Kapitel 15

Eadulf döste vor sich hin. Er war fast eingeschlafen, da vernahm er auf dem Gang ein Geräusch. Er sprang auf und preßte sich an die Wand hinter der Tür. Er schaute zu der Stelle, wo die Steinplatte lag. Von der Tür aus konnte man sie gut sehen. Die Riegel wurden zurückgeschoben. Er wünschte, er hätte irgendeine Waffe, aber er hatte nichts Geeignetes finden können.

Die Tür ging auf. Eine rauhe Stimme sagte: »Rein mit dir. Dein Essen kriegst du später.«

Eadulf wartete darauf, daß der Krieger in die Zelle trat. War er denn blind? Warum sah er die verschobene Steinplatte nicht? Dann hörte er, wie Basil Nestorios auf Griechisch losredete.

»Still!« murrte der Wächter. »Dein heidnisches Geschwätz verstehe ich sowieso nicht, und .«

Er verstummte. Wahrscheinlich zeigte Basil Nesto-rios nun auf die Platte, um den Krieger in die Zelle locken. Es funktionierte. Eadulf hörte, wie der riesige Krieger in die Zelle kam.

Eadulf sprang ihn von hinten an, packte ihn mit beiden Händen am Hals und würgte ihn. Der Krieger versuchte, Eadulfs Griff zu lösen. Doch Eadulf klammerte sich mit der Kraft der Verzweiflung an ihn und ließ nicht locker. Er mußte erreichen, daß er bewußtlos wurde. Es schien aussichtslos. Der Krieger war zu stark und wehrte sich heftig. Er wollte ihn abschütteln. Als Eadulf bereits aufgeben wollte, erschlaffte der Krieger auf einmal und fiel zu Boden. Eadulf stürzte mit ihm und lockerte seinen Griff erst, als er sicher war, daß sich der Mann nicht nur verstellte. Erst dann sprang er auf, schlug von außen die Tür zu und schob die Riegel vor. Er lehnte sich gegen die Tür und holte tief Luft. Nun sah er den Arzt an.

»Wie ist es bei Uaman gelaufen?« flüsterte er.

»Das weiß ich nicht genau«, erwiderte Basil Nestorios. »Ich habe die Mixtur zubereitet und ihm erklärt, daß sie zu seiner Behandlung gehöre. Sollte er sie wirklich genommen haben, wirkt sie bestimmt schon.«

Eadulf war entsetzt. »Willst du damit sagen, du hast nicht gesehen, ob er das Zeug auch getrunken hat?«

Basil Nestorios schüttelte den Kopf. »Der Böse befahl dem Wächter sogleich, mich zurück in die Zelle zu bringen. Ich habe die Mixtur bei ihm stehenlassen.«

Eadulf stöhnte leise. »Dann können wir nicht sicher sein, daß Uaman wirklich außer Gefecht ist. Wir müssen sofort von hier weg.«

»Aber meine Arzneikiste, meine Satteltaschen . Sie befinden sich immer noch bei ihm.«

»Die müssen wir erst einmal dortlassen. Ich werde keine Zeit verschwenden und in Uamans Räume schleichen, um festzustellen, ob er schläft, und sie dann holen. Das Gepäck würde uns sowieso nur behindern.«

Basil Nestorios wollte ihm schon widersprechen, doch dann leuchtete ihm das ein.

»Wohin nun, mein sächsischer Freund?«

Eadulf sah sich um. Der Gang, an dem die Zelle lag, verlief wahrscheinlich wie die anderen, die er gesehen hatte, kreisförmig um die äußere Mauer. Über ihnen mußte das Stockwerk mit den vielen Fenstern sein. Sie befanden sich wohl zu ebener Erde.

»Wenn wir diesen Gang entlanglaufen, müßten wir zu dem Innenhof am Tor gelangen. Sollten wir das Tor unbemerkt erreichen und aus der Festung herauskommen, steht das Wasser bestimmt noch nicht so hoch, daß wir nicht mehr zum Festland hinüberkönnen.«

»Es wird schon dunkel, ich glaube, die Flut wird bald einsetzen«, sagte Basil Nestorios zweifelnd.

»Dann wollen wir nicht länger hier herumstehen«, rief Eadulf. »Folge mir.«

Vorsichtig schlich er durch den schmalen Gang und sah sich nach möglichen Ausgängen um. Nach einer Weile blieb er stehen.

»Hier ist eine kleine Tür: Ich glaube, sie führt auf den Hof. Riegel und Schlösser sehe ich keine. Bist du bereit?«

Der Arzt nickte rasch.

Eadulf trat auf die Tür zu, die einen Metallring aufwies, mit dem man einen Schnappriegel hochziehen konnte. Er streckte die Hand vorsichtig danach aus. Ganz leise öffnete sich der Schnapper. Behutsam drehte er weiter, so daß draußen niemand ein Geräusch wahrnehmen konnte. Er spähte hinaus und seufzte leise.

Die Tür führte in der Tat auf den Innenhof hinaus. Er konnte sogar das hohe Holztor sehen, durch das man aus der Turmfestung nach draußen gelangte. Leise zog er die Tür wieder zu. Basil Nestorios sah ihn verblüfft an.

»Da läuft ein Krieger herum und zündet die Brandfackeln zur Nacht an«, flüsterte er.

Der Arzt schwieg. Eadulf zählte in Gedanken die Minuten, bis der Krieger seinen Auftrag ausgeführt haben mochte. Es konnte im Innenhof kaum mehr als sechs Fackeln geben.

Vorsichtig öffnete er wieder die Tür und spähte umher.

Der Hof schien leer. Der Schein der Fackeln hüllte ihn in ein schauriges Licht. Wenn die Wächter hier entlangkamen, würden sie jeden Flüchtling entdecken, sobald er aus der Tür trat. Doch sie mußten es einfach riskieren. Eadulf hoffte, daß die Krieger das Innere der angeblich uneinnehmbaren Festung nicht so stark bewachten. Schließlich nahmen sie ja an, daß ihre Gefangenen in den Kerkerzellen waren - es sei denn, daß man inzwischen den Wächter vermißte, der den Arzt zurückgebracht hatte. Sie mußten es wagen, denn je länger sie sich Zeit ließen, desto geringer wurden ihre Aussichten auf Erfolg.

Auf einmal hörten sie eine Glocke läuten.

Eadulf erstarrte.

Basil Nestorios rief verzweifelt etwas in seiner Muttersprache.

»Das ist Uamans Glocke«, zischte er dann. »Da hat er wohl den Trank nicht zu sich genommen.«

»Jetzt ist es zu spät. Wir müssen zum Tor. Dort sind zwei Eisenriegel angebracht, siehst du die? Ich nehme den oberen, du den unteren, und laß dich durch nichts aufhalten.«

Nun läutete es heftiger.

Eadulf öffnete schnell die Tür und rannte über den Hof zum großen Tor. Basil Nestorios folgte ihm. Eadulf packte den oberen Eisenriegel und zog ihn zurück. Der Arzt war fast zur gleichen Zeit am unteren Riegel. Eadulf war gerade dabei, einen der Torflügel aufzuziehen, als er jemanden hinter sich rufen hörte.

Er schlüpfte durch den entstandenen Spalt hinaus, sein Gefährte war dicht hinter ihm. Dann blieb er entsetzt stehen.

Direkt vor ihm stand ein großer Krieger mit breiten Schultern, der sein Schwert gezogen hatte. Eadulf erstarrte, als er ihn im Fackelschein erkannte.

»Gorman!« rief er erschrocken.

Die Augen des Kriegers von Cashel zuckten und wurden schmaler, als er hinter Eadulfs Schultern eine zweite Person bemerkte.

»Fort, Bruder Eadulf!« rief er, als sein Schwert schon niederfahren wollte.

Eadulf machte einen Satz nach vorn und duckte sich automatisch. Dann drehte er sich auf dem Absatz um, wobei er beinahe strauchelte. Auch Basil Nestorios hinter ihm war zur Seite gesprungen. Nun sah Eadulf zwei von Uamans Männern, die mit gezogenen Schwertern hinter ihnen herstürmten.

Gormans Hieb traf einen von ihnen am Hals. Der Krieger kippte zur Seite und ließ dabei sein Schwert fallen. Der zweite Krieger parierte Gormans Hieb; eine ganze Weile kämpften sie miteinander. Doch Ua-mans Mann war kein guter Schwertkämpfer, und das Schwert des Kriegers mit dem goldenen Halsring der Leibgarde von Cashel steckte schließlich in seiner Brust. Mit einem Ächzen sank er auf die Knie, sein Blick wurde glasig. Er fiel vornüber und ließ sein Schwert los.

»Folgen euch noch mehr?« rief Gorman.

»Zwei oder drei«, krächzte Eadulf.

Gorman sah zu dem Arzt hinüber. »Und wer ist das?«

»Ein Mitgefangener.«

Immer noch läutete die Glocke.

Gorman drehte sich um und zeigte auf die verschwommenen Umrisse des Ufers.

»Die Flut hat eingesetzt. Wir müssen zurück. Kennst du den Weg, Bruder? Der Dünenweg zum Ufer ist voller Tücken.«

Die Glocke schwieg einen Moment. Im finsteren Turm stieß jemand einen furchtbaren Klageschrei aus, der kaum von einem Menschen stammen konnte. Eadulf erzitterte. Das war Uamans Wutschrei.

»Das wird uns seine restlichen Krieger auf den Hals hetzen«, rief Eadulf. »Wir laufen besser ans Ufer, dort sind wir sicherer.« Er blickte ins Dunkel. Von allen Seiten hörte man das rauschende Flüstern des Meeres. »Einfach geradeaus. Folgt mir.«

Er ging voraus, versuchte, nicht zu forsch zu laufen, jeder Schritt mußte auf festen Boden treffen, ehe er den nächsten tat. Das brauchte seine Zeit. Auf halbem Wege konnten sie immer noch Schreie hören, die manchmal vom Läuten der Glocke unterbrochen wurden. Eadulf blickte zurück.

Die flackernden Fackeln, die zu beiden Seiten des großen Tores der Festung hingen, warfen Licht auf die beiden toten Krieger. Da tauchte ein dritter Krieger auf, und dann noch zwei oder drei weitere. Schließlich konnte Eadulf auch Uamans gekrümmte Gestalt erkennen, ein dünner, dunkler Schatten, der mit seiner Glocke am Tor stand und fluchte.

»Sie verfolgen uns«, rief Basil Nestorios, der sich ebenfalls umgewandt hatte.

Eadulf sah, wie Uaman die drei Krieger auf den schmalen Dünenweg führte. Alle vier trugen Fackeln und konnten so rascher dem richtigen Pfad folgen. Trotz seiner Gehbehinderung gewann Uaman erstaunlich rasch an Boden. Offensichtlich hatte er nicht die Mixtur zu sich genommen, die Basil Nestorios für ihn zubereitet hatte, denn er war genauso schnell wie seine Krieger. Eadulf beschleunigte das Tempo.

»Wenn wir weiter so vorankommen, werden wir das Ufer wohl erreichen, aber dort müssen wir kämpfen«, erklärte Gorman.

»Dann werden wir eben kämpfen«, antwortete Ea-dulf.

Das Wasser schwappte ihm schon um die Füße. Es kam rasch, aber leider nicht rasch genug, dachte er bitter.

Wenig später krochen sie die Uferböschung unter den dunklen Bäumen hinauf. Dort warteten sie und machten sich auf das Schlimmste gefaßt.

Ihnen bot sich ein eigenartiger, schauriger Anblick. Im Hintergrund stand der hohe Turm von Uaman, düster und unheimlich, auch wenn nun das beleuchtete Tor offenstand. Ein Strahl silbernen Mondlichts hatte sich einen Weg durch die niedrig hängenden Wolken gebahnt und ließ einen funkelnden Lichtertanz auf den Wellen entstehen. Das Wasser stieg schnell. Der Dünenweg zur Insel war kaum noch zu erkennen.

Uaman war nicht mehr weit vom Ufer entfernt. Überraschenderweise hatte er zehn Meter Vorsprung vor seinen Männern. Mit seiner weißen knöchernen Klaue hielt er die Fackel hoch. Es schien, als hätte die Wut die Oberhand in ihm gewonnen, denn in seiner Raserei hatte er offenbar nach keiner anderen Waffe gegriffen.

»Schaut nur!« flüsterte Gorman auf einmal.

Eadulfs Blick ging aufs Meer. Da rollte etwas Dunkles auf den Streifen Wasser zu, der inzwischen die Insel vom Ufer trennte.

Zuerst begriff Eadulf nicht, um was es sich handelte.

»Tonn taide!« flüstere Gorman.

Eine Flutwelle, höher als ein Mensch. Sie schob sich rasch über die Meerenge hinweg. In Sekundenschnelle wurden die drei Krieger hinter Uaman von der Wucht der Welle hinaus ins dunkle Wasser gerissen. Sie verschwanden samt ihren verlöschenden Fackeln. Uaman war schon näher am Ufer und entkam der Gewalt der Welle, obwohl auch er den Boden unter den Füßen verlor, aber wie durch ein Wunder konnte er seine brennende Fackel hochhalten. Die drei Gefährten sahen, wie das Wasser durch den großen Sog der Flutwelle abebbte. Diese Chance nutzte Uaman, richtete sich auf und eilte weiter aufs Ufer zu. Doch er war von dem schmalen Dünenweg abgekommen und versank im Boden.

»Der Treibsand!« murmelte Gorman.

Der tückische Sand hielt Uaman schon bis zur Taille gefangen. Mit panischen Bewegungen versuchte er, herauszukommen. Eadulf wollte zu ihm eilen, doch Gorman hielt ihn zurück.

»Du kannst ihm nicht helfen«, erklärte er ihm.

Eadulf war außer sich.

»Begreifst du denn nicht, begreifst du denn nicht ...? Er ist doch der einzige, der weiß, wo sich Alchu aufhält. Der einzige, der mich zu meinem Sohn führen kann.«

Wieder wollte er loslaufen, aber die erbarmungslose Flut drängte weiter aufs Land zu, und Uaman war schon bis zur Brust im Sand versunken.

»Uaman!« rief Eadulf verzweifelt und lief so nah ans Wasser, wie er nur konnte. »Wo ist mein Baby? Wo ist Alchu?«

Uamans Kapuze war nach hinten gefallen und hatte einen weißen, kahlen Schädel enthüllt. Im flackernden Fackelschein konnten sie sehen, wie sich die Lepra in sein Fleisch gefressen hatte.

»Verflucht sollen du und die Eoghanacht sein! Möget ihr euren Balg nie wiedersehen. Möget ihr vor lauter Kummer und Gram sterben. Mögen die Katzen euer Fleisch fressen. Möget ihr verfaulen in euren Gräbern ... Der Tod soll auf euch kommen!«

Da kehrte die Flutwelle zurück. Die Fackel verlosch. Uaman verstummte. Nur das rauschende schwarze Wasser war an der Stelle zu sehen, wo er den Tod im Treibsand fand.

»»Es korakes!« brummte Basil Nestorios zufrieden. »Zur Hölle mit ihm.«

Eadulf ließ sich in den Sand fallen und wiegte den Kopf in den Händen.

Der Alptraum war so wirklich.

Mit langsamen Schritten traten die Mönche aus der bronzebeschlagenen Eichentür der Kapelle heraus in das kalte graue Licht des Mittelhofs der Abtei. Es war ein großer Hof, mit dunklen Granitplatten ausgelegt, auf allen vier Seiten erhoben sich die hohen, freudlosen Steinmauern der Abteigebäude und ließen den Innenraum kleiner erscheinen, als er in Wirklichkeit war.

Die Reihe der kapuzetragenden Mönche, an der Spitze ein Bruder mit einem reichverzierten Metallkreuz, bewegte sich in gemessenem Schritt und mit gesenkten Köpfen. Sie hatten die Hände in den Falten der Kutten verborgen und sangen einen lateinischen Psalm. In kurzem Abstand hinter ihnen kam eine ähnliche Zahl von kapuzetragenden Nonnen, die ebenfalls die Köpfe gesenkt hielten und die Oberstimme des Psalms sangen. Das Echo in dem engen Raum erzeugte einen grausigen Effekt.

Sie stellten sich an zwei Seiten des Hofes auf, mit dem Gesicht zu einer hölzernen Plattform, auf der eine seltsame dreieckige Konstruktion aus aufrechten Pfählen errichtet war, die ein Dreieck von Balken trugen. An einem Balken hing ein Seil mit einer Schlaufe. Dicht unter die Schlaufe hatte man einen dreibeinigen Schemel gestellt. Neben dieser düsteren Vorrichtung stand breitbeinig ein hochgewachsener Mann. Er war bis zum Gürtel nackt und hielt die starken, muskulösen Arme über der breiten, behaarten Brust gekreuzt. Regungslos starrte er auf die Prozession von Mönchen und Nonnen, ungerührt und ohne Scheu vor der Arbeit, die er auf dieser makabren Plattform verrichten sollte.

Vor dem Podest kniete Fidelma, die von zwei teuflisch grinsenden Frauen festgehalten wurde. Ihr Instinkt sagte ihr, daß eine davon Äbtissin Ita von Kil-dare war, jene, die dafür gesorgt hatte, daß sie damals das Kloster verlassen hatte, die andere war Äbtissin Fainder, das böse Oberhaupt der Abtei von Fearna. Sie hielten sie fest im Griff, und obwohl sich Fidelma wehrte, konnte sie sich nicht bewegen. Sie war gezwungen, zu den finsteren Aufbauten und dem Henker hinaufzublicken.

Dann traten zwei kräftige Mönche vor, sie zogen einen Mann mit sich. Auch er mußte vor dem Podest niederknien.

»Eadulf!« rief Fidelma, als sie ihn erkannte. Aber seine Bewacher hielten ihn so fest, daß er sie nicht einmal anschauen konnte.

Nun trat ein dritter Mann mit einem Baby auf den Armen vor. Er übergab das Kind dem Henker, der sich auf die Schlinge zubewegte.

»Tu etwas, Eadulf! Um Himmels willen, tu etwas!«

Fidelma schrie im Traum. Plötzlich wurde sie wach, sie stöhnte und wehrte sich gegen die Fesseln, die sie immer noch an Händen und Füßen hatte. Sie war schweißgebadet.

Durch das Fenster fiel graues Licht herein. Fidelma versuchte, zu sich zu kommen. Sie wünschte, sie könnte sich den Schweiß vom Gesicht wischen.

Da drang das leise Wiehern eines Pferdes an ihr Ohr.

Sie nahm an, daß es aus dem Stall kam. Im unteren Geschoß rührte sich etwas, jemand murmelte. Warum flüsterten die Ui Fidgente? Sie drehte sich so, daß sie besser hören konnte.

Ihr Herz begann schneller zu schlagen. Sollte Colgu etwa herausgefunden haben, daß sie irgendwo festgehalten wurde, und war ihrer Spur bis zur Jagdhütte gefolgt? War da draußen jemand, der sie retten kam? Rasch murmelte sie ein Gebet und wünschte sich, daß es so wäre.

Dann vernahm sie ein Geräusch, und die Tür unten knarrte. Sie konnte Cuans schroffe Stimme hören.

»Es muß irgendein wildes Tier gewesen sein, das die Pferde unruhig gemacht hat. Ich kann niemanden sehen.«

Verzweiflung kam wieder über sie. Eben noch war sie so voller Hoffnung gewesen. Nun vernahm sie unten Gelächter.

»Wir sollten uns besser aus dem Staub machen. Jetzt sucht noch keiner nach uns. Wir nehmen die Frau mit und kehren in unser Land zurück.«

»Ich werde die Pferde satteln«, erwiderte eine andere Stimme. »Crond soll die Frau herschaffen.«

Nun hörte Fidelma noch etwas anderes. Es war wie ein leises Kratzen auf dem Dach über ihr. Unten wurde die Tür der Jagdhütte geöffnet, dann stieß jemand einen gequälten Schrei aus und stürzte offenbar zu Boden.

Cuirgis Stimme rief: »Crond, schaff die Frau her. Schnell!«

Schritte eilten die Treppe hoch. Doch da schwang sich eine dunkle Gestalt durchs Fenster in ihre Kammer.

Mit gezücktem Schwert stürmte Crond von der Treppe herein. Die dunkle Gestalt richtete sich auf, auch sie hielt ein Schwert in der Hand. Fidelma stockte der Atem, als sie die Gestalt erkannte.

»Conri!« rief sie, doch der Name ging im lauten Aufeinandertreffen der Schwerter unter. Für einen richtigen Kampf war der Raum viel zu eng, trotzdem schlugen die beiden Männer schonungslos aufeinander ein. Crond führte in rascher Folge Stöße gegen den Brustkorb seines Gegners. Hätte er getroffen, wäre jeder Stoß tödlich gewesen. Doch Conri war nicht umsonst Kriegsfürst der Ui Fidgente. Er parierte jeden Stoß und griff selbst so stürmisch an, daß Crond seine Taktik ändern mußte.

Nach einem schnellen Schwerthieb trat aus Cronds Oberarm Blut aus, was ihn sehr erzürnte. In seiner Wut ließ er seine Deckung außer acht, holte mit seinem Schwert aus und ließ seine rechte Seite ungeschützt. Er wirkte beinahe überrascht, als Conris Schwert tief zwischen seine Rippen drang. Er ließ sein Schwert fallen, taumelte zurück und sank dann langsam zu Boden.

Für kurze Zeit trat Stille ein. Von unten rief jemand: »Die Jagdhütte gehört uns, Conri!«

Der hatte inzwischen sein Schwert in die Scheide gleiten lassen und schnitt mit einem Messer Fidelmas Fesseln durch.

»Fidelma! Bist du verletzt? Ist alles in Ordnung?«

Fidelma konnte anfangs nur nicken; sie rieb sich die Handgelenke. Der Strick hatte tief in ihr Fleisch eingeschnitten und auch an den Fußgelenken Spuren hinterlassen.

»Wie kommst du denn hierher, Conri?« fragte sie schließlich.

Der Kriegsfürst grinste. »Hast du vergessen, daß wir verabredet hatten, uns hier zu treffen?«

Sie lächelte über seinen neckenden Ton. »Aber nicht unter diesen Umständen«, erwiderte sie.

»Das ist wohl wahr«, pflichtete er ihr bei. »Es ist ganz einfach. Wir ritten durch das Tal von Bilboa und warteten am Crois na Rae auf die drei Fürsten. Als sie nicht auftauchten, beschloß ich, die Hälfte meiner Männer an den Bergpässen aufzustellen, falls sie dort entlangkommen sollten. Dann dachte ich an unsere Verabredung. Da wir eine Weile auf die Fürsten gewartet haben, konnten wir nicht schon gestern abend hier sein. Wir sind aber die ganze Nacht hindurch geritten, um wenigstens gegen Morgengrauen bei der Jagdhütte zu sein.«

» Woher wußtest du, daß die drei Fürsten hier sind?«

Conri zuckte mit der Schulter. »Ich habe eher befürchtet, den Kriegern deines Bruders hier zu begegnen, denn mir war bewußt, daß Colgu sein gesamtes Königreich gegen uns aufbieten würde. Also haben wir uns ganz vorsichtig der Jagdhütte genähert und etwas entfernt im Dickicht unsere Pferde versteckt.

Ich war dabei, zunächst den Stall auszukundschaften, als ich Cuan entdeckte. Da wurde mir klar, daß etwas nicht stimmte.«

»Und woher hast du gewußt, wo ich zu finden bin?«

»Ich sagte meinen Männern, sie sollten die Tür im Auge behalten, dann bin ich aufs Dach geklettert. Ich habe dich durchs Fenster gesehen. Einer der Fürsten kam gerade unten durch die Tür nach draußen. Ich nehme an, einer meiner Männer hat ihn mit einem Pfeil getroffen. Also bin ich durchs Fenster gestiegen. Ich hatte kaum Zeit, das Gleichgewicht wiederzufinden, da stürzte Crond schon herein.«

»Du kanntest ihn?« wollte Fidelma wissen.

»Er war ein Stammesfürst der Ui Fidgente. Bin ich nicht Kriegsfürst der Ui Fidgente? Ich kenne sie alle.«

»Ist er tot?« fragte Fidelma und stand langsam auf. Sie blickte hinunter zu Crond.

»Er ist tot«, bestätigte ihr Conri, »aber nach all dem, was er verbrochen hat, werde ich an seinem Grab nicht eine Träne vergießen.«

Einer von Conris Männern kam die Treppe hoch, um zu sehen, ob alles in Ordnung war, und teilte ihnen mit, daß Cuan von einem Pfeil in der Schulter getroffen worden sei, aber lebte. Cuirgi hätte sich kampflos gefangennehmen lassen.

»Und dein Sohn, Lady Fidelma, wo ist er?« fragte Conri.

»Das weiß ich nicht, mein Freund. Die drei haben gesagt, daß sie von einer Entführung nichts wüßten und auch nichts damit zu tun hätten. Wenn dies also kein Komplott zur Befreiung der drei Fürsten war, dann begreife ich gar nichts mehr.«

»Das habe ich doch gesagt, Lady Fidelma«, erwiderte Conri. »Falls es nicht eine aufrührerische Gruppe gibt, die uns unbekannt ist, streiten die Ui Fidgente jede Mitwisserschaft in dieser Angelegenheit ab. Wir haben mit deinem Bruder Frieden geschlossen, und wir werden uns daran halten.«

Fidelma stampfte mit den Füßen auf, um ihren Blutkreislauf anzuregen. Sie blickte zu Conri hoch.

»Bist du bereit, mit mir nach Cashel zu reiten und das zu wiederholen? Und wirst du diese Fürsten als Zeichen deiner Treue wieder an meinen Bruder ausliefern?«

»Werden wir unter deinem Schutz stehen? Die Eoghanacht werden nicht gerade erfreut sein, Ui Fid-gente in Cashel zu erblicken.«

Fidelma nickte. »Ihr steht unter meinem Schutz«, sagte sie feierlich.

»So werden wir gern mitkommen.«

»Dann wollen wir uns stärken und uns auf den Ritt nach Cashel vorbereiten«, sagte Fidelma. Ihr Bruder würde sich wegen ihres spurlosen Verschwindens schon große Sorgen machen. Fidelmas Erleichterung über ihre Rettung und die Rückführung der Stammesfürsten wurde gedämpft durch die bedrückende Erkenntnis, daß sich das einzige Motiv für Alchus Verschwinden und dem Mord an Sarait in ein Nichts aufgelöst hatte. Jetzt wurde sie wieder von den Ängsten um ihr Kind und Eadulf völlig überrollt. Sie schloß einen kurzen Moment die Augen, um die Qualen in ihrem Herzen zu verbergen. Eadulf! Wo war Eadulf gerade?

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