Kapitel 16

Cron rief sie sogleich an, als sie in den rath einritten. Fidelma und Eadulf stiegen ab, und Eadulf brachte die Pferde in den Stall. Fidelma trat zu Cron. Es war niemand in der Nähe außer der alten Dienerin Dignait, die in der Halle saubermachte.

»Laß uns allein, Dignait«, rief Cron ihr zu.

Die Alte sah Fidelma mißtrauisch an und verschwand durch eine Seitentür.

Fidelma setzte sich auf eine Bank, und nach kurzem Zögern ließ sich die Tanist neben ihr nieder. Es trat Schweigen ein, bis Fidelma es brach.

»Du wolltest mich sprechen?«

Cron sah Fidelma einen Moment mit ihren eisblauen Augen an und senkte dann den Blick.

»Ja.«

»Duban hat mit dir geredet, nehme ich an?«

Cron errötete heftig und nickte.

»Ich habe Duban gesagt, daß ich nicht naiv bin«, tastete sich Fidelma vor. »Glaubtest du, du könntest mich ewig mit Halbwahrheiten hinhalten? Ich weiß, daß du deinen Vater haßtest. Ich möchte den Grund erfahren.«

»Es war wegen der Schande«, antwortete Cron nach einer kurzen Pause.

»Am besten ist es, wenn man die Wahrheit offenlegt, denn dunkle Geheimnisse brüten Verdacht und Beschuldigungen aus.«

»Teafa haßte meinen Vater auch.«

»Warum?«

»Mein Vater mißbrauchte seine Schwestern.«

Fidelma hatte eine solche Antwort erwartet nach dem, was sie von Pater Gorman erfahren hatte.

»Hat er sie körperlich mißbraucht?« fragte sie sicherheitshalber.

Cron rümpfte die Nase. »Wenn du mit körperlich mißbrauchen meinst, daß er sie zwang, mit ihm zu schlafen - ja.«

»Hat Teafa dir das gesagt?« forschte Fidelma.

»Vor ein paar Jahren«, gestand sie. »So, jetzt habe ich dir verraten, weshalb ich meinen Vater haßte. Aber ich haßte ihn nicht so sehr, daß ich ihn töten würde. Anscheinend bist du der Aufklärung des Mordes an meinem Vater und Teafa noch keinen Schritt nähergekommen.«

»Doch, das bin ich«, lächelte Fidelma. »Was du mir berichtet hast, bedeutet .«

»Störe ich euch?« Eine weiche männliche Stimme unterbrach Fidelma, als sie sich gerade vertraulich vorbeugen wollte.

Pater Gorman stand auf der Schwelle.

Fidelma fing Crons warnenden Blick auf, der ihr sagte, sie solle das Thema nicht weiter verfolgen. Sie unterdrückte einen ärgerlichen Seufzer und stand auf.

»Ich wollte sowieso gerade gehen. Ich habe einen langen, anstrengenden Tag hinter mir. Wir reden morgen weiter, Cron, wenn ich mich ausgeruht habe.«

Das Frühstück war schon ins Gästehaus gebracht worden, als Fidelma aus dem Waschraum hereinkam. Eadulf saß am Tisch und ließ es sich schmecken. Fidelma setzte sich, sprach ein stilles Gratias und besah sich ihren Teller mit Brot, kaltem Fleisch und verschiedenen Beilagen. Sie nahm das Messer zur Hand.

Eadulf meinte: »Wir müssen heute so schnell wie möglich wieder zum Bergwerk mit allen Männern, die Duban entbehren kann. Vielleicht können wir dann sämtliche Rätsel lösen?«

Fidelma hing ihren eigenen Gedanken nach und war nur halb bei der Sache. Doch irgend etwas lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Pilze, die auf dem Tisch standen. In ihrem Hinterkopf schrillte eine Alarmglocke. Die Pilze hatten eine helle gelbbraune Haut mit zellenartigen Gruben auf dem ganzen Hut. Sie hatte oft miotog bhui gegessen, Pilze, die im Frühjahr in den Laubwäldern wuchsen. Meist aber kamen sie gekocht auf den Tisch, denn roh hatten sie einen scharfen Geschmack. Gekocht galten sie als Delikatesse. Warum hatte man sie ihnen roh serviert?

Plötzlich lief es ihr eiskalt den Rücken herunter, und sie erzitterte, als sie sich die Pilze genauer ansah. Erst hatte sie gedacht, die gelblichen Pilze seien bloß vom Alter dunkel geworden, doch jetzt wurde ihr klar, daß das nicht stimmte. Sie waren braun. Erschrocken sah sie, wie Eadulf ein Stück Pilz in den Mund stecken wollte, und schlug es ihm aus der Hand.

Er fuhr überrascht zurück und verschluckte einen Ausruf.

»Wieviel davon hast du gegessen?« wollte sie wissen.

Er starrte sie verständnislos an.

»Wieviel?« fuhr sie ihn an.

»Das meiste von dem, was ich auf dem Teller hatte«, gestand Eadulf verwirrt ein. »Was ist verkehrt daran? Ich weiß, was das für Pilze sind, wir haben zu Hause auch solche. Sie heißen Morcheln.«

»Dia är säbhäil!« rief Fidelma und sprang auf. »Es sind Lorcheln.«

Eadulf wurde bleich.

Die Lorchel, die der eßbaren Morchel so ähnlich sah, war, roh gegessen, tödlich giftig.

»Gott schütze uns, nun aber wirklich.« Eadulf war entsetzt.

Fidelma reagierte sofort.

»Wir haben keine Zeit zu verlieren. Wir müssen dir den Magen entleeren, dich zum Erbrechen bringen. Das ist die einzige Möglichkeit.«

Eadulf nickte. Er hatte an der berühmten medizinischen Hochschule Tuaim Brecain studiert und wußte sehr wohl, wie giftige Pilze wirkten.

Er stand auf und strebte dem fialtech, dem Schleierhaus oder Abort, zu und vergaß in seiner Eile sogar, sich zu bekreuzigen, bevor er es betrat, um die Listen des Teufels abzuwehren, der an solchen Orten besonders aktiv war.

»Trink so viel Wasser, wie du irgend kannst«, rief ihm Fidelma nach.

Er gab keine Antwort.

Fidelma betrachtete die Teller.

Es gab keinen Zweifel. Jemand hatte versucht, sie beide zu vergiften. Warum? Waren sie der Aufklärung der Morde in Araglin so nahe, daß sie beseitigt werden mußten? Zornig nahm sie die Teller mit Essen und warf sie zur Tür des Gästehauses hinaus. Auch die Becher mit Met goß sie aus.

Sie hörte, wie Eadulf im fialtech würgte.

Sie biß die Zähne zusammen und eilte in die Küche auf der Suche nach Grella, die ihnen gewöhnlich das Essen brachte. Die Küche war leer. Sie fand das junge Mädchen in der Festhalle, wo sie saubermachte.

Grella schien verlegen, als Fidelma auf sie zutrat.

»Wer hat uns heute morgen das Frühstück ins Gästehaus gebracht?«

»Ich, Schwester, wie immer. War etwas nicht in Ordnung?«

Die arglosen Augen des Mädchens überzeugten Fidelma, daß die Schuldige woanders zu suchen sei.

»Wer hat das Essen heute morgen zubereitet?«

»Dignait, nehme ich an. Sie führt die Küche.«

»Hast du gesehen, daß sie es getan hat?«

»Nein. Als ich herkam, war Dignait hier in der Festhalle und sprach mit Lady Cranat. Dignait sagte zu mir, ich solle gleich in die Küche gehen. Dort würde ich ein Tablett mit dem Frühstück für dich und den angelsächsischen Bruder finden, und ich sollte es euch sofort bringen.«

»Also hat Dignait das Essen zubereitet?«

»Ja. Du machst mir Angst, Schwester, was ist passiert?« »Weißt du noch, woraus die Mahlzeit bestand?«

»Wieso?« Die Frage überraschte sie. »Habt ihr sie nicht gegessen?«

In bitterem Ton wiederholte Fidelma ihre Frage: »Woraus bestand die Mahlzeit?«

»Kaltes Fleisch, Brot, ach ja, ein paar Pilze und Äpfel und ein Krug Met.«

»Die Pilze waren giftig. Es waren Lorcheln.«

Das Mädchen erbleichte. In Grellas Gesicht stand der Schock, aber kein Anzeichen von Schuld.

»Das wußte ich nicht!« rief sie entsetzt.

»Wo ist Dignait?«

»Hier ist sie nicht. Ich glaube, nach dem Frühstück ist sie in ihre Hütte gegangen. Soll ich dir zeigen, wo die ist?«

Das Mädchen lief angstvoll vor Fidelma her, bis sie vor einer baufälligen Holzhütte standen.

»Hier wohnt sie.«

Fidelma rief an der Tür.

Keine Antwort.

Sie zögerte einen Moment, dann hob sie mühelos den Riegel an und betrat den einzigen Raum der Hütte. Überrascht betrachtete sie die Unordnung darin. Bettzeug und Kleidungsstücke und einiges andere lagen wild durcheinander.

Grella entfuhr ein erstaunter Ausruf, als sie Fidelma über die Schulter sah.

Fidelma musterte den Raum gründlich. Jemand hatte hier nach etwas gesucht. War es Dignait, die diese Unordnung verursacht hatte, oder jemand anderes?

Wo war Dignait überhaupt? Ihr Blick fiel auf den Tisch, und ihre Augen verengten sich. Ein schmaler roter Fleck zog sich über eine Ecke hin. Das konnte nur Blut sein.

Mehr war in Dignaits verlassener Hütte nicht herauszubekommen.

Grella stand aufgeregt und mit offenem Mund neben ihr.

»Du machst dich am besten wieder an deine Arbeit, Grella. Wenn du fertig bist, geh bitte zu dem angelsächsischen Bruder und bleibe bei ihm. Vielleicht braucht er deine Hilfe. Er hat ein paar von den giftigen Lorcheln gegessen.«

Mit einem leisen Ausruf bekreuzigte sich das Mädchen.

»Er hat schon ein Brechmittel genommen«, erklärte ihr Fidelma, »aber er könnte später noch Hilfe benötigen. Ich muß Dignait suchen, möchte ihn aber nicht allein lassen. Wenn du mit deiner Arbeit fertig bist, geh ins Gästehaus, bleib dort und paß gut auf ihn auf. Hast du verstanden?«

Grella nickte und lief fort.

Fidelma schloß die Tür von Dignaits Hütte und ging zurück zum Gästehaus.

Eadulf saß mit blassem Gesicht da und trank Wasser.

Sie sah ihn fragend an. Er nickte langsam.

»Wie geht es dir?« erkundigte sie sich leise.

Eadulf zuckte trübselig die Achseln.

»Frag mich das in ein paar Stunden. Dann wirkt das Gift. Ich hoffe, ich habe das meiste ausgebrochen. Aber das weiß man nie genau.«

»Dignait ist weg. Ihr Zimmer ist in Unordnung, und auf ihrem Tisch ist ein Blutfleck.«

Eadulfs Augen weiteten sich.

»Du meinst, daß Dignait ...?«

»Sie müßte man logischerweise zuerst befragen, denn sie hat anscheinend das Essen zubereitet und es uns von Grella bringen lassen. Ich habe das Mädchen gebeten, auf dich aufzupassen, solange ich weg bin.«

»Ich komme mit und helfe dir, Dignait zu suchen«, wandte Eadulf ein.

Fidelma sah ihn beinahe zärtlich an und schüttelte entschieden den Kopf.

»Mein Freund, du mußt hierbleiben und versuchen, noch mehr von dir zu geben. Ich sehe zu, was ich noch herausbekommen kann.«

Eadulf wollte protestieren, gab es aber angesichts des gefährlichen Glitzerns in Fidelmas Augen auf.

Fidelma fand Cron in der Festhalle. Sie machte einen niedergeschlagenen Eindruck, richtete sich aber ein wenig auf, als Fidelma zu ihr kam.

»Ist das wahr?« fragte sie. »Ich habe gerade mit Grella gesprochen.«

»Nur zu wahr«, erwiderte Fidelma. »Hast du eine Ahnung, wo Dignait geblieben ist?«

Cron schüttelte den Kopf.

»Heute früh habe ich sie gesehen. Grella sagt, du hast dir ihre Hütte schon angeschaut?«

»Sie scheint verschwunden zu sein. Ihre Hütte ist verlassen und in Unordnung, und auf ihrem Tisch ist ein Blutfleck.«

»Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Sie muß irgendwo hier im rath sein. Ich werde sofort nach ihr suchen lassen.«

»Wo ist Cranat, deine Mutter? Sie soll Dignait besser kennen als alle anderen, und sie hat heute morgen mit ihr gesprochen.«

»Meine Mutter macht ihren morgendlichen Ausritt mit Pater Gorman.«

»Laß es mich wissen, wenn sie zurück ist.«

Fidelmas nächstes Ziel war Teafas Hütte.

Gadra öffnete, sah Fidelmas besorgtes Gesicht und ließ sie schweigend eintreten.

»Du bist schon früh unterwegs, Fidelma, und deine Miene verheißt nichts Gutes.«

»Wie geht es deinem Schützling?«

»Moen? Er schläft noch. Wir waren lange auf und haben uns über theologische Fragen unterhalten.«

»Über Theologie unterhalten?« Sie war überrascht.

»Moen versteht sehr viel von Theologie«, versicherte ihr Gadra. »Wir sprachen auch über seine Zukunft.«

»Ich nehme an, er wird hier nicht bleiben wollen?«

Gadra lachte spöttisch.

»Nach allem, was passiert ist?«

»Wohl lieber nicht«, stimmte ihm Fidelma zu. »Aber wo will er hin?«

»Ich habe ihm vorgeschlagen, daß er vielleicht in einem Kloster Schutz vor den Übeln der Welt finden könnte, etwa in Lios Mhor. Er braucht die Ordnung, die das Leben unter Mönchen bietet, und dort werden sich viele mit ihm verständigen können, denn wie du selbst bewiesen hast, geht das mit der alten Ogham-Schrift recht gut.«

»Das klingt ganz vernünftig«, meinte Fidelma. »Aber es paßt doch kaum zu deiner eigenen Lebensauffassung.«

»Meine Welt liegt im Sterben. Das gestehe ich ein. Moen muß ein Teil der neuen Welt werden, nicht der alten. Aber ich sehe, daß du Sorgen hast. Du bist nicht hergekommen, um über Moen zu sprechen. Ist etwas geschehen?«

»Ich fürchte für das Leben meines Gefährten Ea-dulf«, sagte Fidelma kurz. »Jemand hat heute morgen versucht, ihn und mich zu vergiften.«

Gadra sah sie erschrocken an.

»Versucht? Womit?«

»Mit Pilzen.«

»Die meisten Leute kennen aber doch die Giftpilze.«

»Stimmt. Aber die Lorchel kann man leicht mit der Speisemorchel verwechseln.«

»Aber nur in rohem Zustand ist sie hochgiftig. Da man Morcheln niemals roh ißt, kann man doch kaum .«

»Eben die Tatsache, daß die Morcheln roh waren, ließ mich genauer hinschauen. Ich habe sie nicht angerührt, doch Bruder Eadulf hatte unglücklicherweise schon angefangen, davon zu essen, bevor ich merkte, daß es Lorcheln waren.« »Er sollte sofort seinen Magen entleeren«, sagte Gadra ernst.

»Er hat erbrochen, und ich lasse ihn so viel Wasser trinken wie möglich, um dem nachzuhelfen.«

»Weiß man, wer versucht hat, euch zu vergiften?«

»Wahrscheinlich war es Dignait. Sie scheint aber nicht im rath zu sein, sie ist verschwunden. Ihre Hütte ist in Unordnung, und auf ihrem Tisch ist Blut.«

»Du hast die Pflicht, mir eine Frage zu stellen«, kam ihr Gadra zuvor. »Ich beantworte sie gleich: Weder ich noch Moen haben heute morgen diese Hütte verlassen.«

Fidelma verzog das Gesicht.

»Das hatte ich auch nicht angenommen.«

Gadra langte in seinen sacculus, seinen Beutel, der auf dem Tisch lag, und holte eine kleine Flasche heraus.

»Ich habe meine Arzneien bei mir. Dies ist eine Mixtur aus Gundelrebe und Wermut. Sag unserem angelsächsischen Freund, er soll sie mit ein wenig Wasser gemischt trinken, je weniger verdünnt, desto besser. Damit kann er seinen Magen vom Gift befreien.«

Zögernd nahm Fidelma die Flasche entgegen.

»Bring sie ihm«, drängte sie der alte Einsiedler und fügte lächelnd hinzu: »Es sei denn, du glaubst, ich wolle ihn vergiften.«

»Ich bin dir wirklich dankbar, Gadra«, antwortete Fidelma, im Gefühl, unhöflich gewesen zu sein.

»Dann geh schnell zu ihm. Laß es mich wissen, wenn ich sonst noch etwas für ihn tun kann.«

Mit der Flasche in der Hand kehrte Fidelma zum Gästehaus zurück.

Eadulf saß noch da und war merklich blasser geworden. Um Augen und Mund herum hatte sich die Haut bläulich verfärbt.

»Gadra schickt dir das hier. Du sollst es gleich trinken, mit Wasser verdünnt.«

Mißtrauisch nahm ihr Eadulf die Flasche aus der Hand.

»Was ist das?«

»Eine Mixtur aus Gundelrebe und Wermut.«

»Sie soll wohl den Magen reinigen«, meinte Eadulf.

Er nahm den Stopfen ab, roch an der Flasche und verzog das Gesicht. Dann goß er den Inhalt in einen Becher und fügte Wasser hinzu. Angeekelt starrte er die Mischung einen Augenblick an und schluckte sie dann herunter.

Ein Hustenanfall schüttelte ihn.

»Na«, sagte er, als er wieder sprechen konnte, »wenn das Gift mich nicht erledigt, dann tut es dieses Zeug bestimmt.«

»Wie geht es dir?« fragte Fidelma besorgt.

»Schlecht«, gestand Eadulf. »Aber es dauert ungefähr eine Stunde, bis das Gift richtig wirkt und .«

Plötzlich traten seine Augen hervor.

»Was ist?« rief Fidelma erschrocken.

Mit der Hand vor dem Mund sprang Eadulf auf und verschwand in Richtung auf den fialtech. Durch die geschlossene Tür konnte sie sein schreckliches Würgen hören.

»Kann ich dir helfen, Eadulf?« fragte sie, als er schließlich wieder auftauchte.

»Kaum, fürchte ich. Wenn ich Dignait finde und wenn ich ihr diese Qualen zu verdanke habe, dann werde ich ... o Gott!«

Mit der Hand vor dem Mund zog er sich wieder auf den Abort zurück.

Es klopfte, und Cron trat ein.

»Es hat sich herausgestellt, daß sich Dignait mit Sicherheit nicht mehr im rath aufhält«, sagte sie. »Das scheint ihre Schuld zu bestätigen.«

Fidelma sah die Tanist verdrossen an.

»Das habe ich mir gedacht.«

»Ich habe einen Mann auf die Suche nach Duban geschickt, der ihm berichten soll, was hier geschehen ist«, fügte Cron hinzu.

»Wo ist Duban jetzt?«

»Oben im Tal des Schwarzen Moors. Muadnats Tod muß ja auch noch aufgeklärt werden.« Cron hielt inne und seufzte. »Es ist kaum zu glauben, daß Dignait versucht haben soll, euch zu vergiften.«

»Im Moment scheint alles möglich zu sein«, erwiderte Fidelma. »Wir wissen nicht, welche Rolle sie dabei gespielt hat, ehe sie nicht gefunden und verhört worden ist.«

»Sie hat meiner Familie treu gedient.«

»Das hat man mir gesagt.«

Eadulf kam zurück, erblickte Cron und brachte es fertig, verlegen auszusehen.

Cron betrachtete sein blasses Gesicht mit offenkundigem Widerwillen.

»Du bist krank, Angelsachse«, begrüßte ihn die Ta-nist ohne Mitgefühl.

»Du bist scharfblickend, Cron.« Eadulf versuchte sich seinen Humor zu bewahren.

»Kann ich etwas ... können wir .?«

Eadulf setzte sich, äußerlich blieb er fröhlich.

»Wartet nur ab«, meinte er. »Das kann ich doch wohl allein?«

Fidelma lächelte ihn entschuldigend an.

»Du hast recht, Eadulf. Wir stören dich nur. Ruh dich aus. Aber ich habe Grella gebeten, von Zeit zu Zeit nach dir zu sehen.«

Sie führte Cron sanft, aber bestimmt aus dem Gästehaus.

»Wo ist übrigens Critän?« fragte sie, als sie draußen standen. »Ist er wieder nüchtern?«

»Er war nicht so betrunken, daß er nicht mehr wüßte, was geschehen ist. Du hast ihn erniedrigt, und das verzeiht er dir nie.«

»Er hat sich selbst erniedrigt«, stellte Fidelma richtig.

»Nachdem er sich gestern abend vor mir ausgetobt hatte, nahm er jedenfalls, kurz bevor ihr zum rath zurückkamt, sein Pferd und ritt fort. Er sagte, er wolle seine Dienste einem Fürsten anbieten, der seine Talente zu schätzen wisse.«

»Das habe ich befürchtet. Er ist arrogant und kann Leute einschüchtern, das sind seine Talente. Aber es gibt genug skrupellose Herren, die sich solche Talente zunutze machen. Du sagst also, er hält sich nicht mehr im rath auf?«

Crons Augen weiteten sich.

»Du denkst doch nicht etwa, er habe sich mit Di-gnait zusammengetan ...?«

»Ich verschwende meine Zeit nicht auf Spekulationen, Cron.« Auf einmal kam ihr ein Gedanke. Er hatte wirklich mit Critan zu tun. Sie wollte ihm nachgehen, da sah sie, wie der Pferdewärter Menma aus dem rath herausritt. Er saß auf einer stämmigen Stute und führte an der Leine einen Esel mit, dem ein schwerer Tragkorb aufgeschnallt war.

»Wo will der denn hin?« fragte Fidelma mißtrauisch.

»Ich habe ihm gesagt, er soll ins Hochland im Süden reiten und ein paar entlaufene Pferde einfangen«, erwiderte Cron. »Brauchst du ihn? Soll ich ihn zurückrufen?«

»Im Augenblick ist das nicht nötig.«

Fidelma hätte gern einen Augenblick in Ruhe nachgedacht. Doch plötzlich kamen Reiter über die Holzbrücke in den rath, es waren Cranat und Pater Gorman. Grußlos ritten sie an Menma vorbei.

Cron lief sogleich zu ihrer Mutter und berichtete ihr, was sich ereignet hatte. Schwester Fidelma hielt sich im Hintergrund und beobachtete interessiert das Gespräch zwischen Mutter und Tochter. Zwischen ihnen schien eine eigenartige Distanz zu bestehen, eine Förmlichkeit, die nicht leicht zu erklären war.

Pater Gormän hatte zugehört. Er war abgestiegen, hatte jemandem sein Pferd übergeben und trat nun auf Fidelma zu.

»Bruder Eadulf gehört der römischen Kirche an«, sagte er kurz. »Wenn sein Leben in Gefahr ist, sollte ich ihn versorgen.«

»Er wird gut versorgt, Pater Gormän«, erwiderte Fidelma leicht belustigt. »Wir können jetzt nur abwarten.«

Pater Gormän errötete.

»Ich meinte seine geistliche Versorgung. Die letzte Beichte. Die letzten Riten unserer Kirche.«

»Ich habe ihn noch nicht ganz der anderen Welt übergeben«, antwortete sie. »Dum vita est spes est«, fügte sie hinzu. »Solange Leben ist, ist auch Hoffnung.«

Sie wandte sich Cranat zu, die fortgehen wollte.

»Cranat! Auf ein Wort.«

Cranat, hochmütig wie sie war, lief rot an vor Ärger.

»Es ist üblich, daß man .«

»Ich habe keine Zeit für Formalitäten, das habe ich dir schon einmal gesagt«, unterbrach sie Fidelma. »Hier geht es um Leben und Tod. Ich glaube, du hast heute morgen mit Dignait gesprochen. Hast du gesehen, daß sie das Frühstück für das Gästehaus zubereitet hat?«

»Ich gebe mich nicht mit der Küche ab«, erwiderte Cranat verächtlich.

»Aber du bist Dignait heute morgen begegnet?«

»Ich sah sie, als ich durch die Festhalle ging. Sie kam aus der Küche. Ich sprach sie wegen einer Haushaltsangelegenheit an. Ich erinnere mich, daß die Dienerin Grella hereinkam und Dignait sie anwies, in die Küche zu gehen und das Tablett mit dem Frühstück ins Gästehaus zu bringen. Das ist alles.«

»Wir müssen Dignait unbedingt finden. Weißt du, wo sie sein könnte?«

»Ich bin nicht gewohnt, mich um die privaten Angelegenheiten von Dienerinnen zu kümmern. Wenn das nun alles ist .«

Sie schritt davon, ehe Fidelma noch etwas sagen konnte.

Doch Pater Gorman war hartnäckig auf seinem Platz geblieben.

»Ich bestehe darauf, den sterbenden angelsächsischen Bruder zu besuchen«, sagte er. »Du trägst einen Teil der Schuld an seinem Tod, Schwester. Du hast jenen Satanssproß freigelassen, obwohl du genau wußtest, daß unser Leben dann in Gefahr sein würde.«

»Bist du sicher, daß du die christliche Lehre vertrittst?« fragte Fidelma gereizt.

Pater Gorman wurde puterrot.

»Mehr als du, das liegt auf der Hand. Christus selbst sagte: >So aber deine Hand dich ärgert, so haue sie ab. Es ist dir besser, daß du zum Leben als ein Krüppel eingehst, denn daß du zwei Hände habest und werdest in das ewige Feuer geworfen.< Es wird Zeit, daß wir dieses Ärgernis beseitigen. Vernichte und vertreibe das Übel in unserer Mitte!«

»Bruder Eadulf wird deinen Segen nicht brauchen, Gormän von Cill Uird«, antwortete Fidelma mit einer Ruhe, zu der sie sich zwingen mußte. »Er wird noch nicht sterben.«

»Bist du Gott, daß du darüber bestimmst?« höhnte der Priester.

»Nein«, sagte Fidelma. »Aber mein Wille ist so stark wie der Adams!«

Pater Gormän schien noch weiter mit ihr streiten zu wollen, doch dann wandte er sich ab, stürmte in seine Kapelle und knallte die Tür hinter sich zu.

Cron blickte Fidelma verwundert an.

»Laß es mich wissen, wenn ich noch etwas tun kann«, sagte sie, bevor sie in die Festhalle ging.

Fidelma schritt zurück zum Gästehaus.

»Schwester! Schwester!«

Grella lief ihr entgegen. Fidelma sah ihrem Gesicht an, daß etwas nicht in Ordnung war, und ihr Herzschlag setzte einen Moment aus.

»Was ist mit Bruder Eadulf?«

»Komm schnell«, rief das Mädchen, doch Fidelma rannte bereits.

»Ich war gerade hineingegangen, wie du angeordnet hattest«, berichtete das Mädchen atemlos und versuchte mit ihr Schritt zu halten. Weiter kam sie nicht, Fidelma war bereits im Gästehaus. Grella eilte ihr danach.

Eadulf lag in seiner Schlafkammer auf der Strohmatratze ausgestreckt auf dem Rücken. Er zitterte, Schauer durchliefen seinen Körper, die Augen hielt er geschlossen, und das Gesicht war schweißgebadet.

Fidelma sank auf die Knie und faßte Eadulfs Hand. Sie war heiß und feucht. Sie fühlte seinen Puls, er schlug heftig und unregelmäßig.

»Wie lange geht es ihm schon so?« fragte sie Grella, die hinter ihr stand.

»Ich bin eben erst hereingekommen, und da fand ich ihn so«, wiederholte das Mädchen.

»Hol rasch den Einsiedler Gadra her!« Als das Mädchen zögerte, fügte sie hinzu: »Er ist in Teafas Hütte. Schnell!«

Eadulf hatte offensichtlich Fieber und war sich seiner Umgebung nicht mehr bewußt.

Fidelma stand auf, eilte in den Hauptraum und holte einen Krug Wasser und ein Handtuch, feuchtete es an und begann, Eadulf den Schweiß von seinem geröteten Gesicht zu wischen.

Kurz darauf erschien Gadra, gefolgt von Grella. Sanft zog er Fidelma zur Seite. Er betastete Eadulfs Stirn, fühlte seinen Puls und trat zurück.

»Im Moment können wir wenig tun. Er hat hohes Fieber, das er entweder besiegt oder dem er erliegt.«

Fidelma spürte, wie sich ihre Hände verkrampften.

»Können wir ihm nicht helfen?«

»Das Gift tut jetzt seine Wirkung. Wir können nur hoffen, daß er soviel davon losgeworden ist, daß der kleine Rest nicht mehr tödlich ist und ihn nur noch ein paar Stunden plagen wird. Seine Körpertemperatur steigt. Wenn sie wieder fällt, haben wir gewonnen. Wenn nicht .«

Er zuckte beredt mit den Schultern.

»Wann werden wir es wissen?«

»Erst in ein paar Stunden. Jetzt können wir nichts tun.«

Fidelma fühlte eine törichte Wut in sich aufsteigen, als sie in Eadulfs gelbliches, eingefallenes Gesicht blickte. Sie erkannte, wie trostlos ihr Leben ohne ihn sein würde. Sie erinnerte sich, wie unruhig sie gewesen war, nachdem sie Eadulf in Rom verlassen hatte, um in ihre Heimat zurückzukehren, und wie leer die Monate danach waren. Sie hatte sich in Irland seltsam allein gefühlt, und Heimweh nach Rom hatte sie ergriffen. Es hatte lange gedauert, bis das vorbei war.

Es fiel Fidelma schwer, sich einzugestehen, wie gern sie Eadulf hatte. Mit siebzehn hatte sie sich in einen jungen Krieger namens Cian verliebt, der zur Leibgarde des Großkönigs in Tara gehörte. Damals hatte sie bei dem großen Brehon Morann Rechtskunde studiert. Sie war jung und sorglos und sehr verliebt gewesen. Aber Cian hatte sie später wegen einer anderen verlassen. Anfangs war sie darüber verbittert, ganz verwunden hatte sie es nie.

Eadulf von Seaxmund’s Ham war der einzige Mann ihres Alters, in dessen Gesellschaft sie sich wirklich wohl fühlte und mit dem sie reden konnte. In der ersten Zeit hatte sie ihn zu Streitgesprächen geradezu herausgefordert, und diese Streitgespräche bildeten die Grundlage ihres freundschaftlichen, unbeschwerten Verhältnisses, denn so heftig ihre verschiedenen Ansichten über Theologie und Kultur auch aufeinanderprallten, sie neckten sich eher auf diese Art, und es gab keine Feindschaft zwischen ihnen.

Wie sehr hatte Fidelma sich gefreut, als sie erfuhr, daß der neuernannte Erzbischof von Canterbury, Theodore, der Vertreter des heiligen Vaters in den angelsächsischen Königreichen, Eadulf als Abgesandten an den Hof ihres Bruders Colgü von Cashel geschickt hatte. Das war eine Fügung des Schicksals.

Konnte das Schicksal nun so grausam sein und ihr Eadulf nehmen, endgültig und unwiderruflich?

»Jetzt können wir nichts tun, Fidelma«, wiederholte Gadra. »Ich bleibe bei dem armen Bruder, und du versuchst herauszufinden, wer euch vergiften wollte. Ich gebe dir Bescheid, sobald irgendeine Veränderung eintritt.«

Fidelma betrachtete das leidende Gesicht ihres Freundes und nickte zögernd. Sie versuchte das leichte Zucken ihrer Mundwinkel zu unterdrücken.

»Ich danke dir, Gadra«, sagte sie. »Grella wird dir helfen, nicht wahr, Grella?«

Das Mädchen rang die Hände. »Ach, Schwester, werde ich dafür bestraft?«

»Wofür solltest du bestraft werden?« fragte sie zerstreut.

»Daß ich es war, die dir und dem Bruder das Essen gebracht hat«, erinnerte sie Grella.

Fidelma begriff, in welcher Angst das Mädchen lebte, und schüttelte mit traurigem Lächeln den Kopf.

»Du wirst nicht bestraft. Aber ich muß Dignait finden und feststellen, wer dafür verantwortlich ist, daß die giftigen Pilze auf die Teller kamen. Gadra wird hier deine Hilfe brauchen. Wirst du ihm helfen?«

»Natürlich«, antwortete das Mädchen traurig.

Fidelma warf noch einen Blick auf Eadulfs fiebergeschüttelte, bewußtlose Gestalt und verließ das Gästehaus. Draußen merkte sie, daß sie zum erstenmal in ihrem Leben ziellos umherlief. Unentschlossen blieb sie stehen.

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