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Er fand in dieser Nacht nur wenig Ruhe. Aus jedem kurzen Schlummer jagten ihn Alpträume in die Realität zurück. Es waren stroboskopartige, von Gift durchsetzte Visionen, an die er sich nur noch schwach erinnern konnte, wenn er aufwachte. Schließlich gab er auf und begann damit, seine Habseligkeiten zu durchstöbern, bis er das Juwel in seiner Hülle aus Samt und Silber fand. In der Dunkelheit sitzend, berauschte er sich an dessen leeren Versprechungen.

Stunden vergingen. Dann erhob sich Dirk, kleidete sich an, steckte das Juwel in die Tasche und ging allein nach draußen, um den Auf gang des Rades mitzuerleben.

Ruark schlief noch fest, aber er hatte den Türcode auf Dirk eingestellt, so daß es für diesen kein Problem war, den Raum zu verlassen. Mit dem Aufzug fuhr er zum Dach hinauf und verbrachte die letzten Stunden der Nacht in sitzender Stellung auf dem kalten Metallflügel des grauen Luftwagens.

Die Morgendämmerung erschien ihm eigenartig, wirkte trübe und gefährlich. Ein trister Tag wurde aus ihr geboren. Zuerst überzog ein diesiger Schein den Horizont, ein schwarzrotes Geschmier, das für die Glühsteine der Stadt nur ein schwaches Echo abgab.

Dann ging die erste Sonne auf: eine winzige gelbe Kugel, in welche Dirk mit ungeschütztem Auge blicken konnte.

Minuten später erschien an einer anderen Stelle des Horizontes eine zweite, größere und hellere Sonne.

Obwohl beide deutlich größer waren als Sterne, spendeten sie immer noch weniger Licht als etwa Braques feister Mond.

Etwas später begann die Nabe über dem Freigelände zu erscheinen. Anfangs war es nur ein Streifen matten Rots, der sich im Zwielicht der Morgendämmerung verlor, aber dann wurde er heller und heller, bis Dirk schließlich erkannte, daß es sich um keine Reflexion, sondern um die Korona einer mächtigen, roten Sonne handelte. In ihrem Schein nahm die Welt eine karmesinrote Färbung an.

Er sah auf die Straßen hinunter. Die Steine von Larteyn waren jetzt verblaßt, nur in Schattenzonen konnte man noch ein schwaches Glühen bemerken. Wie eine mausgraue Decke, durchwirkt von verwaschenem Rot, hatte sich Düsternis über die Stadt gelegt. Im kalten, schwachen Licht waren die Flammen der Nacht erloschen, und über den stillen Straßen lag der bittere Hauch von Tod und Verlassenheit. Worlorns Tag. Noch herrschte Zwielicht.

»Letztes Jahr war es noch heller«, ertönte eine Stimme hinter ihm. »Nun wird es jeden Tag dunkler und kälter.

Von den sechs Sternen der Höllenkrone verstecken sich im Augenblick zwei hinter dem Fetten Satan und sind daher für uns ohne Nutzen. Die anderen werden kleiner und entfernen sich allmählich. Satan selbst schaut noch auf Worlorn herab, aber sein Licht ist tiefrot und wird immer schwächer. So lebt Worlorn in einem langsam abnehmenden Sonnenuntergang. Nur wenige Jahre noch, und die sieben Sonnen werden zu sieben Sternen geschrumpft sein. Dann wird das Eis zurückkommen.« Der Sprecher stand bewegungslos da und betrachtete den Sonnenaufgang. Seine Stiefel zeigten leicht auseinander, die Hände hatte er auf die Hüften gelegt.

Es handelte sich um einen hochgewachsenen Mann, schlank und sehr muskulös, der den Oberkörper sogar an einem solch frostigen Morgen nicht bedeckt hatte. Seine rotbronzene Haut bekam durch das Licht des Fetten Satan einen noch röteren Ton. Er hatte hohe, eckige Backenknochen, ein wuchtiges, breites Kinn und nach hinten gekämmtes, schulterlanges Haar, ebenso schwarz wie das von Gwen. An den Unterarmen -es waren dunkle, mit feinem schwarzem Haar bedeckte Arme — trug er zwei schwere Armbänder. Jade und Silber am linken, schwarzes Eisen mit rotem Glühstein am rechten Arm.

Auf der Mantaschwinge sitzend, verzog Dirk keine Miene. Der Mann sah auf ihn herab. »Sie sind Dirk t’Larien, und einst waren Sie Gwens Liebhaber.« »Und Sie sind Jaan.«

»Jaan Vikary, von der Eisenjadeversammlung«, sagte der andere. Er trat ein paar Schritte vor und hob die Hände, wobei er die leeren Handflächen nach außen richtete.

Von irgendwoher kannte Dirk diese Geste. Er stand auf und preßte seine eigenen Handflächen gegen die des Kavalaren. Dabei fiel ihm noch etwas auf. Jaan trug einen Gürtel aus schwarzem, geöltem Metall, und eine Laserwaffe hing an seiner Seite.

Vikary war seinem Blick gefolgt und lächelte. »Alle Kavalaren sind bewaffnet. So ist es bei uns Sitte — wir schätzen das. Ich hoffe, Sie sind nicht schockiert oder so voreingenommen wie Gwens Freund, der Kimdissi.

Falls doch, so ist das Ihr Fehler und nicht der unsrige.

Larteyn ist ein Teil von Hoch Kavalaan. Sie können nicht erwarten, daß sich unsere Kultur der Ihrigen anpaßt.«

Dirk setzte sich wieder. »Nein. Nach allem, was ich gestern abend gehört habe, hätte ich damit rechnen müssen. Ich finde es wirklich sehr merkwürdig. Findet irgendwo ein Krieg statt?«

Vikary lächelte dünn — ein gleichmäßiges, wohlüberlegtes Entblößen der Zähne. »Irgendwo findet immer ein Krieg statt, t’Larien. Das Leben selbst ist ein Krieg.« Er hielt inne. »Sie heißen t’Larien. Ein ungewöhnlicher Name. Niemals habe ich einen ähnlich klingenden Namen gehört, auch mein teyn Garse nicht.

Wo liegt Ihre Heimatwelt?« »Baidur, ziemlich weit von hier. Auf der anderen Seite von Alt-Erde. Aber ich kann mich kaum daran erinnern. Als ich noch sehr jung war, zogen meine Eltern nach Avalen.«

Vikary nickte. »Sie sind viel gereist, wie mir Gwen sagte. Welche Welten haben Sie gesehen?«

Dirk zuckte die Achseln. »Prometheus, Rhiannon, Thisrock, Jamisons Welt und viele andere. Avalon nicht zu vergessen. Insgesamt ein Dutzend meist primitiverer Welten als Avalon, auf denen mein Wissen gefragt ist.

Wenn man am Institut gewesen ist, findet man gewöhnlich leicht Arbeit. Man braucht nicht einmal besonders geschickt oder talentiert zu sein. Ich komme gut zurecht und reise gern herum.« »Aber bisher sind Sie nie über Tempters Schleier hinausgekommen.

Immer nur im Wirrwarr, nie auf den Außenwelten. Sie werden sehen, t’Larien, hier geht es anders zu.«

Dirk runzelte die Stirn. »Welches Wort haben Sie eben gebraucht? Wirrwarr?«

»Der Wirrwarr«, wiederholte Vikary. »Ach ja, das ist Slang der Wolfmenschen. Die Wirrwarrwelten oder chaotischen Welten, wenn Sie so wollen. Eine Redensart, die ich mir durch Umgang mit mehreren Wolfmenschen, die während meiner Studienzeit auf Avalon zu meinen Freunden zählten, angeeignet habe. Der Begriff bezieht sich auf die Sternensphäre zwischen den Außenwelten und den Kolonien der ersten und zweiten Generation, nahe der Alt-Erde. In diesem Raumsektor begannen die Hranganer mit ihren Eroberungszügen, unterdrückten ihre Sklavenwelten und kämpften gegen die Erdimperialen. Die meisten Planeten, die Sie nannten, waren schon damals besiedelt. Durch den Krieg wurden sie schwer betroffen und durch den Zusammenbruch ins Chaos gestürzt. Avalon selbst ist eine Kolonie der zweiten Generation. Einst war Avalon der Hauptplanet des ganzen Sektors. Was meinen Sie, reicht das als Charakterisierung einer Welt in der heutigen, wirren pi-Zeit?«

Dirk nickte zustimmend. »Ja. Ich kenne mich nur ein wenig in Geschichte aus, aber Sie scheinen eine Menge darüber zu wissen.« »Ich bin Historiker«, sagte Vikary.

»Der größte Teil meiner Arbeit war dem Problem gewidmet, auf meiner eigenen Welt, Hoch Kavalaan, Mythen und geschichtliche Ereignisse zu trennen.

Eisenjade schickte mich aus diesem Grund unter großem Kostenaufwand nach Avalon, um die Datenbänke der alten Computer zu überprüfen. Nun, ich verbrachte dort zwei Studienjahre, hatte sehr viel Freizeit und entwickelte Interesse an der allgemeinen Geschichte des Menschen.«

Dirk sagte nichts, sondern widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Morgendämmerung. Die rote Scheibe des Fetten Satan war jetzt halb aufgegangen, und eine dritte gelbe Sonne wurde sichtbar. Sie lag nörd-lich von den anderen und war kaum größer als ein Stern.

»Der rote Stern ist ein Überriese«, sinnierte Dirk, »aber von hier scheint er nur ein bißchen größer als Avalons Sonne zu sein. Er muß sehr weit entfernt sein.

Erstaunlich, daß es hier noch relativ warm ist. Eigentlich müßte sich doch längst Eis gebildet haben. Aber es ist nur kühl.« »Das ist unser Verdienst«, erzählte ihm Vikary mit einem gewissen Stolz. »Nicht das Verdienst von Hoch Kavalaan allein, aber unzweifelhaft das gemeinsame Werk der Außenwelten. Während des Zusammenbruchs bewahrte Tober einen Teil des Wissens um die Kraftfeldtechnologie der Erdgeborenen. Seither haben die Toberianer auf diesem Gebiet dazugelernt.

Ohne ihren Schild wäre niemals ein Festival auf Worlorn möglich gewesen. Im Perihel hätte die Hitze von Höllenkrone und Fettem Satan die Atmosphäre des Planeten verbrannt und sein Meer verdampft. Aber der toberianische Schild schützte vor allen Naturgewalten, und wir verlebten einen langen, strahlenden Sommer.

Auf ähnliche Weise hilft er jetzt, die Wärme zu halten.

Dennoch hat er, wie alles, seine Grenzen. Die Kälte wird kommen.«

»So habe ich mir unser Zusammentreffen eigentlich nicht vorgestellt«, sagte Dirk. »Warum sind Sie heraufgekommen?« »Auf gut Glück. Vor Jahren erzählte mir Gwen, daß Sie die Morgendämmerung lieben. Und andere Dinge auch, Dirk t’Larien. Ich weiß mehr von Ihnen als Sie von mir.«

Dirk lachte. »Das ist wahr. Bis gestern abend wußte ich nicht einmal von Ihrer Existenz.«

Jaan Vikarys Gesicht war hart und ernst geworden.

»Aber ich existiere. Denken Sie immer daran. Und wir können Freunde sein! Ich hoffte darauf, Sie allein anzutreffen und Ihnen dies mitzuteilen, bevor die anderen aufwachen. Wir sind hier nicht auf Avalon, t’Larien, und heute ist nicht gestern. Wir befinden uns auf einer sterbenden Festivalwelt, einer Welt ohne eigene Normen.

Deshalb muß jeder streng die Normen befolgen, die ihm mitgegeben wurden. Versuchen Sie nicht, mein Selbstverständnis auf die Probe zu stellen. Seit meinen Jahren auf Avalon habe ich mich bemüht, mich selbst als Jaan Vikary zu begreifen, aber ich bin immer noch ein Kavalare. Zwingen Sie mich nicht, Jaantony Riv Wolf Hoch-Eisenjade Vikary zu sein.«

Dirk stand auf. »Ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie meinen«, sagte er. »Aber ich glaube, ich kann herzlich und offen sein. Ich habe bestimmt nichts gegen Sie, Jaan.«

Das schien zu genügen, um Vikary zufriedenzustellen.

Er nickte gemächlich und griff dann in seine Hosentasche. »Ein Zeichen meiner Freundschaft und meines Interesses an Ihnen«, sagte er. In seiner Hand lag eine schwarze Kragennadel aus Metall, ein winziger Manta. »Würden Sie es für die Zeit Ihres Aufenthalts auf Worlorn tragen?« Dirk nahm die Nadel aus seiner Hand.

»Wenn ich Ihnen damit einen Gefallen tun kann«, sagte er, amüsiert über die Förmlichkeit des anderen. Er heftete die Nadel an seinen Kragen.


»Diese Morgendämmerung ist düster«, sagte Vikary, »und der Tag wird nicht viel besser werden. Kommen Sie hinunter zu unseren Quartieren. Ich werde die anderen wecken, dann können wir essen.«

Das Appartement, das Gwen mit den beiden Kavalaren teilte, war riesengroß. Der Wohnraum wurde durch einen zwei Meter hohen und doppelt so breiten Kamin beherrscht, über dem sich ein schiefergrauer Sims mit finster blickenden Wasserspeiern befand, die wohl die Asche bewachen sollten. Vikary führte Dirk über einen breiten schwarzen Teppich in ein Eßzimmer hinein, das fast ebenso groß war. Dirk setzte sich auf einen der zwölf Holzstühle mit hoher Rückenlehne, die den großen Tisch umstanden, während sein Gastgeber sich um das Essen und Gesellschaft für ihn kümmerte.

Kurze Zeit später kam er mit einer Platte, auf der dünngeschnittene Fleischscheiben lagen, und einem Korb mit Zwieback zurück. Er stellte beides vor Dirk ab, wandte sich um und ging wieder. Er war gerade verschwunden, als sich eine andere Tür öffnete und Gwen mit schlaftrunkenem Lächeln eintrat. Sie trug ein altes Stirnband, verwaschene Hosen und eine unförmige grüne Bluse mit weiten Ärmeln. Er konnte das Glitzern ihres schweren Jade-und-Silber-Armreifs sehen, der ihren linken Arm eng umschloß. Einen Schritt hinter ihr kam ein weiterer Mann in den Raum, fast ebenso groß wie Vikary, aber einige Jahre jünger und viel schlanker. Er trug einen kurzärmeligen, einteiligen Anzug aus rotbraunem Chamäleonstoff und blickte Dirk aus lebhaften, blauen Augen an, den blauesten, die Dirk je gesehen hatte. Ein roter Vollbart schmückte sein hageres, scharfgeschnittenes Gesicht. Gwen setzte sich. Der Rotbart hielt vor Dirks Stuhl an. »Ich bin Garse Eisenjade Janacek«, sagte er. Er bot seine Handflächen an. Dirk erhob sich, um die seinen dagegen zu pressen.

Garse Eisenjade Janacek trug, wie Dirk feststellte, eine Laserpistole an seiner Hüfte, eingehängt in ein Lederhalfter an einem silberglänzenden Netzstahlgürtel.

Seinen rechten Unterarm umspannte ein schwarzer Armreif, ein Zwilling des Reifs von Vikary — Eisen und Glühstein. »Wahrscheinlich wissen Sie, wer ich bin«, sagte Dirk. »In der Tat«, erwiderte Janacek. Er stellte ein recht arglistiges Grinsen zur Schau. Beide setzten sich.

Gwen kaute bereits auf einem Zwieback herum. Als Dirk sich auf seinem Stuhl niedergelassen hatte, beugte sie sich über den Tisch, befingerte die kleine Mantanadel an seinem Kragen und lächelte dabei amüsiert. »Ich sehe, daß du und Jaan euch schon gefunden habt«, sagte sie.

»Mehr oder weniger«, gab Dirk zurück, und genau in diesem Augenblick kam Vikary wieder. In der rechten Hand hielt er ungeschickt vier Zinnbecher bei den Henkeln, mit der Linken balancierte er einen großen Krug Dunkelbier. Er setzte alles auf der Tischmitte ab, dann ging er ein letztes Mal in die Küche zurück, um Teller, Eisenbestecke und einen glasierten Krug zu holen, der eine süßgelbe Paste enthielt, die als Aufstrich für den Zwieback dienen sollte.

Während er draußen war, schob Janacek die Becher über den Tisch zu Gwen. »Schenk ein«, befahl er ihr in recht schroffem Ton, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder Dirk zuwandte. »Wie ich erfahren habe, waren Sie der erste Mann, den sie kannte«, sagte er, während Gwen einschenkte. »Sie haben sie mit einer stattlichen Zahl schlechter Angewohnheiten zurückgelassen«, fuhr er kalt lächelnd fort. »Ich bin geneigt, das als Beleidigung aufzufassen und fordere Genugtuung.« Dirk sah verstört aus. Gwen hatte drei der vier Becher mit Bier und Schaum gefüllt. Einen schob sie an Vikarys Platz, den zweiten reichte sie Dirk, und aus dem dritten nahm sie einen langen Zug. Dann wischte sie sich mit dem Handrücken über die Lippen, lächelte Janacek an und gab ihm den leeren Becher. »Falls du Dirk wegen meiner Angewohnheiten belangen willst«, sagte sie, »dann muß ich wohl Jaan bitten, mir für die Jahre Genugtuung zu verschaffen, die ich unter deinen Angewohnheiten gelitten habe.« Janacek wog den leeren Bierbecher in den Händen und blickte finster drein. » Betheyn-Schlampe«, sagte er fast im Plauderton. Dann schenkte er sich sein Bier selbst ein. Einen Augenblick später war Vikary zurück. Er setzte sich, nahm einen Schluck aus seinem eigenen Becher, und alle begannen zu essen. Sehr schnell merkte Dirk, daß Bier zum Frühstück nicht das verkehrteste war. Auch der Zwieback, bestrichen mit einer dicken Schicht der süßen Paste, war ausgezeichnet.

Das Fleisch hingegen kam ihm ziemlich trocken vor.

Die ganze Zeit über stellten ihm Janacek und Vikary Fragen, während Gwen zurückgelehnt lauschte, amüsiert dreinschaute und sehr wenig sprach. Die beiden Kavalaren waren so unterschiedlich wie Tag und Nacht.

Jaan Vikary, noch immer mit freiem Oberkörper, gähnte sehr oft und kratzte sich geistesabwesend. Er beugte sich beim Sprechen vor, und sein Tonfall drückte ein allgemeines, freundliches Interesse aus. Er lächelte oft und schien weit ungezwungener als auf dem Dach.

Dennoch kam er Dirk gehemmt vor, wie ein Mann, der unter Zwang stand und um seine Freiheit kämpfte. Selbst seine Zwanglosigkeit, das Lächeln, das Kratzen, schien Dirk einstudiert und aufgesetzt zu sein. Garse Janacek, der aufrechter saß als Vikary, sich niemals kratzte und keine verschnörkelten kavalarischen Sprachmanierismen ausließ, war in Wirklichkeit viel entspannter. Er war ein Mann, der die Einschränkungen genoß, die ihm seine Gesellschaft auferlegt hatte und gar nicht daran dachte, aus ihnen ausbrechen zu wollen. Er sprach lebhaft und geschliffen, stieß Beleidigungen aus, wie ein Schleifstein Funken sprüht. Die meisten davon waren an Gwens Adresse gerichtet. Einige davon gab sie postwendend zurück, aber meistens war diese Gegenwehr nur schwach.

Bei diesem Spiel war Janacek eindeutig der Sieger.

Manches hatte den Anschein eines beiläufigen, ja freundschaftlichen Schlagabtausches, aber einige Male glaubte Dirk, einen Anflug echter Feindseligkeit erkannt zu haben. Bei jedem neuen Aufflackern dieser kleinen Boshaftigkeiten umwölkte sich Vikarys Gesicht.

Als Dirk zufällig seine Zeit auf Prometheus erwähnte, sprang Janacek sofort darauf an. »Sagen Sie, t’Larien«, begann er, »halten Sie die Veränderten Menschen noch für menschlich?«

»Natürlich«, sagte Dirk, »das sind sie ohne Zweifel.

Die modernen Promethaner sind nur Nachkommen des alten Korps für Ökologische Kriegführung, das während des Krieges von den Erdgeborenen dort angesiedelt wurde.«

»Ehrlich gesagt«, hielt Janacek dagegen, »würde ich mit Ihrem Urteil nicht übereinstimmen. Sie haben ihre eigenen Gene derart manipuliert, daß sie meiner Meinung nach das Recht verwirkt haben, sich Menschen nennen zu dürfen. Libellenmenschen, Tiefseemenschen, Menschen, die Gift atmen, Menschen, die wie Hruun im Dunkeln sehen, Menschen mit vier Armen, Hermaphroditen, Soldaten ohne eigenen Willen, Zuchtsäue ohne Gefühl — diese Kreaturen sind keine Menschen. Sie sind Nichtmenschen.«

»Nein«, widersprach Dirk. »Den Begriff Nichtmensch habe ich schon oft gehört. Auf vielen Welten ist er im allgemeinen Sprachgebrauch gang und gäbe, aber er bezeichnet menschliche Abkömmlinge, die so weit mutiert sind, daß sie mit der Ursprungsrasse keine Nachkommen mehr zeugen können. Die Promethaner haben das sorgfältig vermieden. Ihre Führer — und die sind fast normal, müssen Sie wissen, weisen nur kleinere Veränderungen wie Langlebigkeit auf — nun, diese Führer überfallen regelmäßig Rhiannon und Thisrock.

Um gewöhnliche, erdnormale Menschen …«

»In den letzten Jahrhunderten wich selbst die Erde vom Erdnormalen ab«, fuhr Janacek dazwischen. Dann zuckte er die Schultern. »Ich hätte Sie nicht unterbrechen sollen, nicht wahr? Alt-Erde ist viel zu weit entfernt, und wir hören nur jahrhundertealte Gerüchte. Fahren Sie bitte fort.«

»Ich habe meinen Standpunkt dargelegt«, sagte Dirk.

»Die Veränderten Menschen sind noch immer menschlich. Selbst die unteren Kasten, die groteskesten Menschen, Ergebnisse der von Ärzten verpfuschten Experimente — alle können sich untereinander fortpflanzen. Deshalb sterilisiert man sie. Aus Angst vor der Nachkommenschaft.« Janacek nahm einen großen Schluck Bier und beobachtete ihn mit seinen tiefblauen Augen. »Dann können sie also mit Menschen Nachkommen zeugen?« Er grinste. »Sagen Sie, t’Larien, haben Sie während Ihres Aufenthaltes auf dieser Welt die Gelegenheit gehabt, das persönlich herauszufinden?«

Dirk errötete und ertappte sich dabei, wie er zu Gwen hinüberschielte. »Ich habe die letzten sieben Jahre nicht im Zölibat gelebt, wenn Sie das meinen«, stieß er hervor.

Janacek belohnte seine Antwort mit einem Grinsen und sah auf Gwen. »Interessant«, sagte er zu ihr. »Da hat der Mann mehrere Jahre in deinem Bett verbracht — und plötzlich findet er Gefallen an Tieren.« Ihr Gesicht verzerrte sich vor Wut. Dirk kannte sie noch immer gut genug, um das zu erkennen. Auch Jaan Vikary sah nicht gerade glücklich aus. »Garse!« sagte er warnend.

Janacek überging ihn. »Oh, Entschuldigung, Gwen«, sagte er. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten. Zweifellos hat t’Larien seine Vorliebe für Meerjungfrauen und Eintagsfliegenmädchen unabhängig von dir entwickelt. «

»Werden Sie in die Wildnis hinausgehen, t’Larien?« fragte Vikary laut und drängte damit den anderen Kavalaren absichtlich aus der Konversation.

»Ich weiß nicht«, sagte Dirk und nippte an seinem Bier.

»Sollte ich das?«

»Falls du es unterläßt, werde ich es dir nie vergeben«, sagte Gwen mit einem schwachen Lächeln. »Dann gehe ich. Was ist daran so interessant?«

»Das Ökosystem. Werden und Vergehen, alles nebeneinander. Lange Zeit war die Ökologie des Randes eine vergessene Wissenschaft. Selbst heute noch gibt es auf den Außenwelten weniger als ein Dutzend geschulte Ökotechniker. Als das Festival näher rückte, beglückte man Worlorn mit Lebensformen von vierzehn verschiedenen Welten, ohne sich deren Zusammenwirken vorher zu überlegen. In Wirklichkeit waren sogar mehr als vierzehn Welten im Spiel, wenn man die multiplen Transplantationen mitzählt — also Tiere, die von der Erde nach Newholme, von dort nach Avalen, weiter nach Wolfheim und schließlich nach Worlorn exportiert wurden. So ähnlich ging es zumindest zu. Arkin und ich arbeiten an einer Studie darüber, wie sich dies alles entwickelt hat. Wir sind schon ein paar Jahre damit beschäftigt, und es ist genügend Arbeit vorhanden, um uns noch ein weiteres Jahrzehnt in Atem zu halten. Die Ergebnisse sollten für die Ökonomen aller Außenwelten von besonderem Interesse sein. Sie werden daraus entnehmen können, welche Flora und Fauna des Randes ohne Risiko auf ihrer Heimatwelt eingeführt werden kann, unter welchen Bedingungen das zu geschehen hat, und welche einzelnen Arten Gift für bestimmte Ökosysteme sind.«

»Die Tiere von Kimdiss erwiesen sich als besonders giftig«, knurrte Janacek. »Genau wie die Manipulatoren selbst.«

Gwen schenkte ihm ein Zucken der Mundwinkel.

»Garse ist verärgert, weil es so aussieht, als würde der schwarze Banshee bald aussterben«, erzählte sie Dirk.

»Es ist wahrlich eine Schande. Auf Hoch Kavalaan hat man sie gejagt, bis sie dem Aussterben nahe waren. Man hatte gehofft, daß die hier ausgesetzten Exemplare sich vermehren würden, bevor die große Kälte wieder einsetzte, und man wollte sie dann nach Hoch Kavalaan zurückbringen. Es hat nicht geklappt. Der Banshee ist ein schreckliches Raubtier. Auf seiner Heimatwelt kann er sich mit dem Menschen messen, aber auf Worlorn wurde er in seinem eigenen Revier von kimdissianischen Baumgeistern bedroht.«

»Die meisten Kavalaren halten den Banshee nur für eine Plage und Bedrohung«, erklärte Jaan Vikary. »Dort, wo er in freier Natur vorkommt, tötet er oftmals Menschen, und die Jäger von Braith und Rotstahl und dem Shanagate-Trutz halten den Banshee für ein ideales Jagdwild. Es gibt nur eine Ausnahme. Eisenjade war schon immer anderer Meinung. Es gibt eine alte Legende aus der Zeit, wo Kay Eisen-Schmied und sein teyn Roland Wolf-Jade in den Bergen von Lameraan allein gegen eine Armee von Dämonen kämpften. Kay stürzte und Roland, der über ihm wachte, war einen Augenblick lang geschwächt, als aus den Bergen die Banshees herbei geflogen kamen. Sie tauchten in solch großer Zahl auf, daß ihre schwarzen Leiber die Sonne verdunkelten.

Hungrig fielen sie über die Dämonenarmee her und fraßen nacheinander alle Dämonen auf. Nur Kay und Roland ließen sie am Leben. Später dann, als diese teyn-und-teyn ihre Frauenhöhle gründeten und den ersten Eisenjade-Festhalt ins Leben riefen, wurde der Banshee ihr Brudertier und Siegelsymbol. Kein Eisenjade hat seither einen Banshee getötet. In der Legende heißt es, wann immer ein Mensch von Eisenjade in Lebensgefahr schwebt, wird ein Banshee auftauchen, um ihn zu schützen und zu leiten.«

»Eine hübsche Geschichte«, meinte Dirk.

»Es ist mehr als nur eine Geschichte«, sagte Janacek.

»Zwischen Eisenjade und den Banshees besteht ein enger Bund, t’Larien. Vielleicht ist diese Bindung psionischer Natur, vielleicht beruht sie auf Gefühlen, vielleicht ist alles nur Instinkt. Ich will mich nicht rühmen, es zu wissen. Aber dennoch existiert diese Bindung.«

»Aberglaube«, bemerkte Gwen. »Du darfst Garse das wirklich nicht allzu übel nehmen. Es ist nicht seine Schuld, daß er nur wenig Bildung besitzt.«

Dirk strich Paste auf seinen Zwieback und beobachtete Janacek dabei. »Jaan erwähnte, er sei Historiker, und ich weiß, was Gwen macht«, sagte er. »Wie steht es mit Ihnen? Was machen Sie?« Die blauen Augen starrten unbeweglich. Janacek sagte nichts.

»Ich habe den Eindruck, daß Sie kein Ökologe sind«, fuhr Dirk fort.

Gwen lachte.

»Dieser Eindruck trifft bis ins Detail zu, t’Larien«, sagte Janacek. »Was machen Sie dann auf Worlorn? Und überhaupt« — damit sah er zu Jaan Vikary hinüber —, »was findet ein Historiker an einem Ort wie diesem so reizvoll?«

Vikary wog seinen Bierbecher zwischen den großen Händen und trank aus ihm gedankenvoll. »Das ist schnell gesagt«, antwortete er. »Ich bin hochleibeigener Kavalare der Eisenjadeversammlung, der durch Jade-und-Silber mit Gwen Delvano verbunden ist. Der Rat der Hochleibeigenen sandte meine betheyn nach Worlorn, daher ist es nur natürlich, daß sich mein teyn und ich ebenfalls hier aufhalten. Verstehen Sie?« »Ich glaube schon. Sie leisten also Gwen Gesellschaft?« Janacek konterte sehr aggressiv. »Wir beschützen Gwen«, sagte er mit eisiger Stimme. »Im Normalfall nur vor ihrer eigenen Torheit. Sie sollte überhaupt nicht hier sein, aber da sie es ist, müssen wir ebenfalls hier sein. Und was Ihre vorige Frage anbelangt, t’Larien, so bin ich ein Eisenjade, teyn von Jaantony Hoch-Eisenjade. Ich kann alles unternehmen, was mein Festhalt von mir verlangt: jagen oder anpflanzen, mich duellieren, Hochkrieg gegen unsere Feinde führen, Babys in den Bäuchen unserer eyn-kethi machen. Das alles kann von mir verlangt und ausgeführt werden. Was ich bin, wissen Sie schon. Ich habe Ihnen meinen Namen genannt.«

Vikary warf ihm einen Seitenblick zu und gebot ihm mit einer ruckartigen Bewegung seiner rechten Hand zu schweigen. »Sehen Sie uns als späte Touristen an«, empfahl er Dirk. »Wir studieren und wir wandern. Wir streifen ziellos durch Wälder und tote Städte, wir vertreiben uns die Zeit. Wir würden Banshees einfangen, damit sie nach Hoch-Kavalaan zurückgebracht werden können. Wir haben bisher nur keine Banshees ausmachen können.« Er stand auf und leerte dabei seinen Becher.

»Der Tag wird älter, und wir sitzen herum«, sagte er, nachdem er den Becher auf den Tisch zurückgestellt hatte. »Wenn Sie die Wildnis besuchen wollen, sollten Sie das gleich tun. Selbst mit einem Flugwagen dauert es seine Zeit, bis man die Berge überquert hat — und es ist nicht ratsam, im Dunkeln draußen zu sein.«

»Tatsächlich?« Dirk trank sein Bier aus und wischte sich mit der Hand über den Mund. Servietten schienen nicht zum Gedeck eines kavalarischen Frühstücks zu gehören.

»Banshees sind nicht die einzigen Raubtiere auf Worlorn«, sagte Vikary. »In den Wäldern gibt es Räuber und Pirschgänger von vierzehn Welten, aber sie sind noch am leichtesten zu ertragen. Die Menschen sind am schlimmsten. Worlorn ist heute eine gespenstische Welt.

Die Pflanzenzonen, wie die unfruchtbaren Landstriche des Planeten, sind voller Merkwürdigkeiten.«

»Am besten gehen Sie nicht unbewaffnet«, sagte Janacek. »Vielleicht wäre es sogar besser, wenn Jaan und ich Sie begleiten würden — nur zu Ihrer eigenen Sicherheit.«

Aber Vikary schüttelte den Kopf. »Nein, Garse. Sie müssen allein gehen und miteinander reden. So ist es besser, verstehst du? Das ist mein ausdrücklicher Wunsch.« Dann lud er sich die Arme mit Tellern voll und ging in Richtung Küche. Kurz vor der Tür hielt er inne und warf einen Blick über die Schulter. Seine Augen trafen sich kurz mit denen von Dirk.


Und Dirk erinnerte sich an die Worte, die Jaan im Morgengrauen auf dem Dach gesagt hatte: »Aber ich existiere. Denken Sie immer daran.«

»Wann hast du zuletzt deinen Fuß auf einen Himmelsflitzer gesetzt?« fragte ihn Gwen kurze Zeit später, als er sie auf dem Dach traf. Sie hatte einen einteiligen Chamäleonstoffoverall angezogen, ein mit Gürtel versehenes Kleidungsstück, das sie von Kopf bis Fuß in ein düsteres Graurot hüllte. Das Stirnband, welches ihr Haar zusammenhielt, war aus dem gleichen Stoff gefertigt.

»Das letzte Mal als Kind«, antwortete Dirk. Seine eigene Kleidung glich der ihren bis ins Detail, er hatte sie von ihr bekommen, damit sie im Wald nicht auffielen.

»Seit Avalon. Aber ich will es versuchen. Ich war früher sehr gut.«

»Na, dann los«, sagte Gwen. »Wir können weder weit noch schnell damit fliegen, aber das soll uns nicht stören.« Sie öffnete den Gepäckraum des grauen, mantaförmigen Luftwagens und entnahm ihm zwei silberglänzende Päckchen und zwei Paar Stiefel.

Auf der Schwinge des Luftwagens sitzend, zog Dirk die neuen Stiefel sofort an und schnürte sie. Gwen faltete die Flitzer auseinander, zwei weiche, handtuchdünne Metallflächen, die kaum groß genug waren, um bequem darauf stehen zu können. Als sie die Flitzer auf dem Boden ausbreitete, konnte Dirk die gitterförmig verlaufenden Drähte des Gravitationsneutralisators ausmachen, die in die Unterseite eingearbeitet waren.

Vorsichtig trat er auf einen der Flitzer. Die Metallfläche versteifte sich augenblicklich, und seine metallenen Sohlen fanden unverrückbar Halt. Gwen händigte ihm das Kontrollinstrument aus, das er sich so um das Handgelenk band, daß es in seine Handfläche hineinragte.

»Arkin und ich brauchen die Flitzer, um die Wälder zu durchstreifen«, erzählte ihm Gwen, die kniete, um sich die Stiefel zu binden. »Ein Luftwagen fliegt natürlich zehnmal so schnell, aber man findet nicht leicht eine Lichtung, die für eine Landung groß genug ist. Solange wir nicht allzuviel Ausrüstung mit uns herumschleppen oder es sehr eilig haben, sind die Flitzer für Kleinarbeit in unwegsamem Gelände genau das richtige. Garse hält sie für Kinderkram, aber …« Sie erhob sich, trat auf ihre Plattform und lächelte. »Fertig?«

»Alles klar«, sagte Dirk und strich mit dem Finger über die Silberwaffel in seiner rechten Handfläche. Ein bißchen zu stark. Der Flitzer schoß gleichzeitig nach vorn und oben und riß Dirks Füße mit sich. Da er auf diesen Schnellstart nicht vorbereitet war, überschlug er sich in der Luft und konnte von Glück sagen, daß er sich nicht den Schädel am Betondach einschlug. Wild lachend und unter seiner Plattform pendelnd, jagte er in den Himmel hinauf.

Mit einer Sicherheit, die auf lange Übung schließen ließ, folgte ihm Gwen aufrecht stehend auf ihrer Plattform in das windige Zwielicht nach. Sie ähnelte einem fremdartigen Dschinn, der auf einem silbernen Teppichrest reitete. Als sie Dirk erreichte, hatte dieser lange genug an seinen Kontrollen herumgespielt, um sich aufzurichten. Dennoch schwankte er noch ziemlich hin und her, in der verzweifelten Anstrengung, das Gleichgewicht zu halten. Im Gegensatz zu Luftwagen besaßen Flitzer keine Stabilisatoren.

»Mannnnn«, brüllte er, als sie zu ihm aufschloß.

Lachend flog Gwen an ihm vorbei und schlug ihm dabei herzhaft auf den Rücken. Das reichte, um ihn wieder umkippen zu lassen. Wild rudernd schlug er am Himmel über Larteyn ein Rad nach dem anderen.

Gwen war hinter ihm und rief ihm etwas zu. Dirk sah zur Seite und bemerkte, daß er nahe daran war, in einen Ebenholzturm zu krachen. Er bediente die Kontrollen und schoß senkrecht nach oben, noch immer um eine passable Haltung kämpfend.

Hoch über der Stadt kam er zum aufrechten Stand, als sie ihn einholte. »Bleib ja weg«, warnte er sie grinsend, wobei er sich ein bißchen dumm und ungeschickt, aber ausgelassen fühlte. »Wenn du mich noch einmal umwirfst, werde ich den Flugpanzer holen und dich vom Himmel lasern, Mädchen!« Er wich nach einer Seite aus, fing sich aber zu stark ab und pendelte aufschreiend zur anderen Seite.

»Du bist betrunken«, schrie ihm Gwen durch den schneidenden Wind zu. »Zuviel Bier zum Frühstück.«

Nun war sie über ihm und beobachtete — die Arme vor der Brust verschränkt — mit spöttischer Herablassung seine Anstrengungen.

»Auf mich macht alles einen solideren Eindruck, wenn man mit dem Kopf nach unten hängt«, rief Dirk. Endlich schien er so etwas wie eine Balance gefunden zu haben — obwohl er sich ihrer nicht allzu sicher war, denn er hielt die Arme weit ausgestreckt wie ein Seiltänzer.

Gwen kam auf seine Höhe herunter und flog zuversichtlich und mit sicherem Stand neben ihm. Ihr Haar flatterte wie ein lustiges schwarzes Banner hinter ihr her. »Wie kommst du zurecht?« schrie sie, als sie auf gleicher Höhe nebeneinanderflogen.

»Ich glaube, ich hab’s geschafft!« verkündete Dirk. Er stand noch immer aufrecht.

»Gut. Schau hinunter!«

Er sah hinab, vorbei an dem schmalen Stück Sicherheit unter seinen Füßen. Larteyn mit seinen dunklen Türmen und verglimmenden Glühsteinstraßen war nicht mehr zu sehen. Statt dessen sah er durch den leeren Zwielichthimmel das Freigelände tief, tief unter sich.

Dort unten erspähte er einen Fluß, einen Faden wandernden dunklen Wassers inmitten spärlich erleuchteten Grüns. Plötzlich wurde ihm schwindlig. Er ballte die Hände zu Fäusten und … kippte wieder um.

Diesmal tauchte Gwen unter ihm durch, während er herabhing. Sie verschränkte erneut die Arme und lachte ihn schadenfroh an. »Du bist mir vielleicht eine Pfeife, t’Larien«, hielt sie ihm vor. »Warum fliegst du eigentlich nie richtig herum?«

Er wollte etwas Unfreundliches sagen, versuchte es zumindest, aber der Wind nahm ihm den Atem. So konnte er nur Grimassen schneiden. Dann brachte er sich wieder in die richtige Position. Langsam wurden ihm von diesen Manövern die Knie weich. »Dort!« rief er und blickte trotzig nach unten, um zu beweisen, daß ihm die Höhe kein zweites Mal etwas ausmachte.

Gwen war wieder neben ihm. Sie musterte ihn kritisch und nickte dann. »Du bist eine Schande für alle Kinder von Avalon — und überhaupt für alle Himmelsflitzer«, sagte sie. »Aber wahrscheinlich wirst du es überleben.

Willst du jetzt die Wildnis kennenlernen?« »Flieg voran, Jenny!«

»Dann wende gefälligst, wir sind nämlich auf dem falschen Weg. Wir müssen die Berge überfliegen.« Sie streckte ihre freie Hand aus und nahm die seine.

Gemeinsam schwangen sie in einer weiten, aufwärtsge-richteten Spirale herum, auf Larteyn und das Bergmassiv zu. Von weitem sah die Stadt grau und verwaschen aus, ihre stolzen Glühsteine schimmerten schwarz im Sonnenlicht. Die Berge erhoben sich dunkel und bedrohlich.

Hand in Hand flogen sie darauf zu und gewannen ständig an Höhe, bis sie sich weit über der Feuerfeste befanden, hoch genug, um die Gipfel zu überqueren. Das war schon fast die Spitzenhöhe der Himmelsflitzer, ein Luftgleiter schaffte so etwas natürlich spielend. Aber für Dirk war es hoch genug. Die Overalls aus Chamäleonstoff waren ganz grau und weiß geworden, und er war dankbar für die Wärme, die sie spendeten.

Der Wind war bitterkalt, und der seltsame Worlorntag brachte kaum mehr Wärme als die Nacht. Sich weiter bei den Händen haltend, von Zeit zu Zeit Bemerkungen austauschend und sich gegen den Wind stemmend, flogen Gwen und Dirk einen Berghang hinauf und dann den gegenüberliegenden Abhang in ein schattiges Felstal hinunter. Wieder hoch und hinunter und noch einmal, vorbei an messerscharfen Zacken aus grünem und schwarzem Fels, vorbei an tiefstürzenden, schmalen Wasserfällen und noch schwindelerregenderen Abgründen. Einmal forderte ihn Gwen zu einem Wettfliegen heraus. Er rief ihr seine Einwilligung zu, und beide schossen, so schnell es ihre Flitzer und ihr Geschick erlaubten, durch die Lüfte, bis Gwen schließlich Mitleid für ihn empfand, zurückkam und ihn wieder bei der Hand nahm. So plötzlich, wie sie sich im Osten erhoben hatte, fiel die Bergkette im Westen ab.

Hinter ihnen erhob sich nun eine hohe Barriere, die das Licht des ständig steigenden Rades noch nicht gänzlich in die Wildnis vordringen ließ. »Hinab«, sagte Gwen. Er nickte, und sie begannen den langsamen Abstieg in den grünen Wirrwarr unter ihnen. Mehr als eine Stunde lang waren sie in der Luft gewesen. Dirks Körper protestierte gegen diese Mißhandlung, der frostige Wind auf Worlorn hatte seine Glieder fast taub werden lassen.

Sie landeten ein gutes Stück innerhalb des Waldes neben einem See, den sie schon von oben ausgemacht hatten. Gwen stieß anmutig in einer sanften Kurve hinab und kam an einem bemoosten Strand direkt am Wasser zum Stillstand. Dirk hatte Angst, im Sand eine Bruchlandung zu machen und sich dabei womöglich ein Bein zu brechen. Er schaltete den Neutralisator einen Moment zu früh ab und stürzte aus einem Meter Höhe auf den Boden.

Gwen half ihm, die Stiefel vom Himmelsflitzer zu lösen. Gemeinsam klopften sie feuchten Sand und Moos aus seinem Anzug und Haar. Dann setzte sie sich neben ihn und lachte. Er lächelte zurück und küßte sie. Das heißt, er versuchte es. Als er ihr den Arm um die Schultern legen wollte, wich sie vor ihm zurück, und er erinnerte sich wieder an alles. Seine Hände fielen von ihr ab, und ein desillusionierter Zug zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. »Es tut mir leid«, murmelte er stockend. Er vermied ihren Blick und sah auf den See hinaus. Das Wasser war grün und wirkte ölig. Die ruhige Oberfläche war von violetten Algeninselchen übersät.

Das kaum wahrnehmbare Gewimmel der Insekten, die über den seichten Stellen hin und her schwirrten, bildete die einzige Bewegung. Im Wald war es sogar noch dunkler als in der Stadt, denn die Berge verdeckten den größten Teil der Sonnenscheibe des Fetten Satans. Gwen streckte die Hand aus und berührte ihn an der Schulter.

»Nein«, sagte sie sanft. »Es tut mir leid. Ich hatte es vergessen. Es war fast wie auf Avalon.«

Er sah sie an und zwang sich zu einem schwachen Lächeln, obwohl er sich verloren fühlte. »Ja, fast. Ich habe dich vermißt, Gwen, trotz allem. Oder sollte ich das nicht sagen?«

»Wahrscheinlich nicht«, sagte sie. Wieder mieden ihre Augen die seinen und streiften hinaus über den See. Das gegenüberliegende Ufer lag im Dunst verborgen. Lange Zeit starrte sie in die Ferne und bewegte sich nicht, bis auf ein einziges Mal, wo sie plötzlich vor Kälte erschauerte. Dirk beobachtete, wie ihre Kleidung langsam fahlgrün, dann weiß wurde, um sich der Bodenfarbe der Umgebung anzupassen. Endlich wollte er sie mit unsicherer Hand berühren. Sie schüttelte ihn ab.

»Nein.«

Dirk seufzte. Er nahm eine Handvoll kühlen Sand auf und ließ ihn durch die Finger rinnen, während er nachdachte. »Gwen!« Er zögerte. »Jenny, ich weiß nicht…«

Sie warf ihm einen fragenden Blick zu. »So heiße ich nicht, Dirk. Das war niemals mein Name. Keiner außer dir hat mich je so genannt.« Verletzt zuckte er zusammen. »Aber warum …« »Weil ich das nicht bin!«

»Niemand sonst«, sagte er. »Damals auf Avalon ist es mir nur so eingefallen. Der Name hat so gut zu dir gepaßt, und ich habe dich deshalb so genannt. Ich dachte, es hätte dir gefallen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Damals! Du verstehst das nicht. Du verstehst überhaupt nie etwas. Mit der Zeit hat es mir mehr bedeutet als am Anfang, Dirk. Mehr und mehr und mehr, aber die Dinge, für die dieser Name stand, waren nicht gut. Ich habe es dir zu sagen versucht, schon damals. Aber das ist schon lange her. Ich war jünger, fast noch ein Kind. Ich konnte mich nicht ausdrücken, mir fehlten die Worte.« »Und jetzt?« Seine Stimme klang ein wenig hart, Ärger schwang in ihr mit.

»Hast du jetzt die Worte gefunden, Gwen?« »Ja. Für dich, Dirk. Mehr Worte, als ich gebrauchen kann.« Sie lächelte über diese vieldeutige Aussage und schüttelte den Kopf, daß ihre Haare im Wind flogen. »Hör mal, Kosenamen sind ganz nett. Sie können etwas Besonderes bedeuten. Bei Jaan und seinen ureigenen Namen ist es genauso. Die Hochleibeigenen haben lange Namen, weil sie viele Rollen erfüllen. Für einen Wolfmenschenfreund auf Avalon kann er Jaan Vikary sein. Hoch-Eisenjade mag er in den Ratssitzungen der Versammlung heißen und dennoch Riv bei tiefer Hingabe sein. Wolf ist er im Hochkrieg. Und noch einen anderen Namen hat er im Bett, einen Kosenamen. Das hat schon seine Richtigkeit, weil all jene Namen ihn bezeichnen. Ich erkenne das an.

Manche Namen ziehe ich anderen vor, so wie ich Jaan lieber habe als Wolf oder Hoch-Eisenjade — aber sie treffen alle auf ihn zu. Die Kavalaren haben ein Sprichwort, wonach ein Mann die Summe seiner Namen ist. Namen sind überall wichtig, aber die Kavalaren wissen von dieser Wahrheit mehr als die meisten anderen. Ein Ding ohne Namen hat keine Substanz.

Würde es existieren, hätte es auch einen Namen. Oder andersherum gesagt, falls man einem Ding irgendwie, auf irgendeine Art einen Namen gibt, wird dieses benannte Ding existieren und in Erscheinung treten. Das ist eine andere Weisheit der Kavalaren. Verstehst du das, Dirk?«

»Nein.«

Sie lachte. »Du bist so begriffsstutzig wie immer. Hör gut zu. Als Jaan nach Avalon kam, hieß er Jaantony Eisenjade Vikary. Das war sein Name, sein ganzer Name.

Der wichtigste Teil davon waren die ersten beiden Wörter — Jaantony ist sein wirklicher Name, sein Geburtsname, und Eisenjade ist der seines Festhalts und seiner Allianz. Vikary ist ein angenommener Name, den er während der Pubertät empfing. Alle Kavalaren geben sich solche Namen, gewöhnlich sind es die von Hochleibeigenen, die sie bewundern, oder mythische Gestalten, persönliche Helden. Auf diese Weise haben viele Nachnamen von Alt-Erde überlebt. Dahinter steckt folgender Gedanke: Wenn ein Junge sich den Namen eines Helden gibt, gehen einige der Qualitäten dieses Mannes auf ihn über. Auf Hoch Kavalaan scheint das tatsächlich zu funktionieren. Jaans gewählter Name, Vikary, ist in mehrfacher Hinsicht ungewöhnlich. Er klingt wie ein überliefertes Überbleibsel von Alt-Erde.

Das ist er aber nicht. Zieht man alles in Betracht, dann war Jaan ein seltsames Kind — verträumt, äußerst launisch, zu sehr verinnerlicht. Als er noch ganz klein war, lauschte er den Gesängen und Geschichten der eyn-kethi, was für einen kavalarischen Jungen sehr schlimm ist. Die eyn-kethi sind die Gebärfrauen, die ewigen Mütter des Festhalts, und von einem normalen Kind erwartet man, daß es nicht mehr mit ihnen zu tun hat, als unbedingt nötig ist. Als Jaan älter wurde, verbrachte er den Großteil seiner Freizeit allein. In den Bergen, in Sicherheit vor seinen Festhaltbrüdern, erforschte er Höhlen und stillgelegte Minen. Ich laste ihm das nicht an.

Er war immer das Ziel von Spott und unfreundlichen Hänseleien — bis er auf Garse traf. Der ist erheblich jünger, und dennoch wurde er in den späteren Stadien von Jaans Kindheit zu dessen Beschützer. Schließlich änderte sich das alles. Als Jaan in das Alter kam, wo er sich dem Duellkodex zu unterwerfen hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit den Waffen zu und beherrschte alle nach kurzer Zeit. Er ist wirklich phantastisch darin, heute ist er ungeheuer schnell und ein gefährlicher Gegner, sogar noch besser als Garse, dessen Geschicklichkeit hauptsächlich auf Instinkt beruht.

Es war jedoch nicht immer so. Wie dem auch sei, als die Zeit für Jaantony kam, sich einen Namen zu wählen, hatte er zwei große Helden. Aber keinen der beiden wollte er den Hochleibeigenen nennen. Keiner von beiden war ein Eisenjade, schlimmer noch, sie waren beide Halb-Pariahs, Schurken aus der kavalarischen Geschichte, charismatische Führerpersönlichkeiten, die ihren Kampf verloren hatten und deren Namen Generationen lang abfällig gebraucht wurden. Deshalb faßte Jaan die beiden Namen zu einem zusammen und stellte die Silben so lange um, bis sich dieser wie ein alter, von der Erde importierter Familienname anhörte.

Die Hochleibeigenen akzeptierten ihn, ohne darüber nachzudenken. Es handelte sich schließlich nur um seinen Wahlnahmen, den unwichtigsten Teil seiner Identität. Der Teil, der zuletzt kommt.« Sie runzelte die Stirn. »Und das ist der Sinn dieser Geschichte. Jaantony Eisenjade Vikary kam nach Avalen, und dort war er zuerst Jaantony Eisenjade. Nun ist Avalon eine Welt, die sehr stark auf Nachnamen achtet. Die Folge davon war, daß man ihn dort in erster Linie Vikary nannte. Die Akademie registrierte ihn unter diesem Namen, seine Lehrer sprachen ihn so an. Kurz und gut, er mußte zwei Jahre mit diesem Namen leben. Schon bald hieß er nicht mehr nur Jaantony Eisenjade, sondern auch noch Jaan Vikary. Ich glaube, das hat ihm nichts ausgemacht. Er versuchte seitdem immer Jaan Vikary zu bleiben, obwohl ihm das später auf Hoch-Kavalaan nicht leichtfiel. Für die Kavalaren blieb er immer Jaantony.«

»Wo erhielt er die anderen Namen?« Dirk ertappte sich überrascht bei dieser Frage. Die Geschichte fesselte ihn und schien neue Einsichten in Jaan Vikarys Eröffnungen auf dem Dach zu gewähren. »Als wir geheiratet hatten, nahm er mich nach Eisenjade mit und wurde ein Hochleibeigener und damit automatisch Mitglied des Hochleibeigenenrats«, sagte sie. »Dadurch kam das ›hoch‹ in seinen Namen, wie auch das Recht, unabhängig vom Festhalt Privateigentum zu besitzen, religiöse Opfer darzubringen und im Krieg seine kethi, seine Festhaltbrüder, zu führen. Daher bekam er auch noch einen Kriegsnamen, so eine Art Rang, und einen religiösen Namen. Früher waren Namen dieser Art sehr wichtig.

Heute nimmt man das alles nicht mehr so ernst, aber der Brauch hält sich.«

»Ich verstehe«, sagte Dirk, obgleich das nicht völlig zutraf. Die Kavalaren schienen übermäßig großen Wert auf die Ehre zu legen. »Was hat das mit uns zu tun?«

»Eine ganze Menge«, sagte Gwen, wobei sie wieder sehr ernst wurde. »Als Jaan auf Avalon eingetroffen war und die Leute ihn Vikary nannten, veränderte er sich. Er wurde Vikary, ein Zwitter seiner bilderstürmenden Idole.

Soviel können Namen ausmachen, Dirk. Und das war unser Niedergang. Ich habe dich geliebt, bestimmt. Sehr sogar. Ich habe dich geliebt, aber du liebtest Jenny.« »Du warst Jenny!«

»Ja und nein. Deine Jenny, deine Guinevere. Du hast das immer wieder gesagt. Du hast mich genauso oft mit diesen Namen angeredet, wie du mich Gwen genannt hast. Aber du hattest recht. Es waren deine Namen. Ja, ich mochte es. Was wußte ich schon von Namen, und wie man etwas nennt? Jenny klingt recht hübsch, und Guinevere umgibt der Hauch einer Sage. Was wußte ich schon?

Aber es wurde mir bewußt, selbst wenn mir die Worte fehlten, um es zu artikulieren. Das Problem war, du hast Jenny geliebt — nur war ich nicht Jenny. Vielleicht ruhte etwas von mir in ihr, aber in erster Linie war sie ein Phantom, ein Wunsch, ein Traum, den du ganz allein ausgeschmückt hast. Du hast deine Jenny auf mich übertragen und uns beide geliebt — und mit der Zeit wurde ich langsam zu Jenny. Gib einem Ding einen Namen, und es wird irgendwie anfangen zu existieren.

Die Wahrheit, wie auch die Lüge, liegt in der Namensgebung, denn nichts verzerrt so wie ein falscher Name. Ein falscher Name vermag die Realität genauso zu verändern wie den Schein.

Ich wollte, daß du mich liebtest, nicht sie. Ich war Gwen Delvano, und ich wollte Gwen Delvano so gut wie nur möglich sein, aber dennoch ich selbst bleiben. Ich kämpfte dagegen an, Jenny zu sein. Aber du wolltest sie nicht aufgeben und hast nie etwas davon gemerkt.

Deshalb habe ich dich verlassen.« Als sie endete, war ihre Stimme leidenschaftslos und ruhig, ihr Gesicht glich einer Maske. Dann wandte sie sich wieder ab. Und endlich verstand er alles. Sieben Jahre war er im unklaren gewesen, und jetzt verstand er plötzlich alles auf einen Schlag. Das war also der Grund, aus welchem sie das Flüsterjuwel geschickt hatte. Nicht um ihn zurückzurufen, nein, keineswegs. Sondern um ihm endlich zu sagen, warum sie ihn weggeschickt hatte. Das ergab irgendwie einen Sinn. Plötzlich verwandelte sich sein Ärger in lähmende Melancholie. Kalt und unbeachtet rann Sand durch seine Finger. Sie sah sein Gesicht, und ihre Stimme wurde sanfter. »Es tut mir leid, Dirk«, sagte sie. »Aber du hast mich wieder Jenny genannt. Und ich mußte dir die Wahrheit sagen. Ich habe nicht alles vergessen und kann mir das bei dir auch nicht vorstellen. Die ganzen Jahre habe ich darüber nachgedacht. Es war so gut, als es gut war, habe ich immer wieder gedacht. Wie konnte es nur schiefgehen?

Es ängstigte mich, Dirk. Ich hatte wirklich Angst davor.

Ich dachte: Wenn es mit uns nicht klappt, mit Dirk und dir, dann ist nichts sicher, dann kann ich mich auf nichts mehr verlassen. Zwei Jahre lähmte mich diese Furcht.

Aber schließlich, als ich Jaan traf, da verstand ich alles.

Jetzt kam alles hervor, und ich fand die Antwort. Es tut mir so leid, wenn sie dir Schmerzen bereitet. Aber du mußtest es wissen.« »Ich hatte gehofft…«

»Nein«, warnte sie. »Fang nicht wieder an, Dirk! Nicht noch einmal. Versuche es niemals mehr. Zwischen uns ist es aus, bitte begreife das. Wenn wir es noch einmal miteinander versuchen, bringen wir uns dadurch um.«

Er seufzte. Sie kam ihm jedesmal zuvor. Während des langen Gesprächs hatte er sie nicht einmal berührt. Er fühlte sich hilflos. »Ich nehme an, Jaan nennt dich nicht Jenny?« fragte er endlich mit bitterem Lächeln. Gwen lachte. »Nein. Als Kavalarin habe ich einen geheimen Namen, mit dem nur er mich ruft. Aber diesen Namen habe ich übernommen, also erwachsen keine Probleme daraus. Es ist mein Name.« Er zuckte nur mit den Achseln. »Dann bist du also glücklich?« Gwen erhob sich und wischte sich den verbliebenen Sand von den Beinen. »Jaan und ich — nun, da ist einiges nicht leicht zu erklären. Einst warst du ein Freund, Dirk, vielleicht mein bester Freund. Aber du warst lange Zeit weg. Dränge mich bitte nicht allzusehr. Im Moment brauche ich einen Freund. Ich rede mit Arkin, und er hört mir zu, aber er kann mir kaum helfen. Er ist zu voreingenommen, blind gegenüber den Kavalaren und ihrer Kultur. Jaan, Garse und ich haben Probleme, wenn du das meinst. Aber es ist schwer, darüber zu reden. Gib mir Zeit. Warte, wenn du willst. Und sei wieder mein Freund.«

Kein Lüftchen bewegte den See im ewigen grauroten Sonnenuntergang. Dirk beobachtete das dick mit Schlieren und Algenräude überzogene Wasser und dachte an den Kanal auf Braque zurück. Dann brauchte sie ihn also doch, überlegte er. Möglicherweise verlief nicht alles so, wie er sich das erhofft hatte. Aber es gab etwas, das er ihr bieten konnte. An diesen Strohhalm klammerte er sich: Er wollte geben, er mußte geben. »Wie dem auch sei«, sagte er beim Aufstehen, »ich verstehe eine ganze Menge noch nicht, Gwen. Zuviel verstehe ich nicht. Mir kommt es so vor, als wäre die Hälfte der Gespräche der letzten vierundzwanzig Stunden einfach an mir vorbeigerauscht. Ich weiß nicht einmal, was ich fragen soll, ich kann es aber versuchen. Ich glaube, ich schulde dir etwas, ich schulde dir aus irgendeinem Grunde etwas.« »Wirst du warten?«

»Und zuhören, wenn die Zeit gekommen ist.«

»Dann bin ich froh, daß du da bist«, sagte sie. »Ich brauchte einen Menschen. Einen Außenstehenden. Du kamst zur rechten Zeit, Dirk. Welch glückliche Fügung.«

Seltsam, dachte er, eine glückliche Fügung zu bestellen. Er sagte jedoch nichts. »Was nun?«

»Jetzt werde ich dir den Wald zeigen. Schließlich sind wir deshalb hergekommen.«

Sie nahmen ihre Himmelsflitzer auf und entfernten sich von dem spiegelglatten See. Vor ihnen wartete der dichte Wald. Sie folgten keinem Pfad, denn das Unterholz stand licht und erschwerte das Vorankommen in keiner Weise.

Schweigend, mit hängenden Schultern, die Hände tief in die Taschen versenkt, studierte Dirk die Bäume seiner näheren Umgebung. Nur Gwen sprach, wenn überhaupt gesprochen wurde. Ihre Stimme klang tief und ehrfurchtsvoll wie das Flüstern eines Kindes in einer riesigen Kathedrale. Meistens jedoch zeigte sie nur auf etwas, und er sah in die Richtung ihres ausgestreckten Arms. Die Bäume in der Nähe des Sees waren vertraute Freunde, die Dirk schon tausendmal zuvor gesehen hatte.

Denn hier befand er sich im sogenannten Heimatwald, sah Bäume, die der Mensch von Stern zu Stern mitgenommen und auf allen bewohnbaren Welten angepflanzt hatte. Der Heimatwald stammte von Alt-Erde, aber dort zeigte er nicht das gleiche Erscheinungsbild. Auf jedem neuen Planeten kamen weitere Lieblingsbäume und -pflanzen der Menschheit zum Reservoir der exportierten Erdflora hinzu. Wenn sich danach die Sternenschiffe wieder auf ihren Weg machten, trugen sie zusammen mit den zweifach entwur-zelten Enkeln der Erde Setzlinge jener Welten mit sich.

Auf diese Weise wuchs der Heimatwald. Langsam bewegten sich Gwen und Dirk durch diesen Wald, wie es schon andere auf einem Dutzend anderer Welten immer wieder getan hatten. Sie kannten die Bäume. Ein Zuckerahorn dort, ein Feuerahorn hier, eine falsche und eine echte Eiche, Silbertannen, Giftkiefern und Asten.

Die Außenweltler hatten sie hierhergebracht, nachdem deren Vorfahren sie an den Rand verpflanzten, um den Planeten einen Anstrich jener fernen Heimat zu geben, die keiner von ihnen mehr kannte — und vielleicht als Fremde empfunden hätte. Aber hier sahen diese Wälder anders aus. Es war das Licht, stellte Dirk nach einer gewissen Zeit fest. Das so spärlich vom Himmel tropfende Licht, die blaßrote Düsterkeit, die sich als Worlorns Tag ausgab. Das hier war ein Zwielichtwald.

Eingeschlossen in die Behäbigkeit der Zeit — in einen langgedehnten Herbst —, starb er langsam.

Dann sah er genauer hin und bemerkte, daß die Zuckerahorn-Bäume kahl waren. Ihre verwelkten Blätter lagen am Boden. Sie würden keine neuen treiben. Auch die Eichen waren wie abgestorben. Er hielt inne und hob ein Feuerahornblatt auf. Die feinen roten Adern waren schwarz geworden. Und die Silbertannen waren in Wirklichkeit schmutziggrau.

Als nächstes würde Fäulnis einsetzen.

An einigen Stellen hatte der Wald schon angefangen zu vermodern. In einem verlassenen Tal, wo der Humus dicker und schwärzer lag als anderswo, bemerkte Dirk einen leichten Geruch. Fragend sah er Gwen an. Sie bückte sich und hielt ihm eine Handvoll schwarzer Erde unter die Nase. Er wandte sich ab.

»Das war ein Moosbett«, erklärte sie ihm mit klagender Stimme. »Sie haben es den ganzen Weg von Eshellin hierhergebracht. Vor einem Jahr noch war es ganz grün und scharlachrot mit vielen kleinen Blüten. Die Schwärze hat sich schnell ausgebreitet.«

Sie gingen tiefer in den Wald hinein, fort von dem See und fort von der Bergwand. Nun standen die Sonnen fast im Zenit. Fetter Satan, trüb und aufgedunsen wie ein blutgetränkter Mond, ungleichmäßig umringt von vier kleinen gelben Sonnensternen. Worlorn war zu weit und in die falsche Richtung zurückgewichen, der Radeffekt war dahin. Länger als eine Stunde waren sie schon gegangen, als die Beschaffenheit des Waldes sich veränderte. Langsam, ganz unterschwellig, stellte sich die Veränderung ein, fast zu schleichend, um von Dirk bemerkt zu werden. Aber Gwen wies ihn darauf hin. Der vertraute, heimatliche Mischwald löste sich auf, gab etwas Fremderem nach, etwas Einzigartigem, etwas Unbändigem. Trostlose schwarze Bäume mit grauen Blättern, hohe, rotbespitzte Dornensträucher, herabhängende Ranken von bleich phosphoreszierendem Blau, große zwiebelförmige Pflanzen mit flockigen Klecksen. Gwen zeigte auf alle und gab jedem einen Namen. Ein Typus begann mehr und mehr zu dominieren: ein hochaufragendes, gelbliches Gewächs, das aus seinem wächsernen Stamm eine Unzahl von Ästen sprießen ließ, denen wiederum kleinere Äste entsprangen und diesen noch kleinere, bis ein dichtes Holzgewirr daraus geworden war. Gwen nannte sie Würger, und Dirk erkannte schon sehr bald den Grund.

Hier, mitten im dichten Wald, wuchs einer der Würger direkt neben einer majestätischen Silbertanne. Knorrige wachsfarbene Äste gingen von ihm aus und mischten sich unter die geradgewachsenen, stattlichen grauen Äste der Tanne. Seine Wurzeln wühlten sich unter und um die des anderen Baumes. Er erdrückte seinen Rivalen in einem immer engeren, immer festeren Griff. Die Silbertanne war kaum noch zu erkennen: ein langer, toter Stamm, verloren inmitten des anschwellenden Würgers.

»Die Würger stammen von Tober«, sagte Gwen. »Hier schlucken sie die Wälder genauso, wie sie es dort taten.

Das hätten wir vorhersagen können, aber niemand würde sich darum gekümmert haben. Die Wälder waren ohnehin dem Untergang preisgegeben, noch bevor man sie anpflanzte. Sogar die Würger werden sterben, wenn auch als letzte.«

Sie spazierten weiter, und die Würger wurden immer häufiger, bis sie fast allein das Bild beherrschten. Hier war es dunkler und die Bäume standen dichter, ein Durchkommen war jetzt nicht mehr so einfach. Aus dem Boden ragende Wurzeln ließen sie stolpern, während verbogene Äste, wie die ausgestreckten Arme riesiger Ringer, ihnen in Gesichtshöhe den Weg versperrten. Wo zwei, drei oder mehrere Würger dicht beisammenstanden, schienen sie einen einzigen, undurchdringlichen Knoten zu bilden. Gwen und Dirk mußten dann ausweichen. Anderes Pflanzenleben war — von schwarzen und violetten Pilzansammlungen direkt am Fuße der gelben Bäume und parasitärem, lianenartigem Netzwerk abgesehen — kaum vorhanden.

Aber es gab Tiere.

Dirk sah, wie sie sich durch das dunkle Dickicht der Würger bewegten und vernahm ihre hohen, heiseren Rufe. Schließlich sah er eines. Es saß über ihren Köpfen auf einem gelben Zweig und sah auf sie hinab. Es war faustgroß, totenstill und irgendwie durchsichtig. Dirk berührte Gwens Schulter und machte eine Kopfbewegung nach oben. Aber sie antwortete nur mit einem hellen Lachen auf seinen fragenden Blick. Dann langte sie nach der kleinen Kreatur und nahm sie in die hohle Hand. Als sie die Hand öffnete und Dirk zeigte, war nur Staub und totes Gewebe darin.

»Hier muß ein Nest mit Baumgeistern sein«, erklärte sie. »Vor der Reife häuten sie sich viermal oder fünfmal und lassen die Hüllen als Puppen zurück, um andere Räuber einzuschüchtern.« Dann zeigte sie mit dem Finger ins Gestrüpp. »Dort ist ein lebendiges Exemplar, falls es dich interessiert.«


Dirk sah hin und erhaschte einen flüchtigen Eindruck von einem winzigen, umhertollenden gelben Etwas mit scharfen Zähnen und großen braunen Augen. »Sie können auch fliegen«, erklärte Gwen. »Sie besitzen eine Membrane, die ihnen vom Arm bis zum Bein reicht und sie in die Lage versetzt, zwischen den Bäumen Gleitflüge auszuführen. Raubtiere, weißt du. Sie jagen in Rudeln und können Lebewesen zur Strecke bringen, die hundertmal so groß sind wie sie selbst. Im allgemeinen greifen sie aber keinen Menschen an, wenn er nicht gerade in ihr Nest tritt.«

Dann war der Baumgeist verschwunden, verschluckt von einem Labyrinth aus Würgerästen. Aber Dirk hatte das Gefühl, schon kurz danach aus dem Augenwinkel einen anderen gesehen zu haben. Er beobachtete aufmerksam die Bäume in der Nähe. Die durchsichtigen Hauthüllen waren überall und schienen von ihren Wachpositionen aus angestrengt in das Zwielicht zu starren. Lauter grimmige kleine Geister. »Das sind die Dinger, über die sich Janacek so aufregt, nicht wahr?« fragte er.

Gwen nickte. »Auf Kimdiss sind sie schon eine wahre Pest, aber hier haben sie wirklich ihr Element gefunden.

Inmitten der Würger sind sie vorzüglich getarnt und bewegen sich schneller durch das Gewirr als alles, was ich je gesehen habe. Wir haben sie eingehend beobachtet.

Sie säubern die Wälder. Wenn sie genügend Zeit hätten, würden sie alles andere Leben töten und sich so selbst dem Hungertode preisgeben — aber sie werden nicht genug Zeit haben. Vorher wird der Schild versagen und die Kälte kommen.« Diese Tatsache entrang ihr ein müdes Achselzucken, und sie legte den Arm auf einen niedrigen Ast. Schon lange hatten ihre Coveralls dieselbe schmutziggelbe Färbung angenommen wie die Bäume um sie herum, aber ihr Ärmel schob sich nach oben, als sie den Ast entlangstrich, und Dirk sah den matten Schein von Jade-und-Silber am Holz des Würgers aufleuchten. »Gibt es noch viele Tierarten?«

»Genug«, sagte sie. Blasses Rotlicht ließ das Silber fremdartig erscheinen. »Natürlich nicht mehr so viele wie früher. Einige der in freier Wildbahn lebenden Tiere haben den Heimatwald verlassen. Die Erd-Bäume sterben, und die Tiere wissen das. Aber die Bäume der Außenwelten sind offenbar widerstandsfähiger. Wo die Wälder des Randes angepflanzt wurden, findet man immer noch reges, sich zäh verteidigendes Leben. Die Würger, die Blauen Witwer — sie gedeihen bis zum Ende.

Und sie haben ihre alten und neuen Mieter, bis die Kälte kommt.« Müßig bewegte Gwen ihren Arm hin und her, und der Armreif blinzelte ihm zu, schrie ihn an.

Versprechen, Mahnung und Absage, alles in einem, Liebe in Jade-und-Silber geschworen. Und er hatte nur ein kleines Flüsterjuwel, geformt wie eine Träne und gefüllt mit entschwindenden Erinnerungen.

Er sah durch das ungestüme Gewirr gelber Würgeräste zum Himmel, wo das Höllenauge in einer trüben Korona hockte und eher müde als höllisch aussah, eher betrübt als satanisch. Ihn fröstelte. »Können wir zurückfliegen, Gwen?« fragte er. »Dieser Ort deprimiert mich.« Sie widersprach nicht. In einiger Entfernung von den Würgern fanden sie eine freie Stelle, wo sie das Silbergewebe ihrer Flitzer ausbreiten konnten. Dann stiegen sie in den Himmel und brachen zu ihrem langen Flug nach Larteyn auf.

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