Kapitel 18

Eadulf lag auf dem Bett, hatte die Hände auf dem satten Bauch gefaltet und seufzte tief.

»In den letzten Tagen gab es Augenblicke, da habe ich nicht mehr damit gerechnet, jemals wieder auf diesem Bett zu liegen.«

Fidelma kniete vor dem Kaminfeuer und schenkte sich Glühwein ein. Sie stand auf und ging zum Kinderbett hinüber. Alchu schlief friedlich.

»Ich auch nicht, Eadulf. Ich habe auch nicht mehr damit gerechnet, unseren Kleinen wiederzusehen.« Sie schaute ihn besorgt an. »Wenn man etwas verliert, wird einem erst bewußt, wie wertvoll es einem war.«

Eadulf richtete sich auf. Einen Moment lang fragte er sich, ob Fidelmas Gesicht von der Hitze des Feuers oder vom Glühwein so gerötet war. Ehe er etwas äußern konnte, redete Fidelma weiter, als wollte sie ihre Gedanken übertönen. »Ich habe mir inzwischen alles angehört, was Corb und Corbnait zu erzählen hatten. Alchu scheint nicht entführt worden zu sein. Es war einfach Zufall, daß die beiden ihn mitnahmen, denn sie meinten, er sei im Wald ausgesetzt worden.«

»Uamans Rolle in der Geschichte war aber kein Zufall.«

Nachdenklich senkte Fidelma den Kopf. »Ich habe mich mit Gorman unterhalten. Colgu hat schon jemanden von seiner Leibgarde zu Fiachrae geschickt, um ihn hierher zur Prüfung seines Verhaltens zu holen. Vielleicht können wir einen von den Ui Fidgente zu dem Geständnis bringen, daß sie mit Fiachrae gemeinsame Sache gemacht haben. Aber das eigentliche Rätsel bleibt. Wer hat Sarait ermordet und diese Kette von tragischen Ereignissen ausgelöst?«

Eadulf rieb sich gedankenvoll das Kinn. »Hast du noch einmal mit Della über den Umhang gesprochen, den du der Beschreibung nach als den ihren erkannt hast?«

»Noch nicht.«

»Meinst du, daß sie ihn absichtlich weggeworfen hat oder daß jemand ihn einfach gestohlen hat?«

»Ich glaube nicht, daß Della gelogen hat. Warum sollte sie Sarait umbringen?«

»Keine Ahnung. Gorman hat uns beiden erklärt, daß er in Sarait verliebt gewesen ist. Du glaubst, daß Della und Gorman mehr als nur gute Bekannte sind. Und wir wissen, daß Saraits Mann nicht der Vater des totgeborenen Babys war. Es scheint logisch, daß Gorman vielleicht der Vater war und daß Della .«

»Das klingt ziemlich weit hergeholt«, murmelte Fidelma. »Della ist trotz ihrer Gefühle nicht so blind, daß sie .« Sie verstummte. Wenn Gefühle im Spiel waren, konnte jeder blind sein.

»Warum waren wir uns eigentlich so sicher, daß das Erpresserschreiben echt ist? Vor meinem Aufbruch waren alle der Ansicht, daß wir von den Entführern einen Beweis verlangen sollten. Warum also hat man die drei Fürsten der Ui Fidgente freigelassen?«

Fidelma streckte sich auf einem Sessel vor dem Feuer aus. »Leg noch etwas nach«, sagte sie zu Eadulf, der sich darüberneigte. Er nahm ein Holzscheit und legte es in die Flammen. Fidelma sprach weiter: »Hat Gor-man dir das nicht erzählt?«

»Gorman? Was hat er denn damit zu tun?«

»Der Wirt vom Gasthof in der Stadt hat ihm die Antwort auf unser Schreiben übergeben. Jemand hatte sie dort an die Tür gehängt.«

Eadulf pfiff durch die Zähne. »Also befand sich der Täter die ganze Zeit in der Nähe der Burg?«

»Ich frage mich, warum Gorman das dir gegenüber nicht erwähnt hat«, überlegte Fidelma laut.

»Bei Uaman auf der Insel haben sich die Ereignisse überschlagen, da hatte er keine Gelegenheit dazu«, sagte Eadulf beschwichtigend. »Doch welchen Beweis haben die Entführer denn erbracht?«

»Sie haben uns einen von Alchus Babyschuhen geschickt ... Von jenen, die mein Bruder ihm geschenkt hatte. Ich bin fast gestorben, als ich ihn sah und somit bestätigt fand, daß er in den Händen der Entführer war.«

Eadulf blickte sie kurz an. »Aber ich habe doch die Babyschuhe, die er trug, wieder mitgebracht. Seine ganzen Sachen sind noch bei Muirgen.«

Fidelma ging zu ihrer Truhe und holte das Schreiben und den Schuh, den man ihnen geschickt hatte, heraus.

»Hat er denn nicht diese Schuhe angehabt?« sagte sie und hielt ihn hoch. Eadulf schüttelte den Kopf.

»Nein. Er hat kleine wollene Babyschuhe getragen. Muirgen kann das bezeugen. Sie sind ein wenig schmutzig geworden, aber es waren die einzigen, die damals in der Truhe gefehlt haben. Erinnerst du dich nicht daran, daß mich dein Bruder gebeten hat, Alchus Sachen durchzusehen, um den Männern, die nach ihm suchten, eine Beschreibung seiner Kleidung zu geben?«

Fidelma sah ihn fragend an. »Ich verstehe nicht.«

Eadulf übte sich in Geduld. »Entsinnst du dich, daß Colgu verlangt hat, die Truhe zu durchsuchen, um festzustellen, was Alchu in jener Nacht getragen hat?«

»Ganz vage.«

»Vage ist sicher richtig, denn du warst viel zu durcheinander, um selbst nachzusehen, und hast mich darum gebeten.«

»Die Truhe?« Fidelma warf einen nachdenklichen Blick darauf und machte eine ungeduldige Handbewegung. »Und? Was willst du damit sagen?«

»Nun, der Schuh, den du jetzt in Händen hältst, befand sich in der Truhe, als ich damals nachgeschaut habe. Ich meine, das Paar Schuhe war dort.«

»Bist du ganz sicher?«

»Ganz sicher«, erwiderte Eadulf aufgebracht. »Ich würde sie überall wiedererkennen. Dein Bruder hatte sie extra für den Kleinen bei einem Schuhmacher anfertigen lassen.« Er zeigte auf den Schuh in Fidelmas Hand. »Sieh dir nur die Sohle aus Rohleder an. Ich dachte damals, daß Alchu für solche Schuhe noch zu klein sei.«

Fidelmas Gesicht nahm plötzlich einen merkwürdigen Ausdruck an.

»Erinnere dich bitte. Nachdem wir übereingekommen waren, von Alchus sogenannten Entführern einen Beweis zu verlangen, kehrten wir in unsere Gemächer zurück. Lungerte da nicht Gorman im Gang vor unseren Räumen herum? Er hätte sicher Gelegenheit gehabt, die Schuhe zu stehlen.«

»Glaubst du, daß Gorman etwas damit zu tun hat?«

Fidelmas Gesicht entspannte sich ein wenig. »Ich glaube, daß mir in diesem seltsamen Fall langsam ein Licht aufgeht, Eadulf«, sagte sie leise. »Ich muß noch einmal mit Della sprechen.«

»Doch nicht jetzt. Es ist schon Mitternacht. Nicht gerade die beste Zeit, um sie aufzusuchen.«

Fidelma zögerte, dann lachte sie und zuckte mit den Achseln.

»Du hast recht. Der Tag war ziemlich anstrengend, die letzten beiden Wochen waren es ebenfalls. Ich werde morgen hingehen. Ich glaube nicht, daß das Wild, das wir jagen, bis dahin geflohen ist.«

Am Vormittag ritt Fidelma zu Della. Mit Eadulfs Einverständnis hatte sie beschlossen, Della allein aufzusuchen. Della blickte Fidelma unsicher an, als sie die Tür öffnete.

»Dein Gesicht verrät, daß du etwas ganz Bestimmtes willst, Lady Fidelma. Du siehst aus wie ein Jäger, der seine Beute wittert und sich bereitmacht, sie zu töten.«

Fidelma dachte an das, was sie am Abend zuvor zu Eadulf gesagt hatte.

»Das ist ein guter Vergleich, Della. Ich wittere die Beute, aber ich habe sie noch nicht in die Enge getrieben.«

»Wie kann ich dir helfen?« Die ehemalige bé-tâide trat zur Seite und winkte Fidelma in das warme kleine Haus hinein. Im Hauptraum, in dem ein Feuer loderte, nahm Fidelma Platz.

»Ich will noch einmal auf unsere Unterhaltung von neulich zurückkommen.«

»Über den fehlenden Umhang?«

»Auch das. Ich nehme an, daß du mit niemandem darüber gesprochen hast, nicht wahr?«

»Natürlich nicht. Du hast mich doch darum gebeten.«

»Ich bitte dich auch, folgendes für dich zu behalten. Der Zwerg, der die falsche Nachricht an Sarait überbracht hat, um sie aus der Burg zu locken, ist wieder in Cashel.«

»Du hast mir doch gesagt, daß er meint, er würde die Frau nicht wiedererkennen.«

»Vielleicht gibt es andere Möglichkeiten, sie zu finden.«

Della preßte die Lippen aufeinander und schwieg.

»Als wir uns das letztemal über Sarait unterhielten, sagtest du, sie hätte dir erzählt, sie sei vergewaltigt worden.«

Della nickte. »Sie hat mir aber nicht verraten, wer diese Untat beging.«

»Ich entsinne mich. Ich glaube allerdings, daß wir ihren Worten entnehmen können, daß es ein Krieger war, der in der Schlacht bei Cnoc Äine dabei war. War es Gorman? Hat er sie vergewaltigt?«

Della errötete. »Nie im Leben!« rief sie. »Er war in sie verliebt.«

»Und das hat er dir erzählt?« fragte Fidelma sogleich.

Della wollte etwas sagen, doch dann wurde ihr bewußt, daß sie schon viel mehr verraten hatte, als ihr lieb war.

»Du kannst mir ruhig alles erzählen«, meinte Fidelma. »Ein Krieger hat sie vergewaltigt. Hat Sarait dir gegenüber jemals Gormans Namen erwähnt?«

Auf einmal traten rote Flecken auf Dellas Wangen. »Gorman kann es nicht gewesen sein.«

»Liebst du Gorman?«

Zu Fidelmas Überraschung fing Della an zu lachen. »Natürlich liebe ich ihn«, sagte sie amüsiert. »Ist das verboten?«

Fidelma war verblüfft. Mit einer so offenen Antwort hatte sie nicht gerechnet. Es herrschte ein langes Schweigen.

»Halten wir erst mal fest, was unbestritten ist«, sagte Fidelma schließlich. »Sarait hatte eine Totgeburt. Das war lange nach der Schlacht bei Cnoc Äine. Es kann nicht das Kind ihres Ehemannes Callada gewesen sein.«

Della lehnte sich zurück und betrachtete Fidelma genau. Sie schwieg.

»Es ist gewiß, daß sie das Kind erst nach dem Tod ihres Mannes empfangen hat. War das Kind Folge der Vergewaltigung?«

Della zögerte.

»Es ist wichtig, Della«, sprach Fidelma auf sie ein. »Ich frage das nicht einfach nur so. Ich glaube, daß der Vater dieses Kindes auch ihr Mörder ist.«

Della starrte sie entsetzt an. »Aber was ist mit den Ui Fidgente und dem Erpresserschreiben?«

»Eine kleine List, um uns auf die falsche Fährte zu locken. Dazu die zufällig auftauchenden Fremden, die das verlassene Baby im Wald fanden. Das alles hat mich tatsächlich eine Weile in die Irre geführt.«

Della schwieg wieder.

»Du vermutest richtig, Lady Fidelma. Das totgeborene Kind war die Folge der Vergewaltigung, und Sarait war dankbar dafür, daß es tot war.«

Fidelma atmete langsam aus. »Es ist schon traurig, wenn man froh ist, daß ein Leben verloschen ist. Aber ich verstehe sie. Wann hast du davon erfahren?«

»Ich habe dir bereits gesagt, daß mich Sarait wenige Tage nach der Vergewaltigung aufgesucht hat und meinen Rat wollte. Vielmehr wollte sie sich jemandem anvertrauen und hoffte auf Verständnis, statt verurteilt zu werden.«

»Warum hat sie nicht mit ihrer Schwester Gobnat darüber gesprochen?«

»Wegen Gobnats hohen moralischen Maßstäben, wie ich dir schon sagte. Es wäre nicht sehr hilfreich gewesen, sich ihr anzuvertrauen. Sarait fiel es leichter, mit mir zu reden. Zwei Monate nach dem Vorfall kam sie zu mir und gestand mir ihre Schwangerschaft.«

»Und sie hat dir erzählt, daß sie zuvor vergewaltigt worden war? Und dir nicht verraten, wer der Vater war?«

Della nickte. »Sie hat das alles nicht ertragen können. Sie wollte wissen, wie sie das Kind noch vor der Geburt loswerden könnte.«

»Und du hast sie beraten?«

»Du denkst wohl, als bé-tâide müßte ich selbstverständlich über solche Sachen Bescheid wissen!« Dellas Stimme klang ein wenig bitter.

»Das denke ich nicht«, erwiderte Fidelma streng. »Ich habe die Pharmacopoeia von Dioscorides studiert und könnte vermutlich acht Kräuter nennen, mit denen man eine ungewollte Schwangerschaft unterbrechen kann. Ich frage dich nur, ob du sie beraten hast.«

Della kniff rasch die Augen zusammen. »Ja, das habe ich getan. Ich gab ihr ein paar der Kräuter mit, die ich immer benutzt habe - Kräuter, die harntreibend und abführend wirken. Ich habe von Händlern aus Gallien Gartenraute gekauft und einen Aufguß hergestellt.«

»Aber diese Kräuter haben nicht gewirkt.«

» Offensichtlich nicht. Später riet ich Sarait davon ab, zu einem Arzt zu gehen, der ihren Körper nur verletzen und ihr Schaden zufügen würde. Da bekam sie das Kind.«

»Jemand in Cashel hat doch sicher aber etwas davon geahnt oder gar gewußt.«

Della verneinte. »Sie wirkte zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht schwanger. Doch als sie merkte, daß sie es bald nicht mehr verbergen konnte, habe ich sie zu meiner Cousine in die Berge bei Araglin geschickt.«

Fidelma hob leicht den Kopf. »Araglin? Den Ort kenne ich.«

»Nun, dort ist sie eine Weile geblieben, bekam das tote Kind. Es ist im Gebirge begraben worden, und als es ihr wieder besser ging, ist sie nach Cashel zurückgekehrt. Sie konnte noch stillen, und als ich hörte, daß du auf der Suche nach einer Amme warst, schickte ich sie zu dir.«

»Sie hat mir nie erzählt, daß sie mit einer Empfehlung von dir kam.«

»Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen, Lady Fidelma. Ich habe ihr geraten, sich als Calladas Witwe vorzustellen, was in meinen Augen ausreichend schien.«

»So war es auch. Und deshalb hatte ich angenommen, daß das tote Kind von Callada war. Mir war nicht bewußt, wieviel Zeit verstrichen war ... Ach! Denken wir nicht weiter an zurückliegende Irrtümer. Jetzt wird alles klarer.«

»Das begreife ich nicht.«

»Vielleicht mußt du in die Burg kommen, Della, und vor dem Brehon aussagen. Wirst du das tun?«

»Wenn man dadurch denjenigen findet, der hinter Saraits Ermordung und dem Verschwinden deines Sohnes steckt, dann tue ich es.«

Fidelma erhob sich und lächelte. »Falls sich mein Verdacht erhärtet, werden wir den Täter bald kennen. Die Frage ist, ob wir ihn auch überführen können.«

Auf einmal neigte sie den Kopf zur Seite und lauschte. Draußen schnüffelte etwas vor der Tür. Sie hörte einen Hund winseln. Die beiden Frauen gingen zur Tür. Ein drahthaariger brauner Hund schaufelte wie besessen ein Loch in die Erde. Fidelma hatte ihn schon einmal gesehen.

Della öffnete den Mund und wollte ihn fortjagen, doch Fidelma hielt sie davon ab. Der Hund schnupperte und suchte fieberhaft nach etwas. Mit einem triumphierenden Laut holte er plötzlich mit der Schnauze etwas aus dem Loch hervor. Dann sprang er wild im Kreis herum und stupste den Gegenstand aus lauter Freude in die Luft und schnappte wieder danach.

Fidelma hockte sich hin und lockte den Hund heran. Er sprang zu ihr und ließ den Fund vor ihre Füße fallen. Dann rannte er zurück, zog den Kopf ein, stellte die Vorderpfoten auseinander und erwartete offensichtlich, daß sie ihn wieder fortwarf, damit er ihn apportieren konnte. Doch Fidelma stand auf und besah sich den mit Erde verschmutzten Gegenstand.

Es war ein Babyschuh, ebenjener Schuh, der den anderen ergänzte, den ihr Gorman damals gebracht hatte. Es war Alchus fehlender Schuh.

Fidelma hatte noch etwas anderes in dem Loch aufblitzen sehen, sie lief hin und blickte genauer hin. Der aufgeregt bellende Hund sprang hinter ihr her. Sie bückte sich und zog einen Fetzen Stoff aus der Erde. Es handelte sich um grüne Seide, es war ganz offensichtlich ein Umhang mit Kapuze. Sie drehte sich um und sah zu Della.

Die starrte den Umhang an. Sie wurde ganz bleich.

Fidelma blickte sie lange und durchdringend an.

»Ich glaube, daß du besser gleich mit mir in die Burg kommst, Della. Wir haben da noch etwas zu besprechen.«

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