Kapitel 14

Als Fidelma aus dem Fenster des Gästehauses sah, erblickte sie einen Reiter, der durch das Tor des rath von Araglin hereinstürmte. Es war am Morgen, und sie und Eadulf hatten gerade ihr Frühstück beendet. Sie waren am vorigen Abend spät in den rath zurückgekehrt. Als sie Muadnats Hof verließen, hatte Duban entschieden, noch einen zweiten Mann zum Schutz auf Archüs Hof zu schicken. Er war jedoch überzeugt, daß Banditen für den Überfall verantwortlich seien. Als Fidelma und Eadulf sich zum Frühstück niedersetzten, hatten sie gesehen, wie Duban mit einer Kriegerschar aus dem Tor ritt, und angenommen, daß er weiter nach den Räubern suchen wollte.

Daß Eadulf auf dem Weg hinter Muadnats Gehöft eine Reiterin gesehen hatte, hatten sie auf Fidelmas Drängen für sich behalten. Als Fidelma Eadulf gefragt hatte, woran er Cron denn auf diese Entfernung erkannt habe, hatte Eadulf gesagt, an dem bunten Mantel, den sie in der Festhalle getragen hatte.

Zu ihrer Überraschung war der Reiter, der jetzt in den rath preschte, Muadnats Neffe Agdae. Er sprang ab und rannte zur Festhalle.

»Was ist denn nun schon wieder los?« fragte Eadulf mürrisch.

Mit gelassener Miene kehrte Fidelma an den Frühstückstisch zurück.

»Ich habe das Gefühl, daß wir das sehr bald erfahren werden.«

Wirklich verstrichen nur wenige Augenblicke, bis Dignait eintrat und sie zu Cron in die Festhalle bat. Die junge Tanist empfing sie mit düsterer Miene.

»Es geht um Muadnat«, verkündete sie.

»Vermutlich beschuldigt unser streitsüchtiger Freund nun Archü, seinen eigenen Pferdestall niedergebrannt zu haben. Oder was ist diesmal geschehen?« fragte Fidelma ärgerlich.

»Es könnte schon sein, daß Archü eines schweren Verbrechens beschuldigt wird, Fidelma«, erwiderte Cron. »Aber diesmal kommt die Anklage nicht von Muadnat.«

»Ich glaube, du solltest uns das näher erklären«, meinte Fidelma sanft.

»Muadnat wurde tot aufgefunden. Er hängt an dem hohen Steinkreuz von Eoghan am Weg nach Araglin.«

Fidelmas Augen weiteten sich. Sie erinnerte sich, daß Eadulf das Kreuz bewundert hatte, als sie ins Tal von Araglin kamen.

»Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, steht das hohe Kreuz nicht an dem Weg zu Muadnats Hof, sondern an dem Weg, auf dem man aus der entgegengesetzten Richtung ins Tal gelangt. Wer hat die Leiche entdeckt?«

»Agdae. Die Wiese oberhalb des Kreuzes gehört ihm. Agdae sagte, Muadnat habe gestern den Hof verlassen, um zur Jagd zu gehen. Erst heute morgen bemerkte Agdae, daß Muadnat nicht nach Hause gekommen war. Er machte sich auf die Suche nach ihm und fand ihn tot am hohen Kreuz hängen. Muadnat jagte oft in den Bergen dahinter. Agdae kam her, um Hilfe zu holen, und ist jetzt mit ein paar Männern auf dem Wege dorthin.«

»Sicherlich hat dir Duban von unserem gestrigen Besuch auf Muadnats Hof berichtet?« sagte Fidelma.

Cron nickte.

»Da ist es Agdae anscheinend nicht eingefallen, uns ans Steinkreuz zu schicken, als wir nach Muadnat suchten.«

»Ist das wichtig?«

»Das wird sich herausstellen. Als wir Agdae gestern nach Muadnat fragten, wußte er angeblich nicht, wo der zu finden wäre. Doch als er sich heute morgen um Muadnat Sorgen machte, weil der nicht zurück war, wußte er genau, wo er ihn zu suchen hatte.«

»Nun, Agdae beschuldigt bereits Archü dieses Mordes.«

»Mit welcher Begründung?«

»Archü ist als einziger in Araglin mit Muadnat verfeindet. Er sagt, daß Archü durch dich Muadnat die Schuld an dem Überfall auf seinen Hof gestern gab.«

»Das stimmt nicht ganz.« Fidelma wandte sich an Eadulf. »Wir sollten lieber zu dem Kreuz reiten und uns selbst kundig machen.«

Er stimmte ihr zu und fragte Cron: »Wie lange wird es dauern, bis Duban zurückkommt? Es könnte sein, daß wir ihn brauchen, um Archü vor Agdaes wilden Beschuldigungen zu schützen.«

»Warum verbringt ihr eure Zeit mit dieser Angelegenheit?« fragte Cron verärgert. »Sie hat nichts mit dem Tod meines Vaters Eber oder mit Teafas Tod zu tun. Ihr solltet euch lieber damit befassen, den Mörder zu ermitteln, wenn es, wie ihr jetzt wohl behauptet, nicht Moen ist ... obwohl ich glaube, daß es großer Überredungskunst bedarf, um die Bewohner von Araglin von seiner Unschuld zu überzeugen.«

»Ich finde, daß es besser ist, für alles offen zu sein, wenn man eine Untersuchung durchführt«, entgegne-te Fidelma heftig. »Es gibt viel Heimlichtuerei in Ara-glin. Man hat mir Dinge erzählt, die nicht wahr sind. Ich weiß nicht, ob der Tod Muadnats etwas mit der Ermordung Ebers und Teafas zu tun hat. Wenn du es besser weißt, würdest du dann bitte dein Wissen mit mir teilen?«

Cron hatte Mühe, ihre Miene zu beherrschen, und Fidelma beobachtete mit Befriedigung, daß Unsicherheit und sogar Furcht sich in ihr spiegelten. Nach einem kurzen Moment hatte sie ihre Gefühle wieder unter Kontrolle.

»Nein, ich verfüge nicht über solche Erkenntnisse. Ich habe nur eine Bemerkung gemacht, die ich für logisch halte. Wenn ihr zu dem hohen Kreuz reiten müßt, dann tut es nur. Aber ich meine, eure Untersuchung dieser Angelegenheit dauert schon reichlich lange und hat bisher zu keinem Ergebnis geführt.«

»Sie dauert so lange wie nötig«, erwiderte Fidelma entschieden. »Die Leute müssen Geduld haben.«

»Agdae hat vielleicht keine Geduld. Er hat geschworen, Archü zu suchen und Rache zu nehmen.«

Fidelma sah Cron durchdringend an.

»Dann würde ich dir raten, Duban zu holen und ihn Agdae festsetzen zu lassen, wenn du nicht willst, daß auf eine Ungerechtigkeit eine weitere folgt. Vielleicht sollte man Archü und Scoth zu ihrem eigenen Schutz in den rath bringen, bis ich die Angelegenheit geklärt habe.«

»Agdae war mit Muadnat verwandt, wie ich auch. Er wird es nicht dulden, daß der Mörder seiner gerechten Strafe entgeht«, sagte Cron kühl.

»Dann«, erwiderte Fidelma ebenso eisig, »müssen wir dafür sorgen, daß der Mörder oder die Mörderin gefunden wird, wer es auch sein mag.«

Sie schritt rasch aus der Festhalle, gefolgt von Ea-dulf. Kurz darauf ritten sie in scharfem Trab dem hohen Kreuz zu.

Critan war schon dort mit zwei stämmigen Männern, dem Anschein nach Landarbeitern. In der Nähe stand ein Esel, dem man offensichtlich die Leiche Mu-adnats aufladen wollte. Sie bereiteten sich gerade darauf vor, die Leiche vom Kreuz herunterzuholen. Mu-adnat hing an einem Seil um den Hals, das man um den Querbalken des Granitkreuzes geschlungen hatte. Seine Füße befanden sich nur wenige Zoll über dem Erdboden. Fidelma sah sofort die Blutflecke auf seinem Hemd, die davon zeugten, daß man ihm schwere Verletzungen zugefügt hatte, als er noch lebte.

Der eine Landarbeiter, der gerade eine Leiter an die Rückseite des Kreuzes stellen wollte, bemerkte plötzlich das Herannahen der beiden Reiter, hielt inne und sagte leise etwas zu seinen beiden Gefährten. Sie drehten sich um und sahen Fidelma und Eadulf feindselig an.

Critän trat ihnen hochmütig entgegen.

»Ihr seid hier nicht willkommen«, begrüßte er sie.

Ungerührt parierte Fidelma ihr Pferd und stieg ab.

»Wir haben auch nicht um ein Willkommen gebeten«, antwortete sie ruhig.

Eadulf saß ebenfalls ab und band sein Pferd mit Fi-delmas zusammen.

Critän stand mit den Händen in den Hüften da. Er starrte Fidelma wütend an. Er würde es ihr nie verzeihen, daß sie ihn gedemütigt hatte. Jetzt ließ er seinem Zorn freien Lauf.

»Es wäre besser, wenn du verschwindest, Frau. Zweimal hast du Archü bei seiner Fehde gegen Mu-adnat geholfen. Jetzt siehst du, wohin das geführt hat. Diesmal kommt Archü wieder davon. Es wird dir auch nicht gelingen, dieses Teufelsgeschöpf freizubekommen, nachdem es Eber und Teafa ermordet hat.« Sein Ton war so drohend wie seine Worte.

Fidelma stand anscheinend unbesorgt da, die Hände sittsam vor sich gefaltet, sie lächelte den jungen Mann sogar an.

»Ich bin Anwältin bei den Gerichten der fünf Königreiche, Critän«, sagte sie freundlich. »Wagst du es, mich zu bedrohen?«

Arroganz und Unerfahrenheit verdrängten sogar Critans angeborene Verschlagenheit. Er schob das Kinn vor.

»Hier ist Araglin, Frau. Hier hast du weder den Schutz deiner Kirche noch den der Krieger deines Bruders.«

Beunruhigt sah er, wie Fidelma noch breiter lächelte.

»Ich brauche sie nicht, um mich hier durchzusetzen«, erwiderte sie.

Die beiden Landarbeiter standen unschlüssig da und überließen Critan das Reden. Der mit der Leiter schien zu begreifen, daß der junge Krieger mit seinen Drohungen wohl zu weit gegangen war. Er setzte die Leiter ab und trat vor.

»Es stimmt, daß du hier nicht erwünscht bist, Schwester«, sagte er in etwas respektvollerem Ton. »Unser Verwandter«, er wies mit dem Daumen über die Schulter zum Kreuz, »ist ermordet worden, und wir wissen, wer dafür zu bezahlen hat. Du solltest dich um deine eigenen Dinge kümmern.«

»Ihr habt euch anscheinend schon entschieden, wen ihr für Muadnats Tod bestrafen wollt, ob er nun schuldig ist oder nicht«, bemerkte Eadulf trocken. »Wäre es nicht besser, damit zu warten, bis der wahre Schuldige gefunden ist?«

»Niemand hat dir gesagt, daß du dich hier einmischen sollst, Angelsachse«, fuhr ihn Critan an. »Jetzt haut ab, alle beide. Ich kann euch nur warnen.«

Fidelmas Mundwinkel zogen sich zu einer fast wehmütigen Miene herab. Das war immer ein gefährliches Zeichen, doch nur Eadulf wußte es. Sie hatte bemerkt, daß der junge Mann seine Worte mühsam wählte, sein Gesicht gerötet war, seine Augen glänzten und seine Gesten fahrig waren. Bei näherem Hinsehen war ihr klar geworden, daß er sich an diesem Morgen Mut angetrunken hatte.

»Ich will dein schlechtes Benehmen übersehen, Critan, und diesmal noch deine Jugend und deine Unerfahrenheit berücksichtigen. Jetzt möchte ich Muad-nats Leiche untersuchen, und ich tue das kraft meines Amtes.«

Mit drohenden Worten hatte Critan nichts erreicht, und das verblüffte ihn. Hilfesuchend sah er die beiden Landarbeiter an. Sie schauten verlegen zu Boden. Critan merkte, daß er sich erneut vor anderen blamierte.

»Dies sind Verwandte Muadnats«, erklärte er störrisch. »Wir werden dir nicht gestatten, das Gesetz zu verdrehen, damit Archü unserer Gerechtigkeit entgeht.«

»Sind sie denn Zeugen des Mordes gewesen?« fragte Fidelma und zeigte plötzlich mit dem Finger auf den, der etwas vernünftiger mit ihr gesprochen hatte: »Du da, hast du gesehen, wie Archü Muadnat umbrachte?«

Der Mann wurde rot.

»Nein, natürlich nicht, aber ...«

»Und du?« fuhr Fidelma den zweiten Mann an.

»Wer sonst als Archü würde so was machen?« erwiderte er trotzig.

»Wer sonst? Verlangt nicht das Gesetz, das zu untersuchen, bevor ihr Rache nehmt an einem, der vielleicht unschuldig ist?«

Critan mischte sich mit höhnischem Lachen ein.

»Du kannst gut mit Worten umgehen, Frau. Aber wir haben jetzt genug von Worten. Verschwinde von hier, ehe ich dir Beine mache.« Er legte die Hand ans Schwert. Die Geste war eindeutig.

Eadulf, rot vor Zorn, trat entschlossen vor, doch Fidelma hielt ihn energisch zurück.

»Willst du eine Frau bedrohen?« fragte er grollend. »Gar noch eine Nonne?«

Critan hatte bereits das Schwert gezogen. Sein Gesicht war gerötet, seine Augen glänzten.

»Bleib stehen, Eadulf«, warnte Fidelma.

Der eine Landarbeiter, der etwas vernünftiger zu sein schien, betrachtete Critan unruhig. Eine Drohung mit Worten war eine Sache, aber ein tätlicher Angriff auf eine Nonne und eine Anwältin dazu, das war ihm zuviel.

»Vielleicht sollten wir sie doch die Leiche untersuchen lassen«, meinte er schüchtern.

Die Vorstellung, vor dieser Frau das Gesicht zu verlieren, machte den arroganten jungen Mann noch störrischer.

»Ich sage, was hier getan wird«, beharrte er beinahe weinerlich.

»Critan«, erwiderte der andere unsicher, »sie ist nicht nur eine Nonne, sondern .«

»Sie ist die, deren falsche Schlangenzunge Archü erlaubte, sich das zu nehmen, was Muadnat gehörte. Sie ist auch für seinen Tod verantwortlich!«

»Critan!« Fidelma sprach leise, aber deutlich. »Steck dein Schwert ein, geh zum rath und schlaf deinen Rausch aus. Deine Unhöflichkeit werde ich übersehen.«

Der junge Mann zitterte nun beinahe vor Wut.

»Wenn du ein Krieger wärst ...«, stammelte er.

Fidelmas Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Wenn du mir mit körperlicher Gewalt drohen willst, dann laß dich dadurch nicht daran hindern.«

»Critan«, rief der Mann, der die Leiter hatte an das Kreuz stellen wollen. Doch der hob das Schwert und machte einen Schritt nach vorn.

Fidelma winkte ihm zu schweigen und allen, etwas zurückzutreten. Eadulf sah den Zorn auf ihrer Stirn. Er beobachtete, wie sie sich leicht breitbeinig hinstellte und die Arme locker herabhängen ließ. Ihre Stimme wurde leise und zischend.

»Knabe! Jetzt bist du zu weit gegangen. Deine Jugend und deine Trunkenheit sind keine Entschuldigung mehr. Wenn du dein Schwert gebrauchen willst, dann tu es doch. Selbst eine vom Alter gebeugte Frau wird mit einem kleinen Kind wie dir fertig.«

Die eiskalt gesprochenen Worte taten die beabsichtigte Wirkung.

Critan heulte auf vor Wut. Mit erhobenem Schwert rannte er an. Fidelma stand einfach da und erwartete seinen Angriff. Eadulf schwankte, ob er vorspringen und sich schützend vor sie stellen sollte oder stehen-bleiben, weil er ahnte, was kommen würde. Er hatte in Rom gesehen, wie Fidelma ihr ungewöhnliches Können bewies. Sie war eine Meisterin in der Kunst, die sie troid-sciathagid nannte, Selbstverteidigung. Sie erklärte ihm, daß die irischen Mönche und Nonnen weit reisten, um den neuen Glauben zu predigen, oft allein und unbewaffnet. Da sie es für unrecht hielten, Waffen zu tragen, hatten sie eine Kunst der waffenlosen Selbstverteidigung gegen Räuber und Banditen entwickelt.

Der Kampf, wenn man ihn so nennen wollte, war in Sekunden vorbei.

In einem Moment stürmte der junge Mann mit erhobenem Schwert auf Fidelma zu, und im nächsten Moment lag er rücklings am Boden, und Fidelma stand mit einem Fuß fest auf dem Gelenk der Hand, die das Schwert umfaßte. Sie hatte sich kaum bewegt und ihn einfach über ihre Schulter geworfen. Eadulf wußte, daß ein Trick dabei war. Der eigene Schwung hatte den Critan fortgerissen. Nun lag er betäubt da und schnappte nach Luft.

Die beiden Landarbeiter starrten verwundert auf den niedergeworfenen Burschen.

Eadulf trat vor, beugte sich hinunter und hob das Schwert auf. Er schaute Critan an, roch seinen Atem und schüttelte traurig den Kopf.

»Plures crapula quam gladius«, tadelte er ihn. »Da du kein Latein verstehst, mein Junge, das bedeutet: Trunkenheit tötet mehr Menschen als das Schwert.«

Fidelma wandte sich an die Landarbeiter.

»Einer von euch bringt ihn jetzt zurück in den rath zu eurer Tanist und sorgt dafür, daß er seinen Rausch ausschläft. Wenn er wieder nüchtern ist, könnt ihr ihm sagen, daß es mit seiner Absicht, Krieger zu werden, vorbei ist. Sagt Cron, eurer Tanist, daß ich das angeordnet habe. Er soll sich von nun an als Hirt oder Pflüger betätigen. Im Königreich Muman wird er keine Waffen mehr tragen. Nur wegen seiner Jugend und Trunkenheit werde ich seinen Angriff auf mich nicht weiter verfolgen.«

Einer der Männer kam heran und stellte den immer noch benebelten jungen Mann auf die Füße. Er wollte Eadulf das Schwert aus der Hand nehmen, doch Fidelma verwehrte es.

»Scharfe Messer sind kein Spielzeug für Kinder«, bestimmte sie. »Behalte es, Eadulf.«

Der Mann, der die Leiter hatte aufstellen wollen, murmelte: »Wirf mich nicht mit dem törichten Jungen in einen Topf, Schwester.«

Fidelma erwiderte nichts und beobachtete, wie der andere Mann Critan auf dem Weg zum rath von Ara-glin halb zog und halb schleppte.

Eadulf verzog das Gesicht.

»Wenn er im rath anlangt, wird er wieder nüchtern sein.«

Fidelma seufzte kurz und wandte sich dann der Leiche zu, die an dem hohen Kreuz hing.

»Ich brauche einen Moment deine Leiter«, sagte sie zu dem übriggebliebenen Landarbeiter.

Der Mann stellte sie an das Kreuz, und Fidelma stieg hinauf, während Eadulf ihm half, die Leiter zu halten.

Trotz des geronnenen Blutes und des Seils konnte Fidelma erkennen, daß Muadnats Kehle mit einem raschen gekonnten Schnitt durchtrennt worden war, der fast den Kopf vom Rumpf löste. Es war kein schöner Anblick, er erinnerte an die Schlachtung eines Tieres. Das viele Blut ließ darauf schließen, daß man ihm erst die Kehle durchgeschnitten und ihm danach ein Seil um den Hals gelegt und ihn am Kreuz aufgehängt hatte. Warum hatte man den Toten auch noch gehängt? Ihr schien es fast, als habe man ein schwarzes Ritual vollzogen. Sie besah sich die Leiche sorgfältig, entdeckte aber keine weiteren Hinweise. Das Seil war ein üblicher, aus Fasern gedrehter Strick. Von dem Messer, mit dem ihm die tödliche Wunde beigebracht worden war, war nichts zu sehen. Sie stieg wieder herunter.

»Du kannst die Leiche jetzt abnehmen«, erklärte sie dem Landarbeiter.

Eadulf half ihm dabei.

Inzwischen ging Fidelma in immer größeren Kreisen um das Kreuz herum, den Blick auf den Boden gerichtet. Nach einer Weile blieb sie plötzlich stehen und holte tief Atem.

»Eadulf!«

Er kam sofort zu ihr.

Sie deutete zur Erde. Eadulf betrachtete unsicher das Gras. Da waren Flecke.

»Blutspritzer?« vermutete er.

Sie nickte.

»Schau sie dir genau an.«

Eadulf bückte sich und sah, daß auf Grashalmen und einer breitblättrigen Pflanze Blut angetrocknet war.

»Meinst du, daß man ihm hier die Kehle durchgeschnitten hat?«

»Die Annahme erscheint mir begründet«, erwiderte Fidelma. »Sonst noch etwas?«

Eadulf wollte sich schon erheben, als er noch einmal hinschaute und mit einem kurzen Ausruf etwas aufhob.

»Was ist das?« fragte Fidelma.

»Ein Büschel Haare.« Eadulf stand auf und hielt es in der offenen Hand.

»Dickes rotes Haar«, bestätigte Fidelma. »Menschenhaar.«

»Meinst du, es hat etwas mit dem Mord zu tun?«

»Es sieht aus, als sei es mit den Wurzeln ausgerissen worden. Schau dir die Enden an«, antwortete sie, ohne auf seine Frage einzugehen.

Nachdem er die Haare betrachtet hatte, nahm sie sie vorsichtig und tat sie in ihr marsupium, den Lederbeutel, den sie immer an der Hüfte trug.

»Ich glaube, jetzt kehren wir am besten zum rath zurück, Eadulf. Hier ist kaum noch etwas zu tun. Ich möchte Agdae befragen. Agdae! Warum ist er denn nicht hier?« fragte sie.

Sie wandte sich an den Landarbeiter, der Muadnats Leiche auf dem geduldig wartenden Esel festband.

»Kam Agdae zurück, nachdem er Hilfe aus dem rath geholt hatte?«

»Nein, Schwester«, antwortete der Mann sofort. »Er ließ Critan und meinen Freund und mich hier, damit wir die Leiche abnehmen und zu Muadnats Hof schaffen sollten. Ich glaube, er hat sich gleich auf die Suche nach Archü gemacht.«

Fidelma stöhnte.

»Sagtest du nicht vorhin, daß du auch mit Muadnat verwandt bist?« fragte sie.

Der Mann nickte.

»Ja, wie die meisten hier im Tal, auch die Tanist.«

»Wenn Muadnat so viele Vettern hatte, warum hegte er dann ausgerechnet von Archü eine so schlechte Meinung?«

Die Antwort kam ohne Zögern.

»Er haßte Archüs Vater, einen Ausländer. Muadnat meinte, Archüs Vater Artgal hätte kein Recht gehabt, die Liebe seiner Verwandten Suanach zu stehlen.«

»Die Liebe zu stehlen?« Fidelma verzog das Gesicht. »Das ist eine interessante Formulierung. Wem soll denn Suanachs Liebe gestohlen worden sein? Das deutet darauf hin, daß die Frau gegen ihren Willen an Artgal gebunden war. Verhielt es sich so?«

Dem Mann war das Gespräch sichtlich unbehaglich.

»Muadnat hatte sie mit Agdae verheiraten wollen. Doch Suanach wollte ihn nicht. Sie liebte Archüs Vater Artgal sehr.«

»Also war Muadnats eigene verdrehte Anschauung von dieser Ehe schuld an dem ganzen Streit?«

»Vermutlich, aber den Toten soll man nichts Schlechtes nachsagen.« Der Mann wollte offenbar nicht weiter darüber reden.

»Dann sprechen wir lieber von den Lebenden. Sprechen wir von Archü und Agdae. Versuchen wir, Ungerechtigkeit gegenüber den Lebenden zu verhindern«, erwiderte Fidelma.

»Ist die Abneigung gegen den Vater auf den Sohn übertragen worden?« fragte Eadulf. »Soll Archü dafür büßen, daß Muadnat seinen Vater nicht mochte? Das wäre in höchstem Maße ungerecht.«

»Das ist sicher sehr ungerecht, aber noch kein Grund für Archü, Muadnat umzubringen«, erwiderte der Landarbeiter.

»Bist du sicher, daß er das getan hat?«

»Agdae hat es doch gesagt.«

»Muß Agdaes Behauptung deshalb wahr sein? Du hast uns gerade erzählt, daß Agdae genausoviel Grund hat, Archü zu hassen, wie Muadnat, wenn nicht mehr.«

»Agdae ist schließlich auch Muadnats Adoptivsohn, nicht nur sein Neffe. Sollte er nicht die Wahrheit kennen?«

»Sein Adoptivsohn?« Das interessierte Fidelma. »Also hat Muadnat keine Frau und keine eigenen Kinder?«

»Nein, nicht, daß ich wüßte. Agdae war sein Neffe, doch Muadnat hat ihn von Kind an aufgezogen.«

»Agdae wird also Muadnats Hof erben?«

»Das nehme ich an.«

Fidelma ging zu ihrem Pferd.

»Du kannst die Leiche zu Muadnats Hof bringen«, sagte sie. »Ich bin hier fertig. Wenn du Agdae eher siehst als ich, dann warne ihn vor jeder Handlung, mit der er sich den Zorn des Gesetzes zuziehen würde. Ihr wißt beide, was ich damit meine.« Sie schwang sich aufs Pferd. Eadulf tat es ihr gleich.

»Wohin jetzt?« fragte er, als sie bereits den Berghang hinunterritten.

»Zu Archüs Hof natürlich.«

»Meinst du, daß dieser Mord mit dem an Eber und Teafa in Verbindung steht?«

»Es ist zumindest merkwürdig, daß sich in diesem schönen Tal von Araglin, in dem jahrelang niemand gewaltsam zu Tode kam, innerhalb weniger Tage mehrere solcher Gewalttaten ereignen. Bisher sichere und wohlbehütete Bauernhöfe werden überfallen. Vieh wird weggetrieben, seltsamerweise aber jedesmal nur ein paar Rinder. Die Morde an Eber, Teafa, Mu-adnat und einem fremden Mann, den wir nicht kennen, können doch nicht alle nur zufällig geschehen sein. Ich muß gestehen, Eadulf, ich glaube nicht sehr an Zufälle. Ich ziehe es vor, die Tatsachen zu prüfen, und nur wenn es sich ohne jeden Schatten eines Zweifels erweist, daß es Zufälle waren, will ich das glauben.«

Sie schwieg und setzte ihr Pferd in einen leichten Galopp.

»Wir müssen schnell zu Archü, falls Agdae tatsächlich Rache an ihm nehmen will.«

Eadulf hatte Mühe, mit Fidelma mitzuhalten, denn sie war eine ausgezeichnete Reiterin. Sie besaß auch ein gutes Ortsgedächtnis und fand sofort den Weg am Fluß entlang, an der Hütte der Prostituierten Clidna vorbei und den gewundenen Pfad hinauf in die Berge und in das ungewöhnliche, L-förmige Tal des Schwarzen Moors, das Muadnat so lange beherrscht hatte.

Fidelma hatte schon in frühester Kindheit reiten gelernt. Saß sie im Sattel, verschmolz das Pferd gleichsam mit ihrem eigenen Körper und Willen und gehorchte ihr auf den leisesten Druck wie durch Gedankenübertragung. Sie liebte die dadurch gewonnene Freiheit. Wenn sie sich leicht im Sattel vorbeugte und den Wind im Haar spürte und wenn das Land an ihr vorüberflog, dann erbebte sie vor Freude. Der Trommelschlag der Hufe fand ein Echo im Rhythmus ihres Körpers und regte sie zu ungehinderter Meditation an.

Für eine Weile schien sie der Welt kleinlicher menschlicher Rachsucht entrückt, wurde eins mit der Natur, atmete die warme Frühlingsluft, genoß den Geruch der Wälder und Felder, empfand die sanfte Wärme der Sonne. Fast schloß sie die Augen vor schierer Sinnenfreude.

Dann riß sie sich zusammen und fühlte sich beinahe schuldig.

Menschen waren getötet worden, und sie hatte die Pflicht, festzustellen, warum und von wem.

Ihre Augen öffneten sich weit. Sie erblickte zwei Reiter auf dem Weg vor ihr und erkannte sogleich Duban und einen seiner Männer.

Sie parierte ihr Pferd und ließ sie herankommen. Eadulf hielt neben ihr.

»Ich habe es bereits gehört, Schwester«, erklärte ihr Duban, noch bevor sie etwas sagen konnte. »Cron sandte mir die Nachricht. Ich habe zwei meiner Leute bei Archü und Scoth stationiert. Sie wollen ihren Hof nicht verlassen, sind aber in sicheren Händen.«

»Agdae hast du also nicht gesehen? Ich hörte, er sei diesen Weg geritten.«

Duban schüttelte den Kopf.

»Ich glaube nicht, daß er versuchen wird, Archü etwas anzutun, wenn er weiß, daß meine Männer bei ihm sind. Seine Wut wird sich schon wieder legen. Er wird zur Vernunft kommen und begreifen, daß Archü nicht für Muadnats Tod verantwortlich ist.«

Fidelma sah ihn etwas verwundert an.

»Du scheinst dir dessen sehr sicher zu sein? Ich würde nur behaupten, daß ich es für unwahrscheinlich halte, daß Archü Muadnat umgebracht hat.«

»Ich weiß, daß er es nicht getan hat«, antwortete Duban ernst.

Fidelma zog unwillkürlich die Brauen hoch.

»Du weißt es?«

»Ja. Das ist einfach. Gestern ließ ich zwei Mann bei Archü und Scoth zurück. Sie können bezeugen, daß keiner von beiden den Hof verlassen hat.«

»Wie dumm von mir, daß ich daran nicht gedacht habe«, gestand Fidelma ein. »Also brauchen wir Archüs Unschuld nicht erst zu beweisen. Aber nun müssen wir herausbekommen, wer der Schuldige ist.«

»Ich bin auf dem Rückweg zum rath«, sagte Du-ban. »Ich staune, daß dich Critan nicht begleitet. Er sollte heute früh den Befehl über die Wache übernehmen.«

Fidelma berichtete ihm kurz, was sich ereignet hatte.

Duban schien es nicht sehr zu überraschen.

»Ich ahnte, daß der Bursche nicht den wahren Kriegergeist besitzt. Er hat Ehrgeiz, aber keinen Leistungswillen.«

»Sein Problem ist, daß er über die Fähigkeiten eines Kriegers verfügt, aber nicht über seine Moral. Er ist wie ein Pfeil, der den Bogen verlassen hat, doch ohne die Lenkfedern«, meinte Fidelma.

»Das verstehe ich wohl, Schwester. Ich erkenne die Gefahr durchaus, die daraus entstehen kann. Ich werde es mit Cron besprechen.«

»Ich hoffe, daß sie wie in anderen Dingen auch darin deinem Rat folgt.«

Mit zusammengekniffenen Augen musterte Duban mißtrauisch ihr ausdrucksloses Gesicht. Auf seine unausgesprochene Frage antwortete sie: »Ich bin nicht naiv.«

»Das habe ich auch nicht angenommen«, gestand Duban.

»Gut. Denk immer daran. Sprich mit Cron und erkläre ihr, daß es besser ist, die Wahrheit zu sagen, besser als die halbe Wahrheit zu sagen oder zu lügen.«

Sie verabschiedete sich und winkte Eadulf, ihr zu folgen. Sie ritten weiter den Weg am Berghang entlang, und nach einer Weile rief Eadulf ihr zu: »Sie sind fort. Was wolltest du Duban damit zu verstehen geben?«

Fidelma parierte ihr Pferd.

»Ich habe nur ein Samenkorn gelegt«, vertraute sie ihm fröhlich an. »Es wird Zeit, daß man aufhört, uns Halbwahrheiten und Lügen aufzutischen, und uns endlich jemand die Wahrheit sagt.«

»Aber hast du damit nicht Cron und Duban angedeutet, daß du sie der Mittäterschaft verdächtigst, und sie gewarnt?«

»Wenn man einen Fuchs aufstöbern will, muß man manchmal seinen Bau aufgraben.«

»Ich verstehe. Du rechnest damit, daß sie irgendwie reagieren?«

»Wir werden sehen, ob sie es tun oder nicht.«

Eadulf schnaufte mißbilligend.

»Oft ist das gefährlich, denn ein in die Enge getriebener Fuchs dreht sich manchmal um und beißt seinen Verfolger. Wo wollen wir jetzt eigentlich hin? Archü weiß sicher auch nicht mehr?«

»Zu Archü brauchen wir nicht mehr zu reiten, denn wir wissen, daß er sicher ist, und von Agdae ist hier nichts zu sehen.«

»Wohin dann?«

»Zu dem Weg, den du gestern entdeckt hast. Ich möchte wissen, wohin er führt.«

»Wäre es nicht besser, wir hätten Begleiter dabei?« fragte Eadulf unschlüssig. »Wenn nun der Weg zum Versteck der Viehdiebe führt?«

Fidelma lächelte.

»Hab keine Angst, Eadulf. Ich werde mich nicht absichtlich in Gefahr bringen.«

»Es sind auch nicht deine Absichten, die ich fürchte«, murmelte Eadulf.

Zum erstenmal seit langer Zeit lachte sie vergnügt und machte ihm ein Zeichen, ihr zu folgen. Schließlich kamen sie zu dem Weg, von dem aus man das Tal überblickte, in dem Muadnats Hof lag. Fidelma hielt an und musterte die Felder und Gebäude eingehend.

»Ich möchte nicht, daß irgend jemand auf Muad-nats Hof uns sieht«, meinte sie.

»Ich wüßte nicht, wie wir den Weg erreichen, wenn wir nicht über seinen Hof reiten«, wandte Eadulf ein.

»Hinter dem Feld dort gibt es eine kleine Senke, die sich quer durch das Tal zieht«, erwiderte Fidelma. »Ich denke, es ist ein Graben oder ein Bach. Am Rand wachsen an einigen Stellen Bäume und Büsche. Wenn wir einen Weg dort hinunter finden, sieht man uns wahrscheinlich nicht vom Hof aus, bis wir die andere Seite des Tals und den Weg dort erreichen.«

Eadulf erschien das zweifelhaft, doch da sie sich so entschlossen zeigte, ritt er voraus. Sein Pferd suchte sich einen Weg den steilen Hang hinunter, er umging einige bestellte Felder und erreichte schließlich den Schutz der Bäume, durch die der Graben verlief. Fidelma hatte es richtig gesehen, in der Senke floß ein kleiner Bach, kaum zwei Meter breit. Der Graben bot ihnen Sichtschutz, und sie folgten ihm durch den Talgrund.

Es dauerte nicht lange, dann hatten sie das Tal durchquert und kamen hinter dem Gehöft heraus, auf das sie nun von oben hinabblickten. Nichts bewegte sich dort, auch bei den Scheunen und auf den Feldern waren keine Arbeiter zu sehen.

Nach einiger Zeit erreichten sie den zweiten Weg und folgten ihm hinauf in die nördlichen Berge.

»Na«, meinte Fidelma, als sie den Weg sorgsam untersuchte, »man kann nicht gerade behaupten, daß er nicht benutzt wird. Dubans Leute haben ihn offensichtlich nicht weit genug verfolgt. Am Fuße der Berge mag er ja steinig sein, aber hier oben sieht man deutlich die Spuren von Pferden und Eseln und sogar von einem Wagen.«

Eadulf machte ein besorgtes Gesicht.

»Sollten wir nicht lieber auf Dubans Krieger warten?«

Fidelma warf ihm einen vernichtenden Blick zu.

Schweigend ritten sie den Weg weiter, der sich nun an der Flanke eines steilen Berges hinzog, dem Tal des Schwarzen Moors entgegengesetzt, bis Eadulf erkannte, daß sich der Weg gänzlich gedreht hatte.

»Wir sind jetzt auf der anderen Seite des Berges hinter Muadnats Gehöft.« Er zeigte nach oben. »Siehst du, wo die Sonne steht?«

»Das ist wirklich ein gewundener Pfad«, pflichtete ihm Fidelma bei.

Interessanterweise verlief der Weg jetzt eben und hielt sich auf gleicher Höhe am Berghang. Er führte erst nach Osten und bog plötzlich nach Süden ab zu einem hohen Plateau.

»Das verstehe ich nicht. Wir haben einen ganzen Kreis beschrieben«, rätselte Fidelma.

»Nicht nur das«, lächelte Eadulf. »Ich glaube, wir bewegen uns parallel zu dem Teil des Tals, in dem Archüs Hof liegt.« Er wies auf den Berghang zu ihrer Rechten. »Wenn wir auf den Gipfel dieses Berges steigen würden, könnten wir auf Archüs Land hinabsehen, vielleicht sogar auf sein Gehöft.«

Fidelma nickte.

Eine halbe Meile weiter kamen sie in einen dichten Wald, der auch den Berg bedeckte. Der Weg führte gerade in den Wald hinein und blieb so breit wie eine Wagenspur. Er wurde anscheinend regelmäßig befahren.

»Das geht ja endlos weiter«, murrte Eadulf. »Vielleicht sollten wir lieber umkehren, denn sonst erreichen wir den rath nicht mehr vor Sonnenuntergang.«

»Nur noch ein bißchen weiter«, lockte ihn Fidelma. »Ich glaube, wir kommen bald ...«

Sie hielt plötzlich an und winkte Eadulf zurück.

»Wir führen unsere Pferde in den Wald und gehen zu Fuß weiter«, befahl sie. »Ich meine, da vorn ist etwas.«

Eadulf wollte protestieren, tat es dann aber doch nicht. Sie führten die Pferde ein Stück in den Wald, nicht weit, doch weit genug, daß man sie vom Weg aus nicht sehen konnte. Dann schlichen sie parallel zum Weg weiter, Fidelma voran.

Bald erkannten sie, daß sie sich einer Lichtung näherten. Ein plötzliches Krachen ließ sie zusammenfahren, doch dann merkten sie, daß dort jemand Holz spaltete. Vorsichtig blieben sie am Rand der Lichtung stehen.

Der Wind fuhr durch das Gras der weiten Fläche, aus der verstreute graue Granitfelsen aufragten. In einer provisorisch mit Leinen abgeteilten Koppel standen ein paar Pferde, daneben ein Dutzend Esel, kleine, stämmige Lasttiere. Neben einem Wagen briet ein Stück Fleisch am Spieß über einem Feuer. Ein Mann, den sie nicht kannten, hackte Holz. Anscheinend waren noch weitere Männer mit anderen Arbeiten beschäftigt. Fidelma musterte sie genau.

Sie legte Eadulf die Hand auf den Arm und wies hinüber zur anderen Seite der Lichtung. Dort befanden sich in einer kleineren Umzäunung ein paar Kühe, kauten geduldig wieder und kümmerten sich nicht um das Schicksal ihrer einstigen Gefährtin, die den Männern nun eine Mahlzeit liefern würde.

Etwas höher am Hang öffnete sich ein ungefähr mannshoher Eingang zu einer Höhle. Der ihn umgebende Fels war kahler blaugrauer Granit, und ein Vorsprung aus demselben Gestein überragte schützend den Höhleneingang.

Auf dieser Lichtung endete der geheimnisvolle Weg. Daran gab es keinen Zweifel. Sie waren zu dem Versteck der Viehdiebe gelangt.

Fidelma und Eadulf wechselten Blicke. Eadulf wunderte sich sichtlich, doch Fidelma hatte ein paar Werkzeuge bemerkt, die neben dem Wagen lagen, und ihr ging ein Licht auf. Sie wollte Eadulf schon das Zeichen zum Rückzug geben, als am Höhleneingang Bewegung entstand.

Ein großer, kräftiger Mann trat heraus, blinzelte ins Licht, gähnte und reckte die Arme gen Himmel. Er hatte einen groben roten Bart und schulterlanges Haar.

Das häßliche Gesicht gehörte unverkennbar Men-ma, dem obersten Pferdewärter des rath von Araglin.

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