Kapitel 8

Nachdem Duban mit dem Ersuchen um eine Unterredung zu Ebers Witwe Cranat geschickt worden war, brachte er den Bescheid, daß sie sich in einer halben Stunde in der Festhalle mit Fidelma und Eadulf treffen würde.

Cron war schon da, als sie eintraten, und saß in ihrem Amtssessel. Vor ihr, unmittelbar unterhalb des Podiums, standen dieselben Stühle wie zuvor. Fidelma bemerkte, daß ein weiterer Stuhl neben Crons Amtssessel aufgestellt worden war. Fidelma und Eadulf hatten kaum ihre Plätze eingenommen, als eine Frau in kerzengrader Haltung und mit einer starren, unnachgiebigen Miene eintrat. Sie blickte nicht in ihre Richtung und gab kein Zeichen der Begrüßung von sich, sondern ging zu dem leeren Stuhl und setzte sich neben ihre Tochter.

Für eine Frau nahe fünfzig war Cranat noch schön zu nennen. Sie hatte sich ihre Figur bewahrt. Es lag etwas Aristokratisches in ihrem ovalen Gesicht, ihrem hellen, zarten Teint. Ihr goldenes Haar zeigte keine Spur von Grau und fiel ihr lang über die Schultern. Ihre Hände waren wohlgeformt und schlank. Fidelma sah, daß die Nägel sorgfältig geschnitten und poliert und künstlich rot gefärbt waren. Beerensaft half dem Schwarz ihrer Brauen nach, und auf ihren Wangen lag ein Hauch von ruam, dem rötlichen Saft der Zweige und Beeren des Holunders. Mit Parfüm hatte Cranat auch nicht gespart. Ein schwerer Rosenduft umgab sie. Cranat hatte eine königliche Haltung eingenommen.

Sie trug ein Kleid aus roter Seide, mit Gold besetzt, und dazu Armbänder aus Silber und heller Bronze und ein goldenes Halsband. Cranat besaß offensichtlich Reichtümer, und ihre Haltung bewies, daß sie von höherem Rang war und nicht einfach nur die Frau des Fürsten von Araglin.

Fidelma wartete ein paar Augenblicke, ob Cranat sie wenigstens mit einem Blick begrüßen würde.

Schließlich war es Cron, die Tanist, die das Schweigen brach. Sie sprach, ohne sich von ihrem Sessel zu erheben.

»Mutter, dies ist Fidelma, die Anwältin, die gekommen ist, um das Urteil über Moen zu sprechen.«

Erst jetzt hob Cranat den Kopf, und Fidelma blickte in dieselben kalten blauen Augen wie die der Tochter Cranats, Cron.

»Meine Mutter«, fuhr Cron fort, »Cranat von den Deisi.«

Fidelma verzog keine Miene. Diese Vorstellung erklärte die Haltung Cranats. Der Legende nach war während des Großkönigtums von Cormac mac Airt die Sippe der Deisi aus ihrem angestammten Land um Tara herum verbannt worden. Einige von ihnen waren ins Land der Briten geflohen, andere hatten sich im Königreich Muman angesiedelt und sich in zwei Sippen geteilt, die nördlichen und die südlichen Deisi. Wenn Cron ihre Mutter als »von den Deisi« vorstellte, bedeutete das, daß Cranat die Tochter eines Fürsten ihres Stammes war. Doch selbst das entschuldigte nicht die Art, wie sie es unterlassen hatte, Fidelma zu begrüßen. Ärger rötete Fidelmas Gesicht. Einmal hatte sie diese Kränkung ihres Ranges und ihrer Stellung durchgehen lassen. Ein zweites Mal durfte sie das nicht tun, wenn sie diese Untersuchung in der Hand behalten wollte.

Anstatt sich zu setzen, trat sie ruhig auf das erhöhte Podium, also auf die gleiche Stufe mit Cron und Cranat.

»Eadulf, stelle einen Stuhl für mich hierher«, befahl sie kühl.

Die Entrüstung auf den Gesichtern Cranats und ihrer Tochter bewies, daß sie es nicht gewohnt waren, daß jemand ihre Autorität anzweifelte.

Eadulf unterdrückte ein belustigtes Lächeln, denn er wußte, wie Fidelma die Etikette durchzusetzen verstand, wenn sie nicht beachtet wurde. Rasch nahm er einen Stuhl und stellte ihn auf den Platz, auf den Fidelma deutete. Er wußte, wie wenig sich Fidelma normalerweise aus Rechten und Privilegien machte. Nur wenn andere Leute die Etikette benutzten, um zu Unrecht Autorität zu beanspruchen, wies Fidelma sie streng zurecht.

»Schwester, du vergißt dich!«

Es war der erste Satz, den Cranat sprach, und zwar in entrüstetem Tonfall.

Fidelma hatte sich gesetzt und betrachtete die Witwe des Fürsten mit ausdrucksloser Miene.

»Was habe ich deiner Meinung nach vergessen, Cranat von Araglin?«

Ihre sanfte Betonung des Titels hatte ihre Bedeutung.

Cranat schluckte hörbar und konnte nicht antworten.

»Meine Mutter ist ...«, setzte Cron an, brach aber ab, als Fidelma sich ihr zuwandte. »Ach ...« Sie erkannte plötzlich, auf welchen Bruch der Etikette Fidelma sie aufmerksam gemacht hatte. Rasch wandte sie sich an ihre Mutter. »Ich habe vergessen, dir zu sagen, daß Schwester Fidelma nicht nur Anwältin ist, sondern auch die Schwester von Colgü von Cashel.«

Bevor Cranat das verdauen konnte, beugte sich Fidelma vor. Sie sprach höflich, doch mit fester Stimme.

»Lassen wir mal meine Herkunft und die Königswürde meines Bruders beiseite«, begann sie und hielt kurz inne, denn damit hatte sie bereits Cranats königliche Ansprüche erledigt, »so besitze ich den Rang eines anruth und darf in Anwesenheit des Großkönigs der fünf Königreiche sitzen und auf gleicher Ebene mit ihm sprechen.«

Cranats Mund wurde zu einem schmalen Strich. Ihre eiskalten Augen richteten sich auf einen anderen Punkt im Raum.

»Nun ...«, Fidelma lehnte sich zurück und lächelte fröhlich. Ihr Ton war angeregt. »Nun wollen wir diese langweiligen Fragen der Sitten und Gebräuche vergessen, denn wir haben eine wichtige Arbeit vor uns.«

Auch diesmal gab es keinen Zweifel daran, daß Fidelma Cranat und Cron wegen ihres hochfahrenden Verhaltens tadelte, und sie wußten es auch. Sie schwiegen, denn darauf gab es keine vernünftige Antwort.

»Ich muß dir ein paar Fragen stellen, Cranat.«

Die steif dasitzende Frau schnaubte. Sie brachte es nicht über sich, Fidelma anzuschauen.

»Das wirst du dann wohl auch tun«, antwortete sie humorlos.

»Wie ich erfahren habe, warst du es, die einen Boten zu meinem Bruder nach Cashel schickte mit der Anforderung, einen Brehon hierher zu entsenden. Ich habe gehört, du hättest das ohne Wissen und Zustimmung deiner Tochter getan, die hier Tanist ist. Warum das?«

»Meine Tochter ist noch jung«, sagte Cranat. »Sie hat keine Erfahrung in Rechtsprechung und Politik. Ich bin überzeugt, daß diese Angelegenheit angemessen geregelt werden muß, damit kein Makel an der Familie von Araglin haften bleibt.«

»Warum sollte das geschehen?«

»Die Art des Geschöpfes, das die Verbrechen begangen hat, und die Tatsache, daß er der Adoptivsohn von Lady Teafa ist, könnten Leute veranlassen, das Haus Araglin zu verleumden.«

Fidelma hielt das für eine plausible Erklärung.

»Kehren wir nun zu dem Morgen vor sechs Tagen zurück, als du vom Tode deines Gatten Eber erfuhrst.«

»Ich habe schon erklärt, was geschah«, warf Cron schnell ein.

Fidelma schnalzte ärgerlich mit der Zunge.

»Du hast mir die Ereignisse aus deiner Sicht geschildert. Jetzt frage ich deine Mutter.«

»Da gibt es nicht viel zu sagen«, meinte Cranat. »Ich wurde von meiner Tochter geweckt.«

»Zu welcher Zeit?«

»Gerade als die Sonne aufging, glaube ich.«

»Was geschah dann?«

»Sie sagte mir, daß Eber ermordet worden sei und daß Moen die furchtbare Tat begangen habe. Ich kleidete mich an und kam hierher in die Festhalle zu ihr. Dann brachte Duban die Nachricht, daß auch Teafa erstochen aufgefunden worden war.«

»Gingst du zu Ebers Leiche?«

Cranat schüttelte den Kopf.

»Du gingst nicht hin, um deinem toten Gatten die letzte Ehre zu erweisen?« fragte Fidelma überrascht.

»Meine Mutter war zu tief erschüttert«, wandte Cron entschuldigend ein.

Fidelma blickte weiter in die kalten blauen Augen Cranats.

»Du warst zu tief erschüttert?«

»Ich war zu tief erschüttert«, wiederholte Cranat.

Fidelma wußte instinktiv, daß Cranat als billige Entschuldigung benutzte, was ihre Tochter ihr vorgegeben hatte.

»Sag mir, warum du nicht das Schlafzimmer mit deinem Gatten teiltest.«

Cron fuhr empört auf.

»Wie kannst du es wagen, solch eine unverschämte Frage ...«, setzte sie an.

Fidelma sah Cron mit zusammengekniffenen Augen an.

»Ich wage es«, erwiderte sie unbeeindruckt, »weil ich eine Anwältin bei Gericht bin, und keine Frage, die darauf abzielt, die Wahrheit ans Licht zu bringen, ist unverschämt. Ich meine, Cron von Araglin, du hast noch viel zu lernen von der Weisheit und den Pflichten eines Fürsten. Deine Mutter tat recht daran, einen Brehon aus Cashel kommen zu lassen.«

Cron schluckte und lief rot an. Bevor ihr eine passende Antwort einfiel, hatte sich Fidelma wieder an Cranat gewandt.

»Nun, Lady?« fragte sie scharf.

Cranats eisiger Blick bot ihr einen Moment Trotz, doch Fidelmas feurige grüne Augen nahmen die Herausforderung an und beugten sich nicht. Schließlich sanken Cranats Schultern resigniert herab.

»Schon seit vielen Jahren teilte ich nicht mehr das Bett meines Mannes«, antwortete sie leise.

»Warum?«

Cranats Hände bewegten sich unruhig auf ihrem Schoß.

»Wir hatten uns auseinandergelebt in ... in dieser Hinsicht.«

»Und das hat dich nicht gestört?«

»Nein.«

»Und Eber vermutlich auch nicht?«

»Ich weiß nicht, was du meinst.«

»Du kennst die Ehegesetze so gut wie ich. Wenn es sexuelle Hindernisse zwischen euch gab, konnte jeder von euch die Scheidung beantragen.«

Cranats Gesicht rötete sich.

Cron blickte auf Eadulf, der unbewegt dasaß.

»Muß der Angelsachse dabei sein und das alles mit anhören?« fragte sie.

Eadulf war ein wenig verlegen und wollte aufstehen.

Fidelma winkte ihm, sitzen zu bleiben.

»Er ist hier, um unsere Rechtsverfahren kennenzulernen. Vor dem Gesetz gibt es nichts, dessen man sich zu schämen hätte.«

»Wir hatten uns gütlich geeinigt«, fuhr Cranat fort, die begriff, daß sie und ihre Tochter einem stärkeren Willen gegenüberstanden als dem eigenen. »Es gab keinen Anlaß für eine Scheidung oder Trennung.«

»Nein? Wenn einer von euch nicht mehr zum Verkehr fähig war, konntet ihr leicht eine legale Scheidung erwirken. Auch die Probleme der Unfruchtbarkeit oder Impotenz sind im Gesetz geregelt.«

»Meine Mutter kennt das Gesetz«, unterbrach sie Cron empört. »Können wir es nicht dabei belassen, daß mein Vater und meine Mutter es einfach vorzogen, getrennt zu schlafen?«

»Einverstanden«, stimmte Fidelma zu, »obgleich es leichter zu verstehen wäre, wenn ich einen Grund dafür erführe.«

»Der Grund war, daß wir lieber allein schliefen«, erklärte Cranat unbeholfen.

»In allem anderen bliebt ihr Partner?«

»Ja.«

»Und dein Gatte unternahm keinen Versuch, sich eine Frau von geringerem Status, eine Konkubine, zuzulegen?«

»Das ist verboten«, fuhr Cron dazwischen.

»Verboten?« Fidelma war überrascht. »Unsere Gesetze sagen ganz deutlich, daß nach dem Cdin Ldnamna Polygynie noch zulässig ist. Ein Mann kann eine Hauptfrau haben und eine Konkubine, die nach dem Gesetz den halben Status und die halben Ansprüche der Hauptfrau besitzt.«

»Wie kannst du so etwas billigen?« fragte Cron. »Du bist doch eine Glaubensschwester.«

Fidelma sah sie gelassen an.

»Wer sagt denn, daß ich das billige? Ich stelle nur fest, wie die Gesetzeslage in den fünf Königreichen heute ist. Ich bin eine Anwältin dieses Gesetzes. Es überrascht mich, daß es hier in dieser ländlichen Gemeinschaft auf soviel Widerstand stößt. Im allgemeinen hängt man in ländlichen Gegenden viel stärker den alten Gesetzen und Gebräuchen des Volkes an.«

»Pater Gorman sagt, daß es eine Sünde ist, mehr als eine Frau zu haben.«

»Ach ja, Pater Gorman. Wieder Pater Gorman. Anscheinend übt der gute Pater einen starken Einfluß auf diese Gemeinschaft aus. Es stimmt, daß viele Anhänger des neuen Glaubens die Polygynie ablehnen, doch bisher ohne großen Erfolg. Tatsächlich findet der scriptor des Gesetzestextes, der Bretha Crolige, sogar eine Begründung für die Polygynie im Alten Testament. Es heißt, wenn das auserwählte Volk Gottes in Mehrehe lebte, wie kommen wir Nichtjuden dann dazu, dagegen zu sprechen?«

Cranat mißbilligte diese Auffassung ganz offensichtlich.

»Über deine Theologie kannst du dich mit Pater Gorman streiten, wenn er zurück ist. Eber brauchte jedenfalls keine anderen Frauen oder Konkubinen. Wir leben hier in einer friedlichen Gemeinschaft. Und die Enge unserer Verbindung hat nichts mit seinem Tod zu tun, denn sein Mörder ist einwandfrei festgestellt worden.«

»Ach ja«, seufzte Fidelma, als sei sie abgelenkt worden. »Kehren wir zu dem Fall zurück ...«

»Ich weiß nicht mehr, als ich dir bereits gesagt habe«, fauchte Cranat. »Ich habe von Ebers Tod erst durch andere erfahren.«

»Und du warst zutiefst erschüttert, wie deine Tochter sagte?«

»Das war ich.«

»Aber doch so besonnen, daß du dem jungen Krieger Critan Befehl gabst, nach Cashel zu reiten mit dem Ersuchen, einen Brehon herzusenden?«

»Ich war die Frau des Fürsten. Ich hatte meine Pflicht zu erfüllen.«

»Warst du schockiert, als du hörtest, daß es Moen war, der deinen Gatten umbrachte?«

»Schockiert? Nein. Traurig vielleicht. Es war wohl abzusehen, daß dieses wilde Tier früher oder später über jemanden herfallen würde.«

»Du mochtest Moen nicht?«

Ebers Witwe zog erstaunt die Brauen hoch.

»Mögen? Wie kann man wissen, was jemand wie Moen im Sinn hat?«

»Nun gut, vielleicht versteht man seine Gedanken, Hoffnungen und Wünsche nicht. Aber warst du nicht täglich in Kontakt mit ihm?«

»Du würdest dieser Kreatur dieselben Gefühle zubilligen wie einem normalen Menschen?« mischte sich Cron höhnisch ein.

»Wenn man des Augenlichts, des Gehörs und der Sprache beraubt ist, bleiben einem noch die anderen Sinne«, wies Fidelma sie zurecht. »Du mußt doch miterlebt haben, Cranat, wie Moen hier aufwuchs?«

Cranat kniff mürrisch die Lippen zusammen.

»Ja. Aber ich kenne das unglückliche Geschöpf nicht besonders gut. Ich habe auch gesehen, wie Ferkel zu Säuen heranwuchsen. Das bedeutet nicht, daß ich die Sau genau kenne.«

Fidelma lächelte dünn.

»Meinst du damit, daß du Moen eher für ein Tier als für ein menschliches Wesen hältst? Daß er deshalb mit deinem Leben nichts zu tun hat?«

»Wenn du so willst«, gab sie zu.

»Ich versuche lediglich, deine Haltung Moen gegenüber zu verstehen. Wie standest du zu Teafa? Ich habe gehört, daß zumindest sie sich mit ihm verständigen konnte.«

»Verständigt sich der Schäfer mit seinen Schafen?« »Ich habe auch gehört, daß du nicht gut mit Teafa auskamst.«

»Wer erzählt dir solchen Klatsch?«

»Bestreitest du, daß es so war?«

Cranat zögerte und zuckte dann die Achseln.

»Wir hatten Meinungsverschiedenheiten in den letzten Jahren.«

»Worüber?«

»Sie war der Ansicht, ich solle mich von Eber scheiden lassen und so meinen Status als Gattin des Fürsten verlieren. Mir tat Teafa leid. Wenn sie sich auch ihr Unglück selbst zuzuschreiben hatte.«

»Unglück? Wieso?«

»Sie war über das heiratsfähige Alter hinaus, vom Leben enttäuscht, und aus dieser Enttäuschung heraus hatte sie das Findelkind Moen zu sich genommen, das ihr nicht die Gefühle entgegenbringen konnte, die sie von ihm erwartete.«

»Doch sie war die Schwester deines Gatten?«

»Teafa zog es vor, für sich zu bleiben. Manchmal nahm sie an religiösen Festen teil, aber sie stimmte mit Pater Gormans Auslegung des Glaubens nicht überein. Sie lebte beinahe wie eine Einsiedlerin, obwohl ihre Hütte nur dreißig Schritte von hier entfernt steht.«

»Welchen Grund könnte Moen haben, sie und Eber umzubringen?«

Cranat breitete die Arme aus.

»Wie ich vorhin schon sagte, kann ich mich nicht in die Gedanken eines wilden Tieres hineinversetzen.« »Dafür hältst du Moen? Einfach für ein wildes Tier?«

»Für was sonst soll man die Kreatur halten?«

»Ich verstehe. Ist das die Art, in der Teafas Familie ihn in all den Jahren behandelte, in denen er in dieser Gemeinschaft lebte? Wie ein wildes Tier?« forschte Fidelma und überging Cranats Frage.

Cron entschied sich, für ihre Mutter zu antworten.

»Er wird wie jedes andere Tier in diesem rath behandelt, vielleicht besser. Er wird gut behandelt, nicht grob, aber wie sollte man sonst mit ihm umgehen?«

»Wenn ich euch richtig verstanden habe, führt ihr seine Handlungen nach all diesen Jahren auf einen plötzlichen Anfall tierischer Instinkte zurück?«

»Worauf sonst?«

»Es muß schon ein schlaues Tier sein, das ein Messer nimmt, die Frau tötet, die es sein Leben lang versorgt hat, seinen Weg zu Ebers Wohnung findet und ihn ebenso tötet.«

»Wer sagt denn, daß Tiere nicht schlau sein können?« konterte Cron.

Mit mürrischer Miene stimmte Cranat ihr zu.

»Mir scheint es, junge Frau, daß du eine Möglichkeit zu finden versuchst, Moen zu entlasten. Warum tust du das?«

Fidelma stand plötzlich auf.

»Ich suche lediglich nach der Wahrheit. Ich kann nichts für die Art und Weise, in der du die Dinge siehst, Cranat von Araglin. Ich habe eine Aufgabe entsprechend meinem Eid als Anwältin bei den Gerich-ten der fünf Königreiche. Diese Aufgabe besteht nicht nur darin, festzustellen, wer gegen das Gesetz verstoßen hat, sondern auch, warum gegen das Gesetz verstoßen wurde, damit Schuld und Wiedergutmachung angemessen beurteilt werden können. Für den Augenblick habe ich keine weiteren Fragen.«

Eadulf bemerkte die empörten Mienen von Mutter und Tochter. Wenn Blicke töten könnten, wäre Fidelma gestorben, noch bevor sie vom Podium herabtrat. Ungerührt schritt sie, gefolgt von Eadulf, zur Tür der Festhalle.

Draußen blieb sie stehen. Beide schwiegen eine Weile.

»Du scheinst nicht viel für Cranat und ihre Tochter übrig zu haben«, meinte Eadulf trocken.

Fidelma lächelte schelmisch.

»Ich habe einen schwerwiegenden Fehler, Eadulf. Ich gebe ihn auch offen zu. Ich kann bestimmte Dinge nicht vertragen. Hochmut ist etwas, was mich gegen die Leute einnimmt. Ich zahle ihn ihnen mit gleicher Münze heim. Ich fürchte, ich kann die Lehre, man solle >die andere Wange hinhalten<, nicht befolgen. Ich meine, diese Lehre lädt nur zu weiteren Beleidigungen ein.«

»Nun, wenigstens siehst du deinen Fehler ein«, erwiderte Eadulf. »Der größte Fehler ist es, wenn man sich keines Fehlers bewußt ist.«

Fidelma kicherte leise.

»Du wirst noch ein Philosoph, Eadulf von Seax-mund’s Ham. Aber etwas Wichtiges haben wir immerhin herausgefunden. Cranat ist nicht zu trauen.«

»Warum nicht?«

»Sie war zu >tief erschüttert<, um der Leiche ihres Gatten die letzte Ehre zu erweisen, sich die Leiche auch nur anzusehen, aber stark und pflichtbewußt genug, um einen Boten nach Cashel zu senden, weil sie sich nicht auf die Gesetzeskenntnis ihrer unerfahrenen Tochter verlassen wollte. Das finde ich seltsam.«

Sie schaute nach der Kapelle. Eadulf folgte ihrem Blick. Die Tür des Gotteshauses stand offen.

»Ob wohl der gestrenge Pater Gorman zurückgekehrt ist?« überlegte sie laut. Dann ging sie entschlossen auf die Kapelle zu und rief: »Komm, Eadulf, sehen wir nach.«

Eadulf stöhnte innerlich, als er ihr folgte, denn nach allem, was sie gehört hatten, würden der Priester und Fidelma wie Hund und Katze sein.

In der düsteren Kapelle waren Kerzen angezündet. Der Weihrauchduft, der das ganze tannenholzgetäfelte Gebäude erfüllte, schlug ihnen sofort entgegen. Er war außerordentlich stark. Mit einem Blick erfaßte Fidelma den Reichtum der Innenausstattung. Goldgerahmte Heiligenbilder hingen an den Wänden, und ein feingearbeitetes silbernes, mit Juwelen besetztes Kreuz befand sich auf dem Altar mit einem einfachen Silberkelch davor. Es gab kein Gestühl in der Kapelle, denn nach der Sitte stand die Gemeinde während des Gottesdienstes. Die mit Parfüms und Gewürzen getränkten brennenden Kerzen verbreiteten einen Geruch, der ihnen fast den Atem nahm. Pater Gorman war offensichtlich der Hirte einer reichen Kirche und Gemeinde.

Ein Mann kniete im Gebet. Fidelma blieb an der Tür stehen, Eadulf an ihrer Seite. Der Mann schien ihre Anwesenheit zu spüren, denn er blickte über die Schulter, beendete sein Gebet und bekreuzigte sich. Dann erhob er sich und kam zu ihnen.

Pater Gorman war hochgewachsen, schlank, von fast weiblicher Gestalt, doch mit dunklem Teint, fleischigem Gesicht, dicken roten Lippen und schütterem ergrauendem Haar, das einst so schwarz gewesen sein mußte wie seine blitzenden Augen. Der hübsche junge Mann von einst war noch erkennbar, obwohl Fidelma jetzt eher den Eindruck eines Wüstlings mittleren Alters hatte, der gar nicht mit ihrer Vorstellung von einem feurigen katholischen Priester übereinstimmen wollte. Er begrüßte sie mit einer tiefen, grollenden Stimme, in der die Verkündigung von Höllenfeuer und Verdammnis mitschwang. Ohne Überraschung stellte sie fest, daß die corona spina in sein Haar eingeschnitten war, das Zeichen eines Geistlichen römischer Ausrichtung, und nicht die Tonsur eines Anhängers der irischen Kirche. Verwundert sah sie, daß er rauhlederne Handschuhe trug.

Sein Blick schien sich aufzuhellen, als er Eadulfs römische Tonsur erblickte.

»Sei gegrüßt, Bruder«, sagte er mit dröhnender Stimme. »Also haben wir noch jemanden unter uns, der dem Pfad der wahren Weisheit folgt?«

Eadulf war diese Begrüßung peinlich.

»Ich bin Eadulf von Seaxmund’s Ham. Ich hätte nie erwartet, in diesen Bergen eine so reiche Kapelle zu finden.«

Pater Gorman lachte freundlich.

»Die Erde versorgt uns, Bruder. Die Erde sorgt für die, die des rechten Glaubens sind.«

»Pater Gorman?« Fidelma schaltete sich ein, bevor das Gespräch den Gang nehmen konnte, auf den es der Priester gelenkt hatte. »Ich bin Fidelma von Kil-dare.«

Die funkelnden dunklen Augen schätzten sie ab.

»Ach ja. Duban hat mir von dir berichtet, Schwester. Sei willkommen in meiner kleinen Kapelle. Cill Uird nenne ich sie, die Kirche des Rituals, denn durch ihr Ritual finden wir zum rechten christlichen Leben. Gott segne dein Kommen, heilige deinen Aufenthalt und lasse dich in Frieden ziehen.« Fidelma dankte mit einem Kopfneigen für die Begrüßung.

»Wir würden uns freuen, wenn du uns einige Minuten deiner Zeit schenkst, Pater. Du hast sicher schon von dem Zweck unseres Besuchs gehört?«

»Das habe ich«, stimmte der Priester zu. Er winkte ihnen, ihm zu folgen, und führte sie durch die Kapelle in einen kleinen Nebenraum, anscheinend die Sakristei, denn er enthielt eine Bank, auf der ein bunter Mantel lag. Davor stand ein Stuhl. Wortlos räumte Gorman den Mantel fort und bedeutete ihnen, auf der Bank Platz zu nehmen, während er sich auf den Stuhl setzte und dabei seine Handschuhe auszog.

»Du wirst mir verzeihen?« sagte er, als er ihren fragenden Blick auffing. »Ich bin gerade erst in den rath zurückgekehrt. Ich trage immer Handschuhe beim Reiten, um meine Hände zu schonen.«

»Ein Priester mit einem Reitpferd ist ungewöhnlich«, meinte Eadulf.

Pater Gorman lachte leise.

»Ich habe reiche Förderer, die mir ein Pferd zu meiner Bequemlichkeit bewilligten, denn ich würde viele Tage brauchen, meine Herde zu betreuen, wenn ich alles zu Fuß besorgen müßte. Aber nun wollen wir nicht mehr von mir reden. Ich sah euch beide in Hildas Abtei, als das Konzil dort tagte.«

»Du warst in Whitby?« fragte Eadulf erstaunt.

Pater Gorman nickte bestätigend.

»Allerdings. Ich sah euch beide, aber ihr werdet euch nicht an mich erinnern. Ich kam am Ende einer Missionsreise mit Colman nach Streoneshalh. Ich war kein Mitglied des Konzils, sondern nur als Zuhörer der Debatten meiner Vorgesetzten über die Vorzüge der Kirchen Colmcilles und Roms dort.«

Eadulf konnte seine Selbstzufriedenheit nicht verbergen.

»Dann warst du also dabei, als wir den Mord an der Äbtissin Étain aufklärten und ...«

»Ich war dabei«, unterbrach ihn Pater Gorman heftig, »als Oswy in seiner Weisheit entschied, daß Rom die wahre Kirche ist und daß die Anhänger Colmcilles sich im Irrtum befinden.«

»Es ist uns bereits klar, daß du den Vorschriften Roms folgst«, bemerkte Fidelma trocken.

»Wer wollte sich gegen Oswys Entscheidung stellen, nachdem alle Argumente vorgebracht waren?« erwiderte der Priester. »Ich kehrte in diese meine Gemeinde zurück und habe mich seitdem bemüht, meine Leute, die Leute von Araglin, auf den rechten Pfad zu leiten.«

»Sicher gibt es doch viele Wege, die zu Gott führen?« unterbrach ihn Fidelma.

»Keineswegs!« eiferte Pater Gorman. »Nur wer dem einen Pfad folgt, kann hoffen, Gott zu finden.«

»Daran hast du keinen Zweifel?«

»Ich habe keinen Zweifel, denn ich stehe fest in meinem Glauben.«

»Dann bist du zu beneiden, Pater Gorman. Um mit solcher Sicherheit zu glauben, mußt du wohl mit Zweifel begonnen haben.«

»Du bist erst frei, wenn du aufhörst zu zweifeln.«

»Ich dachte, selbst Christus hat am Ende gezwei-felt«, meinte Fidelma mit einem wohlwollenden Blick, der ihrer Erwiderung die Schärfe nahm.

Pater Gorman machte eine entrüstete Miene.

»Nur um uns zu zeigen, daß wir unserer Überzeugung treu bleiben müssen.«

»Wirklich? Mein Mentor, Morann von Tara, sagte immer, Überzeugungen seien gefährlichere Gegner der Wahrheit als blanke Lügen.«

Pater Gorman schluckte und wollte etwas erwidern, aber sie hinderte ihn mit erhobener Hand daran. »Ich bin jedoch nicht hergekommen, um mit dir über Theologie zu streiten, Gorman von Cill Uird, wenn ich es auch gern täte, sobald meine Aufgabe hier gelöst ist. Ich bin als Anwältin bei Gericht hergekommen.«

»Wegen des Mordes an Eber«, fügte Eadulf rasch hinzu.

Pater Gorman schien einen Augenblick lang nicht bereit, das Gespräch über Religion aufzugeben, doch dann senkte er den Kopf.

»Dabei kann ich euch kaum helfen. Ich weiß nichts.«

»Überhaupt nichts?«

»Nichts.«

»Aber deine Kirche steht doch nur einen Schritt von Ebers Wohnung entfernt. Ich habe gehört, du schläfst in der Kirche. Von allen Menschen im rath warst du dem Tatort am nächsten. Man sollte annehmen, daß du am ehesten in der Lage warst, etwas zu hören.«

»Ich schlafe in dem Raum neben diesem«, erklärte Pater Gorman und wies auf eine kleine Tür hinter ihnen. »Aber ich kann euch versichern, daß ich nichts von den Morden wußte, bis ich durch den Lärm der Leute vor Ebers Wohnung aus dem Schlaf gerissen wurde.«

»Wann war das?«

»Nach Sonnenaufgang. Die Leute hatten von Ebers Tod erfahren und sammelten sich vor seiner Wohnung. Ihr Stimmengewirr weckte mich, und ich ging hinaus, um zu sehen, was vorgefallen war. Vorher wußte ich nichts davon.«

»Ich dachte, in der römischen Kirche gibt es strenge Regeln für die Zeit zum Aufstehen«, schob Eadulf listig ein.

Pater Gorman betrachtete ihn mit Mißfallen.

»Du weißt wohl auch, Bruder, daß das, was für Rom gut ist, für uns in den nördlichen Ländern nicht taugt. Rom kann bestimmen, daß ein Geistlicher zu einer bestimmten Stunde aufstehen muß. Das geht in Rom, wo es früher hell wird und das zeitige Aufstehen seinen Sinn hat. Aber wozu soll es gut sein, wenn jemand in diesen Breiten in Dunkelheit und Kälte aufsteht, nur weil seine Brüder in Rom sich zu dieser Stunde erheben?«

Fidelma lächelte breit.

»Also findet sich doch etwas Brauchbares in den Regeln der Kirche Colmcilles?«

Pater Gormans Augen verengten sich. »Du magst deinen Scherz genießen, Schwester. Die Tatsache bleibt bestehen, daß die Regeln der römischen Kirche die sind, die von Christus gesegnet wurden - sofern es Theologie und Lehre betrifft. Wir weichen nur davon ab, soweit Geographie und Klima es erfordern.«

»Na schön. Ich will nicht darüber streiten - jedenfalls jetzt nicht. Du standest gleich nach Sonnenaufgang auf und stelltest dann fest, was mit Eber geschehen war. Hattest du die ganze Nacht fest geschlafen?«

»Ich hatte das mitternächtliche Angelusgebet gesprochen und war dann zu Bett gegangen. Mich hatte nichts gestört.«

»Du hast keinen Schrei oder Hilferuf gehört?«

»Das sagte ich schon.«

»Weißt du, wenn ein Mann auf die Art angegriffen wird, wie es Eber widerfuhr, dann scheint mir, daß er wohl um Hilfe rufen würde.«

»Ich habe gehört, daß Eber im Schlaf erstochen wurde. Da blieb ihm wohl kaum Zeit für einen Hilferuf.«

»Kaum Zeit für einen Hilferuf?« wiederholte Fidelma langsam. »Keine Zeit zu schreien, während ein blinder Taubstummer in der Lage war, den Raum zu betreten, ohne jemand zu stören, ein Messer zu nehmen und Eber mehrere tiefe Stiche zu versetzen? Während dieser ganzen Zeit lag Eber in seinem Zimmer mit einer brennenden Lampe neben sich?«

Sie schien mehr zu sich selbst zu sprechen.

»Ich habe nichts gehört«, beharrte Pater Gorman.

»Warst du überrascht, als du erfuhrst, daß es Moen war, den man an Ebers Leiche gefunden hatte, und daß er nach Ansicht der Zeugen den Mord begangen hatte?«

»Überrascht?« Pater Gorman überlegte einen Moment. »Nein, als Überraschung würde ich meine Reaktion nicht bezeichnen. Wenn man ein wildes Tier frei im Haus herumlaufen läßt, muß man damit rechnen, daß es einen anfällt und beißt.«

»Als das hast du Moen angesehen?«

»Als ein wildes Tier? Ja. Ich sah in diesem Kind der Blutschande nichts anderes als ein wildes Tier. Ich ließ dieses Kind der Blutschande nicht in diese meine Kapelle. Er war von Gott verflucht.«

»Meinst du, das sei die rechte christliche Art, mit einem Behinderten umzugehen?« unterbrach ihn Fidelma empört.

»Sollte ich mit Gott rechten wegen Seiner Bestrafung dieser Kreatur? Denn eine Bestrafung ist es, wenn ihm das genommen wird, was uns zu Menschen macht. Hat Christus nicht gesagt: >Des Menschen Sohn wird seine Engel senden; und sie werden sammeln aus seinem Reich alle Ärgernisse und die da unrecht tun, und werden sie in den Feuerofen werfen; da wird sein Heulen und Zähneklappern.

»Du scheinst dir sicher zu sein, daß Gott Moen geschaffen hat, um ihn zu bestrafen. Vielleicht schuf er Moen, um zu erproben, wie weit unser christlicher Glaube reicht?«

»Das ist Vermessenheit.«

»Meinst du? Ich werde oft der Vermessenheit beschuldigt, wenn ich Fragen stelle, die die Leute nicht beantworten können oder wollen. Armer Moen. Anscheinend wurde er hier nur geduldet.«

Diese Feststellung schloß eine Frage ein.

»Tadelst du meine christliche Ethik, Schwester?« In der Stimme des Priesters schwang ein gefährlicher Unterton mit.

»Das steht mir nicht zu, Pater Gorman«, erwiderte Fidelma höflich.

»Eben!« fauchte Pater Gorman.

»Dann hast du also keine Bedenken, Moen für schuldig zu halten?« schaltete sich Eadulf ein, um die wachsende Spannung zu mildern.

Pater Gorman schüttelte den Kopf.

»Was sollte ich für Bedenken haben? Es gab Zeugen.«

»Aber hast du dich nie gefragt, welchen Grund Moen dafür gehabt haben soll?«

»Wahrscheinlich hatte er mehrere Gründe. Das Geschöpf lebt in seiner eigenen Welt, von uns anderen abgekapselt. Wer kennt seine Denkweise, seine Logik? Er muß nicht die gleichen Gründe und Motive haben wie wir. Er ist von einer anderen Welt. Wer weiß, welche Bitterkeit und welchen Haß er in seiner Welt hegt gegen die, die in dieser Welt glücklicher sind?«

»Dann gestehst du ihm einige menschliche Gefühle zu?« warf Fidelma rasch ein.

»Solche Gefühle würde ich auch einem Tier zugestehen. Wenn du zum Beispiel einen Hund mißhandelst, wird er dich eines Tages anfallen.«

Fidelma beugte sich nachdenklich vor.

»Meinst du damit, daß Eber Moen mißhandelt haben könnte?«

»Ich nannte damit nur allgemeine Gründe, keine bestimmten«, verteidigte sich der Priester.

»Hat Teafa Moen mißhandelt?«

Pater Gorman schüttelte den Kopf.

»Nein. Sie war in das Geschöpf vernarrt. In der Familie der Fürsten von Araglin sind alle pervers.«

Fidelma packte sofort den Köder, den er ihr unabsichtlich hingeworfen hatte.

»Schließt du Eber in diese Feststellung ein?«

»Ihn besonders. Beten wir darum, daß Cron nach ihrer Mutter kommt und nicht nach ihrem Vater.«

Fidelmas Augen verengten sich.

»Aber viele Leute haben mir gesagt, Eber sei die Freundlichkeit und Großzügigkeit in Person gewesen und überall in Araglin hochangesehen. Hat man mich falsch unterrichtet?«

Ein bitteres Lächeln verzog Pater Gormans Mund.

»Eber hatte einen Vorzug: Er war ein großzügiger Mensch. Weiter reichten seine Tugenden aber nicht, und sein Leben war eine einzige lange Reihe von Lastern. Was meinst du, weshalb seine Gattin das Ehebett verlassen hat?«

»Ich habe sie danach gefragt, und sie hat nur gesagt, daß es in gegenseitigem Einvernehmen geschah.«

Pater Gorman schnaubte skeptisch.

»Ich habe ihr zugeredet, sie solle sich nach dem Gesetz scheiden lassen. Doch sie ist eine stolze Frau, wie es ihr als Fürstin ihres Stammes auch zukommt.«

»Warum hast du ihr geraten, sich von Eber scheiden zu lassen?« fragte Fidelma.

»Weil er ein Mann war, der nicht für die Ehe taugte.«

»Cranat war nicht der Meinung, so hat sie es mir jedenfalls gesagt. Kannst du dich genauer ausdrük-ken?«

»Ich kann weiter nichts sagen, als daß Eber ...« Er erschauerte und bekreuzigte sich. »Entschuldige, aber er war sexuell pervers.«

»Auf welche Art?« fragte Fidelma nach.

»Meinst du, daß er lieber mit Knaben oder jungen Männern schlief als mit Frauen?« vermutete Eadulf, der plötzlich einen Grund für Moens Mordtat zu erkennen glaubte. »Hat Eber Moen sexuell mißbraucht?«

Pater Gorman hob die Hände, und in seinem Gesicht malte sich Entsetzen.

»Nein, das nicht! Nein, Eber liebte das andere Geschlecht sehr, vielleicht zu sehr.«

»Ach, ich verstehe. Wußte Cranat davon?«

»Jeder wußte davon. Cranat erfuhr es als letzte. Er war schon immer so, schon seit der Pubertät. Seine Schwestern wußten das sehr gut, und es war Teafa, die es Cranat schließlich sagen mußte. Das hat mir Cranat erzählt. Danach hat sie beschlossen, das eheliche Bett zu verlassen.«

»Warum hat sich Cranat nicht von ihm getrennt?«

»Wegen ihrer Tochter Cron. Wegen der Schande, die daraus entstanden wäre. Und dann war es so, daß Cranat, obwohl eine Fürstin ihres Stammes, kein eigenes Geld oder Land besaß. Sie heiratete Eber seines Geldes wegen. Er heiratete sie ihrer hohen Abstammung und ihrer Familienbeziehungen wegen. Das ist wohl keine gute Basis für eine Ehe.«

»Ich verstehe. Aber nach dem Gesetz hatte doch Cranat die Möglichkeit, sich von ihm zu lösen? Wenn Cranat sich von Eber aus den vor dir erwähnten Gründen scheiden ließ, konnte sie alles behalten, was sie in die Ehe gebracht hatte. Wenn es da nichts gab, hatte sie außerdem Anspruch auf ein Neuntel des Vermögenszuwachses ihres Gatten während der Zeit der Ehe. Wenn sie also bei der Heirat nichts besaß, hätte doch ein Neuntel des Reichtums, den Eber in den ungefähr zwanzig Jahren seiner Ehe mit Cranat angehäuft hatte, ausgereicht, um ihr ein gutes Leben zu sichern.«

»Das hätte es wohl«, antwortete Pater Gorman ein wenig bitter. »Ich hätte ihr helfen können. Aber sie entschied sich zum Bleiben.«

Fidelma sah ihn nachdenklich an.

»Du hegst offensichtlich starke Gefühle für Cra-nat«, bemerkte sie leise.

Pater Gorman errötete.

»Es ist doch nichts Unrechtes dabei, wenn man einem ernsten Übelstand abhelfen will.«

»Überhaupt nichts«, versicherte ihm Fidelma. »Aber damit hast du dich bestimmt bei Eber nicht beliebt gemacht. Wie ich höre, meinst du, daß Moen mit dem Verlust seines eigenen Lebens bestraft werden sollte.«

»Ist das Wort Gottes nicht deutlich genug? Wenn ein Mensch einem anderen ein Auge nimmt, dann soll man ihm auch ein Auge nehmen. Ich glaube an das volle Maß der Vergeltung, wie es unser Glaube und die römische Kirche lehren.«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Auf die Spitze getriebene Gerechtigkeit ist oft ungerecht.«

Pater Gormans Augen verengten sich.

»Das riecht nach der Weisheit des Pelagius.«

»Ist es unrecht, die Worte eines weisen Mannes zu zitieren?«

»Die Kirchen Irlands sind voller pelagianischer Ketzereien«, höhnte der Priester.

»War Pelagius solch ein Ketzer?« fragte Fidelma milde.

Pater Gorman verschlug es fast die Sprache vor Empörung.

»Du zweifelst daran? Kennst du dich nicht in der Geschichte aus?«

»Ich weiß, daß Papst Zosimus ihn von der Ketzerei freisprach trotz des Drucks von Augustin von Hippo, der den Kaiser Honorius dazu überredete, ein kaiserliches Dekret zu erlassen, mit dem er verurteilt wurde.«

»Aber Papst Zosimus hat ihn später doch der Ketzerei schuldig befunden.«

»Nachdem der Kaiser Druck auf ihn ausübte. Das würde ich nicht als eine theologische Entscheidung bezeichnen. Es liegt schon eine gewisse Ironie darin, daß er gerade für seine Schrift De Libero Arbitrio, >Über die Freiheit des Willens<, verurteilt wurde.«

»Also folgst du einem Ketzer, wie die meisten von eurer columbanischen Sippschaft?« Nun ging Pater Gorman zu offener Beleidigung über.

»Wir verschließen uns nicht der Vernunft, wie es Rom von seinen Anhängern verlangt«, schoß Fidelma zurück. »Was heißt schließlich Ketzerei? Es ist einfach der griechische Ausdruck für >eine Wahl treffen<. Es liegt in unserer Natur, eine freie Wahl zu treffen, folglich sind wir alle Ketzer.«

»Pelagius war voll von irischem Porridge! Er wurde zu Recht verurteilt, weil er die Wahrheit von Augustins Lehre vom Sündenfall und der Erbsünde nicht einsehen wollte!«

»Hätte nicht Augustin verurteilt werden müssen, weil er die Wahrheit von Pelagius’ Lehre von der Freiheit des Willens nicht einsehen wollte?« erwiderte Fidelma heftig.

»Du bist nicht nur vermessen, sondern deine Seele ist in Gefahr.« Pater Gorman war rot vor Zorn.

Fidelma ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Betrachten wir die Tatsachen«, antwortete sie ruhig. »Die Erbsünde wurde von Adam begangen, und Adam und seine Nachkommen wurden von Gott für diese Sünde bestraft. Ist das richtig?«

»Es war ein Fluch, der auf der ganzen Menschheit lag, bis das Opfer Christi die Welt erlöste«, stimmte der Priester noch immer wütend zu.

»Aber Adam gehorchte Gott nicht.«

»Richtig.«

»Doch es wird uns gelehrt, daß Gott allmächtig ist und daß Er Adam schuf.«

»Dem Menschen wurde die Freiheit des Willens gewährt, und Adam trotzte Gott und fiel aus der Gnade Gottes.«

»Darauf bezog sich Pelagius’ Frage: Konnte Adam vor dem Sündenfall zwischen Gut und Böse wählen?«

»Wir hören, daß er Gottes Befehle als Richtschnur hatte. Gott sagte ihm, was er tun solle. Doch die Frau brachte ihn in Versuchung.«

»Ach ja. Die Frau«. sagte Fidelma mit leichter Betonung. Bruder Eadulf war unbehaglich zumute. Er wünschte, Fidelma möge mit ihren Argumenten nicht das Schicksal herausfordern. Er blickte sie an, doch sie beugte sich vor und genoß die Auseinandersetzung. »Gott ist allmächtig, und er schuf Adam und Eva. Gottes Wille hätte ihnen doch als Weisung genügen müssen?«

»Der Mensch hatte die Freiheit des Willens.«

»Also waren Adams Wille und der Wille der Frau«, wieder mit leichter Betonung, »stärker als der Wille Gottes?«

Pater Gorman war empört.

»Nein, natürlich nicht ... Doch Er hatte es dem Menschen erlaubt, frei zu sein.«

»Dann ist die logische Folgerung, daß Gott zwar allmächtig ist und somit in der Lage war, die Sünde zu verhindern, es aber nicht tat. Da Er allwissend ist, wußte Er, was Adam tun würde. Nach unserem Gesetz war Gott damit ein Anstifter zum Verbrechen!«

»Das ist Gotteslästerung«, keuchte Pater Gorman.

»Es geht noch weiter, Gorman«, fuhr Fidelma unbarmherzig fort, »denn wenn wir logisch folgern, können wir behaupten, daß Gott in Adams Sünde einwilligte.«

»Sakrileg!« japste der Priester entsetzt.

»Komm, bleib logisch.« Fidelma war unbeeindruckt von seiner Reaktion. »Gott ist allwissend, und Er schuf Adam. Wenn Er allwissend ist, dann wußte Er auch, daß Adam sündigen würde. Wenn die Menschheit wegen Adams Sünde verflucht wurde, dann wußte Gott, daß sie verflucht werden würde. Also schuf er die Menschen, damit sie zu ungezählten Millionen leiden müßten.«

»Du mit deinem begrenzten Verstand kannst eben das große Geheimnis des Weltalls nicht verstehen«, fauchte Pater Gorman.

»Wir werden es nicht verstehen können, wenn wir uns den Weg zu diesem Weltall durch selbstgeschaffene Mythen verbauen. In dieser Hinsicht halte ich es mit den Lehren des Pelagius, der ein Mann aus unserem Volke war, und deshalb hat Rom immer unsere Kirchen angegriffen, nicht nur hier, sondern auch bei den Briten und den Galliern, die unsere Auffassungen teilen. Wir sind ein Volk, das alle Dinge hinterfragt, und nur durch unsere Fragen können wir zur großen Wahrheit gelangen, und zu dieser Wahrheit müssen wir stehen, selbst wenn wir uns damit gegen die ganze Welt stellen.«

Sie erhob sich abrupt.

»Ich danke dir für die Zeit, die du mir geschenkt hast, Pater Gorman.«

Draußen wechselte sie einen Blick mit Eadulf.

»Ein kleines bißchen beginnt sich der Nebel zu lichten«, stellte sie mit Befriedigung fest.

Eadulf verzog das Gesicht. Er war verwirrt.

»Über Pelagius?« fragte er vorsichtig.

Fidelma kicherte.

»Über Pater Gorman«, verbesserte sie ihn.

»Du verdächtigst Pater Gorman, irgendwie in die Morde verwickelt zu sein?« »Ich verdächtige jeden irgendwie. Aber du hast recht. Es ist klar, daß Gorman leidenschaftliche Gefühle für Cranat hegte oder noch hegt.«

»In ihrem Alter?« Eadulf war entsetzt.

Fidelma wandte sich ihrem Gefährten überrascht zu.

»Liebe kann man in jedem Alter empfinden, Eadulf von Seaxmund’s Ham.«

»Aber eine Frau in ihrem Alter und ein Priester .?«

»Es gibt keine Gesetze, die einem Priester untersagen zu heiraten, nicht einmal Rom verbietet das, obgleich ich zugeben muß, daß Rom es nicht billigt.«

»Willst du damit sagen, daß Pater Gorman einen Grund gehabt hätte, Eber den Tod zu wünschen?«

Fidelma verzog keine Miene.

»Dazu hatte er sogar allen Grund. Aber hatte er auch die Mittel, seinen Wunsch zu erfüllen oder für dessen Erfüllung zu sorgen?«

Kapitel 9

An jenem Abend speisten sie allein. Cron hatte sie nicht zum Abendessen in die Festhalle eingeladen, wie es das Protokoll normalerweise vorgeschrieben hätte. Eadulf war nicht sonderlich überrascht darüber. Wenn er die Ereignisse des Tages überdachte, war ihm klar, daß Fidelma wohl kaum jemanden im ganzen rath als Freund gewonnen hatte, abgesehen vielleicht von dem armen Moen. Bei allen anderen hatte sie sich sicherlich nicht beliebt gemacht. Daß Cron und ihre Mutter Cranat sich nicht zu ihnen gesellen wollten, war kaum verwunderlich.

Es war ein aufgeregtes junges Mädchen, das ihnen ihre Mahlzeit in das Gästehaus brachte. Es war dunkelhaarig, ungefähr sechzehn Jahre alt, beinahe unnatürlich blaß und schien sich vor ihnen zu fürchten. Fidelma gab sich Mühe, ihr durch freundliche Worte die Angst zu nehmen.

»Wie heißt du?«

»Ich bin Grella, Schwester. Ich arbeite bei Dignait in der Küche.«

Fidelma lächelte ermutigend.

»Gefällt dir deine Arbeit, Grella?«

Das Mädchen sah sie fragend an.

»Es ist meine Arbeit«, sagte sie einfach. »Ich bin in der Küche des Fürsten aufgewachsen. Ich habe keine Eltern«, fügte sie hinzu, als erkläre das alles.

»Ich verstehe. Dann muß dich der Tod deines Fürsten traurig stimmen, wenn du in seinem Haushalt aufgewachsen bist.«

Zu Fidelmas Überraschung schüttelte das Mädchen heftig den Kopf.

»Nein ... nein, aber der Tod von Lady Teafa stimmt mich traurig. Sie war eine freundliche Dame.«

»Eber war nicht freundlich?«

»Teafa war nett zu mir«, antwortete das Mädchen ängstlich. Es wollte offensichtlich nicht schlecht über den toten Fürsten sprechen. »Lady Teafa war nett zu allen.«

»Und Moen? Magst du Moen?«

Auch diese Frage schien Grella zu verwirren.

»Mir war nicht wohl, wenn er in der Nähe war. Teafa war die einzige, die ihm sagen konnte, was er tun sollte.«

»Ihm sagen?« Fidelma griff den Satz sofort auf. »Wie sagte sie es ihm?«

»Sie konnte sich auf irgendeine Art mit ihm verständigen«.

»Weißt du, auf welche Art?« fragte Eadulf eifrig.

Das junge Mädchen schüttelte den Kopf.

»Ich hab keine Ahnung. Ein Klopfen mit den Fingern, hieß es, das beide verstanden.«

»Hast du es mal gesehen? Hat dir Teafa mal erzählt, wie es geht?« erkundigte sich Fidelma.

»Ich hab oft gesehen, wie sie es machte, aber ich hab’s nicht begriffen. Vielleicht war es nur eine vertraute Berührung mit der Hand, was ihn beruhigte.«

Grella hielt den Kopf schief, als suche sie in ihrem Gedächtnis nach irgend etwas. Dann lächelte sie leicht.

»Mir fällt was ein: Sie sagte, Gadra habe ihr das beigebracht.«

»Gadra? Wer ist Gadra?«

Grella bekreuzigte sich.

»Gadra ist ein Schreckgespenst. Man sagt, er stiehlt die Seelen unartiger Kinder. Jetzt muß ich aber gehen, sonst sucht mich Dignait. Ich kriege Ärger.«

Als sie fort war, aßen Fidelma und Eadulf in nachdenklichem Schweigen. Schließlich fand Eadulf den Mut, Fidelmas Unwillen zu riskieren und ihr eine Frage zu stellen, die ihn schon lange bewegte.

»Ist es klug«, fragte er zweifelnd, »alle Leute absichtlich in Harnisch zu bringen?«

Fidelma hob den Kopf.

»Ich höre einen mißbilligenden Ton heraus, Eadulf von Seaxmund’s Ham«, bemerkte sie ernst, doch ihre Augen funkelten mutwillig.

»Entschuldige, aber ich meine, manchmal erreicht man mit ein bißchen Takt und Klugheit ebensoviel wie mit .«

»Du meinst, ich bin ungebührlich grob?« unterbrach ihn Fidelma ernst, wie ein Schüler, der einen Lehrer um Rat fragt.

Eadulf war verlegen. Wenn Fidelma in dieser Stimmung war, traute er ihr nicht. Er schüttelte verneinend den Kopf.

»Meine Mutter hat mir mal gesagt, man könne eine Stickerei nicht mit der Axt auftrennen.«

Fidelma starrte ihn ehrlich überrascht an.

»Du hast deine Mutter noch nie erwähnt, Eadulf.«

»Sie lebt nicht mehr. Aber sie war eine kluge Frau.«

»Ich weiß ihre Klugheit zu schätzen. Aber wenn du an eine dicke geschlossene Holztür von Arroganz gerätst, mußt du manchmal die Axt nehmen und sie aufbrechen, ehe du mit dem Menschen dahinter reden kannst. Oft wird die normale Höflichkeit von arroganten Leuten für Schwäche gehalten oder sogar für Kriecherei.«

»Hast du dir wirklich den Weg zur Wahrheit aufgebrochen?«

»Ich bin der Wahrheit näher gekommen, als es mir sonst gelungen wäre, wenn ich die Türen verschlossen gelassen hätte. Aber ich stimme dir zu, daß es bis zur vollständigen Wahrheit noch ein weiter Weg ist.«

»Und wie gelangen wir dorthin?« wollte Eadulf wissen.

»Wenn wir gegessen haben, suche ich Duban auf. Vielleicht können wir feststellen, ob dieses Schreckgespenst Gadra wirklich existiert. Wenn es ihn gibt und er mir zeigen kann, wie man sich mit Moen verständigt, dann sind wir der Wahrheit schon sehr viel näher. Wenn wir herausbekommen, was Moen weiß .«

Eadulf blieb skeptisch.

»Das war doch nur ein Ammenmärchen. Ein Schreckgespenst, das Kinderseelen stiehlt, na weißt du!«

»Hinter jedem Ammenmärchen steckt meistens ein Stück Wahrheit, Eadulf.«

»Du gehst von zu vielen Annahmen aus, Fidelma.«

»Wieso?«

»Du nimmst an, daß dieses Schreckgespenst existiert. Du nimmst an, daß Grella dir nicht etwas vorgeflunkert hat mit der Behauptung, Gadra habe Tea-fa gelehrt, sich mit Moen zu verständigen. Du nimmst auch nur an, daß es so eine Verständigungsmöglichkeit überhaupt gibt. Weiter nimmst du an, daß der Unglückliche Verstand besitzt und daß er dir etwas mitteilen wird, was das Geschehen erhellt. Und du gehst von der Annahme aus, daß er unschuldig ist.«

Fidelma lehnte sich zurück, legte die Hände auf den Tisch und sah Eadulf einen Moment an, bevor sie antwortete.

»Meine Annahmen gründen sich auf meinen Glauben an seine Unschuld. Den kann ich nicht erklären, und ich habe auch keine Beweise für ihn. Es ist ein Gefühl, eine Überzeugung, daß das, was meinen Sinnen falsch erscheint, auch wirklich falsch ist. Die Logik sagt, daß das, was als Wahrheit behauptet wird, einem aber falsch vorkommt, auch falsch ist.«

»Ist nicht die Selbsttäuschung die schlimmste Täuschung?« erwiderte Eadulf.

»Du glaubst, ich täusche mich selbst?«

»Ich versuche dich nur daran zu erinnern, daß das, was so zu sein scheint, auch wirklich so sein könnte.«

Fidelma lachte leise und legte ihm die Hand auf den Arm.

»Eadulf, du bist die Stimme des Gewissens. Wenn ich zu sehr schwärme, zügelst du meinen Überschwang. Dennoch werden wir dieses Schreckgespenst Gadra aufspüren, falls es denn existiert.«

Eadulf seufzte.

»Ich hatte keinen Zweifel daran, daß wir das tun werden.«

Fidelma erhob sich und ging Duban suchen.

Critan stand bei den Ställen auf Wache, und er erklärte Fidelma nach einigen Hin und Her, daß Duban sich zur Zeit nicht im rath aufhielt. Er war nicht gerade mitteilsam.

»Er mußte mit einigen Kriegern zu den hochgelegenen Weiden.« »Ist etwas nicht in Ordnung?« fragte Fidelma. »Warum sind sie jetzt noch losgeritten, es wird doch gleich dunkel?«

»Es ist alles in Ordnung«, antwortete Critan. »Ihr braucht euch nicht zu fürchten, solange Männer diesen rath bewachen, Schwester.«

Fidelma unterdrückte eine scharfe Erwiderung.

»Trotzdem, aus welchem Grund ist Duban fortgeritten?« drängte sie.

»Es kam die Nachricht von einem Rinderraub in einem der einsamen Bauernhöfe jenseits der Berge.«

»Ein Raubüberfall?« Das interessierte sie. »Weiß man, wer ihn verübt hat?«

»Das wollen sie eben herausfinden. Wahrscheinlich dieselben Leute, die vor ein paar Wochen in dieses Tal einfielen. Ich hätte mit Duban reiten sollen, aber statt dessen erhielt ich den Befehl, hierzubleiben und mich um diese Kreatur, diesen Moen, zu kümmern. Das ist nicht gerecht.«

Fidelma kam der junge Krieger eher wie ein schmollendes Kind vor denn wie ein, erwachsener Mann.

»Als Krieger«, sagte sie bedeutungsvoll, »bist du nur an deine Pflicht gebunden, wenn du sie freiwillig übernommen hast.«

Critan machte ein ärgerliches Gesicht.

»Ich verstehe nicht, was du meinst.«

»Genau. Hör mal, Critan«, wechselte sie rasch das Thema, »sagt dir der Name Gadra etwas?«

»Gadra soll ein Schreckgespenst sein, das Kinderseelen stiehlt«, knurrte der junge Mann. »Die Leute hier benutzen seinen Namen, um ihre Kinder zu ängstigen.«

»Gibt es ihn wirklich?«

»Ich habe Duban von ihm reden hören. Ich glaube nicht an Gespenster, also hab ich ihn danach gefragt.«

»Und was hat Duban gesagt?« wollte Fidelma wissen.

»Er erzählte mir, daß zu seiner Jugendzeit Gadra als Einsiedler in den Bergen lebte und sich weigerte, den neuen Glauben anzunehmen.«

»Ist er noch am Leben?«

»Das war vor vielen Jahren. Er wohnte im Wald in einem kleinen Bergtal. Ich weiß nicht, wo. Duban könnte es vielleicht wissen.«

Fidelma dankte dem jungen Mann und ging zurück zum Gästehaus, um Eadulf zu berichten.

»Was nun?« fragte er.

»Wir können nichts weiter tun, als bis morgen zu warten.«

Lange nach Mitternacht wurde Fidelma vom Hufschlag eines Pferdes geweckt. Eadulf schlief fest in seiner Kammer. Sie erhob sich, nahm ihren Mantel um und schlich sich barfuß zum Fenster an der Vorderseite des Gästehauses.

Am Tor stieg ein Mann vom Pferd. Im Licht der Fackeln erkannte sie Menma, den Stallwärter. Sie wollte schon zurück ins Bett, als sich eine Gestalt aus dem Schatten der Festhalle löste. Sie trat ins Licht der Fackeln und begrüßte den rothaarigen Mann.

Es war Pater Gorman. Er schien erregt und schwenkte die Arme. Sein Ton war offenbar heftig, aber trotzdem sprach er leise, und sie konnte seine Worte nicht verstehen.

Zu ihrer Überraschung schien Menma ebenso heftig zu antworten.

Pater Gorman wies auf das Gästehaus. Offensichtlich waren Eadulf und sie der Gegenstand des Streits. Sie fragte sich, aus welchem Grunde.

Kurz darauf zog Menma sein Pferd am Zügel fort zum Stall.

Pater Gorman blieb noch stehen, die Hände in die Seiten gestemmt, und sah Menma nach. Dann wandte auch er sich rasch ab und schritt zu seiner Kapelle.

Gedankenvoll ging Fidelma wieder zu Bett.

Die Sonne schien schon hell, als sie sich zu Eadulf setzte zu dem Frühstück, das Grella gebracht hatte. Sie spürte die Wärme der Strahlen, die durch die Fenster des Gästehauses fielen. Eadulf war gerade mit dem Frühstück fertig und lehnte sich zurück, während Fidelma schweigend aß. Erst als auch sie die Mahlzeit beendet hatte, fragte er: »Was meinst du, ob Duban schon zurück ist?«

»Ich werde ihn suchen und sehen, ob er uns mehr über diesen Einsiedler sagen kann«, erwiderte Fidelma.

Eadulf sollte inzwischen ein bißchen bei den Bewohnern des rath herumhören.

Fidelma ging vom Gästehaus an der Steinmauer der Festhalle entlang.

Stimmen und ein kurzes hartes Lachen ließen sie innehalten. Das Lachen kam ihr bekannt vor.

Sie blieb im Schutz der Mauer stehen und blickte dorthin, von wo es gekommen war. Ein Reiter stand dort, der anscheinend gerade eingetroffen war, denn er war noch vom Staub der Reise bedeckt. Er war vom Pferd gestiegen und hatte die Zügel über den Arm geschlungen. Fidelma erkannte den großen, stämmigen Mann sofort. Es war Muadnat, der Bauer, gegen den sie in Lios Mhor das Urteil gesprochen hatte. Etwas anderes verschlug ihr fast den Atem: Die Gestalt, die er in den Armen hielt und die seine Küsse mit der Leidenschaft eines jungen Mädchens erwiderte. Es war eine hochgewachsene blonde Frau in einem bunten Mantel. Erst als sie sich aus der stürmischen Umarmung löste, erkannte Fidelma in ihr Cranat, die Witwe Ebers.

Instinktiv trat Fidelma tiefer in den Schatten der Mauer zurück und betrachtete Muadnat genauer. Für jemanden, der gerade sieben cumals Land verloren hatte, sah er recht glücklich aus, als er die verwitwete Fürstin umarmte. Die Vertraulichkeit der beiden war nicht zu übersehen. Muadnat lachte noch einmal schallend, bis Cranat ihm den Finger auf die Lippen legte, sich unruhig umsah und ihn verschwörerisch in das Haus hinter ihnen hineinwinkte. Muadnat band nur noch rasch sein Pferd an dem Pfosten davor an, bevor er ihr folgte.

Fidelma wartete, bis sie verschwunden waren, und ging dann mit nachdenklich gesenktem Kopf weiter zum Eingang der Festhalle. Deren Tür stand offen. Sie wußte nicht, was sie zögern ließ, ihr Kommen anzukündigen. Leise trat sie ein. Vielleicht hatte sie im Unterbewußtsein die Stimmen wahrgenommen. Eine von ihnen gehörte Duban.

»Ich meine, du solltest ihr mehr Respekt erweisen«, sagte er ernst. »Wenigstens mache sie dir nicht unnötig zur Feindin.«

»Warum nicht? Lange ist sie nicht mehr hier. Ich meine, sie überschreitet ihre Befugnisse.«

Fidelma runzelte die Stirn, denn die andere Stimme war die Crons. Das Gespräch fand in einem Nebenraum statt, dessen Tür nur angelehnt war. Katzengleich schlich sich Fidelma näher.

»Ich weiß, sie ist Colgüs Schwester. Aber denkst du, sie wäre nur deshalb hergeschickt worden? Sie ist schlau. Diesen forschenden grünen Augen entgeht so leicht nichts.«

»Ach! Du hast die Farbe ihrer Augen bemerkt?« Die Antwort klang verdrossen. Erstaunt entdeckte Fidelma Eifersucht in der Stimme der Tanist.

Duban entgegnete mit einem Lachen: »Ich habe bemerkt, daß sie sich nicht hinters Licht führen läßt. Je weniger du ihre Feindschaft herausforderst, desto besser, mein Schatz.«

Die Anrede ging ihm ziemlich leicht von den Lippen.

»Sie wird doch wohl nicht glauben, daß Moen unschuldig ist?« Cron klang etwas besänftigt.

»Ich meine, sie vermutet es. Pater Gorman glaubt, daß sie entschlossen ist, es zu beweisen. Er war ganz aufgeregt, als ich ihn gestern abend traf, nachdem er mit ihr gesprochen hatte.«

»Ich dachte, die Angelegenheit ließe sich leicht regeln. Wenn meine Mutter sich doch bloß nicht eingemischt hätte.«

»Nichts ist leicht, mein Schatz. Wenn sie wirklich glaubt, daß Moen unschuldig ist, dann wird sie nach anderen suchen, die ihn ermordet haben könnten. Du tätest gut daran, sie dir zur Freundin zu machen.«

Cron zog scharf den Atem ein.

»Sie könnte herausfinden, wie sehr ich meinen Vater haßte. Meinst du das?«

»Am Ende wird sie herausfinden, wie sehr jeder ihn haßte«, antwortete Duban. »Jedenfalls mußt du dich um diesen blöden Muadnat kümmern. Ausgerechnet in diesem Augenblick mußte der im rath auftauchen und Ärger machen. Kannst du ihm nicht sagen, er soll verschwinden und nächste Woche wiederkommen, wenn alles vorbei ist?«

»Wie kann ich das, mein Lieber? Er hat nicht genug Verstand, um den Grund zu begreifen. Er könnte uns Probleme bereiten. Nein, ich muß die Sache in die Hand nehmen. Sag Muadnat, wie ich mich entschieden habe und daß er zur Mittagsstunde in der Festhalle erscheinen soll.«

»Dann behandle bitte die Schwester mit mehr Anstand.«

»Geh jetzt«, befahl Cron. »Es gibt noch viel zu tun.«

Fidelma schlich rasch auf Zehenspitzen zur Tür zurück. Dort nahm sie den Hammer und schlug gegen den hölzernen Block, bevor sie die Halle betrat, als wäre es das erste Mal. Cron kam aus dem Nebenraum. Sie war allein. Sie begrüßte Fidelma höflich, doch mit wachsamem Blick.

»Ich suche Duban«, verkündete Fidelma.

»Weshalb glaubst du, daß er hier sein könnte?« wich ihr die Tanist aus.

»Sicher ist das hier doch ein guter Anfang, wenn man den Kommandeur deiner Leibgarde sucht?« fragte Fidelma unschuldig.

Cron erkannte ihren Fehler und rang sich ein Lächeln ab.

»Im Augenblick ist er nicht hier. Er war vorige Nacht lange unterwegs und ist wahrscheinlich noch gar nicht aufgestanden.« Die Lügen gingen ihr glatt über die Lippen. »Wenn ich ihn sehe, sage ich ihm, daß du dich nach ihm erkundigt hast. Jetzt entschuldige mich bitte, ich muß mich auf eine wichtige Angelegenheit vorbereiten.«

Fidelma ließ sich nicht so leicht abwimmeln.

»Vorbereiten?«

»Ich muß heute ein Urteil sprechen«, erwiderte Cron. »Geringere Fälle darf ich verhandeln, auch wenn meine Mutter mit meiner Gesetzeskenntnis nicht zufrieden ist.«

Es stimmte, daß ein Fürst bei unwesentlichen Fällen als Richter fungieren durfte, wenn kein Brehon bei der Hand war, um ihm zu helfen.

»Was für ein Fall ist es denn?«

»Keiner, der dich etwas angeht«, erwiderte Cron sofort. Doch dann lenkte sie ein. »Es handelt sich um einen Schaden, den Tiere angerichtet haben. Ein Bauer aus unserer Gemeinschaft verlangt Schadenersatz von einem anderen Bauern. Die Sache muß sofort entschieden werden, denn der Kläger hegt großen Zorn.«

Schadensfälle durch Tiere kamen oft vor. In jeder Landgemeinde waren Schäden am Boden oder an der Ernte, die Haustiere des Nachbarn verursacht hatten, der häufigste Anlaß zu Gerichtsverfahren. Im allgemeinen tauschten benachbarte Bauern daher tairgille genannte Kautionen aus, um mögliche Schadensfälle durch Haustiere abzudecken.

In den meisten Lebensbereichen griff das Gesetz auf ähnliche Kautionen zurück, um sicherzustellen, daß rechtliche Verpflichtungen eingehalten wurden. Selbst Fidelma mußte wegen ihres Amtes als professionelle Richterin bei dem Oberrichter oder Brehon ihres Bezirks ein Pfand von fünf Unzen Silber hinterlegen für den Fall, daß eines ihrer Urteile angefochten wurde. Denn wenn ein Urteil von ihr durch den Oberrichter verworfen wurde, mußte sie denjenigen Ersatz leisten, die sie durch ihr falsches Urteil geschädigt hatte. Ihre Kaution verfiel nur dann, wenn der Kläger innerhalb einer bestimmten Zeit gegen ihr Urteil Beschwerde einlegte und der Oberrichter ihr Urteil für falsch befand. Wenn ein Richter sich weigerte, diese Kaution zu hinterlegen, wurde er von der weiteren juristischen Tätigkeit ausgeschlossen.

Es war sicher ein Fall von geringer Bedeutung und einer, den Cron angemessen entscheiden konnte. Fidelma wollte sich schon entschuldigen und verabschieden, als ihr plötzlich ein Verdacht kam. Sie wandte sich eilig zurück.

»Ist einer der Beteiligten ein Bauer namens Muadnat?«

Cron starrte sie verblüfft an.

»Kannst du hellsehen, Schwester? Was weißt du von Muadnat?« forschte sie.

Fidelma hatte also richtig vermutet. Cron wußte offensichtlich nicht, daß Fidelma die Richterin in Lios Mhor gewesen war. Zu diesem Zweck also war Mu-adnat im rath des Fürsten aufgetaucht.

»Wußtest du von Muadnats Prozeß gegen seinen Verwandten Archü?«

Cron schien angestrengt nachzudenken. Sie nickte langsam.

»Ich weiß davon nur durch den Dorfklatsch. Mu-adnat mußte vor einem Brehon in Lios Mhor erscheinen und verlor einen Hof, auf den er Anspruch erhob.«

»Ich war dieser Brehon«, erklärte Fidelma. »Während ich mich in Lios Mhor aufhielt, erhielt ich den Auftrag meines Bruders, hierher zu reisen.«

Die blauen Augen der Tanist betrachteten sie neugierig.

»Gegen wen erhebt Muadnat die Klage?« erkundigte sich Fidelma.

»Wiederum gegen Archü.«

Fidelma überlegte rasch.

»Kannst du mir die Einzelheiten seiner Beweisführung nennen?«

Einen Augenblick schien es, als wolle Cron sich weigern, doch dann besann sie sich eines Besseren.

»Ich glaube, Archü hat sich für etwas zu verantworten«, sagte sie ausweichend.

»Wofür genau?« drängte sie Fidelma.

»Seit Archü den umstrittenen Hof am Schwarzen Moor in Besitz nahm, ist er Muadnats Nachbar, denn Muadnats Land grenzt an seines. Muadnat behauptet, Archü habe aus bösem Willen und Fahrlässigkeit seine Schweine nachts durch den Grenzzaun gelassen, wo sie Schaden auf Muadnats Grund und Boden anrichteten. Außerdem hätten die Tiere auf Muadnats Hof ihren Kot hinterlassen.«

Fidelma atmete tief ein und aus, während sie die Bedeutung der Angelegenheit erwog.

»Mit anderen Worten, wenn Muadnat diese Ansprüche gegen Archü zu Recht erhebt, wird er einen hohen Schadenersatz von ihm verlangen können?« fragte sie.

Crons Miene besagte, daß dies offenkundig war.

»Das hat mir Muadnat auch schon erklärt.«

Fidelma fragte spöttisch: »Also hat sich Muadnat bereits rechtskundig gemacht?«

»Was willst du damit andeuten?« erwiderte die junge Tanist.

»Ich treffe nur eine Feststellung und deute gar nichts an. Es stimmt allerdings, daß der Besitzer von Tieren, die durch seinen bösen Willen oder seine Fahrlässigkeit Schaden anrichten, als Verursacher dieses Schadens gilt, daß die Strafe sich verdoppelt, wenn der Schaden in der Nacht entstand, und daß der Schadensersatz sich noch erhöht, wenn die Tiere Kot abgesetzt haben. Mit anderen Worten, Archü würde einen erheblichen Betrag als Schadensersatz an Muadnat zu zahlen haben.«

Cron stimmte zu.

»Wahrscheinlich den halben Wert seines Hofes oder noch mehr«, sagte sie. »Wenn er nicht über Viehbestände verfügt, die über den Wert des Hofes hinausgehen, wird er zweifellos den Hof verlieren.«

»Wir wissen beide, daß er nicht mehr besitzt«, antwortete Fidelma knapp. »Muadnat wird sich nicht mit weniger als dem ganzen Hof zufriedengeben.«

»Ich glaube, so lautet das Gesetz.«

Fidelma überlegte sorgfältig ihre Worte, bevor sie sie aussprach.

»Als erwählte Fürstin hast du das Recht und die Verantwortung, in deinem Stammesgebiet Recht zu sprechen, und du kannst das allein tun, wenn kein Brehon zur Verfügung steht.«

»Ich kenne meine Rechte und Pflichten.« Crons Augen verengten sich mißtrauisch.

»Ich will dir nicht zu nahe treten, wenn ich dich frage, bis zu welchem Grad du die Rechte studiert hast?«

»Ich habe nur das Bretha Comaithchesa studiert, das Nachbarschaftsrecht, denn wir sind hier nur eine kleine ländliche Gemeinschaft, und dieses Gesetz spielt hier die größte Rolle. Ich bin nicht juristisch ausgebildet. Ich habe nur drei Jahre in Lios Mhor studiert und den Grad eines Freisneidhed erworben.«

Fidelma nickte langsam. Der Grad nach dreijährigem Studium war das, was die meisten Fürsten in den fünf Königreichen aufzuweisen hatten. Fürsten brauchten eine Ausbildung, denn sie hatten viele Pflichten zu erfüllen, und die Tätigkeit als Richter beim Stammes gericht war eine davon. Ihr war klar, daß Cron sie mit einiger Feindseligkeit betrachtete. Sie mußte so diplomatisch vorgehen, wie es Eadulf ihr nahegelegt hatte, denn ihr Verhältnis zu Cron war schon schwierig genug.

»Würdest du mir erlauben, dich als Beisitzerin in diesem Fall zu beraten?«

Cron errötete und nahm es als Beleidigung auf.

»Ich meine, ich bin in der Lage, den Fall zu entscheiden«, verteidigte sie sich. »Ich war oft dabei, wenn mein Vater Urteile gesprochen hat.«

»Ich habe nicht gesagt, daß du nicht dazu in der Lage bist«, antwortete Fidelma versöhnlich. »Aber ich habe den Verdacht, daß es hierbei um mehr geht als um den einfachen Schadensfall. Schließlich hat Muad-nat schon einmal versucht, Archü mit Hilfe des Gesetzes zu enteignen.«

»Würde dich das nicht in deiner Beurteilung voreingenommen machen?« fragte Cron und mühte sich sehr, den Spott in ihrer Stimme zu unterdrücken.

»Vielleicht bin ich wirklich voreingenommen«, gestand Fidelma ein. »Ich schlage daher vor, daß du das Urteil fällst und ich lediglich neben dir sitze, um dich in juristischen Dingen zu beraten. Ich verspreche dir, daß meine Ratschläge sich einzig und allein auf Rechtsfragen beschränken werden.«

Cron zögerte und überlegte, ob Fidelma irgendwelche Hintergedanken hegen mochte.

»Das Urteil ist meine Sache?«

»Du bist die erwählte Fürstin von Araglin«, bestätigte Fidelma. »Du sprichst das Urteil.«

Cron dachte einen Moment nach. Es stimmte, daß Fidelma als dalaigh mit dem Rang eines anruth, nur einen Grad unter dem höchsten, den es in den fünf Königreichen gab, einfach verlangen konnte, daß sie den Richterstuhl einnahm. So lautete das Gesetz, denn an einem Ort, an dem es keinen ständigen Brehon gab, besaß ein angereister Richter je nach seiner amtlichen Stellung einen höheren Rang als ein kleiner Fürst. Damit, daß Fidelma lediglich die Erlaubnis erbat, als Beisitzerin zu beraten, bewies sie, daß sie nicht in Crons Befugnisse eingreifen wollte.

»Was sollte an Muadnats Anspruch falsch sein?« fragte Cron ausweichend.

»Das bleibt abzuwarten. Muadnat war verbittert, als das Urteil gegen ihn ausfiel und er den Hof an den jungen Archü verlor.«

Das sah Cron ein.

»Denkst du, daß Muadnat diese Anklage zurechtgezimmert hat?«

»Da du das zu entscheiden hast, ist es wohl besser, wenn ich meine Gedanken für mich behalte«, antwortete Fidelma sofort. »Aber laß mich neben dir sitzen. Ich berate dich nur in Fragen des Gesetzes, und du beurteilst die Tatsachen. Meine Worte werden einzig und allein die Rechtslage betreffen, nichts anderes. Das schwöre ich dir.«

»Dann soll es so sein.« Zum erstenmal setzte Cron in Gegenwart Fidelmas ein anscheinend wirklich freundschaftliches Lächeln auf.

»Zu welcher Zeit soll Muadnat vor dir erscheinen?«

»Zur Mittagsstunde.«

»Dann gehe ich jetzt und sage Eadulf Bescheid.«

»Er ist ein interessanter Mann, dein Angelsachse«, bemerkte Cron listig.

»Meiner?« Fidelma zog überrascht die Brauen hoch. »Eadulf gehört keiner Frau und keinem Mann.«

»Ihr seid anscheinend recht gut befreundet«, erwiderte Cron. »Der gutaussehende Bruder glaubt wohl nicht an das, was Pater Gorman über die Ehelosigkeit der Diener und Dienerinnen Gottes lehrt?«

Fidelma spürte, wie sie errötete.

Ihr wurde klar, daß sie mit Eadulf alle möglichen Seiten der römischen Lehre erörtert hatte, doch nie das Zölibat. Rom hatte zwar die Ehelosigkeit für Mönche und Nonnen nicht verbindlich festgelegt, doch gab es eine wachsende Zahl von Geistlichen, die daran glaubten, daß Ordensmitglieder nicht zusammenleben oder heiraten sollten. Diese Vorstellung war jedoch den Menschen so fremd, daß sie sich nie durchsetzen würde.

Sie merkte, wie Cron sie belustigt ansah.

Sie hob das Kinn.

»Bruder Eadulf und ich sind befreundet, aber nur befreundet, seit wir uns auf dem Konzil in Hildas Abtei in Northumbria kennenlernten, mehr ist da nicht.«

Cron nahm diese Versicherung mit offenkundiger Skepsis entgegen.

»Es ist schön«, bemerkte sie bedeutungsvoll, »so einen Freund zu haben.«

»Da wir gerade von Freunden reden«, erwiderte Fidelma geschickt, »ich hatte dir ja schon gesagt, ich suche Duban.«

»Weshalb mußt du so dringend mit ihm sprechen?« erkundigte sich die Tanist.

»Hast du mal was von Gadra gehört?«

Cron machte ein überraschtes Gesicht.

»Warum willst du etwas über Gadra wissen?«

»Du kennst ihn also?« hakte Fidelma sofort nach.

»Natürlich. Gesehen habe ich ihn allerdings zum letztenmal, als ich noch ganz klein war. Ich kann mich nur vage daran erinnern. Er wohnte ein paar Jahre in Teafas Hütte. Doch dann ging er wieder fort. Er ist ein Einsiedler. Heutzutage glauben die jungen Leute, er sei weiter nichts als ein Kinderschreck. Weil er als Einsiedler in den Bergen verschwand, benutzen ihn einige, um ihren Kindern Angst zu machen, damit sie gehorchen.«

»Weißt du, wo man Gadra finden kann?«

Cron schüttelte den Kopf.

»Ich glaube kaum daß er noch lebt.« Sie zuckte die Achseln. »Doch wenn es ihn noch gibt, dann muß man schon Mut haben, um ihn aufzusuchen, denn es heißt, daß er sich weigerte, den neuen Glauben anzunehmen, und sich mit dem Bösen einließ.«

»Mit dem Bösen einließ?«

Cron nickte.

»Er hielt an dem Glauben unserer heidnischen Vorfahren fest, und die Leute meinen, daß er sich deshalb in die Einsamkeit der dunklen Berge zurückgezogen hat.«

Hinter Fidelma bewegte sich etwas. Duban trat ein.

Sein Blick ging rasch zwischen Fidelma und Cron hin und her, und er tat erstaunt, sie hier beisammen anzutreffen. Dann hob er die Hand zum Gruß. Fidelma wurde klar, daß jemand, der so zu heucheln verstand, auch in anderen Dingen schwer zu packen sein würde.

»Wie ich höre, hattest du keinen Erfolg bei der Suche nach den Viehdieben, Duban«, beklagte sich Cron. Sie tat so, als hätte sie ihn heute noch nicht gesehen.

»Wir haben die Berge meilenweit durchstreift, aber keine Spur von den Viehdieben gefunden. Von Dio-mas Herde wurden zwei Kühe weggetrieben. Wir verfolgten ihre Spur bis zum Rand des Schwarzen Moors und verloren sie dann im Wald.«

Cron war sichtlich beunruhigt.

»Früher haben Viehdiebe unser Tal nie ungestraft heimgesucht. Wir müssen sie fassen. Unsere Ehre steht auf dem Spiel.«

»Wir werden sie schon kriegen«, knurrte Duban. »Sobald ich eine frische Schar gesammelt habe ...«

»Jetzt ist es zu spät dazu. Außerdem haben wir eine Gerichtsverhandlung zu führen. Schwester Fidelma hat vorgeschlagen, daß sie mich dabei berät, und ich habe zugestimmt. Ich habe ihr auch gesagt, daß du ihr etwas über den alten Gadra erzählen kannst.«

Cron drehte sich um und verließ die Halle. Duban blieb zurück, er schien ein wenig verunsichert.

»Wie soll ich das verstehen?« fragte er verlegen. »Das mit Gadra, meine ich.«

»Ich habe gehört, du kanntest Gadra.«

»Den Einsiedler Gadra«, nickte Duban. »Ja, aber das ist zwanzig Jahre her. Er ist tot.«

»Bist du sicher?« fragte Fidelma enttäuscht.

Duban rieb sich nachdenklich das Kinn.

»Sicher bin ich nicht. Aber ich habe ihn nicht mehr gesehen, seit ich als junger Mann Araglin verließ. Er muß inzwischen gestorben sein.«

»Cron sagte, sie habe ihn gesehen, als sie noch ein kleines Mädchen war und er bei Teafa im rath wohnte. Wüßtest du, wo er zu finden wäre, falls er noch lebt?« Fidelma gab nicht auf.

»Da oben in den Bergen im Süden. Dort wohnte er in einem kleinen Tal.«

»Würdest du Bruder Eadulf und mich dorthin führen?«

Duban zögerte verwirrt.

»Nach all der Zeit? Wahrscheinlich ist er tot«, wiederholte er.

»Aber du weißt es nicht mit Bestimmtheit?«

»Nein. Aber der Ritt ist zweifellos vergeblich. Man braucht fast einen Tag hin und einen zurück.«

»Führst du uns?«

»Ich habe meine Pflichten hier ...«

»Cron scheint nichts dagegen einzuwenden zu haben.« Fidelma glaubte, sie verdrehe damit nicht die Tatsachen. »Oder hast du andere Gründe, die dich daran hindern?«

»Warum willst du unbedingt zu Gadra? Selbst wenn er noch lebt, muß er schon sehr alt sein. Was soll er denn wissen, was dir bei deiner Untersuchung nützt?«

»Das ist meine Sache, Duban, nicht deine«, erwiderte sie bestimmt.

»Wann wollt ihr aufbrechen?« fragte Duban schließlich widerwillig.

»Wenn das Gericht schnell zu einer Entscheidung kommt, dann noch an diesem Nachmittag.«

Duban zupfte nachdenklich an seinem Bart.

»Dann müssen wir mindestens einmal unterwegs übernachten, selbst wenn wir Gadra finden«, wiederholte er.

»Ich bin Reisen gewöhnt«, betonte Fidelma.

Resigniert breitete Duban die Arme aus.

»Also dann nachdem das Gericht das Urteil verkündet hat. Wenn Gadra noch lebt, müssen wir sein Recht auf Zurückgezogenheit achten. Ich allein werde dich und den angelsächsischen Bruder begleiten, keiner weiter.« »Einverstanden«, erklärte Fidelma und verließ die Halle.

Draußen traf sie auf Archüs Freundin Scoth. Das junge Mädchen strahlte, als es Fidelma erkannte, und reichte ihr beide Hände.

»Ach, Schwester! Ich habe gebetet, daß du noch nicht fort wärst. Wir brauchen deine Hilfe so nötig.«

»Das habe ich schon gehört. Ist Archü hier, und kann er sich gegen die neuen Anschuldigungen verteidigen?« fragte Fidelma mitfühlend.

»Er sucht gerade eine Unterkunft für uns.« Scoth wirkte angespannt und unglücklich.

Fidelma nahm sie am Arm und führte sie zum Gästehaus.

Das Mädchen dankte ihr mit einem wehen Lächeln.

»Muadnat ist wie ein Rabe auf einem Schlachtfeld, er wartet nur auf den richtigen Moment, um sich auf uns zu stürzen. Du bist unsere einzige Hoffnung.«

»Ich bin zumindest noch hier.«

»Gott sei Dank! Wäre Muadnat vorsichtiger, hätte er sich erst vergewissert, ob du schon weg bist. Aber er ist so gierig auf unser Land, daß er gleich zum rath gestürmt ist und nicht ahnt, daß er wieder ein Urteil von dir zu erwarten hat.«

»Mein Urteil hat er nicht zu erwarten. Es ist Cron, eure Tanist und erwählte Nachfolgerin des Fürsten, die das Urteil zu fällen hat.« Scoth blieb vor Schreck stehen.

»Aber du mußt den Vorsitz bei Gericht führen«, flehte sie Fidelma an. »Du kannst doch Archü nicht im Stich lassen. Cron wird ihre eigenen Leute bevorzugen!«

»Ich lasse niemanden im Stich, Scoth. Kann ich deinen Worten entnehmen, daß Muadnat die Anklage erfunden hat?«

»Nein, leider nicht.«

Es war Archü, der das sagte. Er stand plötzlich hinter Fidelma.

»Es tut mir leid, daß du in einer so mißlichen Lage bist, Archü«, sagte sie traurig nach einigem Nachdenken.

»Aber du kannst doch eingreifen und die Klage abweisen«, beharrte Scoth verzweifelt.

»Scoth!« wies Archü sie scharf zurecht. »Schwester Fidelma ist an ihren richterlichen Eid gebunden.«

Sie hatten das Gästehaus erreicht, und Fidelma ließ sie eintreten. Eadulf begrüßte sie erstaunt. Fidelma teilte ihm die Neuigkeiten mit und wandte sich wieder an Archü.

»Sag mir die Wahrheit. Du meinst, Muadnat hat die Klage nicht aus der Luft gegriffen? Ist sein Anspruch begründet?«

Archü war rot geworden. Er machte eine hilflose Geste.

»Er ist zu schlau, eine solche Anklage nur zu erfinden.«

Fidelma schwieg einen Moment.

»Ist dir klar, was das bedeutet?«

»Es heißt, daß mein lieber Vetter Muadnat sich wiederholen wird, was für kurze Zeit mir gehörte. Er wird den Hof meiner Mutter an sich reißen. Ich werde wieder landlos sein«, schloß Archü bitter.

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