Kapitel 11

Duban und Fidelma ritten voran auf dem schmalen Weg, der zwischen den großen Eichen hindurchführte, die in den Talschluchten standen. Bruder Eadulf folgte ihnen. Er blickte wachsam um sich. Er hatte von Überfällen durch Banditen gehört und meinte, ganze Kriegerscharen könnten sich an diesen düsteren Orten verbergen und Reisende könnten nur wenige Meter entfernt an ihnen vorbeiziehen und sie überhaupt nicht bemerken, denn so dicht und undurchdringlich waren die Wälder auf den Bergen rings um Araglin. Die Bäume standen so eng beieinander, daß vom blauen Himmelszelt und von der warmen Frühjahrssonne nichts zu sehen war. Die Luft war kühl, und Eadulf fiel auf, daß nur wenige Frühlingsblumen blühten, es aber zahlreiche dunkle immergrüne Pflanzen gab und solche, die die kalte, dunkle, feuchte Natur der Wälder liebten.

Eadulf ritt mit aufmerksamem Blick, doch in lockerer Körperhaltung und ließ sein Pferd gemächlich den anderen folgen.

Die Stille war beinahe bedrückend. Ab und zu raschelte es im Unterholz, und einige wenige Singvögel ließen sich hören.

»Ein düsterer, ungemütlicher Ort zum Wohnen«, brach Eadulf das Schweigen, in dem sie seit Erreichen des Waldes geritten waren.

Duban wandte sich halb um.

»Es liegt in der Natur von Einsiedlern, daß sie sich an Orten niederlassen, die andere nicht schön finden«, erwiderte er.

»Ich habe schon gesündere Orte gesehen«, antwortete Eadulf. »Was nützt es einem, als Einsiedler zu leben, wenn einem das die Gesundheit ruiniert?«

»Ein gutes Argument«, lachte der Krieger. »Trotzdem heißt es, Gadra sei über achtzig Jahre alt. Wenn er noch lebt, würde mich das überraschen.«

»Das hast du uns schon ein paarmal gesagt«, schaltete sich Fidelma ein. »Erzähl uns lieber mehr von Gadra. Wir wissen, daß er als Einsiedler lebt und ein weiser Mensch ist. Was weißt du sonst noch von ihm?«

»Da gibt’s wenig zu sagen. Gadra ist eben Gadra. Für mich hatte er immer dasselbe Alter.«

»Weiß man, woher er stammt?« erkundigte sich Fidelma.

Duban zuckte die Achseln.

»Es heißt, er war Priester in den heidnischen Zeiten.«

»Ein Druide?« fragte Fidelma. Tatsächlich fand man in den fünf Königreichen hier und da noch Anhänger der alten Götter. Fidelma selbst war ihnen schon begegnet; sie lebten zurückgezogen und hielten an den alten Bräuchen und an dem alten Glauben fest. Sie konnte nicht umhin, manche ihrer Lehren zu bewundern. Der neue christliche Glaube hatte sich noch nicht vor so langer Zeit im Lande durchgesetzt, daß die alte Art sich gänzlich überlebt hätte.

»So würde man ihn wahrscheinlich bezeichnen. Als Junge hörte ich schon Geschichten vom alten Gadra. Für uns war er immer alt. Wir wurden gewarnt, wir sollten uns von ihm fernhalten, denn der Priester sagte, er bringe den alten Göttern in den wilden Eichenwäldern Menschenopfer dar.«

Fidelma schnaubte verächtlich.

»Immer wird von Menschenopfern geredet, wenn man die Wahrheit eines religiösen Kults nicht erkennt. Die Gründerin meines Klosters in Kildare, die heilige Brigitta, war eine Druidin und die Tochter eines Druiden. Von solchen Menschen hat man nichts zu befürchten. Aber berichte mir mehr über Gadra. Weiß man, wann er in diese Gegend kam?«

»Bestimmt nicht zu Ebers Zeit«, erwiderte Duban. »Ich glaube, er kam, als Ebers Vater noch ein Junge war. Er hatte die Gabe des Heilens und der Weisheit.«

»Wie konnte er die Gabe des Heilens besitzen, wenn er nicht an den wahren Gott glaubte?« unterbrach Eadulf etwas unwillig.

Fidelma lächelte ihn an.

»Einer solchen Logik kann man nicht widersprechen«, antwortete sie mutwillig.

Eadulf wußte nicht recht, ob sie sich über ihn lustig machte.

»Heilt er im Namen des Heilands Jesus Christus?« wollte er wissen.

»Er heilt einfach die Leute, die mit einer Krankheit zu ihm kommen. Er heilt in niemandes Namen«, antwortete Duban. »Natürlich verurteilte Pater Gorman alle, von denen er erfuhr, daß sie sich hatten von Ga-dra heilen lassen. Aber jetzt habe ich schon ein paar Jahre nichts mehr von Gadra gehört. Ich meine, er ist gestorben und wir verschwenden unsere Zeit mit dieser Reise.«

Eadulf wollte etwas antworten, doch Duban hob plötzlich die Hand zum Zeichen, daß sie ihre Pferde zügeln sollten.

»Da vorn sehe ich eine Lichtung. Ich glaube, wir sind dicht bei dem Tal, in dem er früher wohnte.«

Fidelma spähte nach vorn.

»Hier wohnt Gadra?«

Duban nickte.

»Bleibt hier zurück. Ich reite vor«, sagte er leise, »denn wenn er noch lebt, wird er mich wohl wiedererkennen.«

Langsam und vorsichtig ritt er auf die helle Lichtung vor ihnen zu.

Fidelma sah, daß die Lichtung nur eine kleine Schneise war, und in der Stille des Waldes hörte sie das Plätschern und Rauschen eines Baches. Sie meinte eine Holzhütte zwischen den Bäumen zu erkennen.

Plötzlich schallte Dubans Stimme laut herüber.

»Gadra! Gadra! Ich bin Duban von Araglin! Lebst du noch?«

Eine Weile herrschte Schweigen.

Dann kam eine Antwort. Die Stimme klang alt, aber tief und volltönend.

»Wenn nicht, Duban von Araglin, dann gibt dir jedenfalls ein Geist Antwort.«

Dubans Erwiderung war leiser, weder Fidelma noch Eadulf konnten sie verstehen. Nach einer Weile rief er ihnen laut zu, sie sollten auf die Lichtung kommen.

Auf einem ebenen Stück Land an einem reißenden, schäumenden Bergbach stand eine sauber errichtete Holzhütte mit Rohrdach. Ein kleiner Garten mit Kräutern, Gemüse und ein paar Obstbäumen umgab sie. Duban war abgestiegen und band sein Pferd an einen nahen Busch. Dicht daneben stand ein kleiner alter Mann mit einem weißen Haarschopf, der sich auf einen polierten Schlehdornstock stützte. Auf den ersten Blick wirkte er gebrechlich. Doch Fidelma erkannte schnell, daß dieser Eindruck täuschte. Er war schmal, aber sehnig. Sein loses Gewand war mit Safran gefärbt, und an einer Halskette trug er einen goldenen Ring mit alten Symbolen, wie sie Fidelma noch nie gesehen hatte.

Fidelma schwang sich vom Pferd, reichte Eadulf die Zügel und ging auf den alten Mann zu. Ein paar Schritte von ihm entfernt blieb sie stehen.

»Sei gesegnet, Gadra«, grüßte sie ihn und neigte leicht den Kopf.

Sie blickte in ein freundliches Gesicht mit nußbraunem, wettergebräuntem Teint, in dem durchdringende helle Augen leuchteten. Sie schienen eher grau als blau. Das schneeweiße Haar fiel in Wellen bis auf die Schultern. Der weiche Bart war kurz geschnitten und ließ den Ring frei, der ihm vor der Brust hing. Gadra war unstreitig ein Greis, doch sein Alter ließ sich kaum schätzen, denn sein Gesicht war noch jung und faltenlos, und nur die eingesunkenen Schultern zeugten von vielen Lebensjahren.

Fröhlich schaute er sie an.

»Du bist hier willkommen, Fidelma, Tochter Failbe Flanns.«

Fidelma war überrascht.

»Woher weißt du .?«

Bei seinem Lachen ging ihr ein Licht auf, sie lächelte verlegen und zuckte die Achseln.

»Was hat dir Duban sonst noch alles erzählt?«

Gadra nickte befriedigt.

»Du hast einen hellen Kopf, Fidelma.« Er blickte über die Schulter dorthin, wo Eadulf die Pferde anband. »Komm her, Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham. Komm näher und setz dich zu uns, dann können wir uns unterhalten.«

Fidelma erinnerte sich an die Zeit, als sie junge Schülerin beim Richter Morann von Tara war, und ließ sich vor dem Alten mit gekreuzten Beinen im Gras nieder wie eine Novizin vor dem Lehrer. Gadra lächelte geschmeichelt. Bruder Eadulf setzte sich etwas unbeholfen auf einen runden Stein in der Nähe und fand die Sitzfläche recht unbequem. Duban glaubte anscheinend auch, es wäre seiner Würde abträglich, wenn er sich auf die Erde setzte, und suchte sich einen anderen Stein. Gadra hockte sich jugendlich leicht ebenfalls im Schneidersitz Fidelma gegenüber hin.

»Bevor wir reden«, begann Gadra und berührte mit dem Finger den Goldring vor seiner Brust, »stört dich dies hier?«

»Warum sollte mich das stören?« fragte Fidelma.

Gadra wies auf ihr Kruzifix.

»Steht es nicht im Gegensatz zu dem da?«

Fidelma schüttelte langsam den Kopf.

»Dein Halbmond war jahrhundertelang bei unserem Volk das Symbol des Lichts und des Wissens. Ich brauche ihn nicht zu fürchten. Warum sollte ich daran Anstoß nehmen?«

»Viele Anhänger des neuen Glaubens nehmen aber daran Anstoß.«

Eadulf war es unbehaglich in Gegenwart eines Menschen, der das Symbol eines heidnischen Glaubens trug.

»Du hast den Glauben an Christus nicht angenommen?« wollte er wissen.

Gadra sah ihn an und lächelte leicht.

»Ich bin ein alter Mann, mein angelsächsischer Bruder. In mir sterben die uralten Götter und Göttinnen unseres Volkes nur langsam. Dennoch gönne ich euch eure neue Lebensweise, eure neuen Gedanken und eure neuen Hoffnungen. Es liegt in der Natur der Dinge, daß das Alte stirbt und das Neue lebt. Das ist eine Gefahr für diese Welt und zugleich ein Segen. Das ist das Wesen der Kinder der Göttinmutter Danu. Das Leben stirbt und wird neu geboren. Das Leben wird neu geboren und stirbt. Es ist ein unendlicher Kreislauf. Die alten Götter sterben, die neuen Götter werden geboren. Die Zeit wird kommen, da auch sie sterben und wieder neue Götter entstehen werden.«

Fidelma merkte, daß Gadras Worte Eadulf empörten, und sie sagte hastig: »Wir alle sind Gefangene unserer Zeit.«

Gadra lachte zustimmend.

»Du besitzt Einsicht, Fidelma. Oder ist es nur Empfänglichkeit? Kannst du mir sagen, was schneller ist als der Wind?«

»Der Gedanke«, antwortete Fidelma sofort. Sie kannte das Spiel, das der Alte begann.

»Ach ja. Und was ist weißer als Schnee?«

»Die Wahrheit«, erwiderte sie.

»Was ist schärfer als ein Schwert?«

»Der Verstand.«

»Dann verstehen wir uns gut, Fidelma. Ich bin ein Hort des Alten, und wenn ich nicht mehr bin, wird vieles mit mir verlorengehen. Aber das ist der Lauf der Welt. Deshalb habe ich mich in den Wald zurückgezogen, um zu sterben.«

Fidelma schwieg einen Moment.

»Hat Duban dir berichtet, was in Araglin geschehen ist?«

»Er hat mir gesagt, wer ihr seid. Das und weiter nichts. Daß du etwas von mir willst, ist mir klar.«

»Eber, der Fürst von Araglin, ist ermordet worden.«

Gadra schien nicht überrascht.

»Zu meiner Zeit hat man den Tod einer Seele in dieser Welt gefeiert, denn es bedeutete, daß die Seele in der anderen Welt wiedergeboren wurde. Es war Sitte, eine Geburt zu betrauern, denn es bedeutete, daß eine Seele in der anderen Welt gestorben war.«

»Der Tod Ebers geht mich näher an, Gadra, denn ich bin eine Anwältin bei Gericht in den fünf Königreichen.«

»Verzeih, wenn ich als Philosoph gesprochen habe. Natürlich macht es etwas aus, auf welche Weise jemand in die andere Welt gegangen ist. Ich nehme an, daß jetzt Muadnat Fürst von Araglin ist?«

Fidelma starrte ihn verblüfft an.

»Cron ist Tanist und wird Fürstin, wenn die derbf-hine ihrer Sippe sie bestätigen.«

Gadra gab ihr einen schrägen Blick zurück, sprach aber nicht weiter von Muadnat.

»Eber ist also tot? Ermordet? Und du, mein Kind, bist eine dalaigh und führst die Untersuchung?«

Ausnahmsweise machte es Fidelma nichts aus, daß jemand sie »Kind« nannte.

»So ist es.«

»Was willst du von mir?«

»Moen wurde an Ebers Leiche angetroffen mit einem blutigen Messer in der Hand.«

Zum erstenmal wurde das stille Lächeln im Gesicht des Alten von Verblüffung überschattet. Doch dieser Ausdruck verschwand sofort wieder. Er hatte sich großartig unter Kontrolle.

»Meinst du damit, daß Moen Eber ermordet haben soll?« fragte er leicht beunruhigt.

»Er wird des Mordes beschuldigt«, bestätigte Fidelma.

»Wenn ich nicht im Laufe meines langen Lebens so vieles erlebt hätte, würde ich sagen, der Junge ist nicht in der Lage, jemandem das Leben zu nehmen.«

Fidelma beugte sich vor.

»Verstehe ich dich richtig? Meinst du, daß er den Mord begangen haben kann?«

»Unter besonderen Umständen kann auch der fügsamste Mensch zum Mord getrieben werden. Moen ist der fügsamste Mensch, der mir je begegnet ist.«

»Als fügsam bezeichnen ihn die anderen nicht«, erwiderte Fidelma.

Gadra seufzte leise.

»Glaub mir, der Junge ist eine sensible, stille Natur. Ich weiß das, denn ich habe ihn von seinen Kindertagen an aufwachsen sehen. Teafa und ich haben ihn alles gelehrt, was er weiß.«

Fidelma schaute den Alten eine Weile an.

»Ihr habt ihn gelehrt?« fragte sie mit Betonung.

»Das habe ich gesagt. Was erwidert er auf diese Anklage? Was sagt Teafa dazu?« »Moen ist taubstumm und blind. Wie könnte er uns etwas mitteilen?«

Gadra schnaubte ungeduldig.

»Über Teafa natürlich. Er verständigt sich über Teafa. Was meint sie dazu?«

»Ach ...«, seufzte Fidelma und bedauerte, daß sie nicht alles gesagt hatte.

»Ist Teafa etwas zugestoßen? Ich lese das in deiner Miene.«

»Ja. Teafa ist tot.«

Gadra saß ganz steif und still da.

»Ich werde für ihre gute Wiedergeburt in der anderen Welt beten«, sagte er leise. »Sie war eine gütige Frau mit einer großen Seele. Wie starb sie? Hat Eber sie getötet? Hat der Junge zugeschlagen, um Teafa zu verteidigen?«

Fidelma schüttelte den Kopf und versuchte die wirbelnden Gedanken zu ordnen, die die Worte des Alten in ihr ausgelöst hatten.

»Moen wird beschuldigt, auch Teafa getötet zu haben, er soll erst sie erstochen haben und dann zu Ebers Wohnung gegangen sein und ihn erstochen haben.«

»Kann das wahr sein?«

Trotz seiner großen Selbstdisziplin und Beherrschung wirkte Gadra spürbar erschüttert.

»Die Anklage lautet so. Ich bin hergekommen, um herauszufinden, was wirklich vorgefallen ist.«

»Was du da erzählt hast, kann nicht wahr sein«, erklärte Gadra entschieden. »Wenn ich mir auch vorstellen kann, daß Moen, hinreichend gereizt, sich gegen Eber wenden würde, so würde er doch niemals die Hand gegen Teafa erheben. Teafa ist ihm eine Mutter gewesen.«

»Es ist schon vorgekommen, daß ein Sohn seine Mutter getötet hat«, warf Eadulf ein.

Gadra ignorierte ihn.

»Hat sich seit Teafas Tod jemand mit Moen verständigen können?«

Fidelma schüttelte den Kopf.

»Man hat mir erklärt, nur Teafa habe sich mit Moen verständigen können. Niemand wußte, wie. Er kann nicht hören, er kann nicht sehen, und er kann nicht sprechen.«

Gadra schaute traurig drein.

»Es gibt andere Verständigungsmittel. Der Junge kann tasten, er kann riechen, er kann Schwingungen spüren. Wenn das Schicksal uns einiger unserer Sinne beraubt, können wir andere stärker entwickeln. Also hat sich niemand mit ihm verständigt seit diesen schrecklichen Ereignissen?«

»Ich schaffte es nicht. Deshalb bin ich hier. Ich habe gehört, du wüßtest, auf welche Weise man sich mit ihm verständigen kann.«

»Das stimmt. Wie ich schon sagte, ich habe mit Teafa zusammen den Jungen unterrichtet. Ich muß sofort mit dir zum rath von Araglin und mit ihm sprechen«, sagte der Alte mit Entschiedenheit.

Fidelma war überrascht. Sie hatte auf seinen Rat gehofft, doch nicht zu denken gewagt, der alte Mann würde darauf bestehen, selbst zum rath mitzukommen.

»Wenn du das fertigbringst, dann glaube ich bedingungslos an alle Wunder.«

»Es ist möglich«, versicherte ihr Gadra düster. »Der arme Moen. Kannst du dir vorstellen, was es für jemanden bedeuten muß, in solch einen Körper eingesperrt zu sein, ohne zu wissen, was um einen herum vor sich geht und ohne sich verständigen zu können? Er muß Angst haben und ganz verzweifelt sein, weil er nicht weiß, was geschehen ist.«

»Wenn er unschuldig ist, macht er Furchtbares durch«, gab Eadulf zu. »Aber es muß doch noch jemand außer Teafa im rath gewußt haben, wie man sich mit Moen verständigt?«

Gadra sah ihn an und schüttelte den Kopf.

»Du denkst praktisch, Angelsachse. Doch die Antwort lautet, daß nur Teafa die Geduld besaß, es von mir zu lernen. Vielleicht hat sie versucht, es weiterzugeben, ich glaube das aber nicht. Ich meine, sie hielt es für besser, wenn es ein Geheimnis bliebe.«

»Warum?«

»Die Antwort darauf hat sie mit ins Grab genommen.«

Gadra erhob sich, und Fidelma folgte seinem Beispiel.

»Ich habe kein Pferd«, sagte der Alte, »deshalb kann es eine Weile dauern, bis ich den rath von Ara-glin erreiche.«

»Du kannst entweder hinter Duban oder hinter Bruder Eadulf aufsitzen. Das ist kein Problem.«

»Dann reite ich hinter Bruder Eadulf«, erklärte er. Eadulf holte die Pferde, und Gadra sprach leise mit Fidelma.

»Dein Eadulf spricht unsere Sprache gut.«

Sie errötete.

»Er ist Gast in unserem Land, ein angelsächsischer Mönch, der an unseren Hochschulen studiert hat.« Sie hielt inne und fügte leise hinzu: »Und er ist nicht mein Eadulf.«

Die lustigen hellen Augen blickten sie plötzlich fragend an.

»In deiner Stimme liegt Wärme, wenn du von diesem Angelsachsen sprichst.«

Fidelma spürte, wie ihre Wangen noch röter wurden.

»Er ist mir ein guter Freund«, erklärte sie abwehrend.

Gadra sah sie durchdringend an.

»Verleugne niemals deine Gefühle, mein Kind, vor allem nicht vor dir selbst.«

Der Alte verschwand in seiner Hütte, ehe Fidelma etwas antworten konnte. Einen Augenblick ärgerte sie sich, doch dann mußte sie lächeln. Ob er nun ein Heide war oder nicht, die Offenheit und die Weisheit des Alten gefielen ihr. Sie wandte sich um und traf auf Dubans forschenden Blick.

»Wie ich sehe, magst du den Alten trotz eurer religiösen Unterschiede.«

»Vielleicht sind die Unterschiede gar nicht so groß, wenn wir die Bezeichnungen, die wir verwenden, einmal weglassen. Wir stammen alle von denselben Ahnen ab.«

»Vielleicht.«

In dem Moment kam der alte Mann zurück mit seinem Reisemantel und einem sacculus, einer Schultertasche, in der er offensichtlich alles verstaut hatte, was er für die Reise brauchte.

»Sag mir, mein angelsächsischer Bruder«, fragte er, während ihm Eadulf aufs Pferd half, »mein alter Gegner Gorman hält sich wohl immer noch im rath auf?«

»Pater Gorman ist Priester in Araglin.«

»Na, mein Vater ist er nicht«, brummte Gadra. »Ich habe nichts dagegen, irgend jemanden meinen Bruder oder meine Schwester zu nennen, aber es gibt nicht viele auf dieser Erde, denen ich das Recht zubillige, sich von mir als Vater anreden zu lassen, besonders nicht einem Mann, dessen Intoleranz an seiner Seele frißt wie ein Wurm.«

Bei dieser heftigen Antwort des Alten wechselte Eadulf einen Blick mit Fidelma, doch seine Belustigung fand bei ihr kein Echo. Sie blieb ernst.

»Mach dir keine Sorgen wegen Gorman«, erklärte sie dem Alten und schwang sich in den Sattel. »Du kommst mit meiner Ermächtigung in den rath von Araglin.«

Gadra lachte.

»Jeder ermächtigt sich selber, Fidelma«, sagte er.

Sie traten den Rückweg durch die großen Bergwälder an. Wie in wortloser Übereinstimmung schwiegen sie, man hörte nur das Schnauben der Pferde auf dem Waldweg. Selbst aus den Wäldern kam kein Laut, obwohl es über dem düsteren Blätterdach noch taghell war.

Fidelma ritt mit gesenktem Kopf und tief in Gedanken. Sie versuchte zu ergründen, wie der Alte oder auch Teafa sich mit einem so stark behinderten Menschen wie Moen verständigen konnten. Nach einer Weile gab sie es auf. Es genügte ihr, daß Gadra gesagt hatte, er könne es, denn sie ging davon aus, daß er die Wahrheit sprach. Sagten nicht die Weisen der Vorzeit, daß die Wahrheit die Erde erhält und uns von unseren Feinden befreit?

Sie blickte sich nach Eadulf um und fragte sich, woran er wohl dachte. Es mußte ihm unbehaglich sein in der Nähe eines Menschen, der den neuen Glauben ablehnte und dem Glauben der Ahnen anhing. Gadra hatte Eadulf treffend charakterisiert: Er war praktisch - sachlich und pragmatisch. Er nahm die Lehre an, die man ihm beibrachte, und dabei blieb er, und er wich von dieser Lehre nicht ab und stellte sie nicht in Frage. Er war wie ein schwerfälliges Schiff, das stetig den Ozean durchfurchte. Im Vergleich dazu war sie eine leichte Barke, die hin und her über die Wellen tanzte. Tat sie ihm damit Unrecht? Plötzlich fiel ihr ein Zitat aus Hesiod ein: Bewundere das kleine Schiff, aber bringe deine Ladung in das große.

Sie seufzte innerlich und wog in Gedanken die Aussagen gegeneinander ab, die sie bisher gehört hatte, doch schließlich wurde ihr klar, daß sie nichts erreichen konnte, bevor Gadra nicht herausgefunden hatte, was Moen wußte. Sie wollte möglichst schnell in den rath zurückkehren und erfahren, was Moen zu sagen hatte. Ungeduld war, das wußte sie, ihr größter Fehler. Sie gab Eadulf recht, wenn er ihr Reizbarkeit und Ruhelosigkeit vorhielt, doch meinte sie, ein unruhiger Geist sei wenigstens ein Beweis, daß man am Leben war.

Plötzlich zügelte Duban sein Pferd und hob die Hand. Mit schräg gehaltenem Kopf lauschte er nach vorn.

Sie hielten an, und Duban machte ihnen ein Zeichen, sie sollten absitzen.

»Was ist?« flüsterte Fidelma.

»Mehrere Pferde mit schweren Hufeisen«, erwiderte Duban ebenso leise, »und Reiter, die sich keine Mühe geben, vorsichtig zu sein. Hört mal!«

Sie spitzte die Ohren und vernahm tatsächlich entfernte Stimmen, die einander zuriefen.

Duban spähte umher.

»Rasch«, befahl er leise, »wir führen die Pferde in den Wald. Hier hindurch«, wies er mit der Hand, »da sind Felsen, hinter denen wir uns verbergen können.«

Fidelma schluckte ihre Fragen herunter. Wenn ein erfahrener Krieger solche Anweisungen gab, mochte sie nicht widersprechen.

Sie folgten ihm so leise und so schnell wie möglich durch das Unterholz zu der Felsgruppe, die er ihnen gezeigt hatte. Eadulf und Gadra hielten die Pferde, während Duban und Fidelma am Rand der Felsen knieten und den Weg beobachteten.

Die Geräusche einer Reiterschar waren nun deutlich vernehmbar. Das lärmende Gelächter und die Rufe der Reiter bewiesen, daß sie keine Gefahr auf ihrem Weg durch den Wald fürchteten.

Fidelma sah Duban von der Seite an. Der Krieger spähte mit zusammengekniffenen Augen nach vorn. Er war sichtlich beunruhigt.

»Was macht dir Sorge?« flüsterte sie. »Die Wälder gehören zu Araglin, und du bist der Kommandeur der Leibgarde des Fürsten. Warum verstecken wir uns?«

Duban antwortete leise aus dem Mundwinkel: »Ein Krieger lernt, niemals mit beiden Füßen zu probieren, wie tief ein Fluß ist. Hör mal.«

Fidelma lauschte dem Trappeln der näher kommenden Pferde.

»Ich bin kein Krieger, Duban. Was hörst du?«

»Ich höre das Klappern von Pferderüstungen, Schwerter, die gegen Schilde schlagen, und den Klang schwerer Hufeisen. Die Reiter sind bewaffnet. Wenn ich einen Jagdhund im Schafstall finde, versuche ich zuerst einmal festzustellen, ob den Schafen Gefahr droht.«

Er machte ihr ein Zeichen, still zu sein.

Durch das Unterholz und die Bäume, die zwischen ihnen und dem Weg standen, konnten sie Gestalten ausmachen. Es waren ungefähr ein Dutzend Reiter, die lässig ihres Weges zogen. Einige trugen leichte Mäntel und Schilde am Arm, andere lange Lanzen.

Die letzten der Schar führten an Leitzügeln ein halbes Dutzend Esel mit sich, stämmige Lasttiere, an deren Seiten offensichtlich schwerbeladene geschlossene Tragkörbe hingen.

Daß die Reiter nichts davon ahnten, daß sie beobachtet wurden, erkannte man an dem lauten, groben Gelächter, mit dem sie die zotigen Witze über einen von ihnen begleiteten.

Fidelma kniff die Augen zusammen. Ganz zum Schluß, noch hinter den Packeseln, ritt ein Mann ohne Mantel. Über der einen Schulter hing ihm ein Bogen, die andere war bandagiert, und den Arm trug er in einer Schlinge.

Sie holte tief Luft.

Duban und Fidelma warteten schweigend, bis die Reiter außer Hörweite waren. Dann erhoben sie sich langsam und gingen zurück zu Eadulf und Gadra.

»Das verstehe ich nicht«, sagte Eadulf sofort. »Warum verstecken wir uns vor diesen Reitern?«

Duban strich sich nachdenklich über seinen schwarzen Bart.

»Ich glaube, das sind die Viehdiebe, die die Bauernhöfe von Araglin unsicher machen.«

»Woher weißt du das?« fragte Fidelma.

»Ich sah gut bewaffnete Männer, die fremd sind in diesem Tal. Warum sind sie hier? Wir wissen, daß Bewaffnete einige unserer Bauernhöfe überfallen haben. Ist es nicht logisch, daß sie es waren?«

»Es hört sich logisch an«, gab Eadulf widerwillig zu.

»Wenn es Viehdiebe sind, warum führen sie dann die schwerbeladenen Esel mit? Und wohin wollen sie?«

»Dieser Weg führt nach Süden aus den Tälern heraus zur Küste. Von hier aus kann man in kurzer Zeit nach Lios Mhor oder Ard Mor gelangen«, erklärte Gadra.

»Kann man auf diesem Weg Lios Mhor schneller erreichen als auf dem, der an Bressals Herberge vorbeiführt?« erkundigte sich Fidelma. Sie erinnerte sich an das, was Bressal ihr gesagt hatte.

»Auf diesem Weg kommt man einen halben Tag eher nach Lios Mhor, als wenn man den Weg an Bres-sals Herberge vorbei nimmt«, bestätigte der Alte.

»Wer diese Männer auch sein mögen«, warf Eadulf ein, »uns hätten sie doch sicher nichts getan? Ich bin zwar hier fremd, aber soviel habe ich gehört, daß es nicht üblich ist, Ordensleuten gegenüber Gewalt anzuwenden.«

»Mein angelsächsischer Bruder«, sagte Gadra und legte Eadulf seine magere Hand auf den Arm, »ist der Anlaß groß genug, bricht man auch den ältesten Brauch. Zu deinem Schutz solltest du dich lieber auf deinen gesunden Menschenverstand verlassen und nicht auf deine Kleidung.«

»Ein guter Rat«, stimmte ihm Fidelma zu. »Mindestens einem von denen sind wir schon einmal begegnet.«

Überrascht hob Eadulf die Brauen.

»Tatsächlich?« fragte er.

»Wo?« wollte Duban wissen.

»Der mit dem Arm in der Schlinge«, fuhr Fidelma ungerührt fort, »war einer von denen, die Eadulf vor zwei Tagen verwundete, als sie Bressals Herberge überfielen. Sein Pfeil bohrte sich tief ins Fleisch.«

»Eadulf traf einen Angreifer mit einem Pfeilschuß?«

Der alte Gadra sah Eadulf mit unverhohlenem Staunen an. Dann begann er zu lachen.

Eadulf schnaubte verärgert.

»Manchmal verlasse ich mich nicht nur auf meine Kleidung, wenn ich mich verteidigen muß«, meinte er trocken.

Gadra schlug ihm auf die Schulter.

»Ich glaube, du gefällst mir, mein angelsächsischer Bruder. Manchmal vergesse ich, wie nötig man pragmatische Menschen braucht. Man kann nicht über einen Fluß rudern, wenn man keine Riemen hat.«

Eadulf wußte nicht recht, wie er das auffassen sollte, und beschloß, es als Kompliment zu nehmen.

Duban schaute immer noch ernst drein.

»Bist du sicher, daß dies die Männer waren, die Bressals Herberge angriffen?«

Fidelma nickte.

»Wir können es bezeugen.«

»Ich glaube, wir müssen so schnell wie möglich zurück zum rath von Araglin.«

»Was ist mit Menma?« fragte Eadulf, doch Fidelma warf ihm einen Blick zu, der ihn verstummen ließ.

Duban wandte sich stirnrunzelnd um, er hatte ihren warnenden Blick nicht gesehen.

»Wieso Menma?« fragte er.

»Eadulf hat überlegt, wer den rath verteidigen könne, wenn die Banditen ihn angreifen«, erklärte Fidelma eilig.

Duban schüttelte den Kopf.

»Menma wäre keine große Hilfe. Aber der Critan und andere meiner Krieger sind dort. Doch diese Räuber reiten vom rath weg, also brauchen wir uns um seine Sicherheit keine Sorgen zu machen, Bruder.«

Eadulf zuckte die Achseln. Er begriff, daß es Fidelma aus diesem oder jenem Grunde für sich behalten wollte, daß Menma an dem Überfall auf Bressals Herberge teilgenommen hatte. Da merkte er, daß Ga-dra ihn forschend musterte. Er wandte sich ärgerlich ab und führte sein Pferd zum Weg zurück.

Nun ritt ihnen Duban schneller voran als zuvor, er ließ das Pferd traben, so oft es der Pfad durch die engen Hohlwege erlaubte und die niedrigen Äste sie nicht behinderten.

Eine Weile später flüsterte Gadra dem vor ihm sitzenden Eadulf ins Ohr: »Sei getrost, mein angelsächsischer Bruder. Wenn du zweimal denkst, bevor du einmal redest, sprichst du doppelt so weise.«

Eadulf preßte die Lippen zusammen und fluchte innerlich über den Scharfblick des Alten.

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