regentropfen, und das Donnergrollen kam immer näher. Die Gruppe gelangte nun auf eine kleine Anhöhe, und von da aus führte sie ihr Weg zu einem anderen breiten Fluß. An dessen beiden Uferseiten lag die Siedlung, die sich um den Brunnen von Ara gebildet hatte und durch viele seichte und gut passierbare Untiefen verbunden war. Das Wasser reichte den Pferden kaum bis an die Fesseln. Vor einer Schenke genau an einer Furt hielten sie an.

Ein junger Bursche, kaum älter als vierzehn Jahre, öffnete die Tür zur Gaststube und trat heraus, um sie zu begrüßen.

»Willkommen, ihr Reisenden. Seid willkommen bei .«

Da entdeckte er plötzlich Fidelma und Eadulf, und sein Mund verzog sich zu einem breiten kindlichen Lächeln.

»Sei gegrüßt, Adag.« Fidelma lächelte ebenfalls, als sie sich von ihrem Pferd schwang. »Alles in Ordnung?«

»Ja, Lady. Willkommen. Bruder Eadulf, herzlich willkommen. Wir freuen uns über euren Besuch.«

Nun lächelte auch Eadulf und fuhr mit seiner Hand durch Adags zersaustes Haar.

»Schön, dich wiederzusehen, Adag. Seit letztem Mal bist du sehr gewachsen.«

Der Junge richtete sich auf. Er glich nur noch wenig dem Elfjährigen, den Eadulf einst am Ufer getroffen hatte und der versucht hatte, eine zappelnde Forelle an seiner Angel aus dem Wasser zu ziehen.

»Wie geht es deinem Großvater, Adag?« fragte Fidelma, als ihr der Junge die Zügel ihres Pferdes abnahm. Rasch griff er noch die Zügel der anderen Pferde.

»Er ist drin, Lady. Er wird sich freuen, euch zu sehen. Ich werde die Pferde in den Stall führen. Mein Großvater wird sich um euch kümmern. Werdet ihr eine Weile bleiben? Ich kann dann eure Pferde versorgen.«

Fidelma schaute zum Himmel auf, den gerade ein Blitz erhellte. Sie blinzelte und zählte leise. Ehe der Donner folgte, hatte sie bis vier gezählt.

»Das Gewitter ist schon sehr nah«, erklärte sie resigniert. »Wir werden es wohl hier abwarten müssen. Wie lange wird das deiner Meinung nach dauern, Adag?«

Der Junge schaute mit ernstem Blick zum Himmel empor.

»Ungefähr in einer Stunde ist es vorbei. Genügend Zeit für eine Schüssel Suppe und einen Becher vom corma meines Großvaters. Ich werde derweil die Pferde füttern und trockenreiben.«

Capa hatte die ganze Unterhaltung über geschwiegen, doch nun sagte er: »Meine Männer können sich selbst um ihre Pferde kümmern .«

Fidelma hob eine Hand. »Adag kann das übernehmen, Capa. Er ist sehr tüchtig. Kommt mit hinein, er wird schon damit fertig.«

Und sie trat ins Innere der Gaststube. Dort war es dunkel, ein eigenartiges tanzendes Licht kam vom Feuer her. Im ganzen Raum duftete es nach Hammelsuppe, die in einem großen Topf über dem Feuer vor sich hin köchelte.

Ein alter Mann stellte gerade Trinkbecher auf den Tisch. Als er die Neuankömmlinge erkannte, verschlug es ihm beinahe die Sprache.

»Hallo, Aona. Wie geht es dir?«

»Besser, da ich dich nun sehe, Lady. Und unseren lieben sächsischen Freund, Bruder Eadulf. Seit eurem letzten Besuch hier war das Leben recht ruhig.«

»Gut, ich bete dafür, daß es auch weiterhin so bleiben möge, Aona«, erwiderte Fidelma. »Friede ist besser als Streit, nicht wahr?«

Capa fühlte sich ein wenig ausgeschlossen. Geringschätzig beäugte er die Vertrautheit zwischen Fidelma und dem Gastwirt.

»Los, Wirt, hol uns zu essen und zu trinken«, sagte er laut und bestimmt.

Fidelma drehte sich zu ihm um, und nur Eadulf sah, daß kurzzeitig Verärgerung in ihrem Gesicht aufblitzte.

»Aona, ich möchte dir Capa vorstellen. Capa hat nun den Posten, den du einst innehattest.«

Capa begriff nicht recht, er errötete und fühlte sich von Fidelma getadelt. Er sah den Gastwirt eindringlich an, da erst ging ihm auf, was Fidelma gesagt hatte.

»Bist du etwa der Aona, der zu Zeiten meines Groß-vaters Befehlshaber der königlichen Leibgarde von Cashel war?« erkundigte er sich überrascht. »Jener Aona, von dessen Taten und Schlachten noch heute gesprochen wird?«

Caol und Gorman, die hinter Capa standen, blickten den alten Gastwirt voller Ehrfurcht und Respekt an. Beide waren noch jung und voller Stolz, den goldenen Halsring der Leibgarde des Königs von Cashel zu tragen. An den unzähligen Abenden, an denen sich die Krieger um ein wärmendes Feuer scharten, hörten sie viel von den Taten und der Tapferkeit der großen Männer, die vor ihnen zu Ruhm gekommen waren und denen sie nacheifern wollten.

Der Alte amüsierte sich über ihre Blicke.

»Ich bin Aona, einst Befehlshaber der königlichen Leibgarde«, entgegnete er. »Doch du sprichst ja über mich, als sei ich schon ein Greis, mein junger Krieger.« Seine grauen Augen funkelten wie Stahl, als er Capa ansah. »Du bist also jetzt Befehlshaber in Cashel, ja? Nun, das Kommando ist nicht ausschließlich eine Sache der Muskeln, junger Freund. Wollen wir hoffen, daß dein Verstand genau so beweglich ist wie dein Körper.«

»Ich kann mich damit rühmen, Colgu bisher keinen Grund zur Beschwerde gegeben zu haben«, erwiderte Capa.

»Das freut mich«, versicherte ihm Aona ruhig. Dann sah er rasch zu Fidelma und zwinkerte ihr zu. »Du zitierst doch so gern Publilius Syrus. Hat er nicht gesagt, daß der Abstand zwischen dem Ruhm eines stolzen Mannes und seiner Schande nur ganz klein ist?«

Er zitierte die Zeilen auf Latein, und Capa verstand sie offensichtlich nicht. Fidelma versuchte nicht zu lächeln, denn sie wußte, daß sich Aona damit über etwas lustig gemacht hatte, was sie für Capas Schwäche hielt - nämlich dessen Arroganz. Sie drehte sich um und gab Capa und seinen Männern zu verstehen, daß sie Platz nehmen und etwas zu Trinken bestellen sollten. Eadulf und sie gingen zum Feuer. Der Wirt brachte den drei Kriegern einen Krug mit rotbraunem Bier, das man leann nannte und das aus Roggen gebraut wurde, und ein paar irdene Trinkbecher. Gierig stürzten sie sich darauf. Fidelma winkte Aona zu sich hinüber.

»Ehe wir von deiner Suppe und deinem berühmten corma kosten, sag uns bitte, ob du an diesem Weg etwas Ungewöhnliches bemerkt hast. Du mußt wissen, daß ...«

Aona unterbrach sie mit einem Kopfschütteln.

»Du brauchst mir nichts zu erklären, Lady. Ich habe von eurem Unglück gehört. Wenn es etwas gibt, was ich tun kann, stehe ich gern zur Verfügung. Es sind nur wenige Reisende die Straße von Cashel entlanggekommen.«

Fidelma blickte ihn dankbar an.

»Wir versuchen, irgendeinen Anhaltspunkt zu finden«, erklärte sie. »Irgendeinen Hinweis auf den Aufenthaltsort meines Kindes. Ich möchte ein paar Pilger befragen, die hier vorbeigekommen sein müssen.«

Aona strich sich mit der Hand das Haar nach hinten.

»Pilger? Sie haben sich zum Glück nicht in die Nähe meiner Gaststube gewagt, wofür ich, um die Wahrheit zu sagen, ein Dankgebet gemurmelt habe.«

»Aus welchem Grunde?« fragte Fidelma überrascht.

»Die Pilger zogen weiter westwärts nach Imleach. Doch einer von ihnen, der letzte in der Gruppe, trug die Glocke der Leprakranken, um vor seinem Auftauchen zu warnen. Ich beobachtete, wie sie die Furt durchquerten und, ohne anzuhalten, durch die Siedlung gingen, worüber alle erleichtert waren, wie ich bemerkte.« Er hob eine Hand. »Bitte keine Belehrungen über Barmherzigkeit, Lady. Ich bin genauso barmherzig wie jeder andere auch, und dennoch war ich dankbar, daß sie mit dem Aussätzigen vorbeizogen und weder um Almosen noch um Gastfreundschaft baten.«

»Und du hast gesehen, wie sie weiterliefen?« wollte Eadulf noch einmal bestätigt haben. »War einer von ihnen klein oder untersetzt - vielleicht ein Kind oder ein Jugendlicher?«

»Ich habe sie nur von weitem gesehen. Außerdem trugen sie lange Umhänge und Kapuzen. Möglicherweise war der mit der Glocke ein wenig kleiner als die anderen. Das war nur schwer zu erkennen. Doch ein Baby hat niemand getragen. Die ganze Woche über war nur wenig los auf der Straße, Lady. Kaum mehr als ein Dutzend Reisende, und die Hälfte davon kannte ich. Von ihnen erfuhr ich vom Verschwinden deines Kindes. Ein umherziehender Kräutersammler mit seiner Frau und zwei Babys auf einem Fuhrwerk erzählte mir zuerst davon. Ich war gerade am Fluß angeln, als ich sie bemerkte. Sie kamen von Norden, aus Richtung Cappagh, und waren bei der Brücke auf die Straße von Cashel gelangt.«

»Und wann war das?« wollte Eadulf wissen.

»Vor vier oder fünf Tagen.«

»Du sagst, sie hatten zwei Babys dabei?«

Aona nickte.

»Ist wohl unwichtig«, erklärte Fidelma. »Ist sonst noch jemand vorbeigekommen? Irgendwelche anderen Fremden?«

»Nur noch zwei. Kurz bevor der Kräutersammler mit seiner Frau auftauchte, ritten hier zwei Mönche auf guten Pferden vorbei. Der eine kam aus dem nördlichen Königreich und begleitete einen Fremden aus einem fernen Land hinter den Meeren. Dieser war ganz anders als die ausländischen Mönche, die ich bisher gesehen hatte. Zuerst hatte ich vermutet, er sei Grieche, weil ich schon mehreren solcher Mönche auf ihrem Weg nach Imleach begegnet war. Aber er glich eigentlich doch nicht einem Griechen .«

»Das war bestimmt der Perser«, erklärte Eadulf. »War der andere aus dem Norden ein Mönch aus der Abtei von Ard Macha?«

Aona lächelte ein wenig. »Das hätte er gut sein können, Bruder Eadulf. Er war ein selbstbewußter junger Mann und erwähnte voller Stolz seinen König Blathmac mac Mael Cobo .«

»Von den Dal Fiatach von Ulaidh«, bestätigte ihm Fidelma. »Wie lange hielten sie sich auf?«

»Sie erholten sich hier bei Speis und Trank. Sie sagten, daß sie zur Abtei von Colman an der Westküste unterwegs seien.« Aona machte ein Pause und blickte zu den Kriegern hinüber. »Entschuldige mich bitte, Lady. Ich muß mich um das Essen kümmern. Adag versorgt wohl eure Pferde, nicht wahr?«

Daraufhin verschwand Aona und kehrte rasch mit frischem Brot und Schüsseln dampfender köstlicher Hammelsuppe wieder.

Eadulf gesellte sich zu den anderen, die sich gleich über die Suppe hermachten. Aona füllte unterdessen die Becher mit corma, dem feurigen, hochprozentigen Gerstengetränk, das er gebraut hatte. Eadulf erinnerte sich noch daran, wie er das erstemal bei Aona eingekehrt war und fast erstickt wäre an dem starken Gebräu. Er bat daher um einen Becher Wasser, woraufhin Aona vielsagend lächelte.

»Du hast mein corma noch gut in Erinnerung, Bruder Eadulf.«

Fidelma saß am Fenster und sah hinaus in den Regen. Nachdenklich knabberte sie an den Früchten, die Aona ihr in einer Schale gereicht hatte.

Als sich alle gestärkt hatten und das Unwetter vor der Tür nicht weiter beachteten, setzten sich Fidelma und Eadulf neben Aona vor das Feuer und unterhielten sich über vergangene Zeiten. Adag kam vom Stall herein und klopfte sich das Wasser von seinem schweren Wollumhang.

»Na, Bürschchen, meinst du immer noch, daß das Gewitter innerhalb einer Stunde vorbei sein wird?« fragte Capa.

Adag lächelte unbeeindruckt. »In weniger als einer Stunde, Krieger. Durch den Berg konnte ich nicht das ganze Ausmaß der Wolkenwand erkennen. Doch jetzt sieht man schon wieder etwas Blau, also wird es bald vorbei sein«, fügte er zuversichtlich hinzu.

Die Krieger unterhielten sich leise, das Herdfeuer knisterte fröhlich, doch die drei alten Bekannten schwiegen. Da meinte Aona auf einmal: »Daß ausgerechnet Sarait ermordet wurde! Was für eine unglückliche Familie.«

»Unglücklich?« fragte Eadulf kurz. »Kennst du ihre Familie?«

»Nun, ich kenne eher die Familie ihres Mannes«, gab Aona zu. »Ich kannte den Vater ihres Mannes sehr gut. Er hieß Cathchern und gehörte zu meinen Leuten. Er stammte aus der Siedlung hier. Ich erlebte, wie sein Sohn Callada heranwuchs. Daher war ich nicht überrascht, als er seinem Vater in die Leibgarde des Königs von Cashel folgte. Und hier, ja hier, in diesen Räumen, haben Callada und Sarait geheiratet und ihre Hochzeit gefeiert. Das muß jetzt drei oder vier Jahre her sein.«

»Ich habe Callada nicht so gut gekannt«, gestand Fidelma.

»Er war ungefähr zehn Jahre älter als du, Lady.«

»Aber warum hast du gesagt, daß die Familie unglücklich sei?« fragte Eadulf verwirrt.

»Nun, mein alter Kamerad Cathchern ließ in einer Schlacht gegen die Ui Néill sein Leben, als Callada gerade mal das Alter der Wahl erreicht hatte. Cathcherns Frau starb an Gelbfieber. Dann traf es Callada ... Er fiel vor zwei Jahren in der Schlacht von Cnoc Äine.«

»Das weiß ich alles«, sagte Fidelma. »Deshalb hat Sarait auch Arbeit in der Burg meines Bruders erhalten, als ich dorthin zurückkehrte, um mein Kind zur Welt zu bringen. Sie versorgte mich und war dann Alchus Amme.«

»Ich schätze, es war Cathcherns und Calladas eigener Wunsch, Krieger zu sein, nicht wahr?« fragte Eadulf. »Dann wußten sie, daß der Tod ihr ständiger Begleiter ist. Und am Gelbfieber sind sehr viele Menschen gestorben. Warum also war jene Familie besonders unglücklich?«

»Es gab häßliche Geschichten.«

»Häßliche Geschichten?«

Aona machte eine unbeholfene Geste, als wolle er abtun, was er da erwähnt hatte. »Vielleicht ist es unangebracht, sie jetzt wieder aufzuwärmen.«

Eadulf schnaubte verächtlich. »Das hättest du dir vorher überlegen sollen. Jetzt mußt du uns alles erzählen.«

Aona zögerte. Dann zuckte er mit den Schultern und beugte sich zu ihnen vor. Flüsternd begann er: »Ich hörte von ein paar Kriegern, die an der Schlacht von Cnoc Äine teilgenommen hatten, daß Callada nicht durch Feindeshand den Tod fand, sondern durch einen seiner eigenen Leute.«

Eadulf war darüber nicht verwundert. Er hatte Ähnliches schon von anderen Schlachten gehört.

»Willst du damit sagen, daß ihn auf dem Schlachtfeld auf einmal der Kampfesmut verlassen hat? Solche Geschichten habe ich zur Genüge gehört und weiß, daß so manch einer getötet wurde, weil er sich als Feigling erwies und das Leben seiner Gefährten aufs Spiel setzte.«

»Das weiß ich auch. Aber Callada war kein Feigling. Er war ein guter Krieger und stammte aus einer Familie großer Krieger. Dennoch haben sich diese Geschichten gehalten. Ganz gleich wie er den Tod fand, er kam bei Cnoc Äine ums Leben. Und Sarait starb auch eines gewaltsamen Todes. Eine Familie, in der der Tod auf gewaltsame Weise kommt und niemand mehr übrigbleibt, um die großen Taten der Vorfahren zu besingen, ist eine unglückliche Familie.«

Fidelma schwieg einen Moment. Dann lächelte sie.

»Nun, Aona, wir haben genügend Gewalt miterlebt. Wie angenehm wäre es nun, sich in ein abgelegenes Tal hoch oben in den Bergen zurückzuziehen und mit uns und unserer Umwelt in Frieden zu leben.«

Aona machte ein trauriges Gesicht.

»Vor der Gewalt der Menschheit ist kein Ort sicher. Ich fürchte, daß es immer Gewalt geben wird, Lady.«

Fidelma erhob sich und blickte durchs Fenster. Der Himmel hellte auf.

»Adag hat recht behalten. Der Himmel ist heller. Das Gewitter zieht weiter. Wir müssen weiter nach Imleach.«

Der alte Gastwirt stand auf.

»Ich wünsche dir bei deiner Suche viel Glück, Lady Fidelma. Du mögest dein Kind finden und den Mörder von Sarait einer gerechten Strafe zuführen.«

Capa und seine Männer hatten sich ebenfalls erhoben.

»Reiten wir jetzt weiter nach Imleach, Lady Fidelma?« fragte Capa. Als Fidelma nickte, erklärte Capa: »Wir werden selbst die Pferde fertigmachen. Der junge Bursche muß nicht bemüht werden, Wirt.« Adag war inzwischen nebenan in der Brauerei, wo er im Auftrag von Aona ein paar Arbeiten verrichtete.

Die Krieger waren kaum aus der Gaststube, als die Tür wieder aufging und ein stämmiger Mann in mittleren Jahren eintrat. Er schien ein fröhlicher Geselle zu sein.

»Sei gegrüßt, Aona. Deine Gäste sind wohl gerade im Aufbruch. Krieger, wie es scheint ...«

Auf einmal entdeckte er Fidelma und Eadulf und verstummte erstaunt. Aona lächelte Fidelma an.

»Da wir uns gerade darüber unterhalten haben -das ist Cathalan. Er hat auch bei Cnoc Äine gekämpft. Cathalan, das ist .«

Der Neuankömmling hatte den Raum durchquert und neigte voller Respekt seinen Kopf.

»Lady, ich hatte die Ehre, deinem Bruder bei Cnoc Äine zu dienen. Ich erkenne dich wieder, ich habe von deinem Unglück gehört. Es tut mir sehr leid.«

Fidelma senkte dankend den Kopf.

»Cathalan, wir haben soeben erst von Saraits Ehemann gesprochen und wie er zu Tode kam.«

»Hast du gesehen, wie er starb?« fragte Eadulf.

Cathalan schüttelte sofort den Kopf.

»Ich war nicht Zeuge. Aber ich habe so allerlei gehört. Nach einer Schlacht, Bruder Eadulf, da kriegt man immer irgendwelche Geschichten erzählt. Fragt man nach, so heißt es, daß diese Geschichte von einem anderen stammt, der sie wiederum von jemand anderem hörte, der angeblich etwas gesehen haben soll. Fragt man dann denjenigen, so kennt er das Ganze auch nur aus dem Munde eines anderen, der dabeigewesen sein soll. Aber das Gerücht, daß Callada von einem unserer eigenen Krieger umgebracht worden sei, stammt aus zwei unterschiedlichen Quellen. Einmal von einem Ui Fidgente und dann von einem unserer Leute. Ich habe keinen Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit. Wir konnten jedoch keine weiteren Nachforschungen anstellen, denn es gab niemanden, der das ganze wirklich bezeugen konnte.«

»Hat man den Vorfall einem Brehon vorgetragen?« wollte Fidelma wissen.

»Ja. Brehon Dathal sagte, daß er in dem Fall ermittelt hätte und die Ermittlungen wegen fehlender Ergebnisse hätte einstellen müssen.«

»Ich verstehe. Du bist also einer der Krieger, die nur wiederholt haben, was andere dir erzählten.«

Cathalan zögerte einen Augenblick.

»Gibt es noch etwas Wichtiges?« fragte Fidelma vorsichtig.

»Ich war Calladas cenn-feadhna.« Eadulf dachte an die gut durchorganisierten Strukturen der Truppen

von Éireann. Er wußte, daß ein cenn-feadhna der Anführer einer buden oder einer Kompanie war, zu der hundert Krieger gehörten. »In der Hitze des Gefechts bei Cnoc Äine haben wir uns aus den Augen verloren. Einige meiner Männer, es waren vierzehn Krieger, ließen an diesem Tag ihr Leben, weil wir zu den ersten gehörten, die ins Zentrum der Ui Fidgente vorstoßen sollten.« Er schwieg kurz. »Am Abend vor der Schlacht, als wir alle am Feuer saßen, fiel mir auf, daß Callada Sorgen hatte. Ich fragte ihn, was ihn so bedrückte, und zuerst wollte er mir nichts davon erzählen. Doch da ihn die Sache sehr bewegte und ich weiter in ihn drang, verriet er mir, daß er guten Grund zu der Annahme hätte, daß Sarait ihm nicht treu sei.«

»Daß sie eine Affäre mit einem anderen Mann hatte?« fragte Eadulf.

»Daß sie womöglich eine Affäre mit einem anderen hatte. Callada war sich nicht sicher.«

»Wer hat noch davon gewußt?« fragte Fidelma.

»Er sprach nur zögernd von dem Ganzen. Ich glaube nicht, daß er noch jemand anderen ins Vertrauen gezogen hatte.« Auf einmal legte sich Cathalans Stirn in Falten. »Meinst du, daß es da eine Verbindung zu Saraits Tod gibt?« Doch schon schüttelte er daraufhin den Kopf. »Aber das ist nicht möglich, sie war die Amme deines Kindes, und man hat dein Baby entführt. Da besteht gewiß kein Zusammenhang, oder?«

»Wir müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen«, sagte Fidelma ruhig. »Sarait ist tot. Sie wurde aus der Burg direkt in den Tod gelockt. Weil man hoffte, so mein Kind entführen zu können? Falls dem so ist, dann .«

Plötzlich verstummte sie, sie hatte bemerkt, daß sie laut nachgedacht hatte. Sie richtete ihre blaugrünen Augen auf Cathalan.

»Hat Callada verraten, wen er verdächtigte, eine Affäre mit seiner Frau zu haben?«

»Leider nicht.«

»Und als du die Gerüchte über sein Ende hörtest, was hast du da vermutet?«

Cathalan zuckte mit den Schultern. »Lady Fidelma, ich bin nicht zum cenn-feadhna ernannt worden, weil ich so gut Vermutungen anstelle. Ich habe Brehon Dathal die Fakten mitgeteilt. Überlegungen muß er selbst anstellen. Das ist alles, was ich zu sagen habe.«

Gorman steckte den Kopf in die Gaststube, den neuen Gast bemerkte er nicht.

»Die Pferde sind bereit, Lady.«

Fidelma schwieg kurz, dann lächelte sie Cathalan an.

»Ich bin dir für diese Informationen sehr dankbar. Wirklich. Sie können wichtig sein oder auch nicht. Wahrscheinlich sind sie es nicht. Aber alles mag irgendwie hilfreich sein.« Sie wandte sich wieder an Aona. »Für deine Gastfreundschaft stehen wir wieder einmal in deiner Schuld, Aona.« Sie drückte ihm ein paar Münzen in die Hand, die er nur widerstrebend annahm.

»Es ist mir immer eine Freude, dir zu helfen, Lady Fidelma.« Der alte Wirt lächelte. »In diesem Königreich gibt es wohl niemanden, der dir nicht bei der Verfolgung des Täters Erfolg wünscht.«

»Sicher wirst du mir zustimmen, daß es mindestens einen in diesem Königreich gibt, der das nicht tut, Aona«, erwiderte Eadulf trocken, als er sich umdrehte und Fidelma aus der Gaststube folgte. Aona brauchte einen Moment, ehe er Eadulfs Worte begriff, doch da hatte sich schon die Tür hinter seinen Gästen geschlossen.

Bald ritten sie am Nordufer des Flusses Ara weiter nach Süden. Die langgezogene grüne Kammlinie des Slievenamuck hob sich von dem hellen Himmel ab. Die dunklen Gewitterwolken waren nach Osten abgezogen. Es würde ein schöner Nachmittag werden. Die Sonne war schon im Westen, stand aber noch hoch am Himmel. Eadulf versuchte sich an den Namen der Berggruppe ein paar Kilometer nördlich vor ihnen zu erinnern. Fidelma hatte ihn damals bei ihrem ersten Ritt auf dieser Straße erwähnt.

Und als hätte Fidelma seine Gedanken lesen können, beugte sie sich in diesem Augenblick zu ihm hinüber und berührte ihn am Arm.

»Das ist das Slieve Felim-Gebirge«, erklärte sie. »Dahinter liegt das Land der Ui Fidgente. Ohne Schutz sollte man sich da nicht hineinbegeben.«

Als sie aus dem Wald herauskamen und in ein offenes hügeliges Gelände ritten, erkannte Eadulf den Ort sofort wieder.

Imleach Iubhair: »Grenzland des Eibenwaldes«. Die Abtei des heiligen Ailbe war von hohen Mauern umgeben. Hier war zum erstenmal in Muman die Lehre Christi gepredigt worden. Die Mauern beherrschten das Erscheinungsbild der kleinen Stadt, die vor ihnen lag. Eadulf konnte sich kaum mehr vorstellen, daß Fidelma und er an diesem Ort beinahe ihr Leben eingebüßt hätten. Es kam ihm hier alles so vertraut vor, als er die Weideflächen erblickte, die von Wäldern aus hohen Eiben umgeben waren.

Als er das erstemal in Imleach war, war es wie ausgestorben gewesen, doch nun herrschte auf dem Marktplatz vor der Abtei ein emsiges Treiben. Die Leute strömten zu den Ställen und Verschlägen mit Rindern, die geduldig auf ihre Käufer warteten. Ziegen, Schweine und Schafe drängten sich in Gehegen. Die Händler priesen lauthals ihre Waren an. Die Käsemacher, die Schmiede, die Bäcker und unzählige andere Handwerker versuchten, Kundschaft anzulocken.

»Ganz anders als beim letztenmal«, sagte Eadulf erfreut.

»Das Leben hat sich wieder normalisiert«, meinte Fidelma nur, als sie über den Marktplatz voranritt und auf die traurigen Überreste der riesigen verbrannten Eibe zusteuerte, die einst höher als die mächtigen Abteimauern gewesen war. Zweiundzwanzig Meter war der Baum einmal hoch gewesen. Fidelma hielt mit Capa und den anderen Kriegern davor an und senkte den Kopf. Eadulf wußte, daß der Baum das Totem der Eoghanacht war, ihr »Baum des Lebens«, angeblich eigenhändig gepflanzt von Eibhear Foinn, dem Sohn von Milidh, von dem die Eoghanacht abstammten. Eadulf war noch gut in Erinnerung, wie die Feinde der Eoghanacht den Baum zerstören wollten. Damals hatte er sich mit Fidelma in der Abtei verschanzt. Sie hatten nicht verhindern können, daß der Baum brannte. Dennoch war es nicht gelungen, ihn zu töten.

»Trotz unserer Feinde«, lächelte Gorman stolz und zeigte auf ein paar grüne Triebe an den höheren Zweigen, »lebt unser Baum immer noch.«

Eadulf war überrascht davon. Seit uralten Zeiten war der Baum Symbol für die Lebenskraft der Dynastie der Eoghanacht. War er gesund und kräftig, so würde es dem Stamm der Eoghanacht ebenso ergehen. Starb der Baum, so würden auch die Eoghanacht gestürzt und ausgelöscht werden. Doch die Eoghanacht hatten wie der Baum überlebt. Wenn man den Barden trauen durfte, so gab es sie schon über fünfundneunzig Generationen, seit Eibhear Foinn sie begründet hatte.

Fidelma und ihre Begleiter wandten sich von der Eibe ab und ritten zur Abtei. Der Torwärter hatte sie bereits erspäht, und so standen die großen Eichentore offen. Eine vertraute Gestalt erwartete sie. Es war Bruder Madagan, der rechtaire oder Verwalter der Abtei.

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