Kapitel 1

Der Donner grollte um die hohen kahlen Gipfel der Berge, die den Maoldomhnach umgaben und nach ihm genannt wurden. Gelegentlich erhellte ein Blitz die runde Kuppe und ließ die Schatten schnell über das Tal von Araglin gleiten, das inmitten seiner nördlichen Vorberge lag. Es war eine dunkle Nacht, in der sich die Gewitterwolken zusammenballten und über den Himmel jagten, als würden sie vom mächtigen Atem der alten Götter durcheinandergewirbelt.

Auf den hochgelegenen Weiden drängten sich die zottigen Rinder zusammen, manchmal aufgeregt brüllend, nicht nur, um sich vor dem drohenden Gewitter zu schützen, sondern auch, um einander vor dem allgegenwärtigen Geruch hungriger Wolfsrudel zu warnen, die durch die dichten Wälder am Rande der Bergwiesen streiften. In einer weit von den Rindern entfernten Ecke der Weiden stand ein majestätischer Hirsch und bewachte besorgt seine Hirschkühe und ihre Kälber. Ab und zu warf er den Kopf mit dem weitverzweigten Geweih hoch und sog mit zitternden Nüstern die Luft ein. Trotz der Dunkelheit, der schweren Wolken und des nahen Gewitters spürte er die heraufziehende Dämmerung hinter den fernen Gipfeln im Osten.

Unten im Tal, an dem düsteren, murmelnden Fluß, lag eine Gruppe unbefestigter Gebäude in völliger Finsternis. Kein Hund rührte sich um diese Zeit, und es war noch zu früh für die Hähne, den Anbruch eines neuen Tages zu verkünden. Selbst die Vögel hatten ihren Morgengesang noch nicht begonnen und hockten schläfrig in den Bäumen ringsum.

Doch ein menschliches Wesen regte sich bereits in dieser finsteren Stunde, ein Mann erwachte in dieser Zeit der Stille, in der die Welt wie tot und verlassen wirkte.

Menma, der oberste Pferdewärter Ebers, des Fürsten von Araglin, ein großer, schwerfälliger Mann mit einem buschigen roten Bart und einem Hang zum Trinken, blinzelte, warf das Schaffell ab und erhob sich von der Strohmatratze seines Bettes. Ab und zu erhellte ein Blitz seine einsame Hütte. Menma stöhnte und schüttelte den Kopf, als würde ihn das von den Nachwirkungen des Besäufnisses vom Vorabend befreien. Er langte zum Tisch, suchte mit zitternden Händen nach Feuerstein und Zunder und steckte die Talgkerze auf dem Tisch an. Dann reckte er seine verkrampften Glieder. Obwohl er soff, besaß Menma ein eigentümliches angeborenes Zeitgefühl. Sein ganzes Leben lang war er in der dunklen Stunde vor dem Morgengrauen aufgestanden, wie spät er auch sinnlos betrunken auf sein Bett gefallen sein mochte.

Sein Morgenritual bestand darin, die gesamte Schöpfung zu verfluchen. Menma fluchte gern. Manche Leute begannen den Tag mit einem Gebet, andere mit ihrer Morgenwäsche. Menma von Araglin begann den Tag damit, daß er seinen Herrn, den Fürsten Eber, verfluchte und ihm alle möglichen Todesarten wünschte: Ersticken, Krämpfe, Zerfleischen, Ruhr, Gift, Ertrinken, Erdrosseln und noch ein paar andere, so weit seine dürftige Phantasie reichte. Nachdem er seinen Herrn nach allen Regeln der Kunst verwünscht hatte, ging Menma dazu über, seine eigene Existenz zu verfluchen und seine Eltern, weil sie nicht reich und mächtig waren, sondern einfache Bauern, und ihn dadurch zu einem Leben als gewöhnlichen Pferdewärter verurteilt hatten.

Seine Eltern hatten als arme Landarbeiter auf den Höfen ihrer reicheren Vettern gelebt. Sie hatten keinen Erfolg im Leben, und daraus hatte sich Menmas eigene untergeordnete Lebensstellung ergeben. Menma war neidisch und verbittert und mit seinem Schicksal unzufrieden.

Dennoch erhob er sich automatisch in der Dunkelheit des frühen Morgens und zog sich an. Er machte sich nie die Mühe, sich zu waschen oder die verfilzte Masse seines schulterlangen roten Haares und seines großen buschigen Bartes zu kämmen. Ein langer Zug aus dem Krug mit corma, dem ekelhaften Met, der immer neben seinem Bett stand, war die ganze Säuberung, die er für den Tag brauchte. Der Gestank seines Körpers und seiner Kleidung verriet allen, die ihm na-he genug kamen, um den üblen Geruch einzuatmen, daß Menma und Sauberkeit nicht zueinander paßten.

Er schlurfte zur Tür seiner Hütte und spähte hinauf zum dunklen Himmel. Der Donner grollte noch, aber er wußte instinktiv, daß es an dem Tag im Tal nicht regnen würde. Das Gewitter zog auf der anderen Seite der Berge von Osten nach Westen, also parallel zum Tal von Araglin. Es würde nicht nach Norden über die Berge gelangen. Nein, der Tag würde trocken bleiben, wenn auch bewölkt und kühl. Die Wolken verdeckten die Sterne, so daß er die Zeit nicht genau bestimmen konnte, doch er ahnte mehr als er es sah, daß die blasse Linie der Morgendämmerung nur knapp hinter den Gipfeln der Berge im Osten lag.

Der rath des Fürsten von Araglin ruhte noch still in der Dunkelheit. Es war nur ein unbefestigtes Dorf, doch die Höflichkeit gebot, den Sitz eines Fürsten als rath oder Burg zu bezeichnen.

Menma stand in der Tür und begann nun leise den Tag selbst zu verfluchen. Es ärgerte ihn, daß alle noch schlafen konnten, er aber als erster aufstehen mußte. Als er mit dem Tag fertig war, konnte er immer noch über das ganze Araglin herziehen und tat das mit dem vollen Einsatz seines bescheidenen Vokabulars.

Er wandte sich kurz zurück in seine Hütte und blies die Kerze aus, dann schlurfte er den Weg entlang, der zwischen den friedlichen Gebäuden zu den Ställen des Fürsten führte. Dazu brauchte er keine Kerze, denn diesen Weg war er oft genug gegangen. Seine erste Aufgabe war es, die Pferde auf die Weide zu treiben, die Jagdhunde des Fürsten zu füttern und dann das Melken der Kühe des Fürsten zu beaufsichtigen. Wenn die Pferde auf der Weide und die Hunde gefüttert waren, dann wurden die Frauen in der Wirtschaft wach und kamen zum Melken. Das war keine Männerarbeit, und Menma ließ sich nicht dazu herab. Aber kürzlich waren in dem Tal Rinder geraubt worden, und Fürst Eber hatte ihn angewiesen, vor jedem Melken die Herde zu kontrollieren. Es kränkte die Ehre eines Fürsten, wenn jemand es wagte, auch nur ein Kalb aus seiner Herde zu stehlen, und Eber war außerdem wütend darüber, daß Rinderdiebe den Frieden seines Landes störten. Seine Krieger hatten die ganze Gegend nach den Räubern abgesucht, doch ohne Erfolg.

Menma näherte sich der mächtigen dunklen Festhalle, einem der wenigen großen Steingebäude innerhalb des alten rath. Das andere steinerne Gebäude war Pater Gormans Kapelle. Die Ställe lagen auf der anderen Seite des Runddorfs gleich hinter dem Gästehaus. Menma mußte dorthin im Halbkreis hinter den hölzernen Anbauten an der steinernen Halle entlanggehen, in denen sich die Privatzimmer des Fürsten und seiner Familie befanden. Menma blickte sie neiderfüllt an. Eber würde noch den ganzen Morgen schnarchend im Bett liegen.

Menmas Bart verbarg sein lüsternes Grinsen. Er fragte sich, ob wohl in dieser Nacht jemand Ebers Lager teilte. Dann runzelte er ärgerlich die Stirn. Warum Eber und nicht er selbst? Was war so Besonderes an

Eber, daß er Reichtum und Macht besaß und Frauen in sein Bett locken konnte? Welches Schicksal hatte ihn selbst zum Pferdewärter bestimmt? Warum ...?

Plötzlich blieb er stehen und hielt den Kopf schief.

Die Dunkelheit schien ohne jeden Laut. Der rath lag noch im Schlummer. Von hoch oben in den Bergen durchbrach das langgezogene Heulen eines Wolfs die Stille. Doch das war es nicht, was ihn den Schritt verhalten ließ. Es war ein anderes Geräusch. Ein Ton, den er nicht einordnen konnte.

Er wartete einen Moment, aber es blieb still. Er wollte das nur halb vernommene Geräusch schon als ein Spiel des Windes abtun, als er es wieder hörte.

Ein leises, klagendes Stöhnen.

War das wirklich der Wind?

Menma bekreuzigte sich plötzlich und erschauerte. Gott wende alles Übel von mir ab! War es etwa einer von denen, die im Berge wohnten? Von den sidh-Leuten, den Zwergen, die nach Seelen suchten und sie in ihre dunklen Höhlen schleppten?

Da ertönte ein plötzlicher Schrei, nicht laut, aber durchdringend genug, um Menma zusammenfahren zu lassen. Sein Herz schlug schneller. Dann hörte er wieder das leise Stöhnen, diesmal etwas lauter und länger.

Menma schaute sich um. Nichts regte sich zwischen den dunklen Schatten der Gebäude. Niemand anders schien den Laut vernommen zu haben. Er versuchte ihn zu orten. Er kam aus der Richtung von Ebers Zimmern. Er klang zwar geisterhaft, doch Menma erkannte nun, daß es eine Menschenstimme war. Erleichtert atmete er auf, denn so grob seine Sicht auf die Welt auch war, er hielt es nicht für geraten, sich mit den szdh-Leuten anzulegen, wenn sie darauf ausgingen, Seelen zu stehlen. Rasch sah er sich um. Das Gebäude schien dunkel und still. War Eber krank? Unschlüssig runzelte er die Stirn. Eber war sein Fürst, und was auch kam, Menma hatte eine Verpflichtung gegenüber seinem Fürsten. Diese Verpflichtung ließ ihn selbst seine Verbitterung nicht vergessen.

Vorsichtig ging er zur Tür von Ebers Wohnung und klopfte leicht an.

»Eber? Bist du krank? Brauchst du Hilfe?« rief er leise.

Es kam keine Antwort. Er klopfte noch einmal an, diesmal etwas stärker. Als er wieder keine Antwort erhielt, nahm er seinen Mut zusammen und hob die Klinke an. Die Tür war nicht verschlossen, was er auch erwartet hatte. Niemand verschloß seine Tür im rath des Fürsten von Araglin. Er trat ein. Ohne Mühe gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Das Zimmer war leer. Er wußte, daß Ebers Wohnung aus zwei Zimmern bestand. Das erste, in dem er sich befand, hieß das »Gesprächszimmer« und war das private Empfangszimmer des Fürsten, in dem er besondere Gäste vertraulich bewirtete, fern von der Öffentlichkeit der Festhalle. Dahinter lag das Schlafzimmer des Fürsten.

Nachdem Menma festgestellt hatte, daß das erste Zimmer leer war, wandte er sich dem zweiten zu.

Sogleich bemerkte er einen Lichtstreifen unter der Tür. Dann fiel ihm ein anschwellendes Stöhnen auf, das aus dem Zimmer drang.

»Eber!« rief er laut. »Fehlt dir etwas? Ich bin’s, Menma der Pferdewärter.«

Es kam keine Antwort, und das Stöhnen wurde nicht leiser.

Er ging zur Tür und klopfte heftig an.

Nach kurzem Zögern trat er ein.

Auf dem Tisch brannte eine kleine Lampe. Menma blinzelte rasch, um die Augen an das Licht zu gewöhnen. Er spürte, daß jemand zusammengekauert neben dem Bett hockte, hin und her schaukelte und wimmerte. Das war das Stöhnen, das er vernommen hatte. Er bemerkte dunkle Flecken auf der Kleidung der Gestalt. Dann weiteten sich seine Augen. Es waren Blutflecke, und etwas blinkte und funkelte im Lampenlicht, etwas in den Händen der Gestalt. Es war ein langes Messer.

Einen Augenblick stand Menma unbeweglich da, gebannt von dem Anblick.

Dann erkannte er eine zweite Gestalt in dem Zimmer. Jemand lag auf dem Bett, neben dem die stöhnende Gestalt kniete.

Menma trat einen Schritt vor.

Auf dem Bett, nackt bis auf die verrutschte Zudek-ke, lag der blutverschmierte Leichnam des Fürsten Eber. Eine Hand ruhte locker hinter dem Kopf. Die Augen waren starr und weit offen und wirkten in dem flackernden Lampenlicht wie lebendig. Die Brust war voller blutiger Wunden. Menma hatte oft genug das Schlachten von Tieren gesehen und erkannte sofort die Wunden von Messerstichen. Jemand mußte voller Wut das Messer immer wieder in die Brust des Fürsten von Araglin gestoßen haben.

Menma hob die Hand, um sich zu bekreuzigen, ließ sie aber sofort wieder sinken.

»Ist er tot?« fragte er mit hohler Stimme.

Die Gestalt neben dem Bett wiegte sich weiter hin und her und stöhnte. Sie blickte nicht auf.

Menma trat noch einen Schritt vor und schaute ungerührt auf den Liegenden. Dann ging er dichter heran, ließ sich auf ein Knie nieder und suchte den Puls am Hals des Fürsten. Der Leichnam fühlte sich bereits kalt an. Als er ihm nun näher in die Augen schaute und das Lampenlicht ihn nicht mehr täuschte, sah er, daß sie starr und glasig waren.

Menma richtete sich auf und starrte angeekelt auf das Bett. Er zögerte und spürte, daß er sichergehen mußte, daß Eber tot war. Er hob den Fuß und stieß die Leiche mit den Zehen an. Keine Reaktion. Dann holte er aus und trat dem Leichnam kräftig in die Seite. Nein, er hatte sich nicht getäuscht. Fürst Eber war tot.

Menma wandte den Blick auf die immer noch stöhnende Gestalt, die das Messer umklammerte. Er stieß ein rauhes Lachen aus. Plötzlich wurde ihm klar, daß er, der Pferdewärter Menma, so reich und mächtig werden würde wie die Vettern, die er sein ganzes Leben lang beneidet hatte.

Er kicherte noch vor sich hin, als er die Wohnung des Fürsten verließ und sich auf die Suche nach Du-ban machte, dem Kommandeur von Ebers Leibwache.

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