Kapitel 17

Seit ihrer Rückkehr vor zwei Tagen war die Zeit für Fidelma unglaublich schleppend vergangen. Kein Zeichen von Eadulf hatte sie erreicht, und Bruder Con-chobar hielt sich immer noch in Lios Mhor auf. Gorman war seit ein paar Tagen verschwunden, und Capa war soeben erst von seiner Mission zur Grenze der Ui Fidgente zurückgekehrt. Die zwei überlebenden Fürsten der Ui Fidgente waren wieder in ihre Zellen gesperrt worden und erwarteten ihren Prozeß wegen Mordes an dem Aufseher der Jagdhütte und dessen Sohn. Conri und seine Männer hatte man in der Burg sehr gastfreundlich empfangen. Inzwischen hatten er und Colgu Gespräche zur Erneuerung der Beziehungen ihrer Völker aufgenommen. Doch mit der Suche nach Alchu war man nicht vorangekommen. Im Gegenteil. Es gab zur Zeit keinerlei Hinweise darauf, wo sich Alchu und Eadulf befanden.

Fidelma beschloß, daß sie nichts weiter tun konnte, als die Schritte zurückzuverfolgen, die Eadulf zum Aufbruch aus Cashel bewogen hatten. Er war losgeritten, um mit dem Holzfäller Conchoille zu sprechen. Danach war er in die Burg zurückgekehrt, hatte seine Satteltasche genommen und war zur Abtei von Colman aufgebrochen. Genau das würde sie auch tun müssen.

Doch zuerst wollte sie Conchoille aufsuchen und herausfinden, worüber Eadulf mit ihm geredet hatte.

Caol hatte gerade Wache am Tor und hob zum Gruß die Hand, als sie ihr Pferd hindurchführte.

»Was gibt es Neues, Lady Fidelma?«

»Das wollte ich dich fragen, Caol.«

Der Krieger zuckte mit der Schulter. »Gerüchte gibt es viele, aber kaum was Neues.«

»Ich will zu Conchoille, dem Holzfäller. Ich möchte ihn fragen, was er mit Eadulf besprochen hat, ehe der nach Westen aufbrach«, sagte sie.

»Da brauchst du nicht weit reiten. Als ich vorhin aus der Stadt kam, sah ich, wie Conchoille Capas Haus betrat.«

»Capas Haus?«

»Er liefert sein Brennholz an viele Häuser. Davon lebt er.«

Fidelma dankte dem Krieger für die Auskunft und ritt in die Stadt.

Capa öffnete überrascht die Tür.

»Was führt dich hierher, Lady Fidelma?« fragte er und trat beiseite, als sie es ihm erklärte. Er winkte sie in einen kleinen, warmen Raum. Capas Ehefrau Gobnat erschien und bot ihr recht nervös einen Becher Metwein an, doch Fidelma lehnte höflich ab. Con-choille hatte sich von seinem Stuhl am Feuer erhoben und stand ein wenig unbeholfen da.

»Du hast nach mir gesucht, Lady Fidelma?« Seine Hände umklammerten schüchtern den Becher, aus dem er getrunken hatte.

»Ja, Conchoille, aber ich will dich nicht lange aufhalten«, erwiderte sie. »Ich nehme an, Bruder Eadulf hat dich an dem Tag aufgesucht, als er Cashel verließ.«

Der Holzfäller sah sie mit großen Augen an.

»Das hat er nicht, Lady«, sagte er.

Mit dieser Antwort hatte Fidelma nicht gerechnet.

»Dann ist er nicht zu dir nach Rath na Drinne gekommen?« fragte sie überrascht.

Conchoille schüttelte den Kopf. »Nach dem Treffen des Kronrats in der Burg habe ich den ehrenwerten Bruder nicht mehr gesprochen. Man hat mir erzählt, daß er Cashel verlassen hat, aber an jenem Tag habe ich ihn nicht gesehen. Er wollte mit Ferloga sprechen. Vielleicht hat er ja nach mir gesucht.«

»Ferloga, dem Wirt vom Gasthaus?«

Plötzlich heulte draußen vor dem Haus ein Hund. Fidelma konnte Capas drahthaarigen braunen Hund erkennen, der auf dem Hof aufgeregt nach etwas in der Erde wühlte.

Gobnat sah ihren Mann wütend an.

»Geh und bring den Hund zur Vernunft!« sagte sie giftig. »Der gräbt uns noch den ganzen Hof um.«

Capa schaute entschuldigend zu Fidelma.

»Das ist mein Hund, Lady. Wahrscheinlich sucht er nach ein paar alten Knochen.«

Er ging hinaus, zerrte den jaulenden Hund am Halsband hoch und band ihn an einen Baum. Fidelma drehte sich wieder zu Conchoille um und stieß dabei aus Versehen einen kleinen Kessel bei der Feuerstelle um. Sie sah hinunter und entdeckte, daß er eine mächtige Beule hatte.

»War ich das?« fragte sie überrascht und bückte sich, um den Kessel genauer zu betrachten. Gobnat hob ihn schnell auf.

»Das ist nicht so schlimm. Nur ein alter Kessel. Die Beule hat er schon lange.«

Capa kam wieder herein und runzelte die Stirn, als er sah, daß Gobnat den Kessel in der Hand hielt.

»Ich habe gehört, daß dein Ehemann in Schwierigkeiten steckt, Lady. Kann ich etwas tun?«

Fidelma hatte den Eindruck, daß er das Gespräch auf ein anderes Thema lenken wollte. Sie schüttelte den Kopf. Als nächstes wollte sie zu Ferloga. Wenn Conchoille Eadulf nicht veranlaßt hatte, zur Abtei von Colman zu reiten, dann muß ihm Ferloga einen Grund dafür gegeben haben. Sie würde sich nicht Brehon Dathals Theorie beugen. Eadulf war aufgebrochen, weil er etwas über Alchu erfahren hatte. Da war sie sich sicher.

Auf einmal bemerkte sie, daß Gobnat sie besorgt ansah.

»Machst du dir um deinen Mann Sorgen, Lady? Das ist der Fluch aller Frauen, denn die Männer sind unbeständig. Sie kommen und gehen, und sie kümmern sich nicht um das Leid, das sie hinterlassen.«

Capa zog die Augenbrauen hoch.

»Schweig endlich, Weib! Die Schwester des Königs will deine Weisheiten nicht hören.« Er sprach eilig weiter. »Man hat mir gesagt, daß die Theatertruppe, auf die wir in Cnoc Loinge stießen, heute morgen hier eingetroffen ist und hinter der Stadt ihr Lager aufschlägt.«

»Die crossan werden in Cashel erwartet«, erklärte Fidelma.

»Es ist schon traurig, daß der Zwerg, der als Leprakranker verkleidet war, nun tot ist«, meinte Capa. »Er hätte vielleicht die Frau erkennen können, die vorgab, meine Frau zu sein, und ihn mit der Botschaft zu Sarait schickte.«

Fidelma dachte immer noch an Eadulf. Gobnat deutete ihr nachdenkliches Gesicht falsch.

»Vielleicht kann jemand anderes die Frau wiedererkennen, die sich für mich ausgab. Es ist sicher ganz einfach, eine Person zu finden, die einen so auffälligen Umhang trägt.«

Geistesabwesend nickte Fidelma. »Das wollen wir hoffen, denn wenn die Ui Fidgente mit diesem Fall nichts zu tun haben, dann müssen wir ...«

Da preschte ein Pferd heran. Einen Moment darauf rief eine Stimme: »Schwester Fidelma! Lady!«

Capa war zuerst an der Tür, hinter ihm stand Fidelma. Ein Bote aus der Burg war vorgeritten.

»Was gibt es?« fragte Capa, etwas verärgert darüber, daß einer seiner Krieger sich so ungestüm und undiszipliniert Gehör verschaffte.

»Man hat mir gesagt, daß ich Lady Fidelma hier antreffen würde«, rief der Bote. Dann entdeckte er Fidelma hinter Capa. »Bruder Eadulf, Lady! Es heißt, daß er die Brücke über den Suir erreicht hat und auf dem Weg nach Cashel ist ... Und Alchu ist bei ihm. Gesund und wohlbehalten, wie einer unserer Späher berichtete.«

Fidelma starrte ihn sprachlos an.

»Es ist wahr, Lady Fidelma«, versicherte ihr der Bote noch einmal. »Er wird in Kürze in der Burg sein, wenn er es nicht schon ist. Caol und einige Krieger sind ihm zur Begrüßung entgegengeritten. Dein Baby ist heil und gesund wieder daheim. Heil und gesund!«

Fidelma eilte zu ihrem Pferd.

Eadulf und seine Gruppe hatten unterdessen die Brücke über den Fluß Suir überquert und einen der dort postierten Krieger zum fernen Fels von Cashel vorausgeschickt. Eadulf und Basil Nestorios führten die Gruppe an. Gorman und ein kleiner Wagen, der von dem Schäfer Nessan gelenkt wurde, folgten dichtauf. Muirgen saß neben Nessan und hielt das Baby fest im Arm. Sie waren ein gutes Stück weiter, da hob Gorman den Arm und rief Eadulf etwas zu.

»Dort kommt unsere Eskorte, Bruder.«

Mehrere Reiter sprengten ihnen entgegen. Eadulf erkannte sogleich, daß sich Caol an der Spitze des Trupps befand. Der Krieger hob die Hand zum Gruß. Er wirkte sehr ernst.

»Ist es wahr?« fragte er und blickte neugierig von Eadulf zu Gorman und dann zu Basil Nestorios und dem Ehepaar im Wagen. Da entdeckte er in Muirgens Armen das Baby. Eadulf nickte und zeigte lächelnd auf das Kind.

»Alchu ist gesund und wohlbehalten. Wir bringen ihn heim. Weiß Fidelma das schon?«

»Sie ist soeben von einem Boten davon unterrichtet worden. Es ist viel geschehen, seit du fort bist, Bruder Eadulf.«

Eadulf wunderte sich sehr, daß Caols Miene so hart und ernst blieb.

»Das sollte für alle ein Augenblick der Freude sein, Caol. Doch dich scheint es nicht zu freuen.«

»Alle haben sich gefragt, warum du so überstürzt Cashel verlassen hast.«

»Ist nicht inzwischen ein Kräutersammler mit seiner Frau in Cashel eingetroffen?«

Caol sah ihn begriffsstutzig an. Dann zuckte er die Achseln.

»Man hat mir mitgeteilt, daß wegen dem morgigen Jahrmarktsfest draußen vor der Stadt fahrende Schauspieler und ein Kräutersammler lagern.«

»Und sie haben noch mit niemandem gesprochen?«

Caol schüttelte den Kopf.

»Nun, das erkläre ich dir, wenn wir in der Burg sind«, sagte Eadulf. »Doch jetzt wollen wir uns über Alchus wohlbehaltene Rückkehr freuen.«

»Vorher mußt du noch auf einige Fragen gefaßt sein.« Caol wandte sich an Gorman. »Und ich schätze, daß du eine gute Entschuldigung dafür hast, dich einfach so aus Cashel entfernt zu haben!«

Gorman errötete. »Ich hatte das Gefühl, daß es meine Pflicht war, Bruder Eadulf beizustehen.« In seiner Stimme schwang ein wenig Reue mit.

»Ohne Gorman«, erklärte Eadulf, »wären ich und mein guter Freund Basil Nestorios jetzt nicht hier«. Dabei nickte er zu seinem Gefährten hinüber, der ganz verwirrt war.

»Und wer sind die anderen?« fragte Caol.

»Das sind ein Schäfer und seine Frau, die auf unserer Rückreise Alchu bestens versorgt haben. Was ist los? Warum diese eigenartige bedrückte Begrüßung?« fragte er plötzlich verärgert.

Caol sah ihn verlegen an.

»Eadulf von Seaxmund’s Ham. Ich handle auf Befehl von Brehon Dathal, dem obersten Brehon dieses Königreiches. Mir bleibt nichts anderes übrig, als dich gefangenzunehmen. Du bist des Mordes angeklagt.«

Eadulf rang nach Luft.

»Des Mordes? An wem?« fragte er.

»An Bischof Petran.«

Eadulf saß nun in einem Kerker in dem Teil der Burg, der für Gefangene und Geiseln bestimmt war. Das Ende seiner Reise nach Cashel hatte eine eigenartige Wendung genommen. Fidelma war bald bei den Rückkehrern eingetroffen. Nachdem sie ausgelassen ihren Sohn begrüßt hatte, erfuhr sie zu ihrem Entsetzen von Caol, daß Eadulf des Mordes angeklagt sei. Sie hatte ihm daraufhin Mut zugesprochen, er solle sich keine Sorgen machen, und war wie der Wind zurück zur Burg geritten.

Caol hatte sich korrekt verhalten, und während er Eadulf zur Burg begleitete, hatte er ihm berichtet, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte. Als sie endlich in Cashel angelangt waren, hatte man Eadulf in den Kerker gebracht und ihm gesagt, daß er auf Brehon Dathals Verhör warten solle. Caol versprach, Muirgen und Nessan umgehend zu Fidelma zu führen und sich auch um Basil Nestorios zu kümmern. Gorman würde für sein Verschwinden vom Befehlshaber der Wache sicher eine Rüge erhalten. So befand sich Eadulf nun ganz allein in dem kleinen steinernen Verließ. Er war völlig verzweifelt. Er hatte so viel durchgemacht, und nun beschuldigte man ihn des Mordes an dem alten Bischof ... Da schweiften seine Gedanken nach Fearna zurück, wo man ihn ebenso irrtümlich gefangengehalten hatte. Damals hatte ihn Fidelma gerettet, aber nun war er Gefangener in der Burg von Fidelmas Bruder und von dessen oberstem Richter des Mordes angeklagt. Er war zwischen Wut und Verzweiflung hin und her gerissen.

Erst nach mehreren Stunden ging die Tür wieder auf und Fidelma erschien.

Er stürzte auf sie zu und umarmte sie fest.

»Wie geht es dem Jungen?« fragte er.

Fidelma lächelte. Sie hatte Tränen in den Augen.

»Es geht ihm gut. Muirgen und ihr Mann kümmern sich um ihn. Sie haben sich in Saraits Kammer neben unseren Räumen eingerichtet und mir erzählt, welche Rolle sie bei den traurigen Ereignissen gespielt haben. Ich habe mich auch mit Basil Nestorios unterhalten, aber ich möchte so gern alles von dir hören. Doch vorher müssen wir dich hier rausholen. An alldem ist nur Brehon Dathal schuld.«

»Ich hätte dem alten Bischof Petran nie etwas zuleide getan.«

»Das weiß ich. Schlimm ist nur, daß Dathal oberster Brehon ist, ausgestattet mit der ganzen Amtsgewalt, in gewissem Maße auch über meinen Bruder. Ich werde aber bald mit Colgu reden können. Er weiß noch nicht, was geschehen ist, er befindet sich in Verhandlungen mit Conri, dem Kriegsfürsten der Ui Fid-gente.«

»Ich habe schon gehört, daß Conri hier ist. Darüber mußt du mir alles erzählen.«

»Das ist eine lange Geschichte. Doch zuerst will ich von dir wissen, was dich zur Abtei von Colman getrieben hat. Warum bist du so überstürzt aus Cashel fortgeritten? Brehon Dathal behauptet, du seist geflohen, weil du den alten Mann umgebracht hast.«

»Das ist völliger Unsinn. Ich habe Conchoille gesucht, den Holzfäller .«

»Der meint, er hätte dich gar nicht gesprochen.«

Eadulf nickte. »Das stimmt auch. Ich bin zu dem Wirtshaus geritten, in dem Conchoille an jenem Abend gegessen hatte, als Sarait umgebracht wurde.«

»Ferlogas Wirtshaus bei Rath na Drinne?«

»So ist es. Ferloga hat mir dann erzählt, daß im Wald umherziehende Fremde lagerten. Aber sie hätten ein Baby bei sich .«

Fidelmas Augen leuchteten aufgeregt auf.

»Als wir zum Brunnen von Ara kamen, da hatten diese Fremden doch zwei Babys bei sich, oder?« sagte sie.

»Genau! Ich wußte, daß sie zur Abtei von Colman unterwegs waren, also schrieb ich dir eine Nachricht und jagte ihnen hinterher. Wie sich herausstellte, hatte ich recht. Sie hatten aber unser Baby weitergegeben. Jetzt haben sie ihr Lager bei den Komödianten vor Cashel aufgeschlagen und können selbst alles erklären. Sie heißen Corb und Corbnait.«

»Ich werde mit ihnen sprechen.«

»Da ist noch etwas. Gorman kann dir alles genau erzählen, aber Fiachrae von Cnoc Loinge ist ein Verräter und deinem Bruder gegenüber nicht loyal.«

Fidelma war entsetzt und sagte rasch: »Ich möchte das alles im Detail hören. Doch zuerst müssen wir sehen, daß du wieder freikommst.«

»Auf welche Weise soll ich denn Bischof Petran ermordet haben?«

»Mit Gift. Brehon Dathal wird dich verhören. Keine Sorge. Du wirst bald wieder auf freiem Fuß sein.«

Eadulf stieß einen tiefen Seufzer aus. »In der kurzen Zeit, die ich hier in dieser Zelle bin, habe ich viel nachgedacht, Fidelma. Auf unserem Ritt hat mir Caol berichtet, was dir und Conri widerfahren ist. Stimmt das?«

»Daß Conri mich gerettet hat? Das ist wahr.«

»Wenn Sarait nicht bei Alchus Entführung ermordet wurde, sondern ihn einfach so allein im Wald zurückgelassen hat, wie die Fremden behaupten, warum ist sie dann überhaupt aus der Burg fortgelockt und getötet worden? Wer hat sie ermordet?« Eadulf beugte sich vor und legte eine Hand auf ihren Arm. »Denk darüber nach, Fidelma. Wir haben Sarait als Amme für Alchu in unsere Dienste genommen, nicht wahr?«

Fidelma machte eine ungeduldige Geste. »Das weißt du doch selbst.«

»Aber wann genau war das?«

»Genau bei seiner Geburt. Vor sechs Monaten. Was soll das?«

Eadulf betrachtete sie aufmerksam.

»Ich hatte es vergessen, bis man mich darauf aufmerksam machte, daß ich auf dem Rückweg nach Cashel für das Baby eine Amme benötige«, sagte er ruhig. »Als wir Sarait einstellten, war ihr Kind gerade erst gestorben. Es war eine Totgeburt, wie sie sagte. Alchu ist vor sechs Monaten zur Welt gekommen, da konnte sie ihn stillen.«

Fidelma versuchte, seinem Gedankengang zu folgen. »Und?«

»Wer war der Vater von Saraits Baby?«

»Tja, natürlich Callada, der ...« Sie hielt inne und blickte ihn an.

Eadulf lächelte triumphierend. »Der bei Cnoc Äine gefallen ist«, sagte er leise. »Genau.«

Fidelma atmete langsam aus. »Gorman? Du meinst, daß er der Vater war?«

»Ich habe ihn noch nicht gefragt.«

»Ich verstehe«, sagte sie leise. Dann schüttelte sie sich wie ein Hund, der sich nach dem Schwimmen das Wasser aus dem triefenden Fell schüttelt. »Zuerst gilt es aber herauszufinden, warum Brehon Dathal dich eingekerkert hat. Sei unbesorgt, ich werde mich dafür einsetzen, daß du bald frei bist.«

Sie ging zur Tür, doch dann drehte sie sich um und griff spontan nach seinen beiden Händen.

»Eadulf, ich bedaure alles, was ich gesagt oder getan habe, und alle Vorkommnisse, bei denen dir mein Volk das Gefühl gegeben hat, fremd und unterlegen zu sein.«

Eadulf lächelte verlegen. »Niemand kann einem anderen das Gefühl geben, unterlegen zu sein, ohne daß er selbst es mit sich geschehen läßt. Wenn jemand glaubt, die anderen fühlten sich ihm überlegen, dann ist das doch nur so, weil er es selbst so sieht. Ich habe mich hier manchmal unwillkommen gefühlt, doch der Grund dafür ist, daß ich fremd in diesem Land bin und daher einigen Leuten nicht willkommen. Wir selbst fühlen uns immer wohler bei Dingen, die uns vertraut sind.«

»Kannst du uns verzeihen ... Kannst du mir verzeihen?«

»Man kann dem goldenen Adler nicht verzeihen, ein goldener Adler zu sein«, erwiderte er freundlich. »Es gibt nichts zu verzeihen, weil du ganz der Natur deines Wesens entsprechend gehandelt hast.«

Fidelma warf die Lippen auf. »Eadulf, manchmal bringst du mich zur Verzweiflung. Du bist viel zu gut und nachgiebig«, warf sie ihm vor.

Mit einem verschmitzten Lächeln zuckte er die Achseln. »So bin ich nun einmal.«

Fidelma überquerte den Hof und bemerkte, daß an den Toren Tumult war. Sie ging zu den großen Eichentüren und traf auf Caol, der einem Paar mit einem Baby gegenüberstand.

»Was ist los?« fragte Fidelma.

Caol verzog verärgert das Gesicht. »Ein Kräutersammler und seine Frau verlangen Eintritt. Ich habe ihnen gesagt, daß sie weiterziehen sollen.«

»Aber der sächsische Bruder .«, setzte der Mann an.

»Schweig. Du sprichst in Gegenwart der Schwester des Königs«, fuhr ihn Caol barsch an.

»Warte!« befahl Fidelma. »Bist du der Kräutersammler Corb und du seine Frau Corbnait?«

»Ja. Bruder Eadulf hat uns gesagt, daß wir zur Burg kommen sollten, und das versprachen wir ihm, auch wenn uns vielleicht eine Strafe droht, und ich stehe zu meinem Wort. Ich gehörte nicht immer zu den Nichtseßhaften.«

Fidelma sah ihn voller Herzlichkeit an. »Seid willkommen. Ihr seid schuldlos. Es ist vielmehr so, daß ihr das Leben meines Sohnes gerettet habt, als er im Wald ausgesetzt worden war. Tretet ein. Bei einem Willkommenstrunk könnt ihr mir die Geschichte erzählen, die Bruder Eadulf bereits von euch gehört hat.«

Sie hatte sich schon umgedreht, da rief Caol ihr etwas hinterher. Sie blickte sich um.

»Du hast mich gebeten, dir mitzuteilen, wenn Bruder Conchobar wieder in Cashel ist«, sagte er. »Er ist wieder da.«

Die Tür der Zelle ging auf, und Brehon Dathal trat ein. Mit griesgrämiger Miene sah er Eadulf an.

Eadulf sprang von der Pritsche auf, die in der kahlen Zelle stand.

»Was soll der ganze Unsinn?« fragte er.

Brehon Dathal winkte jemandem hinter sich im Gang zu. Ein Krieger trat ein, der ihm einen dreibei-nigen Hocker hinstellte.

»Setz dich«, ordnete der alte Mann streng an.

Widerwillig fügte sich Eadulf. »Ich sage noch einmal, was ist das für ein Unsinn, Dathal? Wer hat sich diese absurde Geschichte einfallen lassen, daß ich Bischof Petran umgebracht haben soll?«

»Leugnest du etwa, daß du dich mit Bischof Petran häufig gestritten hast?«

Eadulf mußte beinahe lachen. »Keinesfalls. Zu Fragen der Führung der Kirche hatten wir grundsätzlich verschiedene Ansichten. Und die meisten Menschen in den fünf Königreichen würden seine Lehren auch nicht akzeptieren. Da ich die Autorität Roms anerkenne - denn man lehrt uns doch, daß an diesem Ort Petrus im Auftrag Christi mit der Erbauung seiner Kirche begann -, kann ich Petrans asketische Theorien nicht gutheißen.«

»Und deshalb hast du ihn umgebracht?«

Eadulf rümpfte entrüstet die Nase.

Brehon Dathal betrachtete ihn verdrießlich.

»Du solltest mich lieber ernst nehmen, Sachse. Glaubst du etwa, daß ich auf Grund meines hohen Alters die Sachlage nicht mehr richtig beurteilen kann?«

Eadulf blickte ihn eine Weile an.

»Es ist mir gleich, ob du jung oder alt bist. Wenn man eine falsche Beschuldigung gegen mich erhebt, kann ich sie nicht einfach so hinnehmen. Ich könnte dich ebensogut fragen, ob ich des Mordes schuldig sein muß, nur weil ich ein Fremder in diesem Land bin?«

»Ich halte mich an das Gesetz«, fuhr ihn Brehon Dathal an. »Ich hege keine Vorurteile gegen dich.«

»Und ich halte mich an die Tatsachen.«

»Die Tatsachen liegen ganz einfach. Bischof Petran ist in seiner Kammer tot aufgefunden worden. Er wurde vergiftet. Am gleichen Tag bist du aus Cashel geflohen. Am Vorabend ist es laut Zeugenberichten zu einem heftigen Streit zwischen dir und dem Bischof gekommen. Leugnest du das etwa?«

»Ich bestreite nicht, daß ich mich mit Petran gestritten habe, aber ich bestreite, daß ich dabei gewalttätig geworden bin. Ich bestreite, daß ich aus Cashel geflohen bin. Bevor ich fortritt, habe ich Fidelma eine Nachricht hinterlassen, denn ich hatte etwas herausgefunden, was meinen Sohn betraf. Ich hatte keine Ahnung, daß Petran tot war. Erst bei meiner Rückkehr berichtete mir Caol davon.«

»Und du erwartest, daß ich dir das glaube?«

»Ich erwarte nichts außer der Höflichkeit, unvoreingenommen angehört zu werden.«

Brehon Dathal errötete. »Du wagst es, mich, den obersten Brehon von Muman, zu beschuldigen, voreingenommen zu sein?«

»Ich beschuldige dich nicht. Ich äußere mich nur zu dem, was mit mir geschieht«, erwiderte Eadulf schroff.

»Es sieht nicht gut aus für dich, Fremder, wenn du nicht sofort dein Verbrechen gestehst.«

»Drohst du mir etwa?« Eadulf sprang auf.

Da tauchte mit betretener Miene der Krieger an der Tür auf.

»Bruder Eadulf, es wäre klüger, sitzen zu bleiben und mit Respekt die Fragen des Brehon zu beantworten«, sagte er leise.

Eadulf wurde klar, daß er sich keinen Gefallen damit tat, wenn er seinem Zorn freien Lauf ließ. Er nahm wieder auf der Pritsche Platz.

»Ich lehne es ab, jemandes Fragen zu beantworten, der mich von vornherein für schuldig befunden hat und mir nicht einen winzigen Beweis liefert, um seine Anklage zu belegen, außer der Tatsache, daß ich bei einem Streit mit dem Bischof gesehen wurde.«

Brehon Dathal erhob sich wütend und verließ die Zelle. Der Krieger nahm den leeren Hocker mit. Die Zellentür schlug wieder zu.

Eadulf überkam Verzweiflung, und er versuchte mit aller Kraft, sich gegen sie zu wehren.

Fidelma, die nun die Geschichte von Alchus Schicksal aus Corbs und Corbnaits Mund persönlich gehört hatte, ordnete an, daß die beiden Zeugen gastfreundlich aufzunehmen seien. Anschließend eilte sie zu Bruder Conchobars Apothekerladen.

»Du hättest es mir mitteilen müssen«, erklärte sie bei ihrem Eintreten in verärgertem Ton.

Der alte Apotheker schaute überrascht von den Kräutern auf, die er mit einem Stößel in einem Mörser zerstieß.

»Es dir mitteilen müssen, Lady Fidelma?« fragte er verdutzt.

»Die Resultate deiner Untersuchung von Bischof Petrans Leiche.«

Der Alte sah sie fragend an. »Warum hätte ich dir darüber Auskunft geben sollen?«

»Weil Brehon Dathal Eadulf eingekerkert hat und ihn des Mordes beschuldigt. Eadulf steckt in ernsten Schwierigkeiten, und ich muß unbedingt von dir erfahren, wie dieses Gift in Petrans Körper gekommen ist und worum es sich handelt.«

»Gift? Mord? Wovon sprichst du da, Lady Fidelma?« fragte Bruder Conchobar verwirrt.

Fidelma versuchte, nicht die Fassung zu verlieren.

»Ich spreche von Bischof Petran. Eadulf ist angeklagt, ihn vergiftet zu haben.«

Bruder Conchobar hob hilflos die Arme hoch.

»Bischof Petran ist nicht vergiftet worden.«

Jetzt sah ihn Fidelma völlig verstört an.

»Wie ist er dann umgebracht worden?«

Der alte Apotheker fuhr sich mit der Hand durch die dünnen grauen Haare.

»Ich habe keine Ahnung, wo du das her hast. Petran ist nicht umgebracht worden. Er ist gestorben, das stimmt schon. Er starb an Herzversagen. Das geschieht eben, und niemand kann dafür beschuldigt werden. Ich habe das sehr schnell festgestellt, aber ich wollte erst noch ein paar Tests durchführen, um ganz sicher zu gehen. Wenn man den Tod überhaupt für etwas Natürliches halten kann, so ist er eines natürlichen Todes gestorben. Ich habe das jedoch diesem alten Narren Dathal mitgeteilt, ehe ich nach Lios Mhor aufgebrochen bin. Hat er nicht ...«

Fidelma starrte ihn erstaunt an.

»Lady .?« setzte er an.

»Wer hat Bruder Dathal gesagt, daß Bischof Petran vergiftet wurde?« flüsterte sie schließlich. »Wer hat behauptet, daß es Mord war?«

»Ich gewiß nicht«, erwiderte der Apotheker fest. »Ich habe Brehon Dathal vielmehr erklärt, daß es einfach Herzversagen war. Das war kurz bevor ich nach Lios Mhor reiste. Ich sagte, daß ich nach meiner Rückkehr eine formelle Aussage machen würde, aber bisher hat er nicht nach mir rufen lassen.«

»Nicht nach dir rufen lassen?« Fidelma schwieg einen Moment. »Ich danke dir, mein alter Freund«, sprach sie freundlich. »Man wird bald eine Aussage von dir verlangen.«

Bruder Conchobar zuckte mit den Achseln. »Ich gewöhne mich langsam daran, daß Brehon Dathal bei Todesursachen nie formelle Aussagen für wichtig hält«, sagte er gereizt.

»Was meinst du damit?« fragte Fidelma; sie stand bereits an der Tür.

»Zum Beispiel Saraits Todesursache.«

»Hast du die Leiche untersucht?«

»Ja, und man hätte meine Aussage zu Protokoll nehmen müssen. Aber ich bin nie danach gefragt worden.«

Fidelma blickte ihn erstaunt an. In der anfänglichen Verwirrung, wer für den Mordfall zuständig sei, und angesichts der Tatsache, daß Conchoille und Capa von Blutspuren an Saraits Kopf und von Stichwunden gesprochen hatten, hatte sie ganz vergessen zu fragen, wer überhaupt offiziell den Tod festgestellt hatte.

»Was hättest du denn gesagt?« fragte sie leise. »Daß sie von einem heftigen Schlag gegen den Kopf getötet wurde?«

Bruder Conchobar winkte ab.

»Ich hätte gesagt, daß Sarait schon tot war, bevor sie am Kopf verletzt wurde. Sie ist Opfer einer Messerstichattacke geworden, denn es gab fünf Stichwunden in der Brust und ausgefranste Messerwunden an den Armen. Offenbar hat sie versucht, sich zu wehren, und dabei ihren Mörder angeblickt. Die Kopfverletzung rührt für mich eher daher, daß sie gestürzt ist, während man sie angriff, und dabei mit dem Kopf gegen etwas Hartes aufschlug.«

Nun schwiegen beide. Fidelma nickte langsam. »Du hast mir sehr geholfen, mein alter Freund«, sagte sie nachdenklich, aber zufrieden.

Ein paar Minuten später war sie im Audienzsaal ihres Bruders. Die Verhandlungen mit Conri, dem Kriegsfürsten der Ui Fidgente, waren soeben unterbrochen worden, und Colgu erörterte mit seinem Ta-nist Finguine noch ein wenig, was man dort diskutiert hatte. Beide blickten überrascht auf, als Fidelma ohne Ankündigung hereintrat.

Mit einer Handbewegung unterband sie alle Fragen und berichtete ihnen, was sie soeben von Bruder Conchobar über Bischof Petrans Tod erfahren hatte.

Colgu war einen Moment sprachlos. Dann sagte er zu Finguine: »Geh und laß Bruder Eadulf unverzüglich frei und bring ihn her.« Als Finguine fort war, blickte Colgu seine Schwester sorgenvoll an. »Manchmal sind die Pflichten eines Königs eine Last, Fidelma. Brehon Dathal wird alt.«

»Er ist oberster Brehon des Königreiches. Er darf sich nicht so verhalten.«

»Da stimme ich dir zu. Ich will ihn auch gar nicht in Schutz nehmen, aber ich glaube, daß sein Alter und der Druck auf ihn Spuren hinterlassen haben. Ich habe darüber nachgedacht, auf welche Weise ich ihn bitten könnte, von seinem Amt zurückzutreten. Vor einiger Zeit hat er in Lios Mhor ein wirklich grundlegend falsches Urteil gesprochen. Es ging mit Erfolg in Berufung, und Dathal mußte mehrere Bußgelder und Entschädigungen zahlen.«

Fidelma betrachtete schweigend ihren Bruder.

»Wenn ich mich recht entsinne, hatte man Brehon Dathal seinerzeit gebeten, der Behauptung nachzugehen, daß Saraits Mann Callada von einem seiner Gefährten bei Cnoc Äine umgebracht wurde. Für ihn ergab sich daraus aber kein Fall, und es kam zu keiner Untersuchung. Ich frage mich ...«

»Fidelma, inzwischen ist zuviel Zeit verstrichen, um über diese Entscheidung zu spekulieren. Doch Dathal setzt sich seit kurzem immer wieder etwas in den Kopf, dem er ohne ausreichende Sichtung der Beweislage nachgeht. Offenbar hat sein Verstand an Schärfe verloren, aber man braucht einen scharfen Verstand, um Brehon zu sein, und erst recht, um oberster Bre-hon zu sein. Doch ich muß es ihm ermöglichen, sich in Würde zu verabschieden. Das ist sicher ganz in deinem Sinne, Fidelma.«

Fidelma versuchte, ihre persönlichen Gefühle beiseite zu lassen und die Angelegenheit objektiv zu betrachten.

»Ich verstehe ja, daß man sich hier diplomatisch verhalten sollte, aber er muß unbedingt dazu gebracht werden, in absehbarer Zeit zurückzutreten, und dafür trägst du die Verantwortung.«

Colgu nickte unglücklich. »Ich würde ihn lieber dazu überreden, als ihn zwingen.«

»Du bist der König«, versetzte sie mürrisch.

Da klopfte es an die Tür. Finguine trat mit Eadulf ein.

Fidelma eilte auf Eadulf zu und griff nach seinen Händen. »Alles ist gut. Es ist ganz allein Brehon Dathals Schuld.«

Eadulf verzog zynisch den Mund. »Das hätte ich dir vorher sagen können«, erklärte er. »Finguine hat mir schon davon erzählt.«

Colgu trat vor und umarmte ihn.

»Mein Freund, Ehemann meiner Schwester, du mußt uns verzeihen. Brehon Dathal hat in seiner Ungeduld und Eile falsche Schlüsse gezogen. Nie hätte man dich in den Kerker werfen dürfen, und das nach all deinen unglückseligen Erlebnissen. Nun ja, wenigstens ist jetzt die Familie wieder vereint.«

Eadulf war das alles unangenehm. Ihn beschämte die Herzlichkeit, die Fidelmas Bruder ihm entgegenbrachte, und er war sich auch unsicher, was er von Fidelmas liebevollen Bemühungen zu halten hatte.

Da streckte Finguine ihm lächelnd die Hand entgegen und fragte: »Kannst auch du mir vergeben?«

»Nun«, meinte Eadulf, an alle gewandt, wobei allerdings eine kleine Spur Sarkasmus in seiner Stimme mitschwang, »es ist recht schwierig, das innere Gleichgewicht zu bewahren, wenn man erst in einer lebensbedrohlichen Gefahr steckt, dann eingekerkert wird und schließlich wieder in die Familie aufgenommen wird .«

Fidelma drückte fest seinen Arm. »Es gibt so einiges, wofür wir uns bei dir entschuldigen müssen, Eadulf. Wir haben vieles wiedergutzumachen.«

Eadulf zuckte die Achseln. »Das hättest du nicht schöner sagen können«, seufzte er.

Colgu klopfte ihm auf die Schulter. »Dann wollen wir heute abend feiern und .«

Fidelma schüttelte rasch den Kopf. »Eadulf und ich haben noch sehr viel zu erledigen. Der Fall ist noch nicht aufgeklärt, Saraits Mörder steht noch nicht vor Gericht. Und du, mein Bruder, du mußt dich um Bre-hon Dathal kümmern. Erst danach können wir ans Feiern denken.«

Einige Zeit später wurde der oberste Brehon von Muman zum König gerufen.

Colgu bat ihn, sich zu setzen. Colgu kannte Brehon Dathal seit seiner Kindheit; er war schon vor dreißig Jahren am Hof seines Vaters Failbe Flann Richter gewesen. Brehon Dathal machte ein ernstes Gesicht. Man hatte ihn bereits von Eadulfs Freilassung und Bruder Conchobars Bericht in Kenntnis gesetzt. Colgu fragte sich, wie er die delikate Angelegenheit am besten ansprechen sollte.

»Dathal, du bist schon viele Jahre oberster Richter in diesem Königreich«, fing er in freundlichem Ton an.

»Meinst du etwa, daß das zu lange ist?« entgegnete Dathal schroff.

»Ein jeder gelangt einmal an den Punkt, wo er nicht mehr so jung und tatkräftig ist. Auch mir wird das eines Tages so ergehen. Ich hoffe, daß ich selbst erkenne, wann es soweit ist, und mich dann in den verdienten Ruhestand zurückziehe.«

»Ruhe ist etwas für Kühe, mein König. Nichts für Menschen.«

Colgu lächelte. »Hat Horaz nicht geschrieben, daß man ein altes Pferd rechtzeitig aus dem Rennen nehmen sollte, sonst strauchelt es und wird zum Objekt des Mitleids und des Spotts der Zuschauer?«

Brehon Dathal reagierte gereizt.

»Ich habe einen Fehler gemacht, das ist alles. Darf einem Richter nicht auch mal ein Versehen unterlaufen? Es ist niemand zu Schaden gekommen, und der Sachse ist frei.«

»Der Sachse ist der Mann meiner Schwester, Brehon Dathal«, erklärte Colgu. »Und du mußt ihm eine Entschädigung zahlen.«

»Ich kenne die Entschädigungsgesetze.«

»Das bezweifle ich auch nicht«, erwiderte Colgu. »Denke daran, Eadulf von Seaxmund’s Ham mag vielleicht ein Fremder sein, aber in seinem Land genoß er ein hohes Ansehen. Er war gerefa per Erbfolge, ein Richter in seinem Volk.«

»Per Erbfolge!« höhnte Brehon Dathal. »Wie kann man die Fähigkeiten eines Richters ohne Studium erben?«

»Die Sachsen haben eben andere Bräuche«, murmelte der König. »Worauf ich jedoch hinaus will, ist, daß Eadulf Respekt verdient, wenn nicht um seiner selbst willen, dann um meiner und meiner Schwester willen.«

Brehon Dathal schwieg.

»Brehon Dathal, wir kennen uns schon lange. Überdenke deine Position sorgfältig. In jüngster Zeit ist dir mehr als nur ein Irrtum unterlaufen.«

Brehon Dathal schob angriffslustig das Kinn vor.

»Willst du mir damit sagen, daß ich nicht mehr zum Brehon tauge?«

»Ich will damit sagen, daß es für dich an der Zeit ist, sich zur Ruhe zu setzen und die Arbeit anderen zu überlassen. Bleibe in Cashel, wenn du willst. Sei mein Berater. Doch es ist an der Zeit, dir die Anstrengung zu ersparen, eine Gerichtsverhandlung zu leiten.«

»Wen würdest du für dieses Amt vorschlagen ... Deine Schwester?« Dathals Stimme klang provozierend.

Colgu schüttelte den Kopf. »Fidelma ist für dieses Amt nicht qualifiziert, außerdem strebt sie es gar nicht an. Sie ist nur eine anruth, wie du wohl weißt. Um das Amt eines Brehon ausüben zu können, müßte sie weitere zwei oder gar vier Jahre studieren und den Grad einer rosai oder einer ollamh erwerben.« Das war die höchste Qualifikation, die man erreichen konnte. »Du bist ein Mann von großer Erfahrung und Weisheit. Wen würdest du zum neuen obersten Brehon vorschlagen?«

Brehon Dathal schien ein wenig beschwichtigt zu sein. Colgu wartete geduldig. Der Alte zögerte. Dann hatte er sich scheinbar in das Unvermeidliche geschickt.

»Nun, da gibt es einen rosai namens Baithen, den ich für sehr geeignet halte.«

Colgu lächelte zufrieden. Er schonte die Gefühle des alten Mannes und verriet ihm nicht, daß er bereits nach Brehon Baithen geschickt hatte, der gerade eine Anhörung in Lios Mhor geleitet hatte. Baithen hatte auch dreimal die Berufungsverhandlungen gegen Dathal geführt und dessen Urteil aufgehoben.

»Ich habe schon von ihm gehört. Das ist eine gute Wahl.«

»Er gewinnt zusehends an Ansehen«, stimmte ihm Brehon Dathal zögernd zu. »Er ist sehr talentiert.«

»So werden wir ihn bitten, das Urteil in der Mord-sache an Sarait und allem, was damit zusammenhängt, zu sprechen.«

Brehon Dathals Stirn legte sich in Falten.

»Deine Schwester glaubt also, daß die Ui Fidgente mit Saraits Tod und der Entführung des Babys nichts zu tun haben?«

»Sie hat neue Fakten zusammengetragen und wird entsprechende Argumente vorbringen. Eadulf hat uns auch interessante Beweise mitgebracht. Der Fall wird unter Brehon Baithen verhandelt werden.«

Die Schultern des alten Mannes sackten zusammen.

»Deine Schwester ist mir wegen dieser Sache mit Bischof Petran nicht gerade wohlgesonnen.«

»Ich bin sicher, daß auch sie der Meinung ist, daß du nach deinem Gewissen gehandelt hast, mein alter Freund. Du hattest nur nicht von allem Kenntnis.«

Colgu wußte, daß dies nicht ganz der Wahrheit entsprach und nicht mit dem übereinstimmte, was Bruder Conchobar sagte, aber er wollte die Würde des alten Richters wahren.

Wieder schwiegen beide. Colgu fühlte sich ein wenig erleichtert, als sich der alte Mann schließlich langsam erhob.

»Mit deiner Erlaubnis, mein König, werde ich mich in meine Räume zurückziehen und ein wenig ausruhen.«

Colgu entließ ihn mit einer Handbewegung.

Mit gesenktem Haupt ging der Richter aus dem Audienzsaal und schloß hinter sich die Tür.

Colgu blieb noch ein Weile sitzen und seufzte. Vor zwei Jahren erst hatte er den Thron bestiegen. Zuvor war er mehrere Jahre lang unter der Regentschaft seines Cousins Cathal Thronanwärter gewesen, bis dieser an Gelbfieber verstarb. Zum erstenmal in seiner Laufbahn war er nun gezwungen gewesen, einen seiner engsten Berater zu entlassen, einen, der schon seinem Vater und seinem Cousin gedient hatte .

Colgu nahm von dem kleinen Tisch einen Krug corma und schenkte sich etwas ein. Es war die Pflicht eines Königs zu begreifen, daß die Zeit voranschritt. Daß das Volk voranschreiten mußte. Das war unvermeidlich. Mit dem Amt des Herrschers hatte er Pflichten übernommen. Wenn ein König nicht handelte, respektierte man ihn nicht. Wenn er mit zu fester Hand regierte, würde man ihn absetzen. Wenn er zu schwach war, würde man über ihn hinweggehen. Vor allem mußte er mit Weisheit und Geschick herrschen. Denn wenn er sich klüger als andere gab, würde man zu hohe Erwartungen an ihn stellen. Wenn er sich dümmer gab, würden ihn die Leute täuschen. Es gab jedoch immer einen Mittelweg. Darin lag die Kunst des Regierens.

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