Kapitel 19

Nachdem Fidelma im Stall ihr Pferd abgesattelt und versorgt hatte, verließ sie Duban und eilte zum Gästehaus.

Gadra erwartete sie an der Tür. Sie versuchte seiner ernsten Miene zu entnehmen, wie es Eadulf ging.

»Ich glaube, er hat das Schlimmste überstanden«, begrüßte er sie.

Fidelma schloß die Augen, schwankte einen Moment leicht und stieß dann einen tiefen Seufzer aus.

Gadra ignorierte das und fuhr fort: »Er schläft jetzt. Krankheit und Fieber hat er hinter sich gelassen. Ich glaube, dein Gott hat dich rechtzeitig zu mir geschickt, so konnte ich ihm meine Arznei im Anfangsstadium geben. Es ist uns gelungen, das Gift aus ihm auszutreiben.«

»Wird er ganz gesund?« fragte sie.

»Ich glaube, ja. Aber nun braucht er Ruhe.« »Kann ich ihn sehen?«

»Weck ihn nicht auf. Der Schlaf ist immer ein großer Heiler.«

»Ich lasse ihn schlafen.«

Gadra trat beiseite, und sie ging ins Gästehaus. Ea-dulf lag auf dem Rücken auf seiner Matratze. Sein Gesicht war bleich, aber gelöst im natürlichen Schlaf der Erschöpfung. Fidelma trat an sein Bett, kniete nieder und berührte mit ihrer schmalen Hand sanft seine Stirn. Sie war noch ziemlich heiß, wahrscheinlich hatte das Fieber gerade erst nachgelassen. Ein zärtliches Gefühl für den Angelsachsen, das sie nicht genau erklären konnte, durchströmte sie. Sie war nahe daran gewesen, ihn zu verlieren. Sie schloß die Augen und sprach ein stummes Dankgebet.

Dann erhob sie sich und ging zu Gadra in den Hauptraum des Gästehauses.

»Wie kann ich dir jemals danken?«

Der Alte musterte sie mit seinen blassen Greisen-augen.

»Grella hat mir viel geholfen. Ich habe sie eben erst zu Bett geschickt. Sag ihr deinen Dank.«

»Aber ohne dich ...«, wandte Fidelma ein.

»Wenn du mir danken willst, dann sorge dafür, daß sich an diesem Ort die Wahrheit durchsetzt.«

Fidelma neigte leicht den Kopf.

»Ich bin der Wahrheit nahe, Alter. Die Antwort auf eine Frage kann mich ihr noch näher bringen. War Tomnat Moens Mutter?«

Gadras Miene blieb undurchdringlich.

»Du hast wahrlich einen scharfen Verstand, mein Kind.«

Fidelma gestattete sich ein Lächeln.

»Dann wird sich die Wahrheit durchsetzen.«

Als Gadra gegangen war, suchte Fidelma das fial-tech auf, um sich zu waschen und auf die Nachtruhe vorzubereiten.

Der morgige Tag würde bewegt werden.

Fidelma war allein im Wald.

Sie war allein und hatte Angst.

Zwischen den Bäumen schlichen geheimnisvolle Gestalten umher, im Unterholz raschelte und knisterte es. Es war stockdunkel.

Sie rief. Sie wußte nicht genau, nach wem sie rief. Nach ihrem Vater? Ja, nach ihm rief sie wohl. Er hatte sie in den Wald gebracht und dann verlassen. Sie war ein Kind. Allein und verlassen im Wald.

Irgendwie sagte ihr der Verstand, daß das nicht so sein konnte. Ihr Vater war gestorben, als sie noch ein Baby war. Warum sollte er sie hierherbringen und sie dann verlassen?

Sie stolperte weiter durch die bedrohliche Finsternis des Waldes. Sie bahnte sich einen Weg. Doch die Bäume schienen immer dichter zu werden, je weiter sie ging. Schließlich kam sie gar nicht mehr voran, blieb stehen und schaute nach oben.

Es war seltsam, wie sehr die Stämme der Bäume den Stielen von Pilzen ähnelten, riesigen Pilzen, die über ihr aufragten.

Die drohenden Gestalten kamen immer näher.

Sie schrie auf.

Dann wurde ihr klar, daß es nicht ihr Vater war, der sie hierhergebracht und dann verlassen hatte.

Es war Eadulf, nach dem sie rief.

Eadulf!

Sie beugte sich vor, streckte eine Hand aus .

Sie stöhnte, als helles funkelndes Sonnenlicht in ihre offenen Augen fiel.

Sie saß in ihrem Bett, beugte sich vor und hielt eine Hand ausgestreckt.

Sie blinzelte und bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen.

Es war heller Morgen, und sie saß in ihrem Bett im Gästehaus.

Sie vernahm eine Bewegung in der benachbarten Schlafkammer.

Sie sprang aus dem Bett und zog sich ihr Gewand über.

Gadra saß draußen. Er lächelte, als sie zu ihm trat.

»Ein guter Morgen, Schwester.«

»Ist er wirklich gut?« erkundigte sie sich und schaute auf Eadulfs Schlafkammer.

Der Alte nickte feierlich.

»Das ist er.«

Fidelma ging sofort hinein. Eadulf lag still da, hatte aber die Augen geöffnet. Sein Gesicht war noch blaß, und um die Mundwinkel zogen sich kleine Schmerzfalten. Doch die dunklen Augen blickten klar und ruhig.

»Fidelma!« begrüßte er sie mit schwacher Stimme. »Ich dachte schon, ich sähe den Morgen nicht mehr.«

Sie kniete an seinem Bett und lächelte beruhigend.

»So leicht solltest du nicht am Leben verzagen, Ea-dulf.«

»Es war ein harter Kampf«, gestand er. »Ich möchte ihn nicht noch einmal führen.«

»Dignait ist tot«, teilte sie ihm mit.

Eadulf schloß einen Moment die Augen.

»Dignait? War sie schuld an meiner Vergiftung?«

»Anscheinend wußte Dignait, wer die Giftpilze hinzugetan hatte.«

»Wer hat dann Dignait umgebracht?«

»Ich glaube, ich weiß es. Aber vorher muß ich noch die Antworten auf ein paar andere Fragen herausbekommen.«

»Wo hat man Dignait gefunden? Ich dachte, sie wäre aus dem rath verschwunden?«

»In einer unterirdischen Kammer auf Archüs Hof.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Zur Mittagsstunde rufe ich alle in der Festhalle zusammen, und dann werde ich den Mörder entlarven.«

Eadulf lächelte grimmig.

»Bis dahin habe ich mich sicher so weit erholt, daß ich auch kommen kann«, verkündete er.

Sie schüttelte den Kopf.

»Du bleibst hier bei Grella, bis du gesund bist.«

Daß Eadulf nicht widersprach, bewies, wie schwach er noch war.

»Willst du damit sagen, daß alle Morde von ein und derselben Person verübt wurden?«

»Ich gehe zumindest davon aus, daß eine einzige Person für alle Morde verantwortlich ist«, antwortete sie ausweichend.

»Wer?«

Fidelma lachte leise.

»Werde gesund, Eadulf. Ich sage es dir, sobald ich meiner Sache sicher bin.«

Sie nahm seine Hand und drückte sie.

Draußen verkostete Gadra gerade eine Kräuterbrühe für Eadulf, die Grella aus der Küche gebracht hatte. In Fidelmas Gegenwart wirkte Grella noch immer befangen, doch Fidelma lächelte ihr ermutigend zu und dankte ihr für alles, was sie getan hatte.

Grella knickste aufgeregt.

»Ich bringe dir jetzt das Frühstück, Schwester.«

Während Fidelma sich wusch, wurde ihr das Essen aufgetragen. Gadra flößte inzwischen dem nicht eben begeisterten Eadulf die Kräuterbrühe ein. Offenbar war er kein einfacher Patient, denn er beschwerte sich immer wieder laut und vernehmlich, daß die Brühe scheußlich schmecke. Fidelma steckte den Kopf in seine Schlafkammer.

»Schäm dich, Eadulf. Wenn du dich nicht erholst, erzähle ich dir nicht, was sich zur Mittagszeit ereignet.«

Gadra blickte stirnrunzelnd auf.

»Was passiert am Mittag?«

»Ich habe Eadulf erklärt, daß sich am Mittag alle, die irgend etwas mit all den seltsamen Ereignissen zu tun haben, in der Festhalle einfinden werden. Das gilt auch für dich und Moen. Ist Moen wohlauf?«

»Es geht ihm viel besser durch all das, was du für ihn getan hast«, erwiderte Gadra. »Er ist ein gescheiter, sensibler junger Mann, Fidelma. Er verdient eine Chance im Leben. Wir werden kommen.«

Eine halbe Stunde später ging sie zur Kapelle Cill Uird und trat ein. Eine Gestalt kniete vor dem Altar und betete.

»Pater Gorman!«

Der Priester fuhr überrascht herum.

»Du hast mich im Gebet gestört, Schwester Fidelma.« Seine Stimme klang verärgert.

»Ich muß dich dringend sprechen.«

Pater Gorman wandte sich erneut zum Altar, bekreuzigte sich und erhob sich langsam aus seiner knienden Haltung.

»Was ist denn, Schwester?« fragte er mürrisch.

»Ich dachte, du solltest wissen, daß Dignait tot ist.«

Der Priester fuhr sichtlich zusammen, schien aber nicht übermäßig überrascht.

»So viele Todesfälle«, seufzte er.

»Zu viele Todesfälle«, erwiderte Fidelma. »Fünf bereits in diesem lieblichen Tal von Araglin.«

Gorman sah sie unsicher an.

»Fünf?« fragte er.

»Ja. Diesem Morden muß ein Ende gesetzt werden. Wir müssen ihm ein Ende bereiten.«

»Wir?« Pater Gorman schien verblüfft.

»Ich meine, du kannst mir dabei helfen.«

»Was soll ich tun?«

»Du warst Muadnats Seelenfreund, nicht wahr?«

»Ich ziehe die römische Bezeichnung vor - sein Beichtvater. Ich bin übrigens der Beichtvater der meisten Menschen hier in Araglin.«

»Nun gut. Wie du deine Rolle auch nennst, ich möchte wissen, ob Muadnat dir jemals etwas von Gold erzählt hat.«

»Verlangst du von mir, das heilige Beichtgeheimnis zu brechen?« donnerte Pater Gorman.

»Das ist ein Geheimnis, das ich nicht anerkenne, aber ich respektiere dein Recht, daran zu glauben. Ich möchte dir ein paar Fragen stellen. Dignait hat hier viele Jahre lang Dienst getan, stimmt das?«

»Dignait? Ich dachte, du wolltest mich etwas über Muadnat fragen?«

»Befassen wir uns erst mal mit Dignait. Sie war hier, seit Cranat herkam, um Eber zu heiraten, nicht wahr?«

»Das stimmt.«

»Hast du bemerkt, wem ihre Anhänglichkeit galt?«

»Nun, dem Fürstenhaus von Araglin.«

»Nicht einer einzelnen Person? Cranat zum Beispiel?«

Pater Gorman zögerte und sah verlegen drein.

»Und war es nicht so, daß Dignait Eber haßte?« drängte ihn Fidelma.

»Haßte?« Pater Gorman schüttelte den Kopf. »Sie achtete ihn nicht, aber das ist noch kein Haß. Sie stand Cron näher als ihrer Mutter und tat alles für sie.« »Sie tat alles für Cron?« wiederholte Fidelma nachdenklich.

»Das ist kein Verbrechen«, bemerkte Gorman.

»Nein. Das ist an sich kein Verbrechen.« Sie hielt inne. »Du magst Duban nicht, oder?«

Die Frage kam plötzlich.

Pater Gorman nahm sie übel.

»Was hat das, was ich mag oder nicht mag, mit dieser Angelegenheit zu tun?« wollte er wissen.

»Nichts weiter«, gab sie zu. »Ich habe gesehen, wie du dich mit ihm gestritten hast. Da habe ich mich einfach gefragt, warum du ihn nicht magst.«

»Er ist sehr ehrgeizig. Ich glaube, er möchte Fürst von Araglin werden. Weißt du, daß er versucht, Cron zu umgarnen?«

»Umgarnen? Das ist ein merkwürdiger Ausdruck. Verlocken, betören oder täuschen. Ist es das, was du meinst?«

Pater Gorman schob das Kinn vor.

»Beobachte doch ihr Verhältnis selbst.«

»Das habe ich bereits getan.«

»Cranat tut mir leid. Sie war die Frau eines Fürsten ohne moralische Bedenken und ist die Mutter einer jungen Frau, deren Unschuld sie blind macht für den Ehrgeiz eines Mannes, der so alt ist, daß er ihr Vater sein könnte.«

»Ich erinnere mich, daß du Eber auch haßtest.«

»Es stimmt, daß ich ihn kaum ertragen konnte. Eber war ein Sünder vor Gott und den Menschen. Es gibt keine Vergebung für solch einen Mann, der gegen die Gesetze der Menschen und seines Gottes verstoßen hat.«

»Als Priester solltest du Nachsicht üben. Statt dessen spüre ich großen Haß in dir. Es ist deine Aufgabe zu vergeben. Schrieb nicht Paulus im Brief an die Epheser: >Seid aber untereinander freundlich, herzlich und vergebet einer dem andern, gleichwie Gott euch vergeben hat in Christo

Pater Gorman starrte sie einen Moment an. Dann verzerrte sich sein Gesicht vor Zorn.

»Du hättest in diesem Brief an die Epheser weiterlesen sollen. Paulus sagt da: >Denn das sollt ihr wissen, daß kein Hurer oder Unreiner oder Geiziger, welcher ist ein Götzendiener, Erbe hat in dem Reich Christi und Gottes.< Eber wird keinen Anteil am ewigen Leben haben.«

»Weil er mit seinen eigenen Schwestern schlief oder noch Schlimmeres tat?«

»Ich sage nur, daß die Welt ohne Eber von Araglin besser dran ist. Je eher dieses Tal vom Übel gereinigt wird, desto besser.«

»Also ist es in deinen Augen noch nicht gereinigt? Wußtest du, daß Muadnat ein Goldbergwerk besaß?«

Pater Gorman biß sich auf die Lippen. »Was weißt du darüber?«

»Das wirst du noch erfahren. Sei um Mittag in der Festhalle.«

Fidelma verließ die Kapelle so plötzlich, wie sie ge-kommen war, und Pater Gorman stand reglos da und starrte ihr nach. Dann eilte er in die Sakristei.

Draußen traf Fidelma auf Cron.

»Wie geht es Bruder Eadulf heute?« fragte die Ta-nist mit ernster Miene.

»Recht gut, Gott sei Dank«, antwortete Fidelma.

»Ich sprach heute morgen mit Duban«, fuhr Cron etwas verlegen fort. »Er sagt, du bist nahe daran, zu entdecken, wer soviel Elend über die Menschen in diesem Tal gebracht hat?«

»Ja, möglich. Ich möchte dich bitten, mir heute mittag die Benutzung der Festhalle zu gestatten. Ich ersuche alle Beteiligten, sich dort einzufinden, damit ich ihnen die Namen derer nennen kann, die für das Blutvergießen in diesem Tal verantwortlich sind.«

»Dann weißt du also, wer Eber und Teafa getötet hat?«

»Ich glaube es zu wissen.«

»Du glaubst es?« Cron schaute sie zweifelnd an.

»Heute mittag werde ich meine Theorie begründen«, sagte Fidelma, und es klang fast fröhlich. »Würdest du deine Mutter bitten, auch zu erscheinen? Sie wird doch sicher hören wollen, wer den Mord an ihrem Gatten verübt hat?«

»Das werde ich tun«, stimmte die Tanist zu.

Fidelma ging weiter, ohne sich darum zu kümmern, daß Cron ihr neugierig nachschaute.

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